Schlagwort: Europäische Union

Deutschland – Neutral zwischen Ost und West. Unfertige Gedanken zum Mitdenken

Es wird Zeit, sich darauf zu besinnen, dass Neutralität die einzige sinnvolle Lehre aus den beiden Weltkriegen sein kann, die beide Male von deutschem Boden ausgingen, deren Folgen auch in unserem Land bis zum heutigen Tag noch spürbar sind.

Neutralität muss heute Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen deutscher Politik sein, damit Deutschland nicht ein drittes Mal zum Schauplatz der Konfliktaustragung zwischen  Ost und West im globalisierten Rahmen wird. Denn in Deutschland läuft – historisch gewachsen – die Scheide zwischen Ost und West.

Deutschland ist nicht Ost, Deutschland ist nicht West; Deutschland ist Mitte zwischen Ost und West. Deutschland hat intensivste Bindungen an Russland und den ganzen russischen Raum, den ganzen östlichen Raum, und Deutschland hat intensivste Bindungen an den westlichen Raum, insofern der westliche Raum, der angelsächsisch-amerikanische zu großen Teilen auch aus der mitteleuropäischen, nicht zuletzt auch aus der deutschen Entwicklung hervorgegangen ist.

Das alles gilt, wenngleich sich der amerikanische Raum selbstständig gemacht, die europäische Kultur hinter sich gelassen und sich extrem veräußerlicht hat. Auch der russische Raum hat seine europäischen Wurzeln hinter sich gelassen und sich auf einen eigenen Entwicklungsweg gemacht. Die Gefahr besteht, dass diese beiden polaren Tendenzen wieder einmal aufeinanderprallen, wie eben erst in der jüngsten Geschichte, jetzt noch verstärkt durch das chinesische, das asiatische Element im Osten und – wie es sich in letzter Zeit andeutet – durch das arabische Element auf ‚westlicher‘, genauer, das saudi-arabische auf amerikanischer Seite.

Wenn sich diese Frontlinie weiter entwickelt, wie gegenwärtig zu befürchten, wenn sie sich sogar verfestigt, dann geht die Welt, konkret Europa, Mitteleuropa, noch konkreter Deutschland einer ganz schweren Zeit entgegen. Sehr unwahrscheinlich ist jedenfalls beim Stand des gegenwärtigen Aufmarsches an den russischen Grenzen, speziell der Stationierung von NATO-Schalt- und Kommandostellen in Deutschland, dass die ballistischen Flüge den kurzen Weg über den Pazifik, statt, wie in der ‚Sicherheits‘-Planung der NATO angelegt, über den Atlantik nehmen.

Selbstverständlich ist eine Neutralität Deutschlands, glaubt man der herrschenden Politik, heute ganz und gar unrealistisch, nachdem sie in den Jahren nach 1945 durch die Alliierten erfolgreich verhindert wurde  Die Anbindung Deutschlands an das atlantische Bündnis gilt den atlantischen Planern heute als ‚alternativlos‘, um die ‚Sicherheit‘ Europas und Deutschlands zu garantieren. Tatsächlich erweist sich dieser ‚Realismus‘ aber als ganz und gar unrealistisch, um nicht zu sagen, als gigantische Lüge, wenn es darum geht, eine friedliche Zukunft Europas und darin Deutschlands zu sichern, wenn man sieht, wie eben diese ‚realistischen‘ Verhältnisse auf eine neuerliche Zuspitzung des Ost-West Konfliktes zulaufen, wenn man sieht, wie die Europäische Union, halb als Vasall, halb als Avantgarde der strauchelnden ‚einzigen Weltmacht‘ wieder zur Weltgeltung spurtet, und, mit einem Deutschland als Kern darin, schnurstracks auf die nächste große Konfrontation zusteuert.

So gesehen erweist sich der herrschende ‚Realismus‘ als Wahn, der Deutschland direkt in die nächste Katastrophe zu führen droht.  Eine realistische Perspektive, die diesen Namen  verdient, kann allein in der Entwicklung eines Deutschland liegen, das sich von einseitigen Bündniszwängen löst und stattdessen als neutrale  Mitte seine ganze Kraft in die Auflösung der kriegstreibenden Polaritäten legt.

‚Seine ganze Kraft‘, damit ist selbstverständlich nicht nur Deutschlands ökonomische Potenz als ‚Exportweltmeister‘ und Finanzier der Europäischen Union, schon gar nicht, versteht sich, seine militärische Stärke, gemeint, sondern sein nachimperialer, nachfaschistischer, demokratischer Kulturimpuls, der in der Welt heute, zunehmenden Einschränkungen zum Trotz, immer noch Seinesgleichen sucht. Diesen Impuls gilt es zu schützen, zu fördern und zum Wohl einer sich herausbildenden neuen Völkerordnung wirken zu lassen, in deren Aufgabenbuch die Förderung der Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen in kooperativer Gemeinschaft mit dem Blick auf das Ganze der heutigen Welt steht – unabhängig von ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschieden.  

Also noch einmal: Die Entwicklung der Idee der Neutralität als Raum zur Förderung gegenseitiger Hilfe ist das, was in Deutschland heute zu allererst angegangen werden muss, wenn wir die Chance haben wollen, den Übergang aus der unipolaren in eine multipolare Welt gestärkt zu überleben.

 

Kai Ehlers, 10.04.2018

www.kai-ehlers.de

 

 

Salisbury – Hintergründe ohne Tatsachen

 

Die einzige zum Giftanschlag von Salibury bekannte Tatsache ist – dass es bisher keine Tatsachen gibt: Keine Fakten, wer, wie, wann das Gift nach Salisbury transportiert hat und wie es eingesetzt wurde.  Selbst die Opfer wurden bisher nicht befragt. Stattdessen eine „lange Liste bösartiger Aktivitäten Russlands“ seitens der britischen Regierung,  die beweisen soll, dass Russland „höchst wahrscheinlich … verantwortlich ist für diesen rücksichtslosen und verabscheuungswürdigen Akt.“[1]

Es geht offenbar gar nicht um die Fakten. Worum also dann?

Aufgezählt werden von Politikern und Medien unisono, kritiklos den Londoner Vorgaben folgend, die „Vergehen“, die Russland sich in den letzten Jahren habe zuschulden kommen lassen, so allen voran in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Das beginnt bei der „Annexion“ der Krim, führt über die „Invasion russischer Soldaten in die Ostukraine“, den „Abschuss des Passagierflugzeuges MH 17“, die „Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow in unmittelbarerer Nähe des Kremls“, „Russlands rücksichtsloses Vorgehen in Syrien“ bis in die „Dopingfälle russischer Athleten.“

Dazu kommen noch diverse angebliche Cyber-Attacken Russlands.

Mit diesen Aufzählungen wird das erste Motiv deutlich, um das es in dieser „Affäre“ geht: So wenig Fakten für den „Fall“ Salisbury vorgelegt werden, so wenig geht es bei der Aufzählung der russischen „Vergehen“ um Fakten. Vielmehr geht es hier um die gezielte Anwendung des alten römischen Prinzips ‚semper aliquid haeret‘, ‚irgendetwas bleibt immer hängen‘, anders gesagt, eine politische Rufmordkampagne gegen Russland, bei dem das ganze Instrumentarium der ideologischen Kriegführung bis hin zur konzertierten Ausweisung russischer Diplomaten  ausgefahren wird.

Die nächste Frage ist natürlich: Wofür, warum jetzt, wem nützt es?

 

„Solidarität“

 Im Vordergrund der Kampagne steht das Wort ‚Solidarität‘, für welche die Vertreter und Vertreterinnen des atlantischen Bündnisses sich gegenseitig beglückwünschen und bedanken. Theresa May dankte Jean-Claude Juncker, Juncker dankte May, alle zusammen dankten Trump. Schließlich trat sogar die NATO noch dem Solidaritätsbündnis bei. Man fühlt sich gestärkt.

Aber ist man wirklich gestärkt? Hier darf man Fragen stellen, die vielleicht ein bisschen zur Entwirrung der Motivlage beitragen können, zunächst der kleinen, um es so zu sagen, ohne dabei allerdings allzu sehr ins Detail gehen zu wollen: 

Theresa May hat wohl das offensichtlichste Motiv. Wenn sie die Position des kleiner gewordenen Britanniens als Weltmacht nach dem Ausstieg aus der EU halten möchte, dann braucht sie den atlantischen Rahmen, vor allem die Anlehnung an die USA.

Jean-Claude Juncker muss sich schon seit geraumer Zeit Sorgen um den Zusammenhalt der Europäischen Union machen. In der Frage der Sanktionspolitik nehmen die Differenzen zwischen den Mitgliedern erkennbar zu.

Donald Trump schafft sich mit seinem aktuellen Sprung in das atlantische Bündnis Bewegungsfreiheit gegenüber seinen Kritikern, die ihm seine Kontakte zu Russland und seine zu große Nähe zu Wladimir Putin vorwerfen.

Und nicht zu vergessen die NATO: sie ist angesichts einer sich entwickelnden globalen Multipolarität in eine Sinnkriese gekommen, in der sie sich nur durch neu entstehende Ost-West-Spannungen legitimieren kann.

Alles zusammen wird in der gegenwärtigen Kampagne gegen Russland zu einem aktuellen Befreiungsschlag gebündelt.

 

Hintergründe

Mit dieser Beschreibung des vordergründigen Nutzens ist die Frage nach den Hintergründen jedoch noch nicht beantwortet. Dazu muss  noch ein genauerer Blick auf die Liste der „Vergehen“ geworfen werden, die Russland vorgezählt werden.

Lässt  man die diversen nicht zu beweisenden Behauptungen über russische Cyber-Attacken auf atlantische Netze beiseite, dann bleiben in diesem Potpourri von Anklagen die wichtigsten Stichworte: Georgien, Krim/Ost-Ukraine und Syrien.

Diese drei Stationen bezeichnen die Marken, an denen der westliche, konkret der US-dominierte globale Hegemonieanspruch in den zurückliegenden Jahren an seine Grenzen stieß – durch Russlands Aufbegehren, um es in einer Formulierung zu sagen, die das Kräfteverhältnis realistisch beschreibt.

Erinnern wir uns:

  • Mit dem Einmarsch in Georgien 2008 warf Russland nicht nur den provokativen Versuch einer Annektion Michail Saakaschwilis gegenüber Nord-Ossetien zurück; mit der Zurückweisung Saakaschwilis zog Russland zugleich die unübersehbare Rote Karte gegen eine weitere Ost-Erweiterung von EU und NATO.
  • Mit der Aufnahme der Krim 2014 in den russischen Staatsverband zum einen, mit der Unterstützung der Ost-Ukraine um die Erhaltung und Entwicklung ihrer Autonomie nach dem Regimewechsel in der Ukraine zum Zweiten verhinderte Russland die Überführung der Ukraine in die EU und die NATO. Russland widerstand damit der strategischen Kastration, wie sie in den Plänen der US-Strategie vorgesehen war, nachzulesen bei Zbigniew Brzezinski.
  • Mit dem Eingriff zur Unterstützung Baschar al-Assads in Syrien seit 2016 stoppte Russland nicht nur den von den USA beabsichtigten Regimechange in Syrien, sondern darüber hinaus die Verwandlung des gesamten mesopotamischen Raumes in ein amerikanisches Protektorat und Aufmarschgebiet gegen Russland, Iran, Türkei und Nordafrika nach den Plänen des „new american century“.

Russland, konkret Putin hat in diesen Prozessen die Statur eines globalen Krisenmanagers gewonnen. Die aktuelle Kampagne hat das Ziel, Russland, Putin in dieser Rolle zu demontieren.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

[1] Siehe: Russland.news : http://www.russland.news/wp-content/uploads/2018/03/UK_Briefing.pdf

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Katalonien – Signal für ein neues Staatsverständnis?

Es ist offensichtlich: Das Credo des nationalen Einheitsstaates ist in der Krise. Der Kampf um Kataloniens Unabhängigkeit ist nur der aktuellste Ausdruck dieser Tatsache. Ähnliche Konflikte gingen dem voran, weitere werden folgen.

 Der Wunsch von gut 50% der Bevölkerung Kataloniens nach Autonomie und Unabhängigkeit steht gegen den Monopolanspruch des spanischen Staates und gegen die ‚schweigende Mehrheit‘, die sich aus unterschiedlichen Gründen an der Abstimmung zum Referendum vom 1. Oktober 2017 nicht beteiligt hat. Dieser Konflikt kann weder zugunsten des spanischen Staates noch einer regionalen Abspaltung Kataloniens lebensförderlich gelöst werden, solange beide Seiten auf dem Boden des heutigen Verständnisses vom einheitlichen Nationalstaat stehen bleiben, das heißt, eines Staates, der, dominiert von der Ökonomie, sämtliche Lebensbereiche überformt und beherrscht. Grundsätzliche Veränderungen des Staatsverständnisses stehen an, die von  der Wirklichkeit des Zusammenlebens in unserer heutigen Welt gefordert werden.

 Diese Wirklichkeit liegt zum Ersten in der Tatsache, dass das globale Wirtschaftsleben schon längst alle nationalen Grenzen gesprengt und sich die Nationalstaaten als bloße Instrumente unterworfen hat.

Sie liegt des Weiteren in der historischen Erfahrung, dass alle Revolutionen, bürgerliche wie sozialistische, bisher nur dazu geführt haben, die Diktatur der Ökonomie mit anderem Namen, aber unverändertem Staatsverständnis auf immer neuem Niveau wiederherzustellen.

Sie liegt schließlich in der wachsenden emotionalen und spirituellen Verlorenheit vieler Menschen angesichts einer Welt, die, von ökonomischen  Kriterien beherrscht, beängstigenden Katastrophen entgegentaumelt.

Dies alles bedeutet nichts anderes, als dass die Menschen heute nach neuem Sinn, nach neuen Formen des Zusammenlebens und – nennen wir es mit einem aus berechtigten Gründen in Deutschland vorsichtig zu benutzenden Begriff – nach  neuer Heimat suchen, wo sie als Einzelne in überschaubaren, pluralen Zusammenhängen ihren Wert und ihre Würde finden können.

 

Autonomie – eine Forderung der Zeit

Vor einem solchen Hintergrund gewinnen die Bestrebungen nach Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit wie jetzt in Katalonien, wie zuvor in Schottland, wie in Norditalien, wie in vielen anderen Regionen Europas, die den Verlust ihrer lokalen oder regionalen Autonomie beklagen, ihre Erklärung und ihre Berechtigung als Ausdruck der Zeit – wenn sie ihre eigene historische Dynamik begreifen, die faktisch aus der überfälligen Übermacht des Staatsmonopols erwächst, die zugleich dessen Ohnmacht offenbart.

Bei wachem Blick wird zudem erkennbar, dass dies nicht nur eine europäische, sondern ein globale Dynamik ist, die den Osten ebenso wie den Westen, den Süden und den Norden betrifft. Die sich vermehrenden ‚eingefrorenen‘ oder auch nur mühsam eingehegten Konflikte am Rande der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan, in Mesopotamien, in Afrika, Südamerika, ebenso wie im asiatischen Teil der Welt sprechen eine unmissverständliche Sprache.

Zum tieferen Verständnis, welche Bedeutung diese Vorgänge für das heutige Leben haben, ist ein kurzer Blick in die neuere Geschichte des einheitlichen Nationalstaates unerlässlich.

 

Nationalstaat als Credo

Schon nach dem ersten Weltkrieg war klar, dass es die Konfrontation der europäischen Nationalstaaten mit ihren imperialen Ansprüchen war, die in die Weltkriegskatastrophe geführt hatte. Das Entsetzen war allgemein. Eine Wiederholung sollte unbedingt vermieden werden. ‚Nationale Selbstbestimmung‘ hieß das Zauberwort, unter dem das geschehen sollte. Unter dieser Parole wurde der auf europäischem Boden gewachsene nationale Einheitsstaat in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum Credo der zukünftigen Völkerordnung erhoben. Ein Völkerbund wurde gegründet, der diese neue Ordnung pflegen sollte.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen.

 

Sonderwege

Einen Sonderweg ging Russland, das, anders als Österreich und das Osmanische Reich, trotz Revolution und trotz massiver Interventionen des Westens auf Seiten der Konterrevolution als Vielvölkerzusammenhang erhalten blieb. Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung auch Lenin als Grundlage für die von ihm initiierte Grundorganisation der Sowjetunion. So entstand die Sowjetunion als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Ideologie. Stalin zerlegte das Land dann in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe des ‚Westens‘ hervorgingen.

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Notwendig sei eine Entflechtung von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben, trug er vor, die sich zukünftig unabhängig voneinander, aber in gegenseitiger Förderung und Kontrolle entwickeln müssten, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung aller Lebensbereiche zu überwinden. Darunter verstand er: Eine Wirtschaft in staatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten, ein Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung sowie eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, in dem die Menschen sich als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbinden.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

 Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Im Aufkommen der Restauration und im Verlauf der einsetzenden Faschisierung der deutschen und europäischen Verhältnisse fielen sie, ebenso wie jene Elemente der Neuordnung Wilsons, die demokratisch genannt werden konnten, sowie auch die revolutionären Hoffnungen im Gefolge der russischen Revolution den wieder wachsenden nationalstaatlichen Konfrontationen zum Opfer

Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat zum nationalen Totalstaat – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis seiner Entwürdigung als Mensch.

Ein entscheidender Fakt ist dabei zu beachten: Während die Wilsonsche wie auch die revolutionäre Variante des Nationalstaates bruchlos in den Totalstaat übergingen, gingen die Ansätze zur Differenzierung, wie sie die Dreigliederung ansatzweise entwickelte, zusammen mit den demokratischen und pluralen Elementen der Nationalstaaten in eben dieser Entwicklung unter.

 

Nie wieder Nationalismus?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsideologie groß: Nie wieder Nationalismus, lautete diese Einsicht, nie wieder Krieg. Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten geprägt. Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Idee des Völkerbundes, die zwischen den Weltkriegen gescheitert war, wurde in der Form der Vereinten Nationen wieder aufgenommen. Mit der EG, später der Europäischen Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und Entnationalisierung der Wirtschaft Rechnung zu tragen. Die Verfassung der Europäischen Union garantiert jedem individuellen und kollektiven Mitglied unveräußerliche Bürgerrechte – nicht zuletzt die freie Wahl seiner staatlichen Vertretung und Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Wenn jetzt das Credo des einheitliche Nationalstaats wieder benutzt werden soll, um Volkseinheiten, die nach einer eigenen autonomen Regierung streben, unter Androhung von Repression zu verpflichten, in dem nationalstaatlichen Zusammenhang zu verbleiben, in den sie im Lauf der Geschichte mehr oder weniger zufällig geraten sind, wenn die Europäische Union sich, obwohl auf Pluralität begründet, als Block hinter dieses Vorgehen des spanischen Nationalstaates stellt, so entspricht das weder der Verfassung der Europäischen Union, noch den Erfordernissen und Bedingungen der heutigen Zeit. Ein Aufbegehren dagegen ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig und weist in die Zukunft – wenn es nicht bei einer bloßen Abspaltung bleibt, die ihrerseits das Credo des einheitlichen Nationalstaats beibehält. Eine bloße Regionalisierung würde auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Multiplizierung des nationalstaatlichen Credos ins Kleine und tendenziell Unendliche. Das wäre eine sinnlose, sogar bedrängende Variante, deren Konsequenz nur die Wiederkehr krassester Spielarten des Nationalismus mit entsprechenden Vereinheitlichungs- und Säuberungs‘tendenzen sein könnte. Beispiele für solche Irrwege hat die neuere Geschichte leider auch zahlreich geliefert. Man denke nur an die Ukraine.

Was heute auf der Tagesordnung steht, ist die überfällige Befreiung des Lebens aus dem Monopol des einheitlichen Nationalstaats. Angesichts der historischen Erfahrungen, die zeigen, wie sich diese Staatsform immer wieder etabliert hat, wenn nur die Machtfrage, aber nicht die grundsätzliche Frage nach einem anderen Verständnis des Staates gestellt wird, kann das jedoch nicht zum widerholten Male als Eroberung der Macht geschehen, in die das herrschende Staatsverständnis mit hinübergenommen wird. Unumgänglich ist der bewusste Abschied vom Verständnis des Staates als einem alles regelnden Monopol und die schrittweise, aktive, kollektive Stärkung der heute bereits entwickelten Tendenzen, welche die Pluralität, die Dezentralisierung, die Kommunalisierung, die  vielfältigen Ansätze neuer Gemeinschaftsbildung usw., ebenso wie die übernationalen wirtschaftlichen und geistigen Strukturen als einen aus dem Leben hervorwachsenden Prozess schrittweise und beharrlich in die Realität bringt. Wenn dies als Impuls in den Wunsch nach Unabhängigkeit eingeht, hat sie ihren Namen verdient.

 

Das Buch zum Thema:

Jefim Berschin, dikoje polje, wildes Feld. Übersetzung aus dem Russischen. – Ein authentischer Bericht über den Sprachenkrieg in Moldawien am Ende der Sowjetunion 1992, der die politischen und ethischen Probleme eines Unabhängigkeitskrieges exemplarisch zeigt.

 

 

Europa verteidigen? – ja, aber gegen wen und wofür? Föderalistisches Pro gegen nationalistisches Contra

In letzter Zeit ist viel davon die Rede, Europa verteidigen zu müssen. Allen voran schlägt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ vor. In ihrem Schlepptau folgt die Verteidigungsministerin Ursula v. d. Leyen mit Aufrüstungsphantasien für die Bundeswehr. Der Kommissionspräsident der Europäischen Union Claude Juncker fordert die Mitglieder der Union zur Diskussion einer „Effektivisierung“ der Gemeinschaft durch deren „Differenzierung“ auf, lässt dabei allerdings ebenfalls seine Präferenz für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchblicken.  

Die Reihe derer, die in diesen Kanon einstimmen, ließe sich mühelos bis in die europäischen Stammtische fortsetzen. Selbst EU-Skeptiker, die eher eine fortschreitende Zentralisierung beklagen, lassen sich von diesen Tönen mitreißen.

Und ja, es gibt viel zu verteidigen. Es gibt sogar etwas zu gewinnen, nämlich ein demokratischeres Europa, eine gerechtere Zukunft, eine Wiederbelebung europäischen Geistes. Die Frage ist allein: Von welchem Europa ist die Rede, von welcher Bedrohung und wie soll diese gerechtere Zukunft aussehen?  Und was, schließlich, ist der europäische Geist? Darüber besteht ganz offensichtlich kein Konsens. 

Für die einen reicht Europa schlicht vom Nordkap bis Gibraltar, einschließlich Britanniens und Russlands bis zum Ural. Die anderen verstehen darunter die Europäische Union in den Grenzen ihrer Osterweiterung mit Optionen auf weitere Ausdehnung auf Kosten Russlands. Dies gilt vor allem für die nach dem Zerfall der Sowjetunion hinzugekommenen Mitglieder der EU. Sie „warnen“, wie die Polen,  vor einem „Kerneuropa“. Der Austritt Britanniens aus der Gemeinschaft dagegen stellt die EU als verbindlichen politischen Vertreter Europas offen in Frage. Andere wie die Griechen, denken über ihren möglichen Austritt nach.

Aus dem ganzen Wirrwarr taucht am Ende die Frage nach der Rolle Mitteleuropas aus der Vergessenheit der Geschichte wieder auf. Aber auch hier steht die Frage: Was wäre heute Mitteleuropa? Etwa Italien, Deutschland, Frankreich? Oder Deutschland, Polen und Frankreich? Oder Österreich, Deutschland und die Schweiz, also der  deutschsprachige Teil Europas? Oder schließlich einfach nur Deutschland als unerklärte Hegemonialmacht, wie man aus Auftritten deutscher Politiker in letzter Zeit schließen könnte?

 

Kurzer Rückblick in die neuere Geschichte

Angesichts dieses Chaos‘ ist ein kurzer Blick zurück in die neuere Geschichte unerlässlich, allerdings nicht etwa nur bis zu den Kinderschuhen der Europäischen Union nach dem zweiten Weltkrieg 1948/49, zu ihrer ersten Gestalt als Montanunion 1950 oder zu allen darauf folgenden Zusammenschlüssen  der EWG,  EG und schließlich der Europäischen Union; auch nicht nur bis zur Gründung des Völkerbundes nach dem ersten Weltkrieg 1920, sondern zurück in die Zeit vor diesen Versuchen gesamteuropäischer Zusammenschlüsse – in die Zeit,  als Europa noch nicht nach Nationalitäten, sondern in der Tradition des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“, also nach Fürstentümern gegliedert war.

Fixpunkt, bei dem ein solcher Rückblick in die neuere europäische Geschichte andocken kann, dürfte der Westfälische Friede von 1648 sein, mit dem der Dreißigjährige Krieg, der die Mitte Europas in eine Wüste verwandelt hatte, in eine erste, das ganze europäische Land umfassende Friedensordnung überging.

Was der Krieg 1648 hinterließ, war dennoch aber nicht etwa ein gesamt-europäischer Zusammenschluss, sondern eine Vielfalt der Fürstentümer und Kleinstaaten. Dynastische, auch religiöse, nicht ethnische Zugehörigkeiten waren die Basis dieser Ordnung.

Anders gesagt, die Entmischung des Vielvölkerraums  Europa nach ethnischen nationalen Kriterien hatte noch nicht stattgefunden,  was – dies sei hinzugefügt, um Kurzschlüssen zu begegnen – Pogrome gegen Andersgläubige, vornehmlich gegen Juden, aber auch andere wie die Hugenotten nicht ausschloss.

Mit Napoleons Eroberungen fand diese Zeit eine erste Wende. Die Reichsordnung des „Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation“ musste dem Code Napoleon weichen. Durch die Auflösung der alten Reichsordnung 1806 und nach der Niederlage Napoleons wurde, wie in Wikipedia richtig angemerkt, die staatliche Gestaltung Mitteleuropas zu einer zentralen Frage des 19. Jahrhunderts.

Die Frage stand: wie?  Würde sich aus dem Erbe des aufgelösten Reichsverbandes unter Aufnahme der Impulse, die aus der Krise der Habsburger Vielvölkertradition zur Lösung anstanden, ein föderales Mitteleuropa herausbilden oder der von Napoleon initiierte Nationalstaatsgedanke die Oberhand gewinnen?

Mit der Entscheidung der Revolutionäre der deutschen Revolution von 1848 für die damals so genannte „kleindeutsche Lösung“ anstelle der möglichen „großdeutschen“ wurden die Weichen auf nationalstaatliche Entwicklung Europas gestellt. Die Versammlung in der Paulskirche, in der über die Ergebnisse der Revolution entschieden wurde, stimmte für eine deutsche Einheit unter preußischer Führung  ohne Einbeziehung Österreichs. Österreich wurde damit aus der deutschen Entwicklung abgekoppelt.  

Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck vollendete diese Teilung Mitteleuropas in Kriegen Preußens gegen Dänemark, Hannover und die verbliebenen Kleinfürstentümer des deutschen Raumes, vor allem aber mit dem Sieg über die Habsburger 1866, also Österreich, und schließlich über die Franzosen. Am Ende dieser Politik, die als Bismarcks Politik von „Blut und Eisen“ in die Geschichte einging, stand die Gründung des deutschen einheitlichen Nationalstaats unter Kaiser Wilhelm in Versailles 1871.

Damit war der historische Moment für die Entstehung eines vielgliedrigen Mitteleuropa verstrichen, das die slawischen, deutschen und weitere Völker der alten Fürstenordnung Mitteleuropas in eine föderale Ordnung hätte überführen können. Sie hätte den Osten und den Westen, die südlichen und nördlichen Teile Europas als ausgleichende Mitte verbinden können. Was jetzt entstand, war ein ethnisch orientierter preußisch-deutscher Nationalstaat, ein expansiver Machtstaat anstelle eines möglichen föderalen und pluralen sich selbst genügenden Mitteleuropa, der seine Hegemonie gegen die revolutionären Forderungen der 48er Bewegung nach liberalen und föderalen Reformen und auf Kosten Österreichs mit Gewalt nach außen und Repression nach innen durchsetzte. Für seine Nachbarn, die mit der Kleinteiligkeit des mitteleuropäischen Vielvölkerraums gut hatten leben können, wuchs dieses wilhelminische Deutschland sehr schnell zu einer beängstigenden Bedrohung heran.

 

Zerstückelung Mitteleuropas

Das Ende dieser Entwicklung ist bekannt. Im ersten Weltkrieg entluden sich die Spannungen zwischen den noch bestehenden Strukturen der herkömmlichen europäischen und mit Europa verbundenen Reichsordnungen, also  zwischen Habsburg, Russland, im weiteren Sinne auch dem mit Europa über den Balkan sowie den Mittelmeerraum verbundenen Ottomanischen Reiches und den neuen Nationalstaaten Frankreich und dem Aufsteiger Deutschland. Besondere Spannungen ergaben sich zwischen Deutschland und Großbritannien, das als führende Kolonialmacht nach dem Niedergang Frankreichs zum unbestrittenen Hegemon Europas geworden war.

Weniger bekannt, genauer weitgehend aus der allgemeinen politischen Erinnerung verdrängt, ist das entscheidende Ergebnis dieses Krieges: Eine neue, über Europa hinausweisende Konstellation war durch den Kriegseintritt der USA an der Seite des Westmächte entstanden. Die Vielvölkerreiche der Habsburger und der Ottomanen verwandelten sich unter dem Diktat der Sieger, konkret durch das Programm der 14 Punkte, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson für eine Nachkriegsordnung vorlegte, in eine Vielzahl von Nationalstaaten. In der Folge ging die gewachsene europäische Völkersymbiose unter dem gutgemeinten Leitwort der Selbstbestimmung der Völker in ethnische Säuberungsansprüche und –kriege zwischen den neu geschaffenen Nationen über. Deutschland und Österreich wurden auf nationale Rumpfstaaten reduziert. Das alte Mitteleuropa war als politische Größe faktisch nicht mehr vorhanden.

Eine Sonderentwicklung nahm Russland ein. Zwar ging das zaristische Russland in den  Fluten der Februar- und dann der Oktoberrevolution von 1917 unter, die den Weltkrieg in Russland begleiteten, büßte auch seinen direkten Einfluss auf die slawischen Volksbewegungen Ost- und Südeuropas ein, der russische Vielvölkerorganismus aber blieb in der Gestalt der Sowjetunion als russisch dominierter Großraum erhalten.

Vom Ergebnis her hieß das alles: Das auf Deutschland  reduzierte Mitteleuropa war, scharf gesprochen, zur geopolitischen Geisel zwischen den  Westmächten und Russland geworden, hier repräsentiert durch die USA,  dort in der Gestalt der Sowjetunion.

Hitlers Versuch, das alte Mitteleuropa mit Gewalt, als groß-deutsches Reich, als deutschen Machtstaat, als deutschen Totalstaat, gestützt auf ethnische Säuberungen, die mit den gewachsenen Strukturen mitteleuropäischen „undeutschen“ Volksgutes endgültig aufräumen sollten, wiederherzustellen, endete mit der weiteren Zerschlagung der europäischen Mitte, mit der Teilung Deutschlands, mit einem geteilten Europa, eingekeilt im beginnenden Kalten Krieg zwischen West und Ost, dem atlantischen und dem sowjetischen Block. Das war eine nochmalige Zuspitzung der bereits nach dem 1. Weltkrieg entstandenen Situation. Die Gründung der Europäischen Union war der politische Ausdruck davon. Mit der Systemteilung der Welt trieb diese Entwicklung auf ihren Höhepunkt.

 

Und heute?

Auf die Öffnung der Mauer folgte die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, auf die Wiedervereinigung Deutschlands die Wiedervereinigung Europas, auf das Ende der Systemteilung der Welt die Globalisierung.

Aber ist damit die europäische Mitte wiederentstanden? Mitnichten. Entstanden ist ein deutscher Nationalstaat in einer Europäischen Union der Nationalstaaten. Miteinander suchen sie ihre Identität in dieser globalisierten Welt.

Die Europäische Union ist heute ohne Charakter – nicht West, nicht Ost, aber auch nicht Mitte.  Hin und her gerissen zwischen dem amerikanischen und dem Eurasischen Kontinent. Aber diese Polarität ist, obwohl noch vorhanden und gegenwärtig propagandistisch äußerst strapaziert, doch schon beinahe Vergangenheit. Die Konstellationen sind komplizierter geworden.

Da sind, über den aktuellen Anschein hinaus, nicht nur die USA und Russland, zwischen denen sich die EU entscheiden müsste. Hochgekommen ist, neben den USA und Russland, inzwischen auch China, für das sein Präsident Xi Ping soeben beansprucht hat, als Führungsmacht steuernd ins Weltgeschehen eingreifen zu wollen. Er möchte eine multipolare Weltordnung entstehen lassen. Da ist weiterhin die Türkei, die unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf eine Wiedergeburt Ottomanischer Größe im Mesopotamischen Raum orientiert. Da sind der Iran, Indien, Südamerika, da ist Afrika, da ist schließlich noch der politisch noch offene pazifische Raum – sie alle sind Größen, die Achtung erfordern.

 

Verteidigen?

Dies alles sind Herausforderungen – ja! Existenzielle Bedrohungen, wie sie in letzter Zeit in EU-Kreisen beschworen werden, gehen von dieser Konstellation für Europa allerdings nur dann aus, wenn nicht Kooperation im Zuge einer entstehenden multipolaren Ordnung, sondern Konkurrenz von Blöcken zur Leitschnur des Handelns gemacht wird, wenn mögliche Partner, seien es die USA, seien es Russland oder China zu Feinden und Un-Kulturen aufgebaut werden.

Auch die Migration aus dem Süden des Globus muss nicht in die Katastrophe führen, weder für die „entwickelten“ Industrieländer des globalen Nordens insgesamt, noch im Besonderen für die Europäische Union, wenn die Staaten der „noch nicht entwickelten“ Länder, zumeist ehemalige Kolonien, zuallererst durch einen allgemeinen Schuldenerlass, sodann durch gleichberechtigte Handelsbeziehungen anstelle der gegenwärtigen Knebelverträge aus den Fesseln der Abhängigkeit tatsächlich, nicht nur formal entlassen und als gleichberechtigte Partner akzeptiert und gefördert werden.

Zu verteidigen ist Europa aber entschieden gegen diejenigen, die von einer Überwindung des Nationalismus sprechen, während sie unter dem Stichwort eines „Kerneuropa“ die kriselnde Europäische Union real unter das Diktat eines Supra-Nationalstaates EU bringen wollen, der in Konkurrenz zu den bestehenden Großmächten Anspruch auf Weltführerschaft erhebt.

Noch klarer gesprochen, zu verteidigen ist Europa gegen eine erneute deutsche Dominanz in einem solchen „Kerneuropa“, die die Fehler eines deutschen Nationalstaates nach Bismarck, Wilhelm II. und dem „Dritten reich“ zum vierten Mal wiederholen könnte.

Wohin gehört unter diesen neuen Bedingungen heute Europa? Im Grunde wäre die Antwort klar, wenn die Europäische Union, allen voran darin Deutschland als deren Mitte, es schaffte, sich auf seine Geschichte vor den großen nationalen Katastrophen im zweiten, im ersten und noch vor den Kriegen Bismarcks zu besinnen: Europa gehört nicht in einen Block mit den USA, aber auch nicht in einen anderen mit Russland, ebenso wenig in einen dritten mit China. Die Entstehung solcher Blöcke wäre ein gefährlicher Brandsatz.

Ein Europa, das sich auf seine Vergangenheit besinnt, könnte die Kräfte entwickeln, die solchen Blockbildungen entgegenwirkt. Die heute entstandene globale Lage fordert geradezu einen Rückgriff auf jene damals nicht zur Entwicklung gekommenen föderalen Kräfte, die durch die Nationalstaatsordnung des 19. Und 20. Jahrhunderts abgewürgt wurden, die durch die gegenwärtige Organisation der EU jetzt noch weiter abgewürgt zu werden drohen. Europa muss sich an seine ur-eigenen Kräfte der Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen erinnern.

Allerdings geht es jetzt nicht mehr nur um Mitteleuropa zwischen dem Osten und dem Westen Europas, generell nicht mehr nur um Grenzgänge zwischen Osten und Westen. Jetzt geht es um ein föderal organisiertes Gesamteuropa, das seinen Platz als Vermittler in einer globalisierten Welt der Vernetzung und Kooperation findet. Dieses neue Europa muss nicht als alternativer Weltpolizist auftreten, der die USA in dieser Rolle ablöst, sondern als Botschafter, der den Geist des Ausgleichs am eigenen Beispiel einer funktionierenden föderalen Demokratie in die Welt zu tragen versucht.  Das wäre eine Antwort auf die Fragen, die am Anfang dieses Artikels gestellt worden sind. Das wäre, was europäischer Geist genannt werden könnte. 

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:

Kai Ehlers, Themenheft 19: Europa wohin? Ausgewählte Texte.

Zu bestellen über: www.kai-ehlers.de

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Aleppo – apropos Scham

„Das Versagen“, so lautete der Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Niederlage der „Rebellen“ in Aleppo am 17. Dezember.

„Dass wir alle etwas sehen im 21. Jahrhundert“, erklärte die deutsche Bundeskanzlerin auf dem zurückliegenden Gipfel der „Europäischen Union“, „was zum Schämen ist, wo das Herz bricht,  was zeigt, dass wir politisch nicht so handeln konnten, wie wir gerne handeln würden.“ (ebendort)

Ja! kann man dazu nur sagen! Ja! Es ist eine Schande, was dort in Aleppo, was heute noch in Syrien geschieht, was weiterhin dort zu geschehen droht .

Aber worin besteht das Versagen? Und wer sind „wir“, die sich schämen müssten, weil sie nicht so handeln konnten wie sie wollten?

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Brexit, Russland, Noworossija Kritischer Blick aus Russland auf die (europäische) Linke

Kai Ehlers/Boris Kagarlitzki

(Kai Ehlers) Der Brexit bringt es an den Tag: Wer geglaubt hat, das politische Russland nähme keinen Anteil am europäischen Geschehen, weil es zu sehr mit sich selber beschäftigt sei, sieht sich dieser Tage eines Besseren belehrt.

Zwar hält sich das offizielle Russland mit Stellungnahmen weitgehend zurück, um so aufmerksamer  jedoch werden die Vorgänge  von Seiten der radikaldemokratischen Opposition verfolgt, wie dem unten folgenden Text aus dem Moskauer ‚Institut für Fragen der Globalisierung‘ zu entnehmen ist. Das Institut, das von Boris Kagarlitzki geleitet wird, vertritt die radikaldemokratischen Teile der Opposition in Russland. Seine Vertreter sind nicht zu verwechseln mit den Kritikern,  die Putin  bis heute mit Argumenten des gescheiterten Jelzinschen Liberalismus attackieren.

Im radikaldemokratischen Lager fühlt man sich aktuell an die Erfahrungen erinnert, die in den zurückliegenden drei Jahren mit dem Verlauf der ukrainischen ‚Revolution‘ gemacht werden mussten, wo Ansätze zur Entwicklung von Demokratie in Nationalismus und Separatismus stecken geblieben sind und schließlich in  dem ‚eingefrorenen Konflikt’ endeten, den wir heute sehen.

Zur Kritik an der Politik des Westens, der ‚Demokratisierung‘ predigte, aber wirtschaftlichen Niedergang und die faktische Kolonisierung eines „failed state“ für die Ukraine brachte, kommt die ernüchternde Bestandsaufnahme  für den östlichen Teil des Landes hinzu, in dem die Visionen für Autonomie und Selbstbestimmung im Zuge des  inner-ukrainischen Krieges in einer Militärverwaltung untergingen.

Zur Erinnerung: Im Juli 2014, kurz nach dem Übertritt der Krim in russisches Staatsgebiet, fand in Jalta/Krim eine  Konferenz des internationalen Solidaritätsnetzwerkes der Globalisierungsgegner statt, das zur Solidarität mit den von einem Krieg bedrohten Menschen in der Ukraine aufrief.  Von den rund  70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern kamen vier Fünftel aus den autonomen Republiken Donezk, Lugansk und anderen nach Autonomie strebenden Teilen der Ukraine, die übrigen aus Russland, Europa, Kanada und den USA.

Die Konferenz verabschiedete eine „Erklärung von Jalta“, die zur Solidarität mit den vom Bürgerkrieg bedrohten Menschen in der Ukraine aufrief. Darüber hinaus verabschiedeten die Versammelten den Entwurf einer vorläufigen rätedemokratischen Verfassung mit Grundstrukturen wirtschaftlicher und politischer Selbst- und Mitbestimmung in den zu schaffenden zukünftigen autonomen Regionen der Ukraine.

(Details zu der Konferenz vom Juli 2014 und Wortlaut der Jalta-Erklärung in deutscher Übersetzung auf der Website von Kai Ehlers unter dem Stichwort ‚Yalta-Erklrärung“ oder über die LINKS:  https://test.kai-ehlers.de/2014/07/erklaerung-von-jalta/ und: https://test.kai-ehlers.de/2014/07/internationale-konferenz-in-jalta-aufruf-zur-verteidigung-der-menschenrechte-in-der-sued-und-ostukrainekonferenz/

Die Ansätze für eine basisorientierte Demokratisierung, die in der Aufbruchstimmung der sich formierenden Donbas-Republiken formuliert wurden, wurden  aber nicht nur Opfer des Bürgerkrieges, in dem Kiew demonstrierte, dass es nicht bereit war und ist, Strukturen der Selbstverwaltung  und Autonomie zu akzeptieren. Sie wurden auch Opfer der etablierten russischen Politik, die kein Interesse an revolutionären, ja, nicht einmal an radikaldemokratischen Entwicklungen hatte und bis heute  nicht hat – weder im eigenen Lande, noch in dem von ihm unterstützten Donbas.

Die folgende Analyse von Boris Kagarlitzki, der die  Ansätze zur demokratischen Selbstorganisation in den nach Autonomie strebenden Gebieten der Ukraine seinerzeit aktiv zu fördern suchte, beleuchtet die Parallelen zwischen dem Scheitern der ‚Demokratisierung‘ der Ukraine, insonderheit der Niederschlagung der Ansätze zur Selbstverwaltung im Donbas und den europäischen Entwicklungen, die zum Volksentscheid in England führten.

Vor dem Hintergrund der existenziellen nachsowjetischen Brüche und angesichts des harten Kampfes um neue soziale Organisationsformen und die Erhaltung der Einheit der russischen Gesellschaft kommt Kagarlitzkis Text in Kategorien daher, die in der moderaten Protestkultur Europas zurzeit nicht geläufig sind. Man wird sich aber wohl darauf einstellen müssen, solche Töne auch hier wieder öfter zu hören und sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen.

Kai Ehlers,

***

Brexit und Novorossija

(Zwischenüberschriften sind von Kai Ehlers gesetzt)

(Boris Kagarlitzki) Die Abstimmung der Briten, die sich für die Trennung von der Europäischen Union aussprachen, rief nicht nur Panik auf den Finanzmärkten hervor, sondern auch einen weltweiten Ausbruch der Empörung der liberalen Intellektuellen. Verblüffend dabei  ist, dass die Kommentare, die wir in den linksliberalen Publikationen auf dem Kontinent lesen, fast wörtlich mit dem übereinstimmen, was die Rechtsliberalen in der russischen Presse schreiben: Die Wahl der Briten erkläre sich ausschließlich durch Provinzialismus, Rückständigkeit, Xenophobie, Homophobie, durch die „Angst vor der Immigration“ und sogar durch Rassismus.

Die Autoren stören sich nicht einmal daran, dass viele von ihnen selbst noch vor kurzem England als das Musterbeispiel einer modernen, toleranten und demokratischen Gesellschaft präsentierten. Niemand interessiert sich für die Statistik, die mit der Teilung der Stimmen weniger in den Rassen- oder Genderunterschieden übereinstimmt, als in einem wesentlich bedeutenderen Maß den Klassenunterschied widerspiegelt.

Für den Austritt aus der EU stimmten vor allem die Arbeiterklasse und die unteren Schichten der Gesellschaft. Diese sozialen Schichten sind in der Regel tatsächlich nicht besonders gut gebildet, nicht selten auch mit Vorurteilen infiziert und ganz gewiss in den Neuheiten der postmodernistischen Philosophie nicht bewandert. Aber gerade die Bereitschaft der Linken sich selbst in einem Kultur-Ghetto einzuschließen, ihre Vorliebe dafür, sich  mit  ausländischen Kollegen auszutauschen, statt  unter den eigenen „unreifen“ Mitbürgern Aufklärungsarbeit zu leisten, zeichnet in hohem Maße die aktuelle Sachlage vor oder mehr, verschlimmert sie noch. Sehr leicht ist es, eine imaginäre und virtuelle Arbeiterklasse aus  romantischen Büchern oder Filmen zu lieben, wesentlich schwieriger ist es, die Bedürfnisse und Nöte der real existierenden unteren Schichten zu verstehen.

Sinn und Inhalt der Ereignisse zu erörtern ist viel zu gefährlich, es könnte unangenehme Fragen hervorrufen. Genau deshalb möchte niemand darüber diskutieren, wie sich die Systemkrise der Europäischen Union entwickelt, die nichts anderes darstellt, als die institutionelle Verkörperung des Neoliberalismus. Oder die Tatsache, dass die Massenstimmungen in Großbritannien die Oberhand über den Konsens der Eliten gewannen: unter Bedingungen, als alle wichtigen Parteien zur Wahl des Status Quo aufriefen, als die führenden Publikationen und die offiziellen Vertreter der Expertengemeinschaft das Volk einstimmig aufforderten, alles beim Alten zu lassen, und im Fall der falschen Wahl mit allen möglichen Heimsuchungen drohten, entschied sich das Volk. die Veränderung zu wählen.

Die Wahl des Brexit als einen Ausdruck des englischen (oder noch ein wenig – walisischen) Nationalismus zu verstehen, ist für die Eliten sowohl Russlands als auch Westeuropas bequem und nutzbringend, nicht nur weil eine solche Interpretation uns von der Frage des Systemcharakters der Krise wegbringt. Die Diskussion wird auf eine „falsche Fährte“ gelockt, um die Erörterung einer  praktischen Politik zu blockieren, die es erlaubt, die Protestwahl in den Anfang weitreichender Veränderungen zu verwandeln, die potentiell  revolutionären Charakter tragen.

 

‚Rechtsruck‘ der europäischen Linken

 Unter den westlichen Linken zeichneten sich solche Tendenzen schon damals ab, als die radikal antikapitalistische Rhetorik Antonio Negri’s und seiner Anhänger während des französischen Referendums über die Europäische Verfassung zur Grundlage der Agitation für die Übernahme des offiziellen Brüsseler Projekts wurde. Damals führte die gleiche Wahl gegen die EU faktisch nicht nur zum Sieg der Linken, sondern auch der Anhänger der „französischen Eigenart“, jedoch hatten die Linken zu diesem Zeitpunkt die Führung in der „Nein“-Bewegung und konnten diese Tatsache erfolgreich ignorieren.

Im Verlauf der seither vergangenen Jahre änderte sich die Situation nur darin, dass die Linken in ganz Europa nach rechts gerückt sind und den Slogan der europäischen Integration in die Legitimation ihrer eigenen Bereitschaft verwandelten, die gegebene Ordnung zu akzeptieren, praktisch im Austausch für das Privileg diese theoretisch zu kritisieren. Von diesem Moment an, unabhängig von der Radikalität der Worte, nahmen die respektablen linken Intellektuellen in jeder Situation einer praktischen Wahl die Seite der neoliberalen Eliten ein – gegen die „ungebildete“ und „rückständige“ Bevölkerung.

Internationalismus besteht aber nicht darin, die Integrationspolitik, die im Interesse des globalen Kapitals durchgeführt wird, mit Rührseligkeit zu unterstützen, sondern darin, auf der internationalen Ebene einen Widerstand gegen diese Politik solidarisch und koordiniert zu führen. Der Verrat der Intellektuellen wurde zum gesamteuropäischen Phänomen, nachdem die Klassenmerkmale durch kulturelle  Theorie und vielfältige elegante „Diskurse“ ersetzt wurden, deren Reproduktion zu dem Hauptkriterium mutierte, das erlaubte die „Unseren“ von den „Fremden“ zu unterscheiden.

 

‚Verratene Massen‘

 Die von den Linken verratenen und vergessenen Massen wurden nicht nur sich selbst überlassen. Indem sie ihre Vorurteile und den politischen Aberglauben behielten und noch mehr als vorher kultivierten, wurden sie  noch empfänglicher als zuvor für die nationalistische Ideologie. Wenn die Tätigkeit der Banker und der „über alle Grenzen hinweg“ agierenden Korporationen sich praktisch als der Inbegriff des “Internationalismus“ darstellt, und die demokratischen Rechte zugunsten der von niemanden gewählten und niemandem (außer vor den gleichen Bankern) verantwortlichen europäischen Beamten beschnitten werden, verwundert es nicht, dass einfache Menschen ihre Erlösung an Hoffnungen in einen Nationalstaat festzumachen beginnen.

Interessant, dass die europäischen Intellektuellen durchaus bereit waren, die Berechtigung dieser Gefühle unter Einwohnern Lateinamerikas anzuerkennen, in Russland aber schon nicht mehr.  Und je mehr  ähnliche  Proteste sich in den Ländern des „Zentrums“ zu entwickeln begannen, die dort Veränderungen von globaler Bedeutung herbeiführen können, traten die Ideologen der liberalen Linken einträchtig für den Schutz der bestehenden politischen Ordnung und der dominierenden Ideologie ein. Die gesellschaftliche Basis der Länder Europas wurde als „rückständig“, „inadäquat“ und „wild“ deklariert, genauso, wie man vor 150 Jahren die Eingeborenen als rückständig und wild bezeichnete, die der Kolonisation unterworfen werden sollten.

Es ist bezeichnend, dass in diesem Zusammenhang die russische liberale Öffentlichkeit erneut als Wegbereiter der antidemokratischen Reaktion hervortrat. Ihre Philippika an die Adresse ihres eigenen „mit mangelndem Bewusstsein ausgestatteten“ Volkes übertraf in erstaunlichem Maße die Muster, Ideen und Stereotypen, die sich – nur erst später – unter den Intellektuellen im Westen verbreiteten.

Dass die „Eingeborenen“, unabhängig von ihrem Kultur- und Bildungsniveau, gleichwohl Interessen und Rechte besitzen, stellt sich erst dann heraus, wenn die ignorierten und „unzivilisierten“ Massen aufhören zu schweigen. Ja, ihre Sprache erweist sich als stotterig und sogar einfältig. Aber in ihr klingen die Wahrheit und der Wille derer, die man lange Zeit nicht hören wollte.

Indes bedeutet die Bereitschaft der Menschen unangemessene und altmodische Formeln zu wiederholen bei Weitem nicht, dass sie ihre unmittelbaren Interessen vergessen. Sie beginnen zu handeln, ausgehend von  ihren eigenen Nöten, sind jedoch gezwungen ihre Bedürfnisse in unangemessener Form zu formulieren. Dafür muss man zuallererst den Linken – in England und auf dem Kontinent – die Schuld geben, die sich die Führung in der Bewegung der Massenproteste aus der Hand nehmen ließen, beziehungsweise es nicht vermochten, diese zu erlangen. Gerade die berauschende Selbstvergiftung der linken Intellektuellen mit den modernen liberalen Ideen spielte hier eine verhängnisvolle Rolle – nicht nur für den Massenprotest, sondern in erster Linie für die Intellektuellen selbst, die heute aus dem Ohnmachtsschock noch nicht erwacht sind: sie werden von der Bevölkerung in England genauso abgestoßen, wie in Russland.

 

Russische Linke und Novorossija

Kein Wunder, dass die Spaltung der Linken auf dem Kontinent (und ebenso in England) in Bezug auf Brexit sich genauso darstellt wie die in Russland und in der Ukraine in Bezug auf die Ereignisse in Novorossija. Dort und hier sahen wir den Aufstand von unten, der von dem radikalen Teil der linken Bewegung unterstützt wurde,  welcher der Klassenideologie gegenüber loyal blieb. Dort und hier sahen wir, dass die Forderung nach sozialen Rechten, der Protest gegen die neoliberale Politik der Europäischen Union und gegen die eigene Regierung oft einen Ausdruck in „unangemessenen“ Parolen fand – nach einer „russischen Welt“ oder einer „britischen Eigenart“. Dort und hier nahmen die raffinierten liberalen Intellektuellen die Unkorrektheit des völkischen „Diskurses“ zum Anlass, denen Solidarität zu versagen, die wirklich für gesellschaftliche Veränderungen kämpfen.

Die russischen Intellektuellen mit ihrer Verachtung für das eigene Volk und ihrer Bereitschaft, ihm unentwegt sein Unverständnis für die „europäischen Werte“ vorzuwerfen, fand endlich die folgerichtigen Gleichgesinnten auf beiden Seiten des Ärmelkanals.

Und wenn vor drei oder vier Jahren die Ereignisse in der Ukraine und Novorossija dem westlichen Intellektuellen als eine kurzweilige, aber etwas beängstigende Exotik erschienen, so sehen wir jetzt, dass sie lediglich ein besonderes Modell des gesamteuropäischen, vielleicht sogar weltweiten Prozesses demonstrierten.

Unglücklicherweise kann man geschichtliche Veränderungen nicht durch eine einmalige Willensäußerung an den Wahlurnen erreichen. In England beginnt alles erst. Die Regierungskreise der Insel verbergen ihr Streben nicht, den Willen der Bürger zu sabotieren, auch wenn sie diesen verbal anerkennen. Allein die Machtübernahme einer linken Labour-Regierung unter der Leitung von Jeremy Corbyn würde ernsthaft und konsequent erlauben, die Urteile des Referendums zu erfüllen. Der Bewegung für den Austritt aus der EU steht bevor, nicht nur den Widerstand der konservativer Eliten zu überwinden, sondern auch das Schwanken der Labour-Führung  und sogar seines Parteivorsitzenden selbst, der sich im Moment der entscheidenden Wahl nicht entschließen konnte, die eigenen Anhänger öffentlich zu unterstützen.

 

Großbritannien vor dem Zerreißen?

Während der Auseinandersetzung wird man unzweifelhaft versuchen, Großbritannien zu bestrafen, indem man den Staat auseinanderreißt. In diesem Zusammenhang steht den Linken bevor, ihr Verhältnis zu ihren „kleinen Völkern“ zu überdenken, ebenso wie die Bolschewiki nach 1917 dazu gezwungen waren. Wenn sie die territoriale Einheit nicht hätten erhalten können, hätten sie keine Chance gehabt, eine so massive Transformation umzusetzen. Und wenn Lenin und seine Mitstreiter nicht ein Land mit einer mächtigen Verteidigungsindustrie und reichen Kriegstraditionen geerbt hätten, hätten die „Roten“ kaum den Bürgerkrieg gewonnen.

Heute beobachten wir die gleiche geopolitische Logik in Großbritannien. Kaum hat sich die Mehrheit in England für eine Abspaltung von der Europäischen Union ausgesprochen, erklang sogleich die Forderung nach der schottischen Unabhängigkeit, die für ein Bestreben des „europäischen und fortschrittlichen“ Schottlands ausgegeben wird, sich von dem „rückständigen und provinziellen“ England abzuspalten. Aber es genügt, einen Blick auf das Geschehen auf dem Kontinent zu werfen, um zu verstehen – gerade die englischen Wähler drückten die neuen gesamteuropäischen Tendenzen und Bedürfnisse (in ihrer besten und schlimmsten Gestalt) aus. Das britische Referendum weckt nicht nur die nationalen Gefühle der kontinentalen Völker, sondern dient als Mobilisierungssignal für alle, die danach streben, das neoliberale Regime der Wirtschaft zu beenden und einen gesamteuropäischen Marsch auf die Wiederherstellung eines Sozialstaates zu beginnen. Aber die schottischen Nationalisten, ungeachtet ihrer ganzen progressistischen und modernistischen Rhetorik, zeigten sich als das, was sie wirklich sind – die Erben der Reaktionär-Jakobiner, die gegen die englische Revolution kämpften und sich dem gesamteuropäischen Fortschritt bereits im XVII und XVIII Jahrhundert widersetzten.

Genau damals wurde die Frage der schottischen Unabhängigkeit gelöst, die sich als ein Hindernis für die herangereiften Veränderungen nicht nur in England, sondern zu allererst in Schottland selbst erwies.

 

‚Revanche‘ für Thatchers Erbe

1980 verkündete der Machtantritt Margaret Thatcher’s den Beginn der neoliberalen Ära zunächst für Europa und später für die ganze Welt. Diese Ereignisse, zunächst als englische Einzigartigkeit wahrgenommen, nahmen nach und nach ein globales Ausmaß an. Der reaktionäre Angriff auf den „Sozialismus“, von Thatcher ausgerufen, endete in der Zerschlagung des sozialen Staates auf dem gesamten europäischen Kontinent, einschließlich der UdSSR-Republiken.

Fixiert wurde der reaktionäre Sieg durch den Vertrag von Maastricht, der die Europäische Union in ein neues Gefängnis der Völker verwandelte, in dem jeder Versuch den Neoliberalismus zu überwinden, sich als ein Anschlag auf die Verfassungsordnung darstellt. Zu diesem Zeitpunkt bildete sich das Schicksal der Sowjetrepubliken vollständig heraus. Selbst die Teile, die nicht offiziell in den europäischen Integrationsprozess eingebettet waren (wo man nur die „saubereren“ Baltikum-Staaten zuließ), nahmen mehr oder weniger die Logik der Privatisierung und antisozialer Reformen an.

Wie sehr die Veränderungen, die sich in den frühen 1980-ern in England entfalteten, unser eigenes Schicksal beeinflussten, erfasste unsere Gesellschaft (die damals gelähmt und unbeweglich erschien) in vollem Maße erst Jahrzehnte später. Das, was heute in England geschieht, betrifft uns nicht weniger. Wir sehen den Anfang einer neuen historischen Etappe, im Laufe derer die Chance hochkommt, den Neoliberalismus zu besiegen und auszumerzen und die gesellschaftliche Ordnung im eigenen Land genauso wie in ganz Europa zu verändern. Die Massen, denen ihre demokratische Souveränität von den liberalen Eliten gestohlen wurde, erhalten endlich die Gelegenheit für eine Revanche.

Der Kampf europäischer Völker gegen das neoliberale Regime der Europäischen Union bildet den wichtigsten politischen Inhalt der Epoche. Das Ergebnis dieses Kampfes hängt vom Umfang der Solidarität zwischen den Basisbewegungen und ihrer Fähigkeit ab, sich aufgrund der gemeinsamen Ziele und Aufgaben zu einigen, die Vorurteile und Illusionen zu überwinden und zu demontieren, und sich von entwertetem Vokabular und den veralteten Begriffen zu befreien.

Und wenn auch die politische Situation in Russland heute hoffnungslos gelähmt erscheint, wird unser Land auch diesmal nicht nur nicht neben dem sich entfaltenden globalen Prozess stehen, sondern wird sich höchstwahrscheinlich, wie es schon mehrmals in der Geschichte vorkam, als der Platz erweisen, an dem dieser Prozess seinen Höhepunkt erreicht und wo die entscheidende Schlacht stattfinden wird.

 

 

bei Kai Ehlers zu  zu beziehen:

 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg, Hamburg, 2014/5.

Band I: Gorbatschow und Jelzin, ISBN: 978-3-944233-28-4, 19,00 €

Band II: Putin, Medwedew, Putin, ISBN 978-3-944233-28-4 18,00 €

Die beiden Bände geben einen authentischen, chronologisch verfolgbaren Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika

und im heutigen Russland.

BREXIT Skizze: „Mehr EU“ oder Rückfall in Nationalismus – ist das die einzige Alternative?

Mehr Europa“, „mehr äußere, mehr innere Sicherheit“, Bildung eines „Kerneuropa“, geführt von einem „Direktorium“, bestehend aus Deutschland, Frankeich, Italien, deren Vertreter schon jetzt beteuern müssen, kein „Direktorium“ sein zu wollen, zugleich „Weiterentwicklung“ der EU-Institutionen zu einer „wahren europäischen Regierung“, die von einem europäischen Parlament kontrolliert werde – wahlweise, falls alles nicht klappe, „mehr NATO“ – solche Schlagworte beherrschen zurzeit die etablierte politische Debatte um die möglichen Konsequenzen, die dem Ausscheiden Englands aus dem EU-Verband zu folgen hätten. Das alles geschieht mit der Begründung, den „Rechtspopulisten“ für die Inszenierung eines Dominoeffektes weiterer Referenden nach ihrer Art und möglichen Gefährdungen durch Russland  keine Chancen geben zu dürfen..

Aber sind das die Alternativen: Mehr Zentralismus und „Sicherheit“ oder Rückfall in nationalistische Kleinstaaterei, an dessen Ende möglicherweise neue Kriege stehen könnten?

Nein, das sind schon lange nicht mehr die Alternativen.  Forderungen nach Autonomie sind in der EU heute keineswegs nur nationalistisch, fremdenfeindlich oder gar rassistisch orientiert. Man denke nur an die Schotten oder die Katalanen. Seit Jahren und mit zunehmender Erweiterung und in wachsendem Maße  entwickeln engagierte Demokraten Ideen, Vorschläge, Pläne und Aktivitäten für ein Europa selbst bestimmter Völker und Regionen, anstelle einer bürokratischen EU der „Institutionen“. Die Ereignisse in England heben das jetzt mit ins Licht. Im Folgenden werden die Grundideen, Perspektiven und Problem, die in diesen Zusammenhängen diskutiert werden, vorgestellt:

 

Europa der Regionen

Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage[i]

 Europa, die EU, der Euro-Raum befinden sich in der Krise. Das ist kein Geheimnis. Aus der Wertegemeinschaft, die nach zwei Weltkriegen aus dem Impuls hervorging, nie wieder Krieg, nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus auf europäischem Boden zuzulassen, treten die Konturen einer Festung Europa immer deutlicher hervor, für die die Konkurrenzfähigkeit im „global play“ oberste Priorität hat. Im selben Zuge kommen Impulse aus der Bevölkerung, die sich unter der Forderung nach mehr Demokratie gegen diese Entwicklung wenden.

Einer dieser Impulse ist agiert mit einer „Charta für ein Europa der Regionen“ [ii]. Die „Charta“ war Thema auf dem  zurückliegenden Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“[iii]. Die Frage lautete, was kann man, was muß man sich unter einem „Europa der Regionen“ vorstellen, das dem Anspruch einer „Charta“ gerecht werden will „Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage“ zu eröffnen?

 

Was ist eine Region?

Die Frage führt selbstverständlich sofort zum Kern: ‚Was, bitte sehr, ist eine Region? Wie definiert, wie bildet sie sich? Worin kann der Sinn einer Regionalisierung in einer global vernetzten Welt bestehen? Ist das nicht ein Weg zurück in Kleinstaaterei, in lokale Borniertheit und Gruppenegoismus?

Mit Besorgnis schaut man auf die Zerfallsprodukte der ehemaligen Sowjetunion, mit Besorgnis auch auf separatistische oder gar neu aufkommende nationalistische Tendenzen in der Europäischen Union. Selbst gemäßigte Forderungen nach Selbstbestimmung in Katalonien, in der Bretagne, in Schottland, bei den Flamen oder den Wallonen rufen gemischte Gefühle hervor. Andere Ansätze wie ‚Nowa Amerika’[iv]  an der polnisch-deutschen Grenze schweben noch im virtuellen Bereich oder – wie das Rekultivierungsprojekt „Terra Nova“ eines Künstlers wie Hermann Prigann[v]  in der ehemaligen Braunkohlenregion Cottbus – führen in kultur-ökologische Entwürfe, für die die Zeit noch reifen muss.

 

Unmut  gegen bürokratischen Dirigismus

Dieselbe Frage führt aber auch zum Unmut in weiteren Kreisen der Bevölkerung über die zentralistischen Tendenzen in der EU, in denen die Exekutive zunehmend Priorität gewinnt, zugespitzt durch die dirigistischen Kompetenzen der Europäischen Zentralbank, die nicht nur den Euro-Raum selbst, sondern im Zuge allgemeiner Vernetzungen auch die EU insgesamt und darüber hinaus die nicht im Euro-Raum und nicht in der EU organisierten europäischen Länder in Mitleidenschaft ziehen.

Fasst man noch mit ins Auge, was seit Juli dieses Jahres (also: 2013,  inzwischen: TTIP >Transatlantic Trade and Investment Partnership, und TPP> Trans-Pacific Partnership) unter dem Stichwort TAFTA (Transatlantic Free Trade Area), also einer umgreifenden transatlantischen Freihandelszone in einem neuen Anlauf auf überstaatlicher Ebene verhandelt wird, nachdem vorherige Ansätze dazu gescheitert waren, was dieses Mal aber in zwei Jahren unterzeichnet sein soll, dann wird vollends klar, was einem Europa der Regionen als Gegenpol gegenübersteht: eine durch demokratische Strukturen nicht mehr kontrollierbare Finanz- und Konzernherrschaft, welche die Souveränität der ihr angeschlossenen atlantischen – und auch der von ihnen  abhängigen – Staaten und Länder aufhebt.[vi]

 

Nicht Bankendiktat,  nicht Kleinstaaterei – wie geht das?

 Kurz, es stellt sich die Frage, wie kann ein Europa aussehen, in dem die Bevölkerung nicht dem Diktat der Banken und Monopole unterworfen wird, aber andererseits auch nicht auf historisch zurückliegende Stufen der Kleinstaaterei, des Nationalismus und des Lokalpatriotismus zurückfällt?

Eine Antwort auf diese Frage kann nur in der Wiederbelebung lokaler und regionaler Räume durch die selbstbestimmten Aktivitäten der in und von ihnen lebenden Menschen liegen, dies aber nicht in Rückwendung zu Kleinstaaterei, nicht in Rückwendung zum Nationalismus, aber auch nicht durch das Aufgehen der EU in einem globalen Weltwirtschaftsregime der Konzerne.

Aber wie ist diese Wiederbelebung lebendiger Regionen, besser wäre zu sagen, die Entwicklung eines über einen regressiven Regionalismus wie auch über einen totalitären Globalismus hinausgehenden neuen Verständnisses von Regionen zu verstehen?

Man muß klar sagen: Eine Antwort auf diese Frage, die in einem Zuge einfach umzusetzen wäre, gibt es nicht. Mehr noch, solange diese Frage in der Logik der heute herrschenden Paradigmen vom Nationalstaat (ungeachtet der Frage, ob mehr oder weniger demokratisch) gestellt wird, führen Antworten nur zu „No Goes“, einfach ins Absurde oder in abwegige Fundamentalismen.

 

Mögliche Perspektive

Eine mögliche Perspektive wird nur erkennbar, wenn die Logik der zur Zeit herrschenden Verhältnisse verlassen wird; das bedeutet – unglaublich einfach, aber gerade deswegen umso schwieriger umzusetzen – wenn zunächst im Denken nicht die Profitmaximierung, sondern die allseitige Befriedigung der Lebensbedürfnisse des einzelnen Menschen im Rahmen der Pflege und des Erhalts der Lebensgrundlagen unseres Planeten als Grundkonsens des gesellschaftlichen Zusammenlebens gesetzt wird, das heißt, um nicht missverstanden zu werden, wenn ein gedanklicher Austritt aus der herrschenden verbrauchsorientierten Wachstumslogik in eine am geistigen und sozialen Wachstum des Menschen orientierte Entwicklung gewagt wird.

Allein aus einer solchen Sicht, wird erkennbar, was in Zukunft eine Region sein könnte, die über die Hülle des Nationalstaates, der zunehmend von den internationalen Konzernen ausgehöhlt wird, aber auch über eine bloße Fragmentierung gewachsener gesellschaftlicher Zusammenhänge hinausführt: Die Region der Zukunft ist der Lebensraum einer auf Basis kooperativer Selbstbestimmung der lebenden Bevölkerung, innerhalb dessen solidarische Beziehungen überschaubar miteinander praktiziert werden können – nach unten untergliedert in lokale Zusammenhänge, nach oben vernetzt in föderale Beziehungen zu anderen Regionen.

Es macht keinen Sinn, sich hier und heute in Einzelheiten und in Zahlenspiele für Größenordnungen zukünftiger Regionen zu verstricken. Entscheidend ist, das Grundprinzip zu erkennen, von dem allein eine solche Ordnung des Zusammenlebens ausgehen kann: Selbstbestimmung und Selbstermächtigung des mündigen Menschen, die auf Basis persönlicher Verantwortung als Impuls in die engere Gemeinschaft und weitere Gesellschaft  nach strengem Subsidiaritätsprinzip, also mit einer grundsätzlich garantierten Rückbindung an die Basis hineinwirken. Das heißt: Regierung, auf welcher Stufe auch immer, ist unter den so entstehenden Bedingungen ein Dienen, ein Verwalten, ist organisatorische gegenseitige Hilfe, nicht Herrschen und Bestimmen oder gar Unterdrücken.

 

Neues Verständnis vom Staat

Nur vor dem Horizont einer solchen Perspektive wird der zu beschreitende Weg klar. Nur von dieser Grundposition kann Kraft und Ausdauer für den Hindernislauf gewonnen werden, als der sich die Verwirklichung dieser Perspektive durch schrittweise Reformen darstellt. Der Hürden sind zahllose! Die wichtigste Hürde dürfte in der Tatsache liegen, daß Selbstbestimmung und Selbstermächtigung ohne Verantwortung für das eigene Tun nicht zu haben sind. Anders gesagt: Die Schubkraft auf diesem Weg ist ein neue Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, letztlich, um es unmißverständlich zu sagen, ein neues Verständnis vom Staat.

In der Perspektive persönlicher, lokaler und regionaler Selbstermächtigung ist der Staat nicht mehr die Gewalt- und Kontroll-Instanz, die aus dem Machtmonopol eines anonymisierten Apparates heraus Anweisungen gibt, wie die Menschen zu leben haben, was ihnen zuzuteilen ist oder was nicht usw., an den, um auch das nicht zu vergessen, die Sorge für das Gemeinwohl abgegeben wird, sondern er ist Helfer, der aus der föderativen Kooperation von selbstbestimmten Gemeinschaften, Kommunen und Regionen hervorgeht. Das schließt gemeinsame Entwicklungs- und Überlebensinteressen aller Menschen und ihrer Lebenswelten natürlicherweise mit ein. Ein solcher Staat, der als Organ gegenseitiger Hilfe agiert, übernimmt die Regelung der Fragen, die vor Ort nicht sinnvoll allein geregelt werden können – basierend auf örtlicher Bindung.  –  Es ist klar, daß die Herausbildung freier, zur  Übernahme von Verantwortung fähiger und bereiter Menschen, eine vom jetzigen Staatsverständnis sich emanzipierende Bildungspolitik damit in den Vordergrund aller ins Auge zu fassenden politischen, sozialen und kulturellen Aufgaben rückt.

 

Kraft aus der Vision

Vor dem Hintergrund einer solchen Vision bekommt der Ruf nach einem Europa der Regionen seine Richtung und Kraft. Die Entwicklung der nächsten Schritte, der konkreten Formen ist eine Sache der konkreten Bedingungen und der sozialen Fantasie, deren Verbindung vielfältige Formen entstehen läßt und zuläßt. Keine muß der anderen vollkommen gleichen außer in einem: im Willen zur Selbstbestimmung, Selbstermächtigung und Selbstverantwortung im Interesse eines für alle Menschen, einschließlich der sie umgebenden Lebenswelt gedeihlichen Ganzen.

Dies ist ein Wegweiser, versteht sich, nicht der Weg selbst. Und um in dem Bild zu bleiben: Nicht jeder Mensch und nicht jede Gesellschaft ist bereits an diesem Wegweiser angekommen. Manche kämpfen sich noch im unwegsamen Vorfeld ab. Wir wollen jetzt nicht in die hier mögliche Aufzählung der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus einsteigen. Das muß konkreten Debatten an konkreten Fragen vorbehalten bleiben. Vermutlich ist dieser Wegweiser auch noch nicht der letzte. Das Mindeste allerdings, was man sagen kann, ist aber wohl, daß der Weg zu mehr Demokratie ohne einen deutlichen Wegweiser in Richtung der Selbstbestimmung des mündigen Einzelnen in kooperativer Gemeinschaft nicht gefunden werden kann. Das gilt auf jeden Fall für Europa. Welche Rolle Europa damit in der Welt wahrnimmt, muß sich zeigen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

***

Diese Überlegungen wurden im Bericht des 32. „Forums integrierte Gesellschaft“ im November 2013 skizziert.  Nachzulesen neben weiteren Texten zur Krise der EU, dem Verhältnis EU Europa und Fragen der möglichen demokratischen Entwicklung eines föderal organisierten Europa unter www.kai-ehlers.de (dort Stichwort: Themen in der Diskussion https://test.kai-ehlers.de/category/themen-in-der-diksussion/europa-themen-in-der-diksussion)

 

[i] Titel der unter Anm. 2 zitierten: „Charta für ein Europa der Regionen“

[ii] siehe dazu: www.demokratiekonferenz.org

[iii] https://test.kai-ehlers.de/category/forum-integrierte-gesellschaft/

[iv] Siehe dazu: (http://www.nowa-amerika.net/index.php/de)

[v] Siehe u.a.: http://jfa.arch.metu.edu.tr/archive/0258-5316/1997/cilt17/sayi_1_2/43-52.pdf,

Ausführliche Beschreibung des Projektes „Terra Nova“ auch in: „Die Kraft der ‚Überflüssigen’“,

Kai Ehlers, Pahl Rugenstein, 2013. – Hermann Prigann, † 09.12.2008

[vi]  TAFTA – die große Unterwerfung“ – Le Monde diplomatique Nr. 10255 / Aus dem Englischen von Niels Kadritzke. http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/11/08/a0003.text

EU – Brexit – Tür auf für eine Föderalisierung europäischer Regionen? Schlaglicht auf eine historische Tendenz.

Ein demokratisches Europa föderal verbundener Regionen, in dem die Menschen selbstbestimmt in kooperativer Gemeinschaft und Wohlstand miteinander leben können, ist eine wunderbare Vision. Was hat der Austritt der Briten aus der „Europäischen Union“ mit einer solchen Vision zu tun? Fördert er sie, schädigt er sie oder zerstört er sie gar?

Spekulieren über die nächsten konkreten Folgen des britischen Referendums macht wenig Sinn. Sehr viel mehr Sinn macht es, darüber nachzudenken, in welchem historischen Strom die britische Abstimmung steht. Das soll hier  in wenigen ersten Stichworten geschehen. Sie können zugleich ein Licht darauf werfen,  in wessen Interesse diese Entwicklung stattfinden könnte.

 

Zwischen Multipolarität …

Da  ist zunächst die Multipolarität: Mit dem Ende der Sowjetunion  Mitte der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts fand das Stichwort ‚multipolar‘ zugleich mit dem der Globalisierung seinen Eingang in die strategischen Optionen der neu entstehenden Weltordnung.

Es war Michail Gorbatschow, der es aus der Selbstbegründung des chinesischen Aufbruchs Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in die Debatte darum brachte, wie er sich die neue Ordnung vorstellen könnte – ein Wirtschaftsraum  von Lissabon bis Wladiwostok  im Rahmen einer neuen Gruppierung der Weltmächte.

Unter Boris Jelzin versank die Vision des Multipolaren vorübergehend in der uneingeschränkten westlichen Dominanz über Russland, vor allem seitens der USA.  Unter neuen Zielsetzungen tauchte sie erst unter Wladimir Putin wieder auf, fand in den Verbindungen der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in Russlands Forderungen nach Reformen der Vereinten Nationen, um die herum sich die verschiedenen globalen Newcomer scharten, ihre Aktualisierung. Russland wurde zu ihrem Impulsgeber.

 

…und Globalisierung

Die Globalisierung der alten Welt im Stile der US-Hegemonie stand dem als Counterpart entgegen. Diese Art der Globalisierung entwickelte sich aber in einer extrem widersprüchlichen Dynamik: Strategisch setzen die USA seit dem Zerfall der bipolaren Welt auf eine Fraktionierung der globalen Staatenwelt, also auf die Methode „Teile und Herrsche“ und dies mit zunehmender  Gewalt. In Zukunft müsse verhindert werden, dass der Herrschaft der USA irgendwo auf der Welt noch einmal ein Rivale entstehen könne.

Wer dies genauer verstehen will, möge sich das bekannte Buch des US-Strategen Zbigniew Brzezinski „Die einzige Weltmacht“ von 1995 noch einmal vornehmen.[1]

Zugleich bauten die USA und ihre westlichen Verbündeten unter dem  Label der ‚Globalisierung‘ ein von ihnen dominiertes weltumspannendes Finanzimperium auf, das den globalen Flickenteppich abhängiger Nationalstaaten und in zunehmendem Maße auch zerschlagener „failed states“, freundlich gesprochen, nur noch absorbiert und zur Abstützung ihrer Herrschaft benutzt.

Ergebnis dieser Entwicklung ist das Heranwachsen eines krassen  Widerspruchs zwischen einer von der Hegemonialmacht USA betriebenen Fraktionierung der Welt und dem  unter ihrer Dominanz zugleich entwickelten Diktat einer wachsenden globalen Finanzdiktatur – WTO, GATT, GATS, aktuell TTIP, TTP  usw.

Diese widersprüchliche Entwicklung trägt unter dem daraus entstehenden Druck zunehmende katastrophale Züge, die lokale Wirtschaften und Kulturen und deren Staatlichkeit erdrückt. Zugleich jedoch geht aus ihr,  entgegen den Intentionen ihrer Urheber, eine Wiederbelebung, gewissermaßen eine Unterfütterung der multipolaren Tendenzen durch vielfältigste Bewegungen für lokale und regionale Autonomie, für mehr Kompetenzen vor Ort, für unterschiedlichste Formen der Kommunalisierung hervor usw., in denen sich die wachsende Unzufriedenheit der Menschen ausdrückt, die sich ihr Leben vor Ort nicht mehr zerstören lassen wollen, die es auch nicht mehr bei Protesten belassen, sondern es bis hin zu Revolten selbst in die Hand nehmen wollen.

 

Die EU im Strom des Multipolaren

In diesem Strom steht inzwischen auch die EU. Schon mit ihrer Gründung war sie ein neues Element zwischen den USA und der Sowjetunion in der von beiden in der Konkurrenz des ‚Kalten Krieges‘ beherrschten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Das geteilte Deutschland in einem geteilten Europa war bis 1989 Ausdruck dieser Tatsache.

Nach dem Zerfall der Polarität von USA und SU seit Mitte der 1980er/Anfang der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts avancierte Europa in Gestalt der Ost-Erweiterung der EU und der NATO zu einem Bestandteil der sich herausbildenden multipolaren Welt,  die als „Friedensprojekt“ den Anspruch auf  demokratische Überwindung des europäischen Nationalismus stellte. Zugleich war sie aber Objekt des Konfliktes, der nach dem Zerfall der Sowjetunion zwischen dem Anspruch der USA auf Weltherrschaft und Russland als Protagonist einer sich andeutenden multipolaren Ordnung herangewachsen war. Man könnte beinahe versucht sein, von einem Opfer zu sprechen, das der Erhaltung der US-Hegemonie seitens der EU dargebracht wurde.

In diesem Zuge mutierte die EU als Bestandteil des globalen Finanzimperiums zu einem zunehmend bürgerfernen bürokratischen Superstaat, der die nationalen, nicht zuletzt die demokratischen Spielräume seiner Mitglieder  zusehends korsettierte.

 

Europa ist mehr als die EU

Im Effekt tritt in den Bewegungen der zurückliegenden Jahre die Tendenz hervor, dass die von den „Verteidigern“ der herrschenden Hegemonialordnung eingeschlagene Strategie der Fraktionierung der globalen Verhältnisse einerseits Unwillen, Chaos , rückwärts zum Nationalismus gewandte Tendenzen bis hin zu sich ausbreitenden Kriegen hervorbrachte und zunehmend bringt, andererseits aber auch den Keim einer neuen Ordnung erkennen lässt, der in die Richtung einer multipolaren, kooperativ und demokratisch orientierten Beziehung sich selbst bestimmender Völker, Länder, Regionen und Kommunen weist, die sich vom Joch eines lähmenden Zentralismus befreien wollen.

Beide Entwicklungen sind möglich. „Automatisch“ läuft nichts. Die eine ist brandgefährlich mit Tendenzen zur Ausweitung globaler Kriege, die andere vermittelt die Ahnung einer lebensdienlichen Zukunft – wenn der Umbruch, zudem  bekämpft von Gegnern, nicht selber die in ihm angelegten demokratischen Impulse verbraucht.

Kurz gesagt, es geht nicht nur darum die aktuellen Wirkungen des Brexit einzugrenzen, indem wir jetzt „Ruhe und Besonnenheit“ einhalten, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Erklärung zur britischen Entscheidung anmahnt, andererseits aber auch nicht darum, die Abkoppelung weiterer Austrittskandidaten zu beschleunigen, um den Restbestand der EU durch „Demokratisierung“ in ihrer Funktion als funktionierender Gesamtstaat zu retten, wie es der Präsident des europäischen Parlamentes Martin Schulz vorschlägt, oder gar durch Schrumpfung auf eine Kerngemeinschaft zu effektivieren, wie es Wolfgang Schäuble, dem deutschen Finanzminister, schon lange vorschwebt.

Es geht darum, das Europa sich als aktiver Teilnehmer in die Tendenz sich öffnender Föderalisierung europäischer Kommunen und Regionen in einer sich entwickelnden multipolaren Welt eingibt. Dies läge im Interesse der  Mehrheit der Menschen Europas, nicht nur der jetzigen EU – und zweifellos auch der übrigen „westlichen“ Welt.

Dies gilt selbstverständlich auch für Russland, dass seit Jahrzehnten der multipolaren Spur nachgeht – und es gilt nicht nur für seine Außenbeziehungen, sondern auch für seine innere Verfassung, die, anders als die EU, aber nicht minder eine Befreiung der Selbstbestimmungskräfte und regionalen Autonomie von einen strangulierenden Zentralismus braucht.

Man darf sagen, die Welt geht spannenden Veränderungen entgegen.

Kai Ehlers, www.kai-Ehlers.de

 

[1] Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft von Zbigniew Brzeziński.

Kopp Verlag – Unveränderte Neuauflage November 2015;

ISBN: 978-3-86445-249-9; Preis 9,95 €

 

Bildnachweis: Strassenszene IN OUT UK. BREXIT oder BREXIN / BREMAIN? Werden die Briten in der EU bleiben? Foto: Tyler Merbler. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

 

Merkels Minsker Märchenstunde

Parallel zu den NATO- Übungen in Polen, begleitet durch die neue Zielvorgabe von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Militärausgaben über das von der NATO geforderte Maß auf das der  Vereinigten Staaten heben zu wollen,  sollen nach dem Willen der EU, allen voran der deutschen Kanzlerin Merkel nun auch die Sanktionen, welche die EU im Sommer 2014 gegen Russland beschlossen hat, um ein weiteres halbes Jahr bis Ende Januar 2017 verlängert werden. Dies beschlossen die Botschafter der 28 EU-Staaten bei ihrem  letzten Treffen Anfang Juni einstimmig. Ihr Beschluss wurde soeben von Brüssel bestätigt.

Als Begründung für die Notwendigkeit der Verlängerung der Sanktionen wurde von der Botschafterversammlung angegeben, dass es mit der  Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die im Februar 2014 zwischen Angela Merkel, François Hollande , Wladimir Putin und Petro Poroschenko als „Reaktion auf Russlands Unterstützung der Separatisten“ beschlossen wurden, noch ‚gewaltig hapere‘, so der Tenor im Mitteilungsblatt der Regierung, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22.06.2016, dem ein ausführlicher Bericht zu dem Treffen zu entnehmen war. In dem Bericht heißt es:

„Nicht nur wird der damals  zugesagte Waffenstillstand immer wieder gebrochen. Noch längst wurden zudem offenbar nicht alle schweren Waffen  aus der Pufferzone abgezogen. Und nach wie vor  stehen die in Minsk  vereinbarten Kommunalwahlen  in der Ostukraine aus.“ Weitere Begründungen werden nicht gegeben.“

Stimmt. An der Grenze zwischen den Donbas-Republiken und der Kiewer Ukraine wird nach wie vor geschossen. Nicht mitgeteilt wird jedoch, wer schießt, obwohl die Frage eindeutig zu beantworten wäre: beide Seiten schießen. Die Klage darüber konnte man in den letzten Monaten in wachsendem Maße den Berichten der OSZE entnehmen und sogar aus Munde des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeiers hören. (siehe dazu diverse Berichte in russland.ru, jetzt russland.news), wenn er seine Eindrücke über die Erfolge der Demokratisierung in der Ukraine immer unzufriedener kommentierte.

Dass die  Kommunalwahlen der Ostukraine ausgeblieben seien, stimmt allerding s nur noch halb. Tatsache ist, es fanden Wahlen in der Ostukraine statt, allerdings nicht nach den in Minsk  vereinbarten, sondern nach eigenen örtlichen Bedingungen, weil die in den Minsker Beschlüssen vereinbarten Voraussetzungen von Kiew trotz diverser Gesprächsangebote aus dem Ostteil des Landes nicht hergestellt wurden. Eine Erinnerung an diese Vereinbarungen und ein Bestehen auf ihrer Einlösung sucht man in den  Begründungen für die aktuelle Sanktionsverlängerung jedoch vergebens.

Dabei könnte alles so einfach sein, wenn diese Vereinbarungen des Minsker Protokolls, die den Kern des Konfliktes zwischen Kiew und den Ostgebieten betreffen,  genannt, anerkannt und erfüllt würden. Sie lauten: Die Kiewer Regierung führt eine Verfassungsänderung durch, als deren wesentliches Ergebnis sie den Gebieten Donezk und Lugansk eine begrenzte Autonomie zugesteht, auf deren Grundlage dann Wahlen für die gesamte Ukraine durchgeführt werden können. (Siehe die Fakten zu den Vereinbarungen im 2. Teil dieses Artikels)

Tatsache ist, dass die Verfassungsreform bis heute nicht durchgeführt wurde, dass keine direkten Gespräche zwischen Kiew und den Donbas-Vertretern zur Vorbereitung und Einleitung einer solchen Reform zustande kamen – sei es, weil Poroschenko und seine Umgebung es selbst nicht wollen, sei es weil sie durch das nationalistisch dominierte Parlament daran gehindert werden. Mit Terroristen verhandeln wir nicht, hieß die bisher dabei von Kiewer Seite insgesamt verfolgte Linie.

Von  all dem – den ursprünglichen Vereinbarungen, wie deren Missachtung durch Kiew – ist,  wie gesagt, in den Begründungen für die Verlängerung der Sanktionen nicht mehr die Rede. Zwar werden von deutscher Seite, Steinmeier, großzügig „schrittweise Lockerungen“ der Sanktionen angeboten,  allerdings nur, wenn  „substanzielle Fortschritte“ bei der Umsetzung der Verträge erkennbar würden – substanziell von russischer Seite, versteht sich, wobei im Nebel bleibt, worum es hierbei gehen soll, da Russland eh schon seine Unterstützung auf die Aufrechterhaltung der rudimentären Infrastrukturen der Gebiete reduziert hat, die OSZE-Kontrollen in  mitträgt, den beschlossenen Fahrplan, wie oben  benannt, immer wieder zusammen mit den Donbas-Vertretern einklagt.

Dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wäre, wie er öffentlich erklärte, als „Signal aus Moskau“ sogar schon mit einem „Wahlgesetz für die Ostukraine“ Genüge getan. Aber selbst dafür, höhnt die „Frankfurter“, habe es in Minsk nicht gereicht.

Ähnliche  Töne wie die Steinmeiers und Gabriels sind auch von den Franzosen und Italienern,  waren in St. Petersburg vor einer Woche auch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu hören. Ungarn und Griechen schwanken. Gänzlich unnachgiebig sind die Balten und die Polen.

Kurz, es gibt durchaus widersprüchliche Positionen innerhalb der EU zu der Frage  und es fragt sich, wie lange die nach außen demonstrierte Einigkeit aufrechterhalten werden kann.  Nach dem Austritt Englands aus der EU stellt sich diese Frage noch einmal aktueller. In der Beschlussfassung zu den Sanktionen stellten jedoch weder Steinmeier, noch die Franzosen, noch die Italiener, noch sonst irgendjemand die Einstimmigkeit in Frage.

Die Beendigung der Minsker Märchenstunde lag  dann bei der deutschen Kanzlerin, die „klarstellt(e)“, wie die „Frankfurter Allgemeine“ es kernig formulierte, dass sie  eine Lockerung  der Sanktionen für „verfrüht“ halte. Die Zeitung weiß zu diesem Vorgang im Übrigen noch die folgende nette Anekdote zu berichten:

„Ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen war in der vergangenen Woche  mit zwei ranghohen Diplomaten  des Auswärtigen Amtes  nach Minsk gereist.  Nach der Reise  konnte Merkel sowohl Skeptikern in der EU als auch ihrem Koalitionspartner ausrichten: Seht her, wir haben es versucht. Aber es reicht noch nicht. Steinmeier und Gabriel mussten dies akzeptieren.“ So einfach ist das.

Was immer Kanzlerin Merkels Emissäre dort in „Minsk“ und bei wem  gefunden haben mögen – die tatsächlichen Vereinbarungen vom Februar 2015 fanden sie dort offenbar nicht. Angesichts eines solchen kollektiven Misserfolges bei der Suche nach Originalquellen oder auch einfach bedauerlichen Gedächtnisverlustes scheint es sinnvoll noch einmal an daran zu erinnern, was in den ursprünglichen Vereinbarungen zu finden wäre, was auch nicht mit neuen Reisen nach Minsk gesucht werden müsste, wenn man es denn finden wollte:

Dies kann jetzt und hier an Hand eines Textes von mir geschehen, der sich vor nahezu einem Jahr, am 1. Mai 2015, schon einmal die Aufgabe stellte, daran zu erinnern, was in Minsk tatsächlich beschlossen und schon seinerzeit beiseitegeschoben worden ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

***

 

Es folgt jetzt der Originaltext vom 1. Mai 2015, veröffentlicht u.a. in Russland.ru/russland.news

 

Wie alles sein könnte –

Ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen

 

Eigentlich ist alles ganz einfach: Die ukrainische Führung akzeptiert die Vereinbarungen des zweiten Minsker Treffens vom 12. Februar 2015, das heißt, sie geht mit den politischen Vertretungen der inzwischen selbst verwalteten Gebiete Donezk und Lugansk in direkte Verhandlungen über den autonomen Sonderstatus, den diese Gebiete ausgehend vom jetzigen Status quo in einer demokratisch und dezentral organisierten Ukraine erhalten sollen. Die Bereitschaft zu diesen Gesprächen geht von der Einsicht aus, dass eine militärische Lösung der Verfassungsprobleme der Ukraine nicht möglich ist.

Die Gespräche um Ausmaß und Form des autonomen Sonderstatus – Föderalisierung, Autonomie, lokale Sonderrechte oder einfache verwaltungstechnische Dezentralisierung – sind zugleich Bestandteil einer Verfassungsreform, als deren Ergebnis die autoritäre zentralstaatliche Organisation der Ukraine in eine dezentrale Demokratie umgewandelt werden soll.

Soweit, so klar, ein solches Vorgehen entspräche voll und ganz den Vereinbarungen, die in Minsk II getroffen wurden. Zur Erinnerung hier die entsprechenden Passagen der Minsker Vereinbarungen, die das Prozedere für die oben beschriebene Entwicklung unmissverständlich benennen (zitiert nach der „Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Ukrainekrise“, die dort am 19. Februar 2015 in Übernahme der Minsker Vereinbarungen beschlossen wurden):

 

Aufnahme eines Dialogs

Punkt 1 des Minsker Maßnahmenpaketes:

„Aufnahme eines Dialogs am ersten Tag des Abzugs (der schweren Waffen – ke) über die Modalitäten  von lokalen Wahlen  in Übereinstimmung mit ukrainischem Recht und dem Gesetz der Ukraine über  das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk  sowie über die künftigen Regelungen  für diese Regionen auf der Grundlage dieses Gesetzes. Unverzügliche Verabschiedung eines Beschlusses des Parlaments der Ukraine spätestens 30 Tage nach der Unterzeichnung dieses Dokuments, in dem das Gebiet, das einen Sonderstatus genießt, nach dem Gesetz der Ukraine über das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk festgelegt wird, und zwar auf der Grundlage der Linie des Minsker Memorandums vom 19. September 2014.„[i]

Kompliziert formuliert – aber doch klar: Nach Rückzug der schweren Waffen soll der direkte Dialog zwischen der Kiewer Führung und den selbstverwalteten  Gebieten Donezk und Lugansk aufgenommen werden, um den Status dieser Gebiete, auch den territorialen, im Verbund des ukrainischen Staates zu klären. Es werden keine Vorgaben über die Form und den Charakter dieses Status gemacht.

Noch deutlicher wird die Forderung nach einem Dialog in den Punkten 9 und 11 des Abkommens; diese Punkte sollen hier, wiewohl auch etwas mühsam zu lesen, ebenfalls zitiert werden, um Einseitigkeiten, Missverständnissen oder sei es auch nur einer allgemeinen Amnesie entgegenzuwirken:

 

Absprache und Einvernehmen

Punkt  9 und 11 des Maßnahmenpakets:

 „Wiederherstellung der vollen Kontrolle über die Staatsgrenze durch die ukrainische Regierung im gesamten Konfliktgebiet, die am ersten Tag  nach den lokalen Wahlen und nach der umfassenden politischen Regelung (lokale Wahlen in den gesonderten Regionen und Verwaltungsgebieten Donezk und Lugansk auf der Grundlage des Gesetzes der Ukraine und einer Verfassungsreform) endet; diese Regelung soll bis Ende 2015 finalisiert werden, vorausgesetzt, dass Absatz 11 in Absprache und im Einvernehmen mit Vertretern der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe umgesetzt wird.“

 

Punkt 11 lautet, um das gleich anzuschließen:

„Durchführung einer Verfassungsreform  in der Ukraine, wobei die neue Verfassung  bis Ende 2015 in Kraft treten soll und die Dezentralisierung  als Schlüsselelement vorsieht (einschließlich einer Bezugnahme auf die Besonderheiten  in den gesonderten Regionen Donezk und Lugansk, und  zwar in Absprache mit den Vertretern dieser Regionen), und Verabschiedung dauerhafter Rechtsvorschriften über den Sonderstatus der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  bis Ende 2015 in Übereinstimmung mit den in der Fußnote dargelegten Maßnahmen. (Anmerkung)“

Ist schon mit diesen Punkten klar, dass NICHTS gehen kann, ohne die Aufnahme eines direkten Gespräches zwischen Kiew und den „gesonderten Regionen“, so beseitigen die Fußnoten („Anmerkung“) jeden Zweifel, was der Geist von Minsk II, der so oft beschworen wird, eigentlich ist – oder sein könnte.

 

Möglichkeit zu Initiativen

„Anmerkung: Nach dem Gesetz über das Sonderverfahren für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  handelt es sich um folgende Maßnahmen:

– Verzicht auf Bestrafung, strafrechtliche Verfolgung und Diskriminierung von Personen, die in die Ereignisse verwickelt waren, die in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk stattgefunden haben;

– Recht auf sprachliche Selbstbestimmung;

– Beteiligung von Organen der lokalen Selbstverwaltung an der Ernennung der Leiter  der Staatsanwaltschaften und Gerichte in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk;

– Möglichkeit für zentrale Regierungsstellen, Vereinbarungen mit Organen der lokalen  Selbstverwaltung betreffend die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der gesonderten  Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk zu initiieren;

– Staatliche Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk mit Regionen der Russischen Föderation  durch zentrale Regierungsstellen;

– Schaffung von Volkspolizeieinheiten durch Beschlüsse der lokalen Räte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Die Befugnisse der in vorgezogenen Wahlen  und von der Werchowna Rada der Ukraine nach diesem Gesetz ernannten Abgeordneten von lokalen Räten und Amtsträgern können nicht vorzeitig beendet werden.“

 

Im Mittelpunkt der direkte Dialog

Auch wenn hier wieder kompliziert  formuliert wird und ohne an dieser Stelle auf  Einzelheiten eingehen zu können, geht doch auch aus den Anmerkungen eins klar hervor: Im Mittelpunkt der Absprachen steht die Einleitung eines direkten Dialoges zwischen den Konfliktparteien – und in diesem Zuge selbstverständlich auch mit anderen Regionen der Ukraine – um die Frage, welche Form eine Dezentralisierung der Ukraine annehmen kann. Über die konkrete Ausgestaltung soll miteinander gesprochen werden.

Merke: eine bestimmte Form wird in der Vereinbarung nicht vorweggenommen. Zu verhandeln wäre also über unterschiedliche Vorstellungen von der Föderalisierung, über Autonomie, lokale Sonderrechte bis hin zu einfacher Dezentralisierung von Verwaltungsbefugnissen. Die ganze Bandbreite steht zur Debatte.

Als Gesprächspartner werden die „Vertreter dieser Regionen“ zum einen und „zentrale Regierungsstellen“ zum anderen benannt. Den zentralen Regierungsstellen wird in den Anmerkungen (Satz vier) die „Möglichkeit“ eingeräumt, Vereinbarungen mit Organen der lokalen Selbstverwaltung zu „initiieren“, wohlgemerkt, nicht etwa zu verordnen oder zu befehlen, sondern ausdrücklich als Möglichkeit zu initiieren. Auch hier wieder keine Vorgabe einer bestimmten oder gar nur einer Lösung.

 

Politische Grundfrage lösen

Die Erfüllung weiterer Punkte des Minsker Abkommens – wie: Rückzug schwerer Waffen,  Amnestie, Gefangenenaustausch, humanitäre Hilfe, Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Landesteilen der Ukraine, „Entwaffnung illegaler Gruppen“, Rückzug aller „ausländischen bewaffneten Formationen“ wird dann möglich, kann dann einen Sinn machen und dann entspannende und aufbauende Folgen haben, wenn dieser Dialog um die grundsätzlichen politischen Fragen der Beziehung zwischen dem Kiewer Zentrum und als Statthalter des Staates und seiner einzelnen Subjekten effektiv im direkten Gespräch der Konfliktparteien aufgenommen wird.[ii]

Der Bevölkerung der Ukraine täte es zweifellos mehr als gut, wenn diese Gespräche endlich begonnen würden. Das gilt für die westliche Ukraine ebenso wie für die östlichen Teile, insbesondere natürlich für die „gesonderten Gebiete“ von Donezk und Lugansk, deren soziale und technische Infrastruktur durch den inzwischen einjährigen Krieg soweit zerstört ist, dass ein Leben dort auf ein Vegetieren unter dem Existenzminimum heruntergekommen ist.

Gut wäre die Aufnahme des Dialoges zweifellos auch für die Völker Russlands und die der Europäischen Union, denen die, in immer neue Milliarden gehenden, Lasten für den sinnlosen Sanktionskrieg des Westens gegen Russland und für die Kriegswirtschaft der Ukraine aufgebürdet werden.

Kommt noch das Aufatmen dazu, das durch die Welt ginge, wenn nicht Säbelrasseln, sondern Dialog, Verständigung und Kooperation die internationale Agenda bestimmte.

 

Falsches Spiel

Tatsächlich hat die erste Sitzung der ukrainischen Verfassungskommission, die eine Dezentralisierung der Ukraine einleiten soll, inzwischen stattgefunden –  allerdings gerade n i c h t  im Geiste der Minsker Vereinbarungen, sondern in dessen glatter Verkehrung: Föderalisierung sei eine „biologische Waffe“, die man der Ukraine „von außen aufzwingen“ wolle, „um unsere Einheit zu zerstören“, erklärte Präsident Poroschenko gleich zu Beginn der ersten Sitzung der Kommission. Damit schloss er eine offene Aussprache um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Dezentralisierung von vornherein aus. „Die Ukraine ist und bleibt ein Einheitsstaat“, postulierte er.

Zwar setzte Poroschenko, an die Kommission gewendet, noch hinzu: „Für diejenigen, die über Föderalisierung sprechen, schlage ich ein Instrument namens ‚Referendum‘ vor. Ich bin bereit für ein solches Referendum, wenn Sie das für notwendig halten.“ Den eigentlichen Punkt aber setzte Ministerpräsident Jazenjuk mit dem Statement: „Eine neue Verfassung müsse die Interessen des gesamten Landes berücksichtigen – von West nach Ost. Der Dialog mit dem Osten kann erst dann stattfinden, wenn es dort rechtmäßig gewählte Abgeordnete  gibt.  Wir verhandeln nicht mit russischen Kriminellen oder Terroristen.“[iii]

Der ukrainische Parlamentsvorsitzende Wolodymyr Hroisman erklärte im TV-Sender ‚Inter“, die Zentralregierung werde nach Abhaltung freier Lokalwahlen mit den Gewinnern  einen politischen Dialog führen. Anführer von Banditengruppen und Kämpfern  der sog.  „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ an künftigen Wahlen schieden jedoch aus. Und wörtlich: „Es können keine Mörder, keine Bandenführer und alle anderen gewählt werden. Das sind Verbrecher, die bestraft werden müssen.“[iv]

 

Autonomie von Kiews Gnaden

Voraufgegangen war diesen Auftritten die Verabschiedung eines „Gesetzes über die Autonomie in den Separatistengebieten“ in der Werchowna Rada Kiews. Nach diesem Gesetz soll über einen Autonomiestatus der Gebiete Donezk und Lugansk erst nach den gesonderten Kommunalwahlen vom 25. Oktober 2015  entschieden werden. Außerdem legt das Gesetz eine Liste von Ortschaften fest, für die künftig eine Autonomie gelten soll. Diese Territorien werden in dem Gesetz zu „vorübergehend  besetztem Gebiet“ erklärt.

Alle diese Änderungen wurden ohne Beteiligung der Vertreter von Donezk und Lugansk getroffen. Vorschläge, für den Verfassungsprozess, darunter auch solche zu den Kommunalwahlen, die die Vertreter von Donezk und Lugansk nach Kiew geschickt hatten, wurden von dort nicht beantwortet.[v]

Mit dem Gesetz über die Autonomie in den Separatistengebieten und den darauf folgenden Weichenstellungen des Verfassungskongresses ist das Minsker Abkommen faktisch vom Tisch. Die Konsequenz des Gesetzes wäre vielmehr, wenn es umgesetzt  werden könnte, dass die „gesonderten Gebiete“ ihren blutig erkämpften Sonderstatus erst aufgeben müssten, um ihn sich von Kiew dann wieder gewähren zu lassen. Es ist klar, dass die politischen Körperschaften, die durch die Referenden und die unabhängig von Kiew durchgeführten lokale Wahlen n Donezk und Lugansk im Lauf des Jahres 2014 legitimiert worden sind, sich darauf nicht einlassen können. Was jetzt kommt, wenn keine Korrektur erfolgt, kann unter diesen Umständen nur auf eine Fortsetzung der bisherigen „Anti-Terror-Aktion“ hinauslaufen, die sich wahlweise  als Verfassungsreform, Dezentralisierung oder Demokratisierung tarnt. Dass die so ins Visier genommenen „Terroristen“, dies nicht widerstandslos hinnehmen werden, ist ebenso klar. Offen ist allein, wie weit sich die hinter den Konfliktparteien stehenden Schutzmächte in die neue Runde der Konflikte aktiv mit einmischen oder mit in sie hinein ziehen lassen wollen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                             Freitag, 1. Mai 2015

Bücher zum Thema:

Peter Strutynski (Hg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, Papyrossa

 

Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.), Ukraine m Visier, Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, Selbrund Vlg.

 

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte

 

 

 

[i] Wortlaut von Minsk 1: http://www.bpb.de/internationales/europa/ukraine/192488/dokumentation-das-minsker-memorandum-vom-19-september

[ii] Vollständiger Wortlaut der UN-Resolution: http://www.russland.ru/resolution-des-un-sicherheitsrates-zur-ukrainekrise/

[iii] http://de.euronews.com/2015/04/06/poroschenko-ja-zur-dezentralisierung-nein-zum-foederalismus/

 

[iv] http://www.ukrinform.ua/deu/news/hroisman_von_einer_fderalisierung_der_ukraine_kann_keine_rede_sein_14829

[v] http://www.dw.de/keine-chance-auf-frieden-f%C3%BCr-ostukraine/a-18323459

Globales Zwischenhoch: Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum?

Die Augen müsse man sich reiben, alles werde auf den Kopf gestellt, konnte man dieser Tage in dem führenden Blatt der deutschen Konservativen, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.06.2016 lesen.

Empörung breitete sich auf den Bonner und Brüsseler Etagen aus. Einen „ungeheuerlichen Vorwurf“  erkannte der  Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Eckpfeiler der deutschen, der europäischen Außenpolitik, gar der NATO-Strategie sah man bedroht. Man wolle doch nur die Sicherheit an Russlands Grenzen sichern; ein anderes Interesse als Friedenserhaltung verfolge die NATO nicht, schob Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag darauf nach.

 

Putins Angebot: Weg mit den Sanktionen

Was war geschehen? Auf dem 20. Petersburger Wirtschaftsforum vom 17.06.2016, zu dem rund 500  Vertreter und Vertreterinnen von ausländischen Unternehmen aus 60 Ländern, vornehmlich aus dem Nahen Osten und Asien, aber auch aus den USA und der EU angereist waren, unter ihnen auch der Präsident der Europäischen Kommission der EU, Jean-Claude Juncker, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Gäste aus der EU mit dem Angebot überrascht, die von Russland als Reaktion auf die vom Westen nach den Krim-Ereignissen gegenüber Russland verhängten Sanktionen von Russlands Seite her aufzuheben. Gemeinsam könne  man an den Aufbau einer eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft  gehen  – wenn Russland sich darauf verlassen könne, anschließend nicht (man konnte das feine ‚wieder‘ mit heraushören) betrogen zu werden.

Und nicht nur das: Nicht nur lobte UN-Präsident Ban Ki-Moon Gastgeber Putin für seinen mutigen Schritt und dankte für sein Engagement in Syrien, nicht nur kniff sich Juncker eine Zustimmung zu dieser Perspektive ab, vorausgesetzt, dass  Russland sich weiter kooperativ zeige, nein, allen voran nutzte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Gut-Wetter-Lücke zwischen dem Treffen in St. Petersburg und der für den 8. und 9. Juli bevorstehenden NATO-Tagung,  mit Hinweis auf das zur Zeit in Polen durchgeführte  Nato-Groß-Manöver „Anaconda“ in der „Bild am Sonntag“ öffentlich zu mahnen: „Was wir jetzt nicht tun sollten, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeschrei  die Lage weiter anzuheizen.“

 

Aber war denn nicht alles ganz anders …

Aber die  so Ermahnten können es einfach nicht glauben. War denn nicht alles ganz anders? Werden damit nicht alle Tatsachen auf den Kopf gestellt? War es nicht so, wie man es in der FAZ vom 20.Juli lesen konnte ? „Ursache für die Eiszeit  ist der Verstoß Russlands gegen Prinzipien,  die jahrzehntelang für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt hatten. Es war nicht die Nato, sondern der Kreml, der die Krim okkupierte und der in der Ostukraine einen (Sitz-)Krieg führt. Es ist nicht die Nato, sondern Moskau,  vor dem sich  die baltischen Republiken und Polen fürchten,  weswegen sie aus freien Stücken der atlantischen Allianz beitraten. Bis zur Annexion der Krim spielte die Nato militärisch in diesen Ländern keine Rolle. Auch die vier Bataillone, die dort stationiert werden sollen,  stellen keine Bedrohung für Russland dar, das auf seiner Seite der Grenze Divisionen stehen hat.  Steinmeier spricht zu Recht  von ‚symbolischen Panzerparaden‘. Die Nato-Verbände haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, das der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe.  Und dass die NATO einen Angriff  auf eines ihrer Mitglieder  als Angriff auf alle betrachten würde.“

Bemerkenswert! Wirklich bemerkenswert diese Sicht! Man kann die Welt doch von sehr verschiedenen Seiten betrachten. Aber man muss sich hier nicht bei den gröbsten Verdrehungen aufhalten, wie etwa der, Russland habe die Krim „besetzt“, man  muss auch nicht den Versuchen Steinmeiers und seiner Parteigänger erliegen, das Schwanken zwischen Verlängerung der Sanktionen gegen Russland und zögernder Anerkennung für dessen Einsatz in Syrien für eine „neue Entspannungspolitik“ auszugeben, es gar noch „im Geiste Brandts“ verstehen. Zu offensichtlich ist die Hilflosigkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit dieser Politik, wenn man wahrnehmen muss, wie in strategischen Hinterstuben zugleich Pläne für die nächste Phase geplanter Aggression geschmiedet werden:

  • Die Forderung von 51 US-Diplomaten aus dem Mittelbau des außenpolitischen Establishments, die in einem offenen Brief verlangen, die Politik des „Regimechange“ in Syrien durch Bombardierung von Assads Truppen wieder aufzunehmen. Dies würde den Krieg mit Russland zumindest in Kauf nehmen.
  • Das Offenhalten des Ukraine-Konfliktes, indem die ukrainische Regierung sich – trotz verbaler Kritiken seitens der EU, Steinmeiers, und selbst seitens der USA von ihnen dennoch geduldet – weigert, den Donbas-Republiken ihren im Minsker Vertrag vereinbarten Autonomiestatus zuzuerkennen – die Schuld dafür aber der andauernden „Aggressivität“ der Russen zuschiebt.
  • Die nochmalige Verlängerung der Sanktionen seitens der USA und der EU gegen Russland, sogar Forderungen nach weiterer Verschärfung, so dass es Millionen wirklich wehtue, weil nur so an einen Sturz Putins gedacht werden könne.

 

An einem Wendepunkt angekommen

 Man muss auch Russland nicht in Schutz nehmen als wäre es ein Neugeborenes, das den  Härten der US-, EU-, Nato-Welt und überhaupt den imperialen globalen Realitäten, den Verleumdungen Russlands als Reich des Bösen mit einer Widergeburt Hitlers als Präsidenten noch nicht gewachsenen sei, dem also schon einmal Fehler unterlaufen könnten, ohne dass man es dafür kritisieren müsste. Aus der zweiten und dritten Reihe werden auch in Russland durchaus dumpfe Töne laut.

Nein, man muss jetzt vor allem erst einmal die Tatsache erkennen, dass Russland 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder in die Weltpolitik eingetreten, dass sein Präsident Putin ungeachtet aller Anwürfe als Wiedergänger Hitlers zum anerkannten globalen Krisenmanager aufgerückt ist. Und man muss dies nicht nur konstatieren, um sich dann darauf auszuruhen, es ist auch wichtig zu erkennen, wie es dahin kam, welche Elemente in diesem Krisenmanagement wirksam sind und wo seine Grenzen liegen, um zu verstehen in welcher Etappe der Neuordnung wir uns 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der systemgeteilten Welt, die den Kriegen des vorigen Jahrhunderts folgte, heute befinden.

Denn ungelöst sind die aus dem letzten Jahrhundert herüber gewachsenen Grundfragen, die über ein vorübergehendes Krisenmanagement durch eine charismatische Figur wie den gegenwärtigen russischen Präsidenten weit hinausführen.

Wer diesen Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre richtet, erkennt, dass die globale Konstellation mit Putins neuerlichem Angebot an die Europäische Union an einem Wendepunkt angekommen ist.

 

Drei Etappen des  russischen Aufstiegs

Drei Etappen lassen sich bei dem Aufstieg Russlands in seine gegenwärtige Rolle des globalen Krisenmanagers benennen:

Das ist zunächst das  Wegbrechen jeglicher Staatlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und dem Kniefall vor dem Westen unter Boris Jelzin in den Jahren 1985 bis 1998.

Das ist darauf folgend die Wiederherstellung rudimentärer Staatlichkeit und einer mühsamen inneren Stabilisierung unter Putin  im Inneren des Landes seit 1998 bis heute (allerdings schon begonnen unter Primakow 1998, was in der Regel unterschlagen wird).

Das ist, aus dem inneren Krisenmanagement erwachsen, der Übergang in ein Wiedereintreten des Landes in seine Rolle als Integrationsknoten Eurasiens, der für die Newcomer aus den ehemaligen Kolonien zum wichtigsten Partner in ihrem Streben nach einer Ablösung der von den USA allein und militärisch dominierten Weltordnung wurde.

Aber nicht Diktat und Repression, wie westliche Propaganda es immer wieder nahelegt,  hat diesen Weg des inneren und danach äußeren Krisenmanagements getragen, nicht imperiale Stärke,  sondern im Gegenteil eine von Putin aus dem geschwächten eurasischen Zentrum heraus entwickelte Politik des Konsenses.

Aus dem Konsens heraus ist Russlands Wiederherstellung seiner Staatlichkeit im Inneren erfolgt, zweifellos „vertikal“, nicht demokratisch, aber gestützt auf die Struktur realer Vielfalt im Lande. Aus dem inneren Konsens heraus hat Russland seine Rolle als Motor einer internationalen Gegenbewegung der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion Union entwickelt – letztere immer mit Blick auf Kooperation, nicht zuletzt mit der EU, statt auf Konfrontation.

Die Angebote Putins, Medwedews und anderer russischer Politiker zur Kooperation in einer „Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok“ waren die immer wiederkehrende Essenz dieser Politik, bis Russland sich angesichts der zügellosen Ost-Erweiterung von EU, NATO und dem frechen Vordringen der USA auf den eurasischen Kontinent, ihrem schrittweisen, systematischen Einkreisen der russischen Grenzen seit der Auflösung des Warschauer Paktes, gezwungen sah,  aus der Duldung dieser Einkreisung  in die Verteidigung seiner Grenzen zugehen.

 

Übergang zur offensiven Verteidigung

Das geschah erstmalig mit der deutlichen Antwort auf die georgischen Provokationen von 2004, die Russland militärisch zurückwies.

Das wiederholte sich gegenüber den Versuchen, die Ukraine 2008, dann endgültig seit dem Maidan 2013/14 ins westliche Bündnis zu ziehen, indem Russland den Austrittswillen der Krim in einem schnellen Referendum aufgriff und den Osten in seinen Autonomiebestrebungen personell und sachlich unterstützte.

Das steigerte sich schließlich in dem Einsatz von Kampffliegern in Syrien, nachdem alle Versuche, eine friedliche Beilegung des von der US-Allianz betriebenen gewaltsamen „Regimechanges“ auf dem Verhandlungswege mit der US-geführten „westlichen Allianz“ zu erreichen, auch im fünften Jahr dieses unerklärten Krieges noch am Widerstand der USA gescheitert waren. Erst  der Einsatz der russischen Bomber erzwang jetzt den – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.

Ähnliches gilt für die Ukraine, deren „eingefrorener Konflikt“ nur deshalb nicht heiß weiter läuft, weil Russland nach wie vor als Garantiemacht hinter den selbsterklärten Republiken des Donbas steht.

Dies alles sind bekannte Tatsachen, die hier nicht zum hundertsten Male neu im Detail ausgebreitet werden müssen. Dadurch werden sie für die, die sie leugnen, nicht wahrer. Diese Menschen sehen die Dinge schlicht von der anderen Seite. Es dürfte wichtig sein, ihre Motive und Aktivitäten nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen.

 

Erkennbare Grenzen

Aber hier werden selbstverständlich auch schon die Grenzen des russischen Krisenmanagements sichtbar, das nach der Ausdehnung seiner Sicherheitspolitik  in den globalen Raum nunmehr wieder in verstärktem Maße mit der  Sicherung seiner inneren, hauptsächlich der sozialen und „nationalen“ Fragen, d.h., der Entwicklung seiner Republiken konfrontiert ist. Darüber hinaus stellt sich für Russland auf längere Sicht die Frage, ob und wie es unter diesem Druck die Kraft hat, dem Kulturimpuls als „Entwicklungsland neuen Typs“ gerecht zu werden, der in der Überwindung von sowjetischem Sozialismus und heutigem Turbo-Kapitalismus neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen könnte, die sich auf die tausendjährige (zweifellos auch sehr widersprüchliche)  Gemeinschaftskultur Russlands stützen  könnten – ohne dass daran nach dem Niedergang des Zarismus, danach dem des sowjetischen Imperiums, nunmehr auch der als zentralisierte Föderation übriggebliebene  Vielvölkerorganismus des neuen Russland zerbricht.

Dies alles muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass die grundlegenden Konflikte der sich heute entwickelnden globalen Übergangsordnung in keiner Weise gelöst, ja, zum Teil noch nicht einmal richtig erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, dann leichtfertig oder sogar wissentlich – ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen der globalen Bevölkerung – beiseitegeschoben werden.

Es sind dies Fragen, die das ganze globale Feld heute betreffen, aber eben auch Russland in seiner Dynamik als aus der Asche des Sozialismus auftauchendem potentiellen Protagonisten einer möglichen Neuordnung, dem die widersprüchliche Aufgabe zufällt, sich als „Hybrid“ neu zu erfinden, der sich in die „Moderne“ einfügen muss, der sich aber in seiner undefinierten, in Bewegung befindlichen Mischung aus gemeinschaftsorientierten und neo-kapitalistisch orientierten Lebensweisen nicht in die „normalen“, sprich zerstörerischen Krisenzyklen der kapitalistischen Welt einfügen kann – und es auch nicht will.

Die Grundfragen, deren Lösung ansteht, sind nicht zu umgehen – so oder so nicht. Fassen wir sie zusammen, dann lauten sie so:

  • Wie wollen wir leben, wenn nicht sozialistisch nach Art der Sowjetunion, aber auch nicht im nach-sozialistischen Turbo-Kapitalismus? Wie wird die soziale Frage der „Überflüssigen“ gelöst, die aus der ungebremsten Automatisierung bei gleichzeitiger rasanter Vermehrung der Weltbevölkerung erwächst?
  • Wie wird die „Nationale Frage“ in einer Welt gelöst, auf der unter dem Prinzip „Teile und Herrsche“ bei gleichzeitigen globalen Zentralisierungstendenzen immer mehr „eingefrorene Konflikte“ als Minenfelder für zukünftige Politik zurückbleiben?
  • Wie sind die zerstörerischen Folgen des immer noch wachstumsorientierten Expansionismus ohne Krieg zu bewältigen?

Wie lange und wie weit Russland zur friedlichen, kooperativen Lösung dieser Fragen beitragen kann, ist eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende Frage der nächsten Etappe.

 

Kai Ehlers, 21.06.2016

www.kai-ehlers.de

 

 

 

Aufgaben Deutschlands, Aufgaben in Deutschland in der allumfassenden Krise!

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

Bericht vom 57. „Forum integrierte Gesellschaft“

Einladung zum kommenden am 1. Mai.

 

Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis, mit dem Ziel kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen  Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt.

 

Liebe Freundinnen und Freunde des Forums.

 

Der heutige Bericht fällt noch knapper aus als der letzte. Der Grund ist ein doppelter: Eine Berichterstattung zu dem Treffen war wegen längeren Aufenthaltes des Berichterstatters in Russland, zweitens wegen dessen Krankheit nicht zu schaffen. Deshalb jetzt in aller Kürze:

Die Frage des letzten Treffens: „Was kann, was muss unsere Aufgabe in Deutschland angesichts der geistigen Herausforderung durch die globale Krise, durch die europäische Krise, durch Phänomene wie den „IS“ heute sein?

Unsere Annäherung: Konzentration auf eine Erneuerung der „europäischen Werte“  von unten – soll heißen in Auseinandersetzung mit deren Ver- und Missbrauch durch die „Politik“. Wiederanknüpfen an der geistigen Tradition des deutschen Idealismus vor dem Aufbruch Deutschlands zum Inperialismus und vor  dem Weltkriegsjahrhundert, sowie vor  der Verballhornung dieser Werte zu einer von „oben“ und „außen“ gestifteten Formaldemokratie nach 1945, an welcher die Bevölkerung demnächst nur noch per Knopfdruck am Laptop teilnehmen wird…

Diesem Niedergang gilt es entgegenzutreten, die historischen Impulse – grob gesprochen, beide Pole: Goethe hier, Faschismus da – gleichermaßen als Erbe anzunehmen, um so zu einem geistigen Vermögen, einer Vision und daraus hervorgehend zu einem politischen Instrument für die Stärkung, den Aufbau, die Entwicklung einer Gesellschaft selbstbestimmter Individuen zu kommen. (Wer dazu mehr lesen möchte, kann in den Forums-Berichten auf der Website www.kai-ehlers.de der letzten Zeit oder in ihren/seinen eigenen Berichten) ein wenig zurückblättern.)

Vor dem Hintergrund dieses Standes unserer Runde entschlossen wir uns zu einem Sprung in die Praxis über den Forums-Kreis hinaus zu wagen.

So wird das kommende Forum sich mit der in den letzten Monaten vorgestellten Inititiave „VVV“ (Verfassung vom Volk“ beschäftigen (http://www.verfassung-vom-volk.org ). Unser Wunsch ist in Hamburg einen Versuch eines öffentlichen Wirkens mit Ihnen zusammen zu starten. Das Thema „VVV“ wird also auf der kommenden Tagesordnung des Forums stehen.

Treffen zur Erarbeitung um die VVV-Initiative

  1. Mai, 16.00 am bekannten Ort. Achtung:

***** Aus Gesundheitsgründen könnte es so kommen, dass der Termin verschoben werden muss. Bitte deshalb vor Aufbruch zum Treffen überprüfen, ob der Termin weiter steht. Wenn keine Absage kommt – steht er. ******

Und noch dies:

Wer an der Erarbeitung und  möglichen Umsetzung teilnehmen will, ist herzlich eingeladen. Mail genügt: info@kai-ehlers.de (Achtung: Treffen in Hamburg)

 

Im Namen des Forums integrierte Gesellschaft,

Kai Ehlers

 

 

 

 

Hier Vorschläge aktuell — Stand 12.04.2018

  • Ukraine, Syrien, Korea – Bestandsaufnahme und Analyse des aktuellen Propagandakrieges
  • Kann Deutschland neutral sein? Überlegungen zur Rolle Deutschlandsals Scharnier und Mitte im Ost-West-Konflikt
  • Angst vor Russland, warum?
  • Putin im Fadenkreuz – Warum und wie Russland das durchhalten kann.Eintauchen in die Frage der russischen Autarkie
  • Europa ohne Russland? Kann es Europa ohne Russland geben? Betrachtungen zu paradoxen Verbundenheit und Russland und Europa.
  • Auf der Suche nach der russischen Idee. Skizze aktueller Ansätze. Gibt es einen russischen Nationalismus?
  • Dreigliederung – Traum oder Weg aus der globalen Krise?
  • Was treibt die Menschen in den Krieg? Egoismus, Altruismus, ethischer Individualismus

Zwei Anmerkungen noch:

Ich bin auch zur Übernahme von Themen bereit, die Ihnen das aktuelle Geschehen aufdrängt,

Nach wie vor stehen die Themen in meinem Angebot, die Sie weiter unten finden.

Mit freundlichen Grüßen, Kai Ehlers                                              

Spoiler-Titel
 

Generelles:

  • Was ist das Russische an Russland? Stichwort: Vielvölkerorganismus statt Nationalstaat
  • Mitteleuropas Aufgabe zwischen westlichem Herrschaftsanspruch und östlichem Kulturkeim. Stichwort: Vermittlung von westlichem Individualismus und östlichen Gemeinschaftstraditionen
  • Krise des Nationalstaats. Stichwort: Notwenigkeit und mögliche Formen einer neuen Völkerordnung
  • Was ist am Islam so attraktiv? Stichwort: Islam (bis hin zum Islamismus) als ganzheitliches (verführerisches) Angebot jenseits der „Alternative“  von Kapitalismus ODER Sozialismus
  • 1917 bis 2017 – Aufbruch oder Jahrhundertstau? Stichwort: Rückschau auf die Dynamiken des Jahrhunderts, Ergebnis und Ausschau
  • Revolte der „Überflüssigen“? Stichwort: Ausbau der Festung Europa innen und außen?
  • Wie wir wirklich leben wollen – Elemente einer Vision

 

Prinzipielles:

  • Seminar: Neue Formen des Denkens (kennenlernen und einüben).  Stichwort: Lebendige Dialektik von Stau und Bewegung nach den Gesetzen des  (kretischen) Labyrinthes

Für eine genauere Bestimmung der Themen nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf,
entweder über das nach folgende Kontaktformular oder direkt per Mail: info@kai-ehlers.de

    Name

    E-Mail

    Betreff

    Nachricht

    Frühere Vorschläge, Archiv

    Frühere, bereits gehaltene Vorträge dokumentiert:

    Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?

    Wieder einmal will man uns einnebeln: Dem Demokratisierungsprozess in der Ukraine stehe nur noch Russlands Unterstützung für die nicht anerkannten Republiken Donezk und Lugansk entgegen. Eine Befriedung Syriens und damit ein Ende des Terrors wie auch der Flüchtlingsbewegungen würden nur durch Russlands Festhalten an Präsident Baschar el-Assad verhindert. Continue reading “Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?” »

    Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

    Schriftliche Fassung eines Vortrags
    auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

    Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »

    DEUTSCH – EUROPÄISCHE SCHWANENGESÄNGE: Der Tag als die Einsicht kam …

    Deutsch-Europäische Schwanengesänge
    Der Tag als die Einsicht kam …
    Das muss man gelesen haben. Das reißt sogar Kranke vom Lager:
    In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem deutschen Kampfblatt der EU-Kampagne gegen die „Bedrohung aus Russland“, vorgetragen von einem der schärfsten Vollstrecker dieses Kurses, Reinhard Veser, war am. Freitag, d. 25.09.2015 auf S. 10, unter der Überschrift „Eine Misserfolgsgeschichte – Ukraine-Konflikt und Flüchtlingskrise: Die EU formuliert ihre Nachbarschaftspolitik neu“ Folgendes zu lesen.Ich zitiere:

     

    „Ich wünsche mir einen Ring von Freunden um die Europäische Union und ihre engsten Nachbarn herum, von Marokko bis Russland und zum Schwarzen Meer“, sagte der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi im Dezember 2002. Damals, kurz vor der Aufnahme der Staaten Ostmitteleuropas, begann die EU, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die Beziehungen zu ihren Nachbarn langfristig und systematisch gestalten könnte. Das Schlüsselwort von Prodis Rede war Stabilität: Die von der EU innerhalb ihrer Grenzen geschaffene Stabilität solle auf die benachbarten Regionen ausgedehnt werden. Es sollte freilich nicht eine beliebige Form der Stabilität sein, sondern eine, die aus der Förderung von Demokratie und Rechtsstaat, aus wirtschaftlicher und politischer Kooperation entsteht. Einigen Nachbarn wurde langfristig der EU-Beitritt in Aussicht gestellt, andere sollten so nahe wie möglich an sie herangeführt werden.
    Heute ist die EU von so viel Instabilität umgeben wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Russland ist mehr Feind als Freund, in der Ukraine herrscht Krieg, die Türkei entfernt sich immer weiter von demokratischen Verhältnissen und schlittert in eine neue gewaltsame Eskalation des Konflikts mit den Kurden, aus den zerfallenden Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas strömen in bis vor kurzem unvorstellbaren Massen Flüchtlinge nach Europa – durch Balkanstaaten, in denen zwölf Jahre, nachdem ihnen feierlich eine Beitrittsperspektive eröffnet worden war, mehr Hoffnungslosigkeit als Fortschritt zu erkennen ist. Von den Zielen der Nachbarschaftspolitik wurde so gut wie keines erreicht. Die 2008 gegründete „Union für das Mittelmeer“ hat nie politische Bedeutung gewonnen. Das ist bei der im Jahr darauf ins Leben gerufenen „Östlichen Partnerschaft“ zwar ganz anders, doch mit Folgen, die nicht beabsichtigt waren: Russland verstand die Initiative als geopolitische Kriegserklärung – der Krieg in der Ukraine ist seine Antwort.

    Angesichts dieser Bilanz wird in Brüssel derzeit an einem neuen Konzept für die Nachbarschaftspolitik gearbeitet, das im November vorgestellt werden soll. Ein von der Kommission im Frühjahr dazu veröffentlichtes Papier besteht vor allem aus vielen Fragen und einigen wenigen Erkenntnissen: Es sei eine „klarere Analyse der Interessen sowohl der EU als auch ihrer Partner“ nötig, außerdem müsse das Verhalten „der Nachbarn der Nachbarn“ bedacht werden.
    Spricht man in Brüssel mit EU-Diplomaten, benennen sie bereitwillig vor allem eine Schwachstelle der bisherigen Nachbarschaftspolitik: Man habe zu wenig berücksichtigt, dass die potentiellen Partnerländer unterschiedliche Bedürfnisse haben, unterschiedlich entwickelt sind und verschiedene Grade und Formen der Annäherung an die EU wünschen. Das habe in diesen Ländern zu dem Eindruck geführt, dass es sich weniger um eine Partnerschaft als vielmehr um eine einseitige Beziehung handle, in der die EU Vorgaben mache – und das obwohl die EU, so ein ranghoher Diplomat, ihre eigenen Interessen eigentlich zu zurückhaltend verfolgt habe. Auch das soll sich ändern: Die Formulierung der eigenen Interessen soll künftig in der Nachbarschaftspolitik mehr Raum einnehmen. Ein Beispiel dafür liegt angesichts der Flüchtlingskrise auf der Hand – die Sicherung der Außengrenzen.

    So versuchen manche EU-Diplomaten noch immer, die russische Wahrnehmung, die „Östliche Partnerschaft“ diene der Schaffung einer gegen Russland gerichteten westlichen Einflusszone, mit dem Mantra wegzubeten, sie sei gegen niemanden gerichtet. Doch das wird nicht nur im Kreml niemanden überzeugen, sondern geht auch an der osteuropäischen Wirklichkeit vorbei, denn sowohl in Georgien, Moldau und der Ukraine als auch in den baltischen Staaten und Polen wird die „Östliche Partnerschaft“ sehr wohl als Mittel zur Zurückdrängung des russischen Einflusses betrachtet.
    Eher hilflos wirken auch die Erklärungen, mit welchen Mitteln den Nachbarn geholfen werden soll, auf dem rechten Pfad von Demokratie und Marktwirtschaft voranzuschreiten. In Brüssel weiß man sehr wohl, dass die bisherigen Aktionspläne zur Förderung von Reformen an einer harten Realität gescheitert sind, in der Korruption, Klientelismus und eine politische Kultur vorherrschen, in der Kompromisse als Zeichen von Schwäche verstanden werden. Dass die europäischen Kooperationsprogramme nur ineffizient sind, wie auf dem Balkan, ist dabei nicht der schlimmste Fall. In der Republik Moldau etwa erscheint die EU heute in den Augen vieler Bürger als Komplize korrupter Seilschaften, die in den vergangenen Jahren im Gewand „proeuropäischer“ Parteien auftraten: Auf dem Papier trieben sie viele Reformen voran und wurden dafür von Brüssel gelobt, während sie gleichzeitig die staatlichen Institutionen unter sich aufteilten und als Privateigentum behandelten und die Banken des Landes ausplünderten. Sollte die Ukraine nicht an der russischen Aggression, sondern wie nach der orange Revolution an den eigenen Eliten scheitern, besteht die Gefahr, dass sich dieser Ansehensverlust der EU in einem viel größeren Maßstab wiederholt.

    Allerdings steht die EU auch vor einem kaum lösbaren Dilemma: Sie muss mit den in diesen Ländern vorhandenen Kräften zusammenarbeiten, wenn sie überhaupt etwas tun will – und dass sie im eigenen Interesse wenigstens versuchen muss, die Nachbarschaft zu stabilisieren und wirtschaftlich und politisch voranzubringen, ist unbestreitbar. Die dürftigen Ergebnisse von gut zehn Jahren Nachbarschaftspolitik selbst in kleinen europäischen Ländern zeigen indes, dass die Chancen, Fluchtursachen in den arabischen Bürgerkriegsstaaten oder in Afrika wirksam zu bekämpfen, nicht besonders groß sind.

    Über allem der Leitkommentar des Tages
    unter der Überschrift „Applaus aus Moskau“
    Vorausgegangen war der aktuellen Ausgabe der FAZ vom 25.09.2015 eine Erklärung der Bundeskanzlerin Merkel bei dem aktuellen Gipfeltreffen der EU in Brüssel in der Nacht vom 24.09. auf Donnerstag, den 25. Und tags darauf die Regierungserklärung in Berlin, dass angesichts der „Flüchtlingskrise“ nicht nur über deren Integration, auch nicht nur über deren Eindämmung nachgedacht, sondern auch mit Assad gesprochen werden müsse.
    Die Bundeskanzlerin, habe in ihrer Regierungserklärung viele Punkte genannt, an denen die Politik des Westens ansetzen müsse, wenn er nicht von den Millionen Flüchtlingen überrannt werden wolle, heißt in dem Kommentar der in der gleichen Printausgabe erschien, in dem auch Vesers „Misserfolgsschichte“ zu lesen ist.
    In der von mir gelesenen FAZ-Printausgabe hat der Kommentar von Berthold Kohler den Titel „Applaus aus Moskau“.
    Den Kommentar zu diesem Schwanengesang wird die Wirklichkeit schreiben.

    Pressefassung bei russland.ru

    Dort lesen unter dem Stichwort: Analysen, Hintergründe:

    Kai Ehlers: Deutsch-Europäische Schwanengesänge …

     

    Jefim Berschin, Kai Ehlers – Gespräch zur Lage in der Dnesterrepublik

    Im Juli erklärte der ukrainische Präsident Poroschenko den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnesterrepublik „lösen“ zu wollen. Seitdem ist „Prednestrowien“ (so im Russischen) als neuer Krisenherd, der den ukrainischen Konlikt um eine gefährliche Dimension erweitert, ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Bei seinem Aufenthalt in Russland führte Kai Ehlers ein Gespräch mit Jefim Berschin über die Lage in der „Dnjesterrepublik“. Jefim Berschin wurde dort geboren, hat als Journalist der „Literaturnaja Gasjeta“ an den Kämpfen teilgenommen, die 1991/2 zur Abspaltung dieses Gebietes von Moldawien geführt haben. Er lebt heute als Journalist, Schriftsteller und Poet in Moskau. Das Gespräch wurde in Tarussa (kleine Stadt 200 Kilometer südlich von Moskau, im Sommergarten des dort wohnenden Herausgebers der Internetueitung „russland.ru“ Gunnar Jütte, geführt.

    Das Gespräch kann russisch und deutsch gehört werden, es findet in simultaner Übersetzung statt.

    http://www.russland.ru/sommergespraech-ueber-moldawien-video/

     

    Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen

    Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.

    Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen. Continue reading “Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen” »

    Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?

    Das Aktuelle ist schnell benannt: der ukrainische Präsident Poroschenko möchte zusammen mit dem rumänischen Präsidenten Johannis den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnjesterrepublik (Transnistrien) auftauen, „damit ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität wiedererlangen und Transnistrien re-integrieren kann.“ Er will damit zugleich die von ihm immer wieder beschworene territoriale Einheit der Ukraine wiederherstellen, versteht sich.

    Wenige Tage vor dieser Ankündigung hatte Poroschenko den ehemaligen Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, bekannt für seinen provokativen Kriegskurs gegen Russland 2008, als dessen Ergebnis die Enklaven Südossetien und Abchasien zurückblieben, zum Gouverneur des Bezirks Odessa ernannt. „Ich kam nach Odessa, um Krieg zu verhindern“, erklärte Saakaschwili in einem Interview der Deutschen Tagesschau vor wenigen Tagen, konnte sich aber nicht bremsen, sofort dazu zu setzen: „Es gibt den klaren Plan Russlands, die Region zu zerstören.“ ‚Krieg verhindern‘, das heißt für Saakaschwili also unmissverständlich, Russlands ‚klaren Plan‘ zu verhindern. Continue reading “Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?” »

    NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel

    Erinnern wir uns: Die Ukraine wurde von der EU im Herbst 2013 in die Alternative des Entweder-Oder getrieben: entweder mit der eurasischen oder mit der Europäischen Union. Das Ergebnis liegt offen vor aller Augen: Spaltung der Ukraine in drei Teile: Kiew, Osten und die an Russland übergegangene Krim. Ein weiterer Zerfall des Landes droht, wenn nicht endlich der Dialog zwischen den nach Autonomie strebenden östlichen Gebieten Donezk und Lugansk, sowie anderer nach mehr lokaler Selbstverwaltung verlangender Teile der ukrainischen Bevölkerung aufgenommen wird, wie in den Minsker Vereinbarungen beschlossen, wenn stattdessen die Bestrebungen nach Autonomie von Kiew mit dessen „Anti-Terror-Aktion“ beantwortet werden. Continue reading “NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel” »

    NATO, Russland, Ukraine – ein Versuch Rote Linien zu erkennen

    (Überarbeiteter und gekürzter Vortrag von der Konferenz:
    „1955 – 2015: 60 Jahre BRD in der NATO – 60 Jahre Herausforderung für Friedenspolitik und Friedensbewegung“)

    .
    Siebzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, im zweiten Jahr des ukrainischen Krieges findet die Moskauer Parade zum Sieg über den Faschismus in Abwesenheit der damaligen Alliierten und heutigen westlichen Partner, dafür in demonstrativer Gegenwart des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping statt. An der Parade auf dem Roten Platz beteiligen sich anstelle westlicher Abordnungen wie in den Jahren zuvor dieses mal Paradetruppen aus China, Indien, Kasachstan, Weißrussland, Tadschikistan, Kirgisien und der Mongolei. Demonstrativ führt Russland sein modernisiertes Waffenarsenal vor. In seiner die Parade begleitenden Rede fordert Putin allerdings nicht etwa die Weltherrschaft, wie manche Medien ihm andichten, sondern die Schaffung eines weltweiten Sicherheitssystems ohne Blöcke.

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    Warum schützt die EU sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA?

    Die Tatsachen sind unübersehbar: Europa, genauer die Europäische Union schützt sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA. In der Unterstützung der aktuellen Kiewer Politik, im Sanktionskrieg gegen Russland, in der Aufrüstung der NATO zu erneuter „Abschreckungsfähigkeit“ lässt sich die EU, darin insbesondere Deutschland, ungeachtet einzelner kritischer Stimmen, zur Speerspitze US-geführter Angriffe gegen Russland machen. Kritiken ... verhallen in der spärlichen Bundestagsopposition – oder bilden eine Art neuer außerparlamentarischer Opposition im Internet. ...

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    Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum

    Wer die Welt beherrschen will, muss Eurasien beherrschen. Wer Eurasien beherrschen will,  muss das eurasische Herzland, Russland beherrschen. Wer Russland beherrschen will, muss die Ukraine  aus dem Einflussbereich Russlands lösen, denn – wiederholen wir die Feststellung  Zbigniew Brzezinskis, die angesichts der Vorgänge um die Ukraine nicht oft genug wiederholt werden kann: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“[1]

    Nach diesem, dem Britischen Commonwealth nachempfundenen Credo, haben die USA ihre Weltpolitik seit Auflösung der bipolaren Systemteilung 1989/90/91 entwickelt – einmal enger, einmal weniger eng am Drehbuch. Autor Brzezinski war immer wieder zur Stelle, um die Einhaltung der Grundausrichtung, die er nach dem Zerfall der Sowjetunion mit seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ 1996 skizzierte, mit öffentlichen Kritiken und Interventionen aus dem strategischen Soufflierkasten einzuklagen. Continue reading “Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum” »

    Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

    Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

    Bericht vom 44. „Forum integrierte Gesellschaft“  am Samstag, 15.03.2015

    Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

    Das Thema ist gut für einen Streit. Und nicht nur für einen. Zunächst geht es darum, zu klären, wovon die Rede sein soll: Vom geographischen Europa – bis zum Ural, wie die traditionelle Einteilung unserer Schulbücher reicht? Vom Kulturraum Europa, der an der russischen Grenze endet – oder reicht er doch bis Wladiwostok? Von der Europäischen Union? Ist dann von der Eurozone zu reden? Oder von Brüssel? Oder von 28 Nationen, die darum ringen unter wachsender deutscher Dominanz ihre Eigenständigkeit zu wahren? Und sind die „europäische Friedensordnung“ der Schlüssel zur eurasischen und die eurasische der Schlüssel zur globalen Friedensordnung? Und braucht es dafür Tribunen, Demagogen, zeitweilige Diktatoren? Bringt der Prozess sie hervor oder behindern sie diesen Prozess? Continue reading “Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?” »

    Minsk II – was gut ist und was besser sein könnte

    Halten wir uns knapp: Gut ist es und für die Menschen in der Ukraine eine Hoffnung, dass verhandelt wurde, und zwar nicht über Waffenlieferungen an Kiew, sondern über Wege zur friedlichen Lösung der Konflikte des Landes. Gut ist, dass an diesen Gesprächen nicht nur die Präsidenten Kiews, Russlands, Frankreichs und ihre Stäbe teilnahmen, sondern auch die Vertreter der Volksrepubliken, wenn auch immer noch am Katzentisch.

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