Kategorie: Europa

Wohin geht die europäische Reise? Zur Verwirklichung des europäischen Traums von Menschenrecht und Menschenwürde? Oder in die neo-imperiale Wirklichkeit der Europäischen Union, deren Realität in die agressive globale Konkurrenz führt? Oder vielleicht in ein Europa der Regionen, das die Tendenzen der Re-Nationalisierung in einer sozio-kulturellen Öffnung zu einer neuen Gliederung Europas überwindet und sich in eine multikulturelle globale Neuordnung einfügt? Wie kann eine Demokratisierung Europas aussehen, die mehr ist als eine formaldemokratische Mehrheitsdiktatur?

Europa verteidigen? – ja, aber gegen wen und wofür? Föderalistisches Pro gegen nationalistisches Contra

In letzter Zeit ist viel davon die Rede, Europa verteidigen zu müssen. Allen voran schlägt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ vor. In ihrem Schlepptau folgt die Verteidigungsministerin Ursula v. d. Leyen mit Aufrüstungsphantasien für die Bundeswehr. Der Kommissionspräsident der Europäischen Union Claude Juncker fordert die Mitglieder der Union zur Diskussion einer „Effektivisierung“ der Gemeinschaft durch deren „Differenzierung“ auf, lässt dabei allerdings ebenfalls seine Präferenz für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchblicken.  

Die Reihe derer, die in diesen Kanon einstimmen, ließe sich mühelos bis in die europäischen Stammtische fortsetzen. Selbst EU-Skeptiker, die eher eine fortschreitende Zentralisierung beklagen, lassen sich von diesen Tönen mitreißen.

Und ja, es gibt viel zu verteidigen. Es gibt sogar etwas zu gewinnen, nämlich ein demokratischeres Europa, eine gerechtere Zukunft, eine Wiederbelebung europäischen Geistes. Die Frage ist allein: Von welchem Europa ist die Rede, von welcher Bedrohung und wie soll diese gerechtere Zukunft aussehen?  Und was, schließlich, ist der europäische Geist? Darüber besteht ganz offensichtlich kein Konsens. 

Für die einen reicht Europa schlicht vom Nordkap bis Gibraltar, einschließlich Britanniens und Russlands bis zum Ural. Die anderen verstehen darunter die Europäische Union in den Grenzen ihrer Osterweiterung mit Optionen auf weitere Ausdehnung auf Kosten Russlands. Dies gilt vor allem für die nach dem Zerfall der Sowjetunion hinzugekommenen Mitglieder der EU. Sie „warnen“, wie die Polen,  vor einem „Kerneuropa“. Der Austritt Britanniens aus der Gemeinschaft dagegen stellt die EU als verbindlichen politischen Vertreter Europas offen in Frage. Andere wie die Griechen, denken über ihren möglichen Austritt nach.

Aus dem ganzen Wirrwarr taucht am Ende die Frage nach der Rolle Mitteleuropas aus der Vergessenheit der Geschichte wieder auf. Aber auch hier steht die Frage: Was wäre heute Mitteleuropa? Etwa Italien, Deutschland, Frankreich? Oder Deutschland, Polen und Frankreich? Oder Österreich, Deutschland und die Schweiz, also der  deutschsprachige Teil Europas? Oder schließlich einfach nur Deutschland als unerklärte Hegemonialmacht, wie man aus Auftritten deutscher Politiker in letzter Zeit schließen könnte?

 

Kurzer Rückblick in die neuere Geschichte

Angesichts dieses Chaos‘ ist ein kurzer Blick zurück in die neuere Geschichte unerlässlich, allerdings nicht etwa nur bis zu den Kinderschuhen der Europäischen Union nach dem zweiten Weltkrieg 1948/49, zu ihrer ersten Gestalt als Montanunion 1950 oder zu allen darauf folgenden Zusammenschlüssen  der EWG,  EG und schließlich der Europäischen Union; auch nicht nur bis zur Gründung des Völkerbundes nach dem ersten Weltkrieg 1920, sondern zurück in die Zeit vor diesen Versuchen gesamteuropäischer Zusammenschlüsse – in die Zeit,  als Europa noch nicht nach Nationalitäten, sondern in der Tradition des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“, also nach Fürstentümern gegliedert war.

Fixpunkt, bei dem ein solcher Rückblick in die neuere europäische Geschichte andocken kann, dürfte der Westfälische Friede von 1648 sein, mit dem der Dreißigjährige Krieg, der die Mitte Europas in eine Wüste verwandelt hatte, in eine erste, das ganze europäische Land umfassende Friedensordnung überging.

Was der Krieg 1648 hinterließ, war dennoch aber nicht etwa ein gesamt-europäischer Zusammenschluss, sondern eine Vielfalt der Fürstentümer und Kleinstaaten. Dynastische, auch religiöse, nicht ethnische Zugehörigkeiten waren die Basis dieser Ordnung.

Anders gesagt, die Entmischung des Vielvölkerraums  Europa nach ethnischen nationalen Kriterien hatte noch nicht stattgefunden,  was – dies sei hinzugefügt, um Kurzschlüssen zu begegnen – Pogrome gegen Andersgläubige, vornehmlich gegen Juden, aber auch andere wie die Hugenotten nicht ausschloss.

Mit Napoleons Eroberungen fand diese Zeit eine erste Wende. Die Reichsordnung des „Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation“ musste dem Code Napoleon weichen. Durch die Auflösung der alten Reichsordnung 1806 und nach der Niederlage Napoleons wurde, wie in Wikipedia richtig angemerkt, die staatliche Gestaltung Mitteleuropas zu einer zentralen Frage des 19. Jahrhunderts.

Die Frage stand: wie?  Würde sich aus dem Erbe des aufgelösten Reichsverbandes unter Aufnahme der Impulse, die aus der Krise der Habsburger Vielvölkertradition zur Lösung anstanden, ein föderales Mitteleuropa herausbilden oder der von Napoleon initiierte Nationalstaatsgedanke die Oberhand gewinnen?

Mit der Entscheidung der Revolutionäre der deutschen Revolution von 1848 für die damals so genannte „kleindeutsche Lösung“ anstelle der möglichen „großdeutschen“ wurden die Weichen auf nationalstaatliche Entwicklung Europas gestellt. Die Versammlung in der Paulskirche, in der über die Ergebnisse der Revolution entschieden wurde, stimmte für eine deutsche Einheit unter preußischer Führung  ohne Einbeziehung Österreichs. Österreich wurde damit aus der deutschen Entwicklung abgekoppelt.  

Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck vollendete diese Teilung Mitteleuropas in Kriegen Preußens gegen Dänemark, Hannover und die verbliebenen Kleinfürstentümer des deutschen Raumes, vor allem aber mit dem Sieg über die Habsburger 1866, also Österreich, und schließlich über die Franzosen. Am Ende dieser Politik, die als Bismarcks Politik von „Blut und Eisen“ in die Geschichte einging, stand die Gründung des deutschen einheitlichen Nationalstaats unter Kaiser Wilhelm in Versailles 1871.

Damit war der historische Moment für die Entstehung eines vielgliedrigen Mitteleuropa verstrichen, das die slawischen, deutschen und weitere Völker der alten Fürstenordnung Mitteleuropas in eine föderale Ordnung hätte überführen können. Sie hätte den Osten und den Westen, die südlichen und nördlichen Teile Europas als ausgleichende Mitte verbinden können. Was jetzt entstand, war ein ethnisch orientierter preußisch-deutscher Nationalstaat, ein expansiver Machtstaat anstelle eines möglichen föderalen und pluralen sich selbst genügenden Mitteleuropa, der seine Hegemonie gegen die revolutionären Forderungen der 48er Bewegung nach liberalen und föderalen Reformen und auf Kosten Österreichs mit Gewalt nach außen und Repression nach innen durchsetzte. Für seine Nachbarn, die mit der Kleinteiligkeit des mitteleuropäischen Vielvölkerraums gut hatten leben können, wuchs dieses wilhelminische Deutschland sehr schnell zu einer beängstigenden Bedrohung heran.

 

Zerstückelung Mitteleuropas

Das Ende dieser Entwicklung ist bekannt. Im ersten Weltkrieg entluden sich die Spannungen zwischen den noch bestehenden Strukturen der herkömmlichen europäischen und mit Europa verbundenen Reichsordnungen, also  zwischen Habsburg, Russland, im weiteren Sinne auch dem mit Europa über den Balkan sowie den Mittelmeerraum verbundenen Ottomanischen Reiches und den neuen Nationalstaaten Frankreich und dem Aufsteiger Deutschland. Besondere Spannungen ergaben sich zwischen Deutschland und Großbritannien, das als führende Kolonialmacht nach dem Niedergang Frankreichs zum unbestrittenen Hegemon Europas geworden war.

Weniger bekannt, genauer weitgehend aus der allgemeinen politischen Erinnerung verdrängt, ist das entscheidende Ergebnis dieses Krieges: Eine neue, über Europa hinausweisende Konstellation war durch den Kriegseintritt der USA an der Seite des Westmächte entstanden. Die Vielvölkerreiche der Habsburger und der Ottomanen verwandelten sich unter dem Diktat der Sieger, konkret durch das Programm der 14 Punkte, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson für eine Nachkriegsordnung vorlegte, in eine Vielzahl von Nationalstaaten. In der Folge ging die gewachsene europäische Völkersymbiose unter dem gutgemeinten Leitwort der Selbstbestimmung der Völker in ethnische Säuberungsansprüche und –kriege zwischen den neu geschaffenen Nationen über. Deutschland und Österreich wurden auf nationale Rumpfstaaten reduziert. Das alte Mitteleuropa war als politische Größe faktisch nicht mehr vorhanden.

Eine Sonderentwicklung nahm Russland ein. Zwar ging das zaristische Russland in den  Fluten der Februar- und dann der Oktoberrevolution von 1917 unter, die den Weltkrieg in Russland begleiteten, büßte auch seinen direkten Einfluss auf die slawischen Volksbewegungen Ost- und Südeuropas ein, der russische Vielvölkerorganismus aber blieb in der Gestalt der Sowjetunion als russisch dominierter Großraum erhalten.

Vom Ergebnis her hieß das alles: Das auf Deutschland  reduzierte Mitteleuropa war, scharf gesprochen, zur geopolitischen Geisel zwischen den  Westmächten und Russland geworden, hier repräsentiert durch die USA,  dort in der Gestalt der Sowjetunion.

Hitlers Versuch, das alte Mitteleuropa mit Gewalt, als groß-deutsches Reich, als deutschen Machtstaat, als deutschen Totalstaat, gestützt auf ethnische Säuberungen, die mit den gewachsenen Strukturen mitteleuropäischen „undeutschen“ Volksgutes endgültig aufräumen sollten, wiederherzustellen, endete mit der weiteren Zerschlagung der europäischen Mitte, mit der Teilung Deutschlands, mit einem geteilten Europa, eingekeilt im beginnenden Kalten Krieg zwischen West und Ost, dem atlantischen und dem sowjetischen Block. Das war eine nochmalige Zuspitzung der bereits nach dem 1. Weltkrieg entstandenen Situation. Die Gründung der Europäischen Union war der politische Ausdruck davon. Mit der Systemteilung der Welt trieb diese Entwicklung auf ihren Höhepunkt.

 

Und heute?

Auf die Öffnung der Mauer folgte die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, auf die Wiedervereinigung Deutschlands die Wiedervereinigung Europas, auf das Ende der Systemteilung der Welt die Globalisierung.

Aber ist damit die europäische Mitte wiederentstanden? Mitnichten. Entstanden ist ein deutscher Nationalstaat in einer Europäischen Union der Nationalstaaten. Miteinander suchen sie ihre Identität in dieser globalisierten Welt.

Die Europäische Union ist heute ohne Charakter – nicht West, nicht Ost, aber auch nicht Mitte.  Hin und her gerissen zwischen dem amerikanischen und dem Eurasischen Kontinent. Aber diese Polarität ist, obwohl noch vorhanden und gegenwärtig propagandistisch äußerst strapaziert, doch schon beinahe Vergangenheit. Die Konstellationen sind komplizierter geworden.

Da sind, über den aktuellen Anschein hinaus, nicht nur die USA und Russland, zwischen denen sich die EU entscheiden müsste. Hochgekommen ist, neben den USA und Russland, inzwischen auch China, für das sein Präsident Xi Ping soeben beansprucht hat, als Führungsmacht steuernd ins Weltgeschehen eingreifen zu wollen. Er möchte eine multipolare Weltordnung entstehen lassen. Da ist weiterhin die Türkei, die unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf eine Wiedergeburt Ottomanischer Größe im Mesopotamischen Raum orientiert. Da sind der Iran, Indien, Südamerika, da ist Afrika, da ist schließlich noch der politisch noch offene pazifische Raum – sie alle sind Größen, die Achtung erfordern.

 

Verteidigen?

Dies alles sind Herausforderungen – ja! Existenzielle Bedrohungen, wie sie in letzter Zeit in EU-Kreisen beschworen werden, gehen von dieser Konstellation für Europa allerdings nur dann aus, wenn nicht Kooperation im Zuge einer entstehenden multipolaren Ordnung, sondern Konkurrenz von Blöcken zur Leitschnur des Handelns gemacht wird, wenn mögliche Partner, seien es die USA, seien es Russland oder China zu Feinden und Un-Kulturen aufgebaut werden.

Auch die Migration aus dem Süden des Globus muss nicht in die Katastrophe führen, weder für die „entwickelten“ Industrieländer des globalen Nordens insgesamt, noch im Besonderen für die Europäische Union, wenn die Staaten der „noch nicht entwickelten“ Länder, zumeist ehemalige Kolonien, zuallererst durch einen allgemeinen Schuldenerlass, sodann durch gleichberechtigte Handelsbeziehungen anstelle der gegenwärtigen Knebelverträge aus den Fesseln der Abhängigkeit tatsächlich, nicht nur formal entlassen und als gleichberechtigte Partner akzeptiert und gefördert werden.

Zu verteidigen ist Europa aber entschieden gegen diejenigen, die von einer Überwindung des Nationalismus sprechen, während sie unter dem Stichwort eines „Kerneuropa“ die kriselnde Europäische Union real unter das Diktat eines Supra-Nationalstaates EU bringen wollen, der in Konkurrenz zu den bestehenden Großmächten Anspruch auf Weltführerschaft erhebt.

Noch klarer gesprochen, zu verteidigen ist Europa gegen eine erneute deutsche Dominanz in einem solchen „Kerneuropa“, die die Fehler eines deutschen Nationalstaates nach Bismarck, Wilhelm II. und dem „Dritten reich“ zum vierten Mal wiederholen könnte.

Wohin gehört unter diesen neuen Bedingungen heute Europa? Im Grunde wäre die Antwort klar, wenn die Europäische Union, allen voran darin Deutschland als deren Mitte, es schaffte, sich auf seine Geschichte vor den großen nationalen Katastrophen im zweiten, im ersten und noch vor den Kriegen Bismarcks zu besinnen: Europa gehört nicht in einen Block mit den USA, aber auch nicht in einen anderen mit Russland, ebenso wenig in einen dritten mit China. Die Entstehung solcher Blöcke wäre ein gefährlicher Brandsatz.

Ein Europa, das sich auf seine Vergangenheit besinnt, könnte die Kräfte entwickeln, die solchen Blockbildungen entgegenwirkt. Die heute entstandene globale Lage fordert geradezu einen Rückgriff auf jene damals nicht zur Entwicklung gekommenen föderalen Kräfte, die durch die Nationalstaatsordnung des 19. Und 20. Jahrhunderts abgewürgt wurden, die durch die gegenwärtige Organisation der EU jetzt noch weiter abgewürgt zu werden drohen. Europa muss sich an seine ur-eigenen Kräfte der Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen erinnern.

Allerdings geht es jetzt nicht mehr nur um Mitteleuropa zwischen dem Osten und dem Westen Europas, generell nicht mehr nur um Grenzgänge zwischen Osten und Westen. Jetzt geht es um ein föderal organisiertes Gesamteuropa, das seinen Platz als Vermittler in einer globalisierten Welt der Vernetzung und Kooperation findet. Dieses neue Europa muss nicht als alternativer Weltpolizist auftreten, der die USA in dieser Rolle ablöst, sondern als Botschafter, der den Geist des Ausgleichs am eigenen Beispiel einer funktionierenden föderalen Demokratie in die Welt zu tragen versucht.  Das wäre eine Antwort auf die Fragen, die am Anfang dieses Artikels gestellt worden sind. Das wäre, was europäischer Geist genannt werden könnte. 

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:

Kai Ehlers, Themenheft 19: Europa wohin? Ausgewählte Texte.

Zu bestellen über: www.kai-ehlers.de

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EU – Brexit – Tür auf für eine Föderalisierung europäischer Regionen? Schlaglicht auf eine historische Tendenz.

Ein demokratisches Europa föderal verbundener Regionen, in dem die Menschen selbstbestimmt in kooperativer Gemeinschaft und Wohlstand miteinander leben können, ist eine wunderbare Vision. Was hat der Austritt der Briten aus der „Europäischen Union“ mit einer solchen Vision zu tun? Fördert er sie, schädigt er sie oder zerstört er sie gar?

Spekulieren über die nächsten konkreten Folgen des britischen Referendums macht wenig Sinn. Sehr viel mehr Sinn macht es, darüber nachzudenken, in welchem historischen Strom die britische Abstimmung steht. Das soll hier  in wenigen ersten Stichworten geschehen. Sie können zugleich ein Licht darauf werfen,  in wessen Interesse diese Entwicklung stattfinden könnte.

 

Zwischen Multipolarität …

Da  ist zunächst die Multipolarität: Mit dem Ende der Sowjetunion  Mitte der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts fand das Stichwort ‚multipolar‘ zugleich mit dem der Globalisierung seinen Eingang in die strategischen Optionen der neu entstehenden Weltordnung.

Es war Michail Gorbatschow, der es aus der Selbstbegründung des chinesischen Aufbruchs Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in die Debatte darum brachte, wie er sich die neue Ordnung vorstellen könnte – ein Wirtschaftsraum  von Lissabon bis Wladiwostok  im Rahmen einer neuen Gruppierung der Weltmächte.

Unter Boris Jelzin versank die Vision des Multipolaren vorübergehend in der uneingeschränkten westlichen Dominanz über Russland, vor allem seitens der USA.  Unter neuen Zielsetzungen tauchte sie erst unter Wladimir Putin wieder auf, fand in den Verbindungen der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in Russlands Forderungen nach Reformen der Vereinten Nationen, um die herum sich die verschiedenen globalen Newcomer scharten, ihre Aktualisierung. Russland wurde zu ihrem Impulsgeber.

 

…und Globalisierung

Die Globalisierung der alten Welt im Stile der US-Hegemonie stand dem als Counterpart entgegen. Diese Art der Globalisierung entwickelte sich aber in einer extrem widersprüchlichen Dynamik: Strategisch setzen die USA seit dem Zerfall der bipolaren Welt auf eine Fraktionierung der globalen Staatenwelt, also auf die Methode „Teile und Herrsche“ und dies mit zunehmender  Gewalt. In Zukunft müsse verhindert werden, dass der Herrschaft der USA irgendwo auf der Welt noch einmal ein Rivale entstehen könne.

Wer dies genauer verstehen will, möge sich das bekannte Buch des US-Strategen Zbigniew Brzezinski „Die einzige Weltmacht“ von 1995 noch einmal vornehmen.[1]

Zugleich bauten die USA und ihre westlichen Verbündeten unter dem  Label der ‚Globalisierung‘ ein von ihnen dominiertes weltumspannendes Finanzimperium auf, das den globalen Flickenteppich abhängiger Nationalstaaten und in zunehmendem Maße auch zerschlagener „failed states“, freundlich gesprochen, nur noch absorbiert und zur Abstützung ihrer Herrschaft benutzt.

Ergebnis dieser Entwicklung ist das Heranwachsen eines krassen  Widerspruchs zwischen einer von der Hegemonialmacht USA betriebenen Fraktionierung der Welt und dem  unter ihrer Dominanz zugleich entwickelten Diktat einer wachsenden globalen Finanzdiktatur – WTO, GATT, GATS, aktuell TTIP, TTP  usw.

Diese widersprüchliche Entwicklung trägt unter dem daraus entstehenden Druck zunehmende katastrophale Züge, die lokale Wirtschaften und Kulturen und deren Staatlichkeit erdrückt. Zugleich jedoch geht aus ihr,  entgegen den Intentionen ihrer Urheber, eine Wiederbelebung, gewissermaßen eine Unterfütterung der multipolaren Tendenzen durch vielfältigste Bewegungen für lokale und regionale Autonomie, für mehr Kompetenzen vor Ort, für unterschiedlichste Formen der Kommunalisierung hervor usw., in denen sich die wachsende Unzufriedenheit der Menschen ausdrückt, die sich ihr Leben vor Ort nicht mehr zerstören lassen wollen, die es auch nicht mehr bei Protesten belassen, sondern es bis hin zu Revolten selbst in die Hand nehmen wollen.

 

Die EU im Strom des Multipolaren

In diesem Strom steht inzwischen auch die EU. Schon mit ihrer Gründung war sie ein neues Element zwischen den USA und der Sowjetunion in der von beiden in der Konkurrenz des ‚Kalten Krieges‘ beherrschten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Das geteilte Deutschland in einem geteilten Europa war bis 1989 Ausdruck dieser Tatsache.

Nach dem Zerfall der Polarität von USA und SU seit Mitte der 1980er/Anfang der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts avancierte Europa in Gestalt der Ost-Erweiterung der EU und der NATO zu einem Bestandteil der sich herausbildenden multipolaren Welt,  die als „Friedensprojekt“ den Anspruch auf  demokratische Überwindung des europäischen Nationalismus stellte. Zugleich war sie aber Objekt des Konfliktes, der nach dem Zerfall der Sowjetunion zwischen dem Anspruch der USA auf Weltherrschaft und Russland als Protagonist einer sich andeutenden multipolaren Ordnung herangewachsen war. Man könnte beinahe versucht sein, von einem Opfer zu sprechen, das der Erhaltung der US-Hegemonie seitens der EU dargebracht wurde.

In diesem Zuge mutierte die EU als Bestandteil des globalen Finanzimperiums zu einem zunehmend bürgerfernen bürokratischen Superstaat, der die nationalen, nicht zuletzt die demokratischen Spielräume seiner Mitglieder  zusehends korsettierte.

 

Europa ist mehr als die EU

Im Effekt tritt in den Bewegungen der zurückliegenden Jahre die Tendenz hervor, dass die von den „Verteidigern“ der herrschenden Hegemonialordnung eingeschlagene Strategie der Fraktionierung der globalen Verhältnisse einerseits Unwillen, Chaos , rückwärts zum Nationalismus gewandte Tendenzen bis hin zu sich ausbreitenden Kriegen hervorbrachte und zunehmend bringt, andererseits aber auch den Keim einer neuen Ordnung erkennen lässt, der in die Richtung einer multipolaren, kooperativ und demokratisch orientierten Beziehung sich selbst bestimmender Völker, Länder, Regionen und Kommunen weist, die sich vom Joch eines lähmenden Zentralismus befreien wollen.

Beide Entwicklungen sind möglich. „Automatisch“ läuft nichts. Die eine ist brandgefährlich mit Tendenzen zur Ausweitung globaler Kriege, die andere vermittelt die Ahnung einer lebensdienlichen Zukunft – wenn der Umbruch, zudem  bekämpft von Gegnern, nicht selber die in ihm angelegten demokratischen Impulse verbraucht.

Kurz gesagt, es geht nicht nur darum die aktuellen Wirkungen des Brexit einzugrenzen, indem wir jetzt „Ruhe und Besonnenheit“ einhalten, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Erklärung zur britischen Entscheidung anmahnt, andererseits aber auch nicht darum, die Abkoppelung weiterer Austrittskandidaten zu beschleunigen, um den Restbestand der EU durch „Demokratisierung“ in ihrer Funktion als funktionierender Gesamtstaat zu retten, wie es der Präsident des europäischen Parlamentes Martin Schulz vorschlägt, oder gar durch Schrumpfung auf eine Kerngemeinschaft zu effektivieren, wie es Wolfgang Schäuble, dem deutschen Finanzminister, schon lange vorschwebt.

Es geht darum, das Europa sich als aktiver Teilnehmer in die Tendenz sich öffnender Föderalisierung europäischer Kommunen und Regionen in einer sich entwickelnden multipolaren Welt eingibt. Dies läge im Interesse der  Mehrheit der Menschen Europas, nicht nur der jetzigen EU – und zweifellos auch der übrigen „westlichen“ Welt.

Dies gilt selbstverständlich auch für Russland, dass seit Jahrzehnten der multipolaren Spur nachgeht – und es gilt nicht nur für seine Außenbeziehungen, sondern auch für seine innere Verfassung, die, anders als die EU, aber nicht minder eine Befreiung der Selbstbestimmungskräfte und regionalen Autonomie von einen strangulierenden Zentralismus braucht.

Man darf sagen, die Welt geht spannenden Veränderungen entgegen.

Kai Ehlers, www.kai-Ehlers.de

 

[1] Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft von Zbigniew Brzeziński.

Kopp Verlag – Unveränderte Neuauflage November 2015;

ISBN: 978-3-86445-249-9; Preis 9,95 €

 

Bildnachweis: Strassenszene IN OUT UK. BREXIT oder BREXIN / BREMAIN? Werden die Briten in der EU bleiben? Foto: Tyler Merbler. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

 

Flammarion

Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas – Forumsdiskussion

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden
Bericht vom 47. „Forum integrierte Gesellschaft“ am Sonntag, 21. Juni 2015

Hallo allerseits,
liebe Freundinnen und Freunde des Forums integrierte Gesellschaft.

Die zurückliegende Runde des Forums konnte dem Thema, das sie sich gestellt hatte, sehr viel intensiver zu Leibe rücken als das beim vorigen Mal der Fall war. Hatte sich das Gespräch letztes Mal in einer Polarisierung zwischen allgemeinen Ohnmachtsgefühlen gegenüber den Machinationen „des“ Kapitals einerseits und subjektivem Aktivismus des Gutseins im eigenen Lebenskreis verloren, so trat dieses Mal die im Kern des Themas liegende Fragestellung umso deutlicher hervor: Was, bitte sehr, sind die Werte, für die Europa steht, stehen könnte, stehen sollte? Wird Europa dem von ihm selbst gestellten Anspruch gerecht? Und von welchem Europa ist schließlich die Rede? Continue reading “Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas – Forumsdiskussion” »

Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas – die andere Sicht. (Pressetext)

Zwei Botschaften der deutschen Kanzlerin begleiten zurzeit die Politik der Europäischen Union in Bezug auf Griechenland und die Ukraine. Die eine lautet: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die andere verspricht: In der Ukraine werden die europäischen Werte verteidigt. ... Wer tiefer gräbt, stößt auf genauere Beschreibungen der Werte, die die deutsche Kanzlerin schützen, verteidigen und erweitern möchte.

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Feinderklärung – wofür, bitte?

Nun endlich ist es klar heraus: „Spiegel online“, allen übrigen gleichlautenden Medien voran, hat es soeben verkündet: „Die Europäische Union hat einen Feind, zum ersten Mal in ihrer Geschichte.“

Anlass dieser Feststellung ist der in Kiew von dem US-Historiker Timothy Snyder initiierte Kongress „Thinking together“

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Brüssel – geopolitische Kameraderie

EU/USA-Gipfel: Hände schütteln, neue Freundschaft, Bündnispflege. Die Mainstream-Medien melden unisono: Obama, Van Rompuy und Barroso einig gegenüber Russland. Lassen wir alle diplomatischen Schnörkel weg, konzentrieren wir uns für einen Moment nur auf die zentrale Botschaft des Tages. Was soll der Öffentlichkeit als Ergebnis der Ukraine/Krim-Krise jetzt verkauft werden?

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Vom europäischen Traum zur Europäischen Union

Krisen kennzeichnen unsere heutige Welt – Afghanistan, Nordafrika, Syrien, Somalia, um nur einige zu nennen. Wir leben mit ihnen. Jetzt aber die Ukraine! Seit Monaten fressen sich die Proteste auf dem „Euromaidan“ ins öffentliche Bewußtsein. Inzwischen beherrscht die Ukrainische Krise die internationale Diplomatie, Weltkriegsszenarien werden entworfen.  Was ist an dieser Krise so besonders, dass sie alle anderen Krisenherde derart überragt?

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Zur Debatte: Europa der Regionen

‚Was ist eine Region?` Wie kann ein Europa aussehen, in dem die Bevölkerung nicht dem Diktat der Banken und Monopole unterworfen wird, aber andererseits auch nicht auf historisch zurückliegende Stufen der Kleinstaaterei, des Nationalismus und Lokalpatriotismus zurückfällt?

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Die Eurasische Union zwischen EU und SOZ

Die Gründung der Eurasischen Union ist die neueste Wendung im Prozess einer ins Globale erweiterten Perestroika. Besorgte Fragen tauchen auf, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland, insbesondere auf die zwischen Deutschland und Rußland haben werde...

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Für ein Europa der Regionen

Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft - Unser Treffen zur „Charta für ein Europa der Regionen“ war ernüchternd und anregend zugleich: Ernüchternd, weil die Diskussion um die Vorlage sich, klar gesprochen, von Frage zu Frage hangelte, eine offener, ungelöster, widersprüchlicher als die nächste, anregend eben deshalb – eben weil die Fragen nach einem demokratischen Entwicklungsweg Europas durch den Entwurf für diese „Charta“ sehr grundsätzlich angesprochen werden.

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EU – Russland: Schluss mit Ping-Pong?

EU-Ratspräsident Sarkozy schlug auf dem EU-Russland-Gipfel in Nizza vor, demnächst Gespräche über einen Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag mit Russland zu führen, statt sich weiter über Raketenstationierungen zu zerstreiten. Damit griff er, wie die FAZ korrekt berichtet, eine Idee des russischen Präsidenten Medwedew auf, der im Juni des Jahres angeregt hatte, einen neuen Vertrag über kollektive Sicherheit in Europa zu entwickeln. Sarkozy möchte diesen Plan nunmehr im Juni oder Juli 2009 beim nächsten Gipfeltreffen der OSZE beraten. Allerdings, schränkte Sarkozy ein, müssten auch die Amerikaner mit einbezogen werden. Das könne auf dem nächsten NATO-Gipfel im April 2009 geschehen.
Widerspruch zu diesem Vorschlag wurde nicht laut; die – bis auf die Stimme Litauens – geschlossene Zustimmung der EU-Mitglieder, ab sofort Sanktionsabsichten gegen Russland fallen zu lassen und in die Diskussion um die Entwicklung eines neuen Grundlagenvertrages zwischen EU und Russland einzusteigen, signalisiert eher allgemeine Bereitschaft auch diesen Plan gutzuheißen. Medwedew erklärte, er sei unter solchen Umständen in der Raketenfrage bereit zu einer „Null-Lösung“. Wäre nun in der Tat also nur noch Obama zu fragen?
Schön wär´s – zumindest als Ausgangspunkt. Außerhalb der Nizza-Diplomatie hört man jedoch Signale, die das schöne Bild stören: Die EU-Energiekommission legte soeben ein Strategiepapier vor, in dem sie die zukünftige Richtung der EU-Energiepolitik skizziert: Georgien sei als Transportkorridor nach dem Vier-Tage-Krieg keineswegs abzuschreiben, vielmehr müsse der Ausbau der Nabucco-Pipeline nun mit Volldampf vorangebracht werden; EU-Energiekommissar Andris Piebalgs reiste in dieser Angelegenheit in der letzten Woche nach Aserbeidschan und durch die Türkei. Aktive Diplomatie soll auch die Versorgung mit Gas aus Ägypten, Libyen, Algerien so in Gang bringen, dass Lieferungen von dort spätestens 2020 mit denen aus Russland gleichziehen können.
Der georgische Präsident Saakaschwili assistierte solchen Bemühungen im Funksender France Inter mit Bemerkungen wie: Seit Russland wieder begonnen habe „andere Länder zu erobern“, könne „das nicht einfach so wieder eingestellt werden, das wird fortgesetzt.“ Ein anderes Problem seien die Energielieferungen für Europa: „Sollte Aserbaidschan dem starken Druck Russlands nachgeben und einer Stationierung von 16 000 Soldaten zustimmen, wird man dem Alternativ-Korridor für die Öllieferungen ‚Adieu‘ sagen müssen. Von diesem Zeitpunkt an wird Russland 60 Prozent mehr Energie, Öl und Gas kontrollieren als heute.“
Mit wenigen Änderungen wiederholte er diese Argumentation am Donnerstagabend, nach seinem Treffen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, im Fernsehsender Canal Plus und wenig später im Satellitensender France 24. Dabei verglich Saakaschwili die heutige Politik Russlands mit der Politik Hitlers und Stalins in der Tschechoslowakei, Polen und Finnland.
Die deutsche Kanzlerin Merkel empfing parallel zum Nizza-Gipfel den turkmenischen Staatspräsidenten Berdymuchammedow zu einem Staatsbesuch in Berlin. Neben Menschenrechten, wie immer bei solchen Treffen, ging es vor allem um turkmenisches Gas und Öl. Dazu ist daran zu erinnern, dass Turkmenistan erst vor wenigen Wochen einen langfristigen Liefervertrag mit Gasprom abgeschlossen hat. Das Gas soll nach Fertigstellung in die „South Stream“ eingespeist werden, die Gasprom zusammen mit italienischen, bulgarischen, griechischen, serbischen ungarischen und österreichischen Betreibern gegenwärtig in Konkurrenz zur Nabucco-Planung der EU selbst betreibt. Salopp gesagt: Der Kampf ist nicht vorbei. Er beginnt erst.
Als Russlands Ministerpräsident Putin ebenfalls dieser Tage erklärte, wenn die EU die Nordsee-Pipeline nicht haben wolle, „dann werden wir sie eben nicht bauen“, wurde dies in der westlichen Presse sogleich zur „Drohung“. Dem steht eine andere Meldung direkt entgegen, die besagt, das Gasprom und BASF einen langfristigen Vertrag zur gemeinsamen Erschließung neuer sibirischer Gasfelder abgeschlossen haben.
Hinter all diesen und weiteren ähnlichen Meldungen, die nur findet, wer die Medien aufmerksam studieren kann, wird eine weitere Zuspitzung der internationalen Konflikte auf die Frage der globalen „Energiesicherheit“ sichtbar. Zwei strategische Konzepte stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite die von den USA forcierte Entwicklung der NATO zur Energie-NATO, erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 von US-Senator Luger öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend mit einer aktiven Isolierung Russlands.
Dem steht die Variante einer Energie-KSZE gegenüber, die vom deutschen Außenminister Steinmeier auf der Müncher NATO-Tagung 2007 ins Gespräch gebracht wurde. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferant und Rohstoffverbraucher, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Wofür wird die EU sich entscheiden? Zurzeit werden in der EU beide Strategien gleichzeitig verfolgt. So forderte der Generalsekretär der NATO soeben wieder die schnelle Einbeziehung der Ukraine in die NATO. Frau Merkel hält die Einbeziehung Georgiens und der Ukraine zwar für tendenziell richtig, erklärt sie aber nach wie für verfrüht. Es sieht alles so aus, als ob man in der EU auf ein Machtwort Obamas warte.
Vermutlich gibt es aber kein Entweder-Oder, sondern nur die weit größere Variante: Energiesicherheit nicht „atlantisch“ oder „eurasisch“ zu lösen, sondern, ganz abgesehen von der Notwendigkeit der Entwicklung alternativer Energien, als wahrhaft globales kooperatives Verteilungssystem.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Quo vadis Europa? Irrwege und Auswege.

Quo vadis Europa? Irrwege und Auswege.

Reader zur Konferenz „Eu global – fatal 2“,
Stuttgart 30.und 31.März 2007;

Herausgegeben von Attac EU-AG Stuttgart und Region
ISBN 978-3-00-022080-7, 10 € regulär, 15€ Soli
Darin ein Referat von mir, S. 40 ff
„Die europäische Union zwischen Russland und den USA.“

Russland – Europa: Osterweiterung der unerwarteten Art

Bemerkenswerte Dinge spielen sich zwischen Russland und der EU ab, ohne dass die Öffentlichkeit beider Länder, ausgelastet mit verständlichen, aber vordergründigen Kritiken an Wladimir Putin und abgelenkt durch das Riesenprojekt der Ost-See-Pipeline es richtig realisiert: Mitte Oktober wurde von der russischen Regierung in aller Stille ein Gesetz zur Schaffung von Sonderwirtschaftszonen in Hafen.- und Flughafenbereichen Russlands beschlossen. Danach sollen für einen Zeitraum von neunundvierzig Jahren sog. „Hafen-Zonen“ auf dem Gelände von Fracht- und Flughäfen des internationalen Verkehrs eingerichtet werden. Auf ihnen sollen dort angesiedelte Firmen von Einfuhrzöllen und Mehrwertsteuer für Baumaterialien, technische Ausrüstungen, sowie Anlagen für die Reparatur und die Ausrüstung von Schiffen befreit werden. Von Steuern befreit werden sollen ebenfalls Be- und Entladearbeiten, sowie die Lagerung von Waren, auch Mineralölsteuer muss nicht entrichtet werden. Innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Ansiedelung wird den Investoren darüber hinaus eine Befreiung der Grund- und der Eigentumsteuer in Aussicht gestellt.
Das Gesetz war bereits seit Februar 2006 in der Diskussion, konnte aber wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen der „Föderalen Agentur für Sonderwirtschaftszonen“ und dem Finanzministerium, die beide an seinem Zustandekommen beteiligt waren, nicht verabschiedet werden. Jetzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Danach werden die für die Sonderwirtschaftszone in Frage kommenden Unternehmen in zwei Gruppen unterteilt. Das sind zum einen solche, die sich am Aufbau der notwendigen Infrastruktur der „Hafen-Zonen“ beteiligen müssen und zum anderen Dienstsleister, die auf den so hergerichteten Geländen tätig werden wollen. Mindestens 100 Mio Euro müssen beim den Bau neuer Häfen, mindestens 50 Mio beim Bau neuer Flughäfen hingelegt werden, um in den Genus der Vergünstigungen zu kommen. Für die Aufbereitung der Infrastruktur bereits bestehender Häfen müssen 3 Mio Euro als Minimum faktisch eingesetzt werden. Für Unternehmen der Dienstleistung dagegen reicht es Bankgarantien in Höhe von 7.000 – 900.000 Euro nachzuweisen, um sich in den Sonderwirtschaftszonen ansiedeln zu können.
Russische Experten äußern sich befriedigt. Die Kosten für Neuanlagen seien problemlos aus dem laufenden Betrieb der bestehenden Häfen, bzw. Flughäfen aufzubringen. Das schließt selbstverständlich bestehende staatliche Zuwendungen und Vergünstigungen an die Hafen- und Flugbetriebe ein. Die ganze Aktion macht den harmlosen Anschein einer einfachen innerrussischen Modernisierung. Betrachtet man die Entwicklung der letzten sechs Jahre seit dem Amtsantritt Wladimir Putins genauer, dann wird allerdings deutlich, dass der aktuelle Beschluss nur einer der letzten Hammerschläge zu einem seit lange gezimmerten Gebäude einer schrittweisen Erweiterung der EU von ganz neuer Art ist, die über die Ost-Erweiterung in Tempo und Qualität weit hinausgeht und zu weiterer Kapitalflucht aus Europa und Senkung des Lebensniveaus, sprich Arbeitsplatzeinbußen, Lohn- und Sozialabbau führen wird.
Es begann mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftsbedingungen in den Ländern des ehemaligen Comecon, die ihre Steuersätze nach ihrer Lostrennung von der Sowjetunion drastisch, auf 24 (Tschechien), 20 (Ungarn), 19 (Slowakei, Polen) reduzierten. Die baltischen Staaten boten noch bessere Bedingungen für Investoren. In Lettland wurden mehrere Sonderzonen eingerichtet, in denen Steuererleichterungen von über 80 Prozent angeboten werden. Estland hat Unternehmensgewinne vollkommen von Steuern befreit.
Russland zog erst sehr zögernd nach. 1996 wurde ein Ausnahmegesetz zur Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone für die Region Kaliningrad beschlossen. In den letzten Jahren der Jelzin-Ära und noch bis zur Ost-Erweiterung der EU wurden die in dem Gesetz gewährten Privilegien jedoch mit widersprüchlichen Nachbesserungen faktisch immer wieder außer Kraft gesetzt. Erst der Vollzug der Ost-Erweiterung, der die Kaliningrad zu Enklave der EU machte, veranlasste die russische Regierung zu einem Kurswechsel. In dessen Gefolge rückte die Enklave zum Muster für ein gesamtrussisches Entwicklungskonzept auf. Im Juli 2005 lag der Duma ein „Gesetz über die Sonderwirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad und über die Änderungen in einigen Gesetzen der russischen Förderation“ vor, am 23. Dezember 2005 wurde es verabschiedet, wenige Tage später von Wladimir Putin gebilligt.
Noch nicht verabschiedet, hatte das Gesetzesvorhaben, wie es die deutsche „Bundesagentur für Außenwirtschaft“ (bfai) ausdrückte, bereits „einen wahren Boom von Ideen und Initiativen zahlreicher russischer Regionalverwaltungen und interessierter Investoren ausgelöst“. Anfang Oktober lagen der Regierung bereits 43 Anträge von Regionen für die Gründung solcher Zonen vor. Die erste Gründungswelle von Sonderzonen schwappte um Dezember 2005 / 2006 durch das Land. Nach der Versuchsphase vom Jahreswechsel 2005/2006 soll eine zweite Gründungswelle 2006/2007 folgen. Dabei wird die Zentralregierung einen beträchtlichen Anteil der Anfangsinvestitionen für die Errichtung der notwendigen Infrastruktur in den Zogen tragen. Im Haushalt 2005 waren dafür 8 Milliarden Rubel (235 Mio Euro) vorgesehen, 2 Milliarden Rubel sollten aus den beteiligten Regionen oder Kommunen kommen. Effektiv lief es dann auf eine Beteiligung von jeweils 8 Milliarden für die Zentralregierung sowie für die Regionen hinaus.
„Nach Berechnungen der Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel“, heißt es in einem bfai-Bericht von 2005 dazu, „können Unternehmen, die sich in einer Industriesonderzone ansiedeln, ihre Aufgaben für die Überwindung administrativer Hürden um 5 – 7% senken, und Unternehmen, die sich in einem Technologiepark ansiedeln, um 3 bis 5%. Des weiteren dürften die Ausgaben für Infrastruktur um 8 bis 12% und die Ausgaben für Produktionszwecke um 5 bis 7 % fallen.“ Dazu kommen Steuer- und Zollvergünstigungen und sonstige Voraussetzungen für Investoren in der Art, wie sie vor wenigen Wochen auch für die „Hafen-Zonen“ beschlossen wurden.
Beteiligt an dem Run auf die Einrichtung von Zonen der besonderen Bewirtschaftung waren zunächst russische Gemeinden, sehr bald aber auch ausländische Investoren, die sich über die Regionen und Kommunen in die Gründungsanträge für die Zonen mit einschalten. So plant die Stadt St. Petersburg zusammen mit finnischem Kapital der Firma „Technopolis“ eine „Technologie-Sonderwirtschaftszone“. Die Stadt Moskau hat gleich fünf Anträge gestellt. In allen Fällen sollen – zusätzlich zu den steuerlichen, den Zoll betreffenden und anderen Vergünstigungen die Entschließungs- und Infrastrukturkosten für die Einrichtung der Zonen von der „öffentlichen Hand“ getragen werden. Ein Eldorado für ausländisches Kapital!
Ende 2005 waren als Ergebnis der ersten Ausschreibung 2005/2006 sechs Sonderzonen vorgesehen. In Tatarstan werden im Gebiet Lipezk elektrotechnische Haushaltsgeräte und Möbel zusammen mit dem italienischen Unternehmen Idesit hergestellt. Vier „Technoparks“ werden in Zelonograd (Moskau) Dubna (Moskau), St. Petersburg und Tomsk gegründet. In Zelonograd ist die Firma Giesecke&Devrient beteiligt, in St. Petersburg handelt es sich, in der Formulierung des bfai, um ein „Projekt mit Beteiligung finnischer Developer“.
Man darf davon ausgehen, dass im Jahr 2006/2007 weitere Zonen zu den bisher sechs beschlossenen hinzukommen werden. Ganz in vorderster Front steht Nowosibirsk mit einem schon lange geplanten „Technopark“ direkt in seiner „Akadem-Gorod“, dem Universitären Forschungszentrum Sibiriens, aber auch der Oblast Kaluga mit der Stadt Obninsk, einem Zentrum der russischen Atomforschung steht in der Reihe, ebenso die Republik Sacha (Jakutien), in der eine „Industriezone für die Produktion von Brillianten und Juweliererzeugnissen“ Das kürzlich beschlossene Gesetz zur Einrichtung von „Hafen-Zonen“ wird die Einrichtung einer weiteren Reihe von Sonderzonen nach sich ziehen.
Befürworter preisen die Einrichtung von Sonderzonen als beste Form der Entwicklungshilfe, die Investoren ins Land ziehe, die Infrastruktur des Landes entwickle, Arbeitsplätze schaffe usw. usf. Gern wird dafür auf die Entwicklung der osteuropäischen Länder verwiesen, sich die jedes für sich als komplette Sonderwirtschaftszone betrachtet werden können, in einigen Fällen noch durch örtliche Super-Sonderkonditionen gesteigert. Ihr Aufstieg wird mit den „asiatischen Tigern“ verglichen. Tatsache ist, dass die Einnahme-Ausfälle, die diesen Ländern durch die steuerlichen Sondertarife und andere Vergünstigungen an die – zumeist ausländischen – Investoren entstehen, zu schweren Belastungen der Haushalte führen. Konsequenz ist eine harte Sparpolitik, die der Bevölkerung aufgelastet wird: niedrige Löhne, Streichung kommunaler und sozialer Leistungen. Die Löcher im Haushalt, die durch zu niedrige Steuereinnahmen entstehen, bergen zudem die Gefahr von Wirtschaftskrisen. Schon vor der Ost-Erweiterung der EU erreichte das Haushaltsdefizit Estlands fast 15 Prozent. Das ist fünfmal soviel wie 2001 in Argentinien, bevor dort die Finanzkrise ausbrach. In Ungarn kam der Forint unter Druck. Das Außenhandelsdefizit erreichte dort bereits 58 Prozent. In Lettland lag es bei 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Entgegen allen Verlautbarungen aus Brüssel, Berlin und anderen EU-Metropolen hat sich die beschriebene Entwicklung mit Eintritt der ost-europäischen Länder in die EU nicht verbessert, sondern im Tempo verschärft, was im Endeffekt bedeutet, dass sich die soziale Differenzierung in diesen Ländern verschärft. Mit der neuen Entwicklung in Russland tritt eine neue Komponente hinzu, die diesem Prozess noch einmal eine weitere Dynamik hinzufügt, denn durch die hohe Kapitaldecke, die Russland zur Zeit aus dem Export seiner fossilen Ressourcen bezieht, ist die russische Regierung in der Lage, die Einrichtung der Sonderzonen finanziell abzudecken, ohne dafür das Budget aushöhlen zu müssen. Im Gegenteil, die hohe Beteiligung an den Infrastrukturkosten gibt der Staatskasse die Möglichkeit, sich von überflüssigen Geldern durch Investition zu befreien und in ihren Sonderzonen Bedingungen anzubieten, bei denen die osteuropäischen Länder nicht mithalten können, ohne dabei die Knie zu gehen. Das ist eine Ost-Erweiterung der unerwarteten Art, die schwere Konflikte innerhalb der EU nach sich ziehen könnte. Was dabei mit Russland geschieht, ist eine zur Zeit nicht zu beantwortende Frage.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Eins der letzten Bücher des Autors trägt den Titel:
„Russland – Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte,/Entwürfe, 2005, 8,– €

Europa – Modell oder Festung?

Europa ist ins Gerede gekommen. Vom alten Europa wird gesprochen, vom neuen, von europäischer Schwäche, von notwendiger europäischer Stärke. Der Euro ist dabei, den Dollar zu überholen, aber die europäischen Kernwirtschaften sind in der Krise. Was ist los mit Europa? Ist Europa das Modell für die Gesellschaft von morgen oder ist es ein Überbleibsel von gestern, das sich gegen den Fortschritt der Globalisierung abschottet?

Europäische Intellektuelle streiten: Der französische Philosoph André Glucksmann nannte Europa einen Vogel Strauß, der seinen Kopf vor der Realität in den Sand stecke. Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger kleidete seine Kritik an einem, wie er meint, handlungsunfähigen Europa in das Bekenntnis, der Fall Saddam Husseins habe ein Gefühl des Triumphes bei ihm ausgelöst. Professor Jürgen Habermas erklärte, zugleich mit dem Sieg über den IRAK hätten die USA ihre moralische Autorität eingebüsst.

In der Welt der ehemaligen europäischen Kolonien sind die Sympathien klar verteilt: Europa ist der Traum, die USA sind die Wirklichkeit. „Europa“, sagte kürzlich der Vorsitzende einer städtischen afghanischen Gemeinschaft zu mir – einer von denen, die nach dem Rückzug der Sowjets aus Afghanistan ins Exil gingen und heute von Europa aus um den demokratischen Aufbau Afghanistans bangen: „Europa, das war für uns in Afghanistan, seit ich denken kann, immer der zivile Weg der Entwicklung: Das war Wohlstand, Frieden und Toleranz, Pluralität. Die USA stehen bei uns für das Gegenteil: Sie stehen für Gewalt, für Zerstörung von Tradition und gewachsener Identität. Das Problem mit Europa ist, dass es dabei zuschaut.“ Solche Töne hört man nicht nur aus afghanischem Munde: „Ihr wachst zusammen, wir dagegen zerfallen,“ so schallte es dem europäischen Reisenden zu Hochzeiten der Perestroika auch aus dem Kernland der Transformation, aus Russland entgegen. Und auch in Russland wird klar zwischen Europa und den USA unterschieden.
Ethnische Entmischung, kulturelle Differenzen, wirtschaftliche Ungleichheiten sind in der globalen Umbruchsituation, welche auf die Öffnung der bi-polaren Welt zur Globalisierung folgte, heute weltweit das Problem Nummer eins. Europa verkörpert die Vision einer Ordnung, die über das gegenwärtige Chaos hinausweist – und zwar nicht trotz, sondern wegen seiner Schwäche. Während der Invasion in den IRAK wurde Europa gerade wegen seiner mangelnden Kriegsbereitschaft für viele zur Hoffnung auf einen zivilen Weg aus der Krise.
Ist Europa heute also der Träger des allgemeinen demokratischen Impulses, während die USA das koloniale Erbe des alten Europa in einem neuen Empire globalisieren? Ist Europa der Phönix, der aus der Asche der europäischen Kolonialordnung als Guru einer neuen pluralistischen und kooperativen, kurz: demokratischen Völkergemeinschaft wiedergeboren wird?

Zunächst muss man wohl wissen, was Europa nicht ist: Europa ist keine feststehende Größe, Europa ist ein Prozess: Europa – das war ein mühsamer, immer wieder von Kriegen und Katastrophen zurückgeworfener Aufstieg vom Spätentwickler der Menschheitsgeschichte zur imperialen Vormacht der Welt, Europa – das ist der Fall von dieser Höhe in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – die Weltkriege, der Faschismus, der Stalinismus – und danach der mühsame Wiederaufstieg zum zivilen Partner der Völkergemeinschaft in einer nachkolonialen Welt.

Europa ist die Kraft der Geschichte, welche die Welt am nachhaltigsten umgestaltet hat, obwohl seine natürlichen Wiegengaben dafür anfangs eher ungeeignet waren: Die zerrissene Insellandschaft zwischen Mittelmeer, Atlantik und den Nordmeeren war noch eine Eis- und Sturmwüste, als andere Teile der Erde bereits erste Kulturen hervorbrachten. Europas Geschichte beginnt erst, als das Eis zurückweicht und Menschen aus wärmeren Gegenden der Erde in die sich erwärmenden Gebiete einwandern. Durch den Golfstrom wurde der europäische Raum dann allerdings zum klimatischen Paradies. Mit anderen Worten: Europa ist nicht erst heute zum Einwanderungsland geworden, die Einwanderung ist der Ursprung seiner Geschichte.

Die Impulse für Europas Entwicklung liegen sämtlich außerhalb des heutigen europäischen Kerngebietes: Aus dem Süden floss der mesopotamische und ägyptische Kulturstrom; aus Zentralasien kamen die Ionier, die Dorer, die Thraker und andere halbnomadische Stämme geritten. In Kleinasien, Sparta, Athen, Griechenland brachten sie ihre Kultur zur Blüte, als im heutigen Europa noch die Bären brüllten Unter Alexander I. drangen sie bis in den persischen Raum vor; die Barbaren des Nordens interessierten sie nicht. Die Römer machten das Mittelmeer zum Binnenraum ihres Imperiums, das sich ebenfalls bis nach Asien erstreckte; die Völker des Nordens grenzten auch sie als Wilde aus der römischen Welt aus. Erst die Teilung in ein ost- und ein weströmisches Reich gegen Ende des vierten Jahrhunderts westlicher Zeitrechnung schuf die Voraussetzungen für den Beginn einer zivilisatorischen Entwicklung des heutigen europäischen Raums.

Richtig los ging es sogar erst mit der noch viel später erfolgten Teilung der christlich-römischen Welt in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinisch-fränkische Entwicklungslinie. Zu dem Zeitpunkt zählte man aber bereits das 8., 9. und 1o. Jahrhundert nach Christi Geburt: Hochkulturen in anderen Teilen der Erde – die mesopotamischen, die asiatischen, die amerikanisch-indianischen – hatten schon mehrere Zyklen hinter sich; die arabisch-islamische Kultur schaute von großer Kultur-Höhe auf die unbehauenen Barbaren im europäischen Norden herunter. Erst in den Kreuzzügen, mit denen es die muslimische Expansion zurückdrängte, entwickelte Europa den Ansatz einer eigenen Identität. Die Kreuzzüge waren die eigentlichen Geburtswehen Europas.

Aber dem Sturm der Mongolen entkam dasselbe Europa ein paar Generationen später dann nur durch einen historischen Zufall: Der mongolische Großkhan starb just zu der Zeit, als die vereinigten Ritterheere des westlichen Europa in der Schlacht bei Liegnitz 1251 von den mongolischen Angreifern vernichtend geschlagen waren. Die europäischen Fürstentümer bis hinein nach Gibraltar lagen offen vor dem mongolischen Heer. Nur durch die Tatsache, daß die feindlichen Heerführer ins ferne Karakorum zurückehren mussten, um bei der Wahl des neuen Khan anwesend zu sein, verdanken die Europäer, daß sie von mongolischer Fremdherrschaft verschont blieben.

Im Treibhaus dieser Enklave am westlichen Rande des mongolischen Großreiches entstand Europa, in einer fränkischen und in einer Moskauer Variante, einer westlichen und einer östlichen also. Verbindendes Element war das Christentum, wenn auch in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinische Linie gespalten. Dazu kam die gemeinsame Feindschaft gegen Asiaten und den Islam. Versuche, das in dieser Weise halb vereinte halb geteilte Europa zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden und als Weltreich zu etablieren, blieben jedoch immer wieder erfolglos, wenn nicht gar in Katastrophen endeten: Die Bemühungen Karl V., ein einheitliches christliches Reich zu schaffen, in dem die Sonne nie untergehen sollte, scheiterten an der Reformation. Der darauf folgende 30jährige Krieg, verwüstete Europa nicht nur, sondern zerstückelte es. Die napoleonischen Träume führten in die mörderischen Kriege der europäischen Nationalstaaten.

Mit Hitler kamen die Versuche, Europa gewaltsam zu einen, endgültig zum Abschluss: Der nationalsozialistische Traum von Groß-Europa, das die Welt beherrschen sollte, hinterließ nicht nur Deutschland, sondern weite Teile Europas in Ruinen, entledigte es seiner Kolonien und vertiefte seine historischen Ost-West-Bruchlinien zur Spaltung in zwei getrennte Welten. Das brachte den Kontinent an den Rand seiner Existenz, während der Kampf um die Weltherrschaft an die beiden rivalisierenden neuen Weltmächte USA und UdSSR überging.

Ungeachtet ihrer Zerrissenheit, vielleicht sogar gerade deswegen entwickelte sich aus der Enklave Europas jedoch eine Expansionsdynamik, die ihresgleichen in der Geschichte der Menschheit bis dahin nicht hatte: Die Chinesen, obwohl hochentwickelt, begnügten sich mit der Sicherung des chinesischen Beckens; zu ihren Hochzeiten hatten sie eine Flotte, sogar Ansätze einer Industrie, aber sie schufen damit kein überseeisches Imperium. Die Pharaonen begrenzten ihre Herrschaft auf ihre Verewigung in den Pyramiden. Die Griechen kamen über die Polis und deren philosophische Begründung letztlich nicht hinaus; Alexander I. war bereits ein Usurpator ihrer Geschichte. Die Römer beließen es bei der Ausgrenzung der von ihnen unterworfenen Kulturen aus dem mediterranen Kern des Imperiums, bis sie von ihnen überrannt wurden. Selbst die überaus mobilen Mongolen erschöpften sich nach wenigen Generationen in der Verwaltung des Eroberten. Darüber hinaus gab es bei ihnen keine verbindende Ideologie. Nur der Islam entwickelte zeitweilig eine annähernd vergleichbare Dynamik wie Europa, bis er sich durch Traditionalismus und Fatalismus ausbremste.

In der europäischen Entwicklung dagegen verband sich die Vielfalt und die Enge des europäischen Kontinentes mit dem missionarischen Impuls des Christentums zu einer durchschlagenden und ungebremsten Herrschafts-Ideologie – europäische Missionare trieb es an alle Höfe, in alle Hütten, Zelte und Krale der Welt in dem Bemühen, auch noch die letzte Seele für Gott zu gewinnen; Politiker und Kaufleute aus Europa sorgten dafür, daß die notwendigen Mittel dafür aus den Weiten des Globus herangeholt wurden – im Westen Europas per Schiff über die Ozeane, im Osten zu Pferde quer durch die Weiten der asiatischen Steppen.

Bei allen Differenzen gleichen sich die zwei Seiten des christlichen Abendlandes letztlich in einem: In dem Willen zur Missionierung und kolonialen Unterwerfung der Welt. Gerade weil er nicht aus einem einheitlichen Kommando kam, sondern aus einem vielgliedrigen, differenzierten und widersprüchlichen Prozess hervorging, verwirklichte er sich umso nachhaltiger und totaler; fünfhundert Jahre benötigte Europa für den ersten Schritt: Das reichte von Karl I. bis Christopher Columbus im Westen Europas, also vom Beginn des 9. Jahrhunderts bis zum Jahre 1492, das reichte von der Kiewer Rus bis zum Sieg Iwan III. über die Tataren, also von 882 bis 1480, im europäischen Osten. Aber nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus und nach Iwans III. Sieg über die Tataren-Mongolen expandierte der europäische Kolonialismus geradezu explosionsartig, im Westen in seiner maritimen, im Osten in seiner territorialen Variante.

Am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet Europa deshalb vor allem eines: Herrschaft! Im Falle der Russen war es die Selbstherrschaft innerhalb eines Imperiums, im Falle der westlichen Europäer die Fremdherrschaft über Gebiete in Übersee; das Verbindende aber war die Unterwerfung von Kolonien.

Europa, das war bis hinauf zum 1.Weltkrieg der Export des christlich-abendländischen Willens zur Veränderung und zur Beherrschung der Welt. Materiell bedeutete das: Ausbeutung der weltweiten Ressourcen durch die Europäer; ideologisch bedeutete es: Christianisierung oder Unterdrückung traditioneller einheimischer Kulturen bis hin zu deren gezielter Vernichtung. Es war eine rücksichtslose Expansion, die mit brutaler Gewalt durchgesetzt wurde. Produkt dieser Herrschaft war der weltweite Export der Industrialisierung und der damit verbundenen Lebensweise.

Nichts schien diese Expansion aufhalten zu können. Dann aber, im Übergang vom 19. auf das 20. Jahrhundert wurde die Welt zu eng für Europas weitere Expansion: In Afghanistan prallten die Landmacht Russland und die Seemacht England aufeinander, in Nordafrika standen sich Briten und Franzosen gegenüber. Als die Deutschen, gestärkt durch die Reichseinigung von 1871, sich anschickten, den Briten mit dem Bau einer eigenen Hochseeflotte die Seehoheit streitig zu machen, war der 1. Weltkrieg praktisch eröffnet. Es bedurfte nur noch des Anlasses. Der Krieg wurde zur Festigung der entstandenen kolonialen Ordnung geführt – was er brachte, war der erste Schritt zur Emanzipation der Kolonien.

Der 2. Weltkrieg vollendete diesen Niedergang der europäischen Kolonialmächte bis zur Unabhängigkeit der meisten Kolonien und der Spaltung Europas. Mit Spaltung war Europa allerdings nicht einfach geografisch geteilt, wie es sich in Stammtisch-Erinnerungen darstellt, also kommunistisch im Osten und kapitalistisch im Westen; es teilte sich vielmehr in einen staatskapitalistischen Osten und einen Westen, der sich auf soziale Marktwirtschaft orientierte.

Die eine Seite Europas war als deren Gegenbild in der anderen enthalten; aber die beiden Seiten waren nicht miteinander vermittelbar, weil jede Seite Vorposten ihres jeweiligen Lagers war. In der Berliner Mauer fand diese Konfrontation ihren schärfsten Ausdruck. Doch die Teilung war nicht nur ein deutscher, sie war ein europäischer Niedergang. Nach 1945 wurde Europa faktisch zum Vorhof der Supermächte USA und UdSSR, Osteuropa und die DDR wurden Satelliten der UDSSR, West-Deutschland und Westeuropa wurden zu Juniorpartnern der USA. Aus Herrenvölkern waren vom Kriege ermüdete mittlere Mächte geworden.

Gerade in Europas Niedergang liegt aber auch der Keim seiner Wiedergeburt als Hoffnungsträger für eine zivile Weltordnung: Der Schock der beiden Weltkriege manifestierte sich am radikalsten in der deutschen Formel: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz und in der Entwicklung West-Deutschlands zum demokratischen Vorzeigestaat der kapitalistischen Welt und Ostdeutschlands zum Aushängeschild des demokratischen Sozialismus. Dass die DDR noch weniger sozialistisch als die BRD musterhaft demokratisch war, ändert nichts an der Tatsache, daß beide Teile Deutschlands die Vorzeigestücke des jeweiligen Systems waren. Mit der Vereinigung beider Hälften 1989 kamen sie zu einem neuen Ganzen zusammen, dessen Charakter, auch wenn die Vereinigung unter der Dominanz des westlichen Teils stattfand, bis heute noch nicht wirklich klar ist.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war auch eine Wiedervereinigung Europas. Sie beschloss den schrittweisen Aufstieg West-Europas aus dem Nachkriegschaos zu demokratischer Pluralität. Nie wieder Hegemonie einer europäischen Macht war das treibende Motiv dieses Integrationsprozesses, der 1949 mit der Gründung des Europarates begann, 1957 in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft überging und zur Europäischen Union führte. Als Michael Gorbatschow mit der Öffnung der Mauer 1989 der Integration Westeuropas die Demokratisierung Osteuropas hinzufügte, wurde Deutschland zum Verbindungsflur des neu entstehenden gesamt-europäischen Hauses. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union sind inzwischen weitere neue Mieter in dieses Haus eingezogen.

Ob dieses Haus sich allerdings bis nach Wladiwostok erstreckt, wie manche meinen, darf bezweifelt werden. Zwar ist Russland bis zum Ural zweifellos Teil der europäischen Geschichte und dies begründet eine besondere Beziehung Moskaus zur Europäischen Union, aber Moskaus sibirische und zentralasiatische Territorien gehören heute ebenso wenig zur Europäischen Union wie die ehemaligen und verbliebenen Rest-Kolonien des westlichen Europa. Die Zeiten, in denen sich Europa als Herz einer weltweiten Kolonialordnung definierte, sind endgültig vorbei.

Der Einfluss Europas auf die Welt ist heute nicht mehr durch koloniale Bindungen vermittelt, sondern durch seine wirtschaftlichen Beziehungen. Darüber hinaus liegt Europas Anziehungskraft heute in seiner nach-kolonialen Botschaft. Die Hausordnung in Europas Neubau, die oft zitierte europäische Wertegemeinschaft, die aus den Trümmern des alten imperialen Europa hervorgegangen ist, enthält diesen Anspruch: Danach ist Europa die Überwindung des Nachkriegs-Chaos durch wirtschaftliche und zivile Kooperation in Europa selbst und darüber hinaus. Europa ist ein Beispiel für die Möglichkeit von Integration in schweren Zeiten. Europa ist Vielfalt der Kulturen und Toleranz. Europa ist eine Gesellschaft, die dem Prinzip des Sozialstaates verpflichtet ist. Europa ist Demokratie. Europa ist Mobilität. Europa ist Regionalmacht im globalen Geflecht. Europa ist Katalysator einer neuen pluralen Weltordnung. In Europa steht Pluralismus nicht nur in der Hausordnung, er wird auch philosophisch, sozial- und bildungspolitisch gefördert. Europas Philosophen treten für eine Kultur der Vielfalt ein, die Europäische Union fördert Programme zum Schutz von Minderheiten aller Art, eine „Pädagogik der Vielfalt“ wird an den Universitäten, Lehr- und Bildungsanstalten auch auf alltäglichem Niveau offiziell gefördert. Mit dem Titel „Herausforderung Vielfalt“ ist beispielsweise eine Internationale Konferenz überschrieben, die vom Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des Landes Schleswig-Holstein unter Beteiligung kirchlicher Träger im Sommer 2003 durchgeführt wurde. Da geht es um „Fremdheit und Differenz,, um „Pluralisierung und ihre Folgen“, um „Strategien gegen Diskriminierung“, um Perspektiven für die Entwicklung einer „Kultur der Anerkennung“, die nicht nur das Fremde dulden und akzeptieren, sondern das Fremde, das Andere als Bereicherung des Menschseins erleben soll.

In Europa finden die Gegenbewegungen zur Globalisierung, die in den USA zur Zeit entstehen, ihren fruchtbarsten Boden: Die neueste US-Botschaft dieser Art schwappt derzeit unter dem Stichwort „managing diversity“ nach Europa hinüber. Sie ersetzt das Leitwort von der „corporate identity“, das bisher im Management gegolten hat. Bemerkenswert daran ist nicht, daß die USA als Stichwortgeber für Europa fungieren, bemerkenswert ist, dass das Stichwort der „managing diversity“ gerade jetzt aus den USA kommt und gerade jetzt in Europa Fuß fasst, da sich eine konservative US-Regierung anschickt, den gesamten Planeten gewaltsam unifizieren zu wollen.

Selbstbestimmung in einer Welt des bewusst gestalteten Pluralismus, der gegenseitigen Anerkennung und Hilfe der Menschen und der Völker, das ist heute Europas gute Botschaft. Sie geht als Impuls auch in die Globalisierung ein: Multipersonal, multikulturell und im politischen Raum schließlich auch multipolar – das sind die Begriffe, auf die sich diese Botschaft bringen lässt. Sie schaffen Identität in Zeiten der Globalisierung, denn sie helfen dem einzelnen Menschen, gleich welchen Geschlechtes oder Alters, welcher Hautfarbe oder welchen Standes den Ort ihrer Selbstverwirklichung und damit ihrer Würde als Menschen zu finden. Politisch gilt das auch für die Völker. Diese Botschaft ist eine echte Alternative zu den Versuchen der unipolaren militärischen Disziplinierung, die zur Zeit von den USA ausgehen.

Aber Europa hat auch ein anderes Gesicht. „Dieser Trend zur Pluralisierung verläuft nicht geräuschlos und schon gar nicht konfliktfrei“, heißt es z.B. in den Kommentaren der an Vielfalt engagierten schleswig-hosteinischen Pädagogen: „Es geht immer um Eingriffe in die bisherige Verteilung von Macht. Prozesse der Fundamentaldemokratisierung stoßen auf das Bestreben, Privilegien zu verteidigen und jene Machtmittel möglichst unsichtbar zu machen, mit denen sie aufrechterhalten werden. Sie werden auch intrapsychisch so versteckt, dass Angehörige des gesellschaftlichen „Mainstreams“ ihre Privilegien überhaupt nicht mehr wahrnehmen.“.
Die Botschaft der Pluralität, heißt das, kann sich in die Verteidigung der Pluralität gegen tatsächliche oder vermeintliche Gefährdungen von außen verwandeln.

uch dies ist keineswegs neu für Europa: Als Einwanderungsland entstanden, haben die in Europa Ansässigen sich doch immer gegen neue Einwanderer gewehrt: Bereits Rom baute den Limes gegen die Völker des Ostens, gegen die Zuwanderung aus den asiatischen Steppen, gegen die Hunnen Attilas; den Norden Europas befriedete Cäsar durch Unterwerfung, welcher bekanntlich nur ein kleines gallisches Dorf an der Küste der Normandie widerstand… Spätestens mit den Kreuzzügen gräbt sich das Verständnis von Europa als Bollwerk gegen die Ungläubigen tief in dass kollektive europäische Unterbewusstsein ein – in Ost-Europa nicht viel anders als im Westen: Danach waren die Muslime, die Sarazenen, die Türken oder wie immer man sie nannte, gottlose Ungeheuer, welche die Christenheit verschlingen wollten. Vor ihnen galt es die Menschheit zu retten. Die Aufrufe Papst Urban II. und späterer Päpste, zum Töten der Ungläubigen auszuziehen und dafür das ewige Leben zu ernten, lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.

Das ganze frühe Mittelalter, einschließlich der Heldensagen, ist von der Totschlag-Romantik der Kreuzritter geprägt. Auf den Grundsteinen des Kreuzrittertums wurde wenige Generationen später die Festung gegen die Mongolen ausgebaut. Tschingis Chan galt ihren Verteidigern als Kinderfresser, in ihm verschmolzen alle bisherigen Feinde zur asiatischen Gefahr, zur Bedrohung durch das Andere schlechthin, zum Anti-Christ;. Die Kirche erklärte Tschingis Khan zur Geißel Gottes, die Gott zur Prüfung der Menschheit geschickt habe. Besondere Verdienste bei der Verteidigung gegen diese Gefahr nahm dabei Russland für sich in Anspruch, das sich die Rettung des christlichen Abendlandes vor den Mongolen zu gute schrieb, ohne sich daran zu stören, dass dies die historischen Tatsachen zurechtbog, da Europa, wie gesagt, seine „Rettung“ lediglich dem Wechsel der Khane in Karakorum zu verdanken hat. Ungeachtet solcher Feinheiten konnte Joseph Goebbels die Skizzen des von ihm geschaffenen russischen Untermenschen später nach dem mittelalterlichen Klisché von Hunnen und Mongolen fertigen lassen, die sich, krummbeinig, hässlich, mit einem Säbel zwischen den Zähnen in die Mähnen ihrer ebenso hässlichen Ponys klammern, um so das Abendland zu überfluten.

Im Schreckensruf „Die Türken vor Wien“ festigte sich das abendländische Bedrohungs-Syndrom im 17. Jahrhundert weiter. Mit der Niederlage der Türken im Jahre 1683 löste sich zwar der Druck auf West-Europa; für Ost-Europa wurden die Türken und alle mit ihnen verwandten und verbundenen Völker in den folgenden Kriegen zwischen Russland und der Türkei jedoch nicht nur zum wichtigsten Gegner, sondern auch zum inneren Feind. Diese Spur zieht sich bis ins heutige Russland, wo die „Tschornije“, die Schwarzen, das rassistische Hassobjekt für den russisch-orthodoxen christlichen Chauvinismus sind. Auch der gegenwärtige westeuropäische Rassismus ist nicht frei von diesem Klisché.

Im eisernen Vorhang, der West-Europa von Ost-Europa, noch mehr aber den Westen von Asien trennte, fand die Mär vom abendländischen Bollwerk gegen die asiatische Bedrohung seine neuzeitliche Aktualisierung: Im Bild des sowjetischen Kommunismus, der hinter dem eisernen Vorhang nur darauf lauert, das verbliebene christliche Abendland zu verschlucken, verwoben sich die alten Klischés von Attila bis zu den Türken zum kollektiven Wahnbild einer kommunistischen Bedrohung aus dem Osten, für das der US-Präsident Ronald Reagan noch kurz vor Gorbatschows Perestroika-Kurs schließlich die schöne Bezeichnung vom „Reich des Bösen“ erfand, vor dem die USA die Welt beschützen müssten.
Heute ist auch das Böse globalisiert. An die Stelle des eisernen Vorhangs ist die weltweite Front gegen den internationalen Terrorismus getreten. Das „Reich des Bösen“ ist zur asymmetrischen „Achse des Bösen“ geworden. Aber ob asymmetrisch oder nicht, in dem Aufruf gegen die „Achse des Bösen“ treten auch die traditionellen europäischen Bedrohungs-Syndrome in neuer Gestalt wieder hervor, aufgebaut von Ideologen, die den globalen Kampf der Kulturen als Menetekel an die Wand malen und durch einen US-Präsidenten, der zum Kreuzzug gegen das Böse aufruft.

In diesem Kampf wird alles ausgegrenzt und tabuisiert, wodurch sich die christlich-abendländische Wertegemeinschaft bedroht fühlt; das ist, klar gesprochen, alles, was nicht weißhäutig, nicht christlich und nicht hochindustrialisiert ist. Ausnahmen machen die nicht-weißen US-Amerikaner und Amerikanerinnen, aber auch nur, solange sie offizielle Repräsentanten der Supermacht Nr. Eins sind. Ausnahmen machen auch die Menschen und Völker, die man als Bündnispartner braucht, aber nur, solange sie sich gebrauchen lassen. Das erinnert stark an die Praktiken früherer Imperatoren, etwa jene der Römer, welche Germanen, Hunnen und andere so lange hofierten, wie sie als Grenztruppen andere Völker vor den Grenzen aufhielten.

Im Namen von Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung, heißt das, beginnen sich Europäer heute gegen eben diese Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung zu wenden. Ausdruck davon sind politische Strömungen wie die Partei des ermordeten Niederländers Pym Fortyn, die mit liberaler Argumentation eine im Kern rassistische Ausgrenzungspolitik vertreten: Wohlfahrt, Vielfalt und Selbstbestimmung ja, lauten ihre Parolen, aber nur für Bürger Europas, nicht für Ausländer – die sollen bleiben, wo sie geboren sind. Ausdruck dieser Wende sind auch Positionen wie die des englischen Premiers Tony Blair, der eher bereit ist, die demokratische Grundsubstanz des europäischen Pluralismus den Zentralisierungsforderungen der USA unterzuordnen, als ein „multipolares Chaos“ zu riskieren. Wo diejenigen stehen, die wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder oder der franzöische Statspräsident Jaque Chirac auf der Höhe der IRAK-Krise kurzfristig den Begriff „multipolar“ benutzten, muss sich noch zeigen.

Unter solchen Voraussetzungen droht sich die schöne europäische Hausordnung in ihr Gegenteil zu verkehren: Aus Freiheit für Europa könnte sehr bald Abschottung gegenüber dem Rest der Welt resultieren. Das Schengener Abkommen von 1985 und seine Folgevereinbarungen hinterlassen bereits eine beängstigende Spur: Aus der Garantie auf Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte, rassisch oder aus anderen Gründen Diskriminierte wird ein ausgeklügeltes System zur Vermeidung von Asyl durch Vorverlagerung der Asylentscheidungen in die Grenzländer der Europäischen Union oder gleich ganz in die Herkunftsländer von Flüchtlingen. Probestrecke für dieses Verfahren war der Krieg im Kosovo, als Bosnische Flüchtlinge gleich vor Ort interniert wurden. Eine Fortsetzung fand das neue Verfahren in Afghanistan und kürzlich wieder im IRAK.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstehen hässliche Lager in den Randzonen der Europäische Union. Die tschechische Republik zum Beispiel musste sich bereit erklären, wenn sie betrittsfähig für die Europäische Union werden wollte, ein Auffang- und Abschiebelager in Balkowa zu bauen, in dem die Lebensbedingungen bewusst auf Abschreckung angelegt sind. Beobachter humanitärer Organisationen scheuen sich nicht von diesen Lagern als KZs zu sprechen. Ähnliche Lager entstehen in anderen Grenzbereichen der erweiterten Europäischen Union. Die europäische Öffentlichkeit erfährt in der Regel nichts davon. Die Maßnahmen werden auf europäischen Innenminister-Konferenzen vereinheitlicht, die sich der parlamentarischen Kontrolle entziehen. Die Medien berichten kaum.

Noch schwerer erkennbar sind die virtuellen Lager in den nicht-europäischen Herkunftsländern potentieller Flüchtlinge oder Einwanderer. Diese Länder werden über wirtschaftlichen Druck zur Kontingentierung ihrer Auswanderer veranlasst, um nicht zu sagen gezwungen; in der Folge sind die Grenzen nur für eine Minderheit mit Geld oder mit Beziehungen offen. Freizügigkeit und Selbstbestimmung, eines der höchsten Güter im Wertekatalog der Europäischen Union, bleiben bei diesem Verfahren glatt auf der Strecke. Eine solche Politik kann auch für die innere Verfassung Europas auf Dauer nicht ohne Auswirkungen bleiben. Die Konzentration europäischer Innenpolitik auf die Abwehr von Einwanderern und die Bekämpfung des internationalen Terrorismus droht auch Europa in die Sackgasse eines präventiven Sicherheitsstaates zu führen, in dem die Rechte der Bürger das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen.

Was also ist Europa? Ein Modell oder eine Festung?
Als Modell für eine plurale Ordnung könnte Europa zeigen, wie der Verzicht auf militärische Stärke bewusst zum Ausgangspunkt eines zivilen Integrationsprozesses werden kann. Es könnte Impulsgeber für den Weg zur Festigung der pluralen Völkerbeziehungen und kooperativer Entwicklungsstrategien sein, die sich faktisch im letzten Jahrhundert herausgebildet haben. Damit läge im Modell Europa gegenüber der gegenwärtigen Politik der USA eine echte Alternative, die unter dem Motto: `Europa für alle´ Grundlage zukünftiger Politik Europas und der Völkergemeinschaft sein könnte. Sie enthielte auch den richtigen Ansatz zur Lösung der globalen Problems der Migration. Ein Ausbau Europas als Festung dagegen provoziert die Gefahr, dass die Ansätze zu einer multipolaren Ordnung, die real bereits herangewachsen sind, sich gegen den Willen Europas und der auf dieser Linie mit ihm verbündeten USA und hinter deren Rücken durchsetzen, dann aber in scharfen Konflikten, welche die privilegierte Position des Westens mit Gewalt schwächen. Das würde auch auf Kosten der zivilen Werte gehen, für die Europa heute im Gegensatz zu den USA noch steht. Die Wahl, die wir zu treffen haben, ist also nicht allzu schwer, wenn das Modell Europa nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft beschreiben soll.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

„Europa, ein Vogel Strauss“? – Anmerkungen zu einem Text von André Glucksmann

Unter der Überschrift „Europa, ein Vogel Strauss“ konnte man vor wenigen Tagen einen Kommentar des französischen Philosophen André Glucksmann zum IRAK-Krieg lesen („Die Welt, 12.3.2003). Darin wirft er der Koalition der „Kriegsgegner“ vor, die Augen vor der Realität des weltweiten Terrors zu verschließen. Der Philosoph geht scharf mit den „Heuchlern“ der „Friedenskoalition“ ins Gericht; er erinnert an den Krieg Wladimir Putins in Tschetschenien, an das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in China, er klagt Joschka Fischer an, seine Lehre „Nie wieder Auschwitz“ vergessen zu haben und bezichtigt Jaques Chirac, mit seiner Inkonsequenz „die Entwaffnung eines berüchtigten Kriegstreibers verhindert“ zu haben.

Die Kritik klingt radikal; zudem spricht ein anerkannter Philosoph. Umso erstaunter ist man, dann eine Kritik zu lesen, in der die Namen der kritisierten Chirac, Schröder, Putin und der Chinesen problemlos durch Bush oder Blair ausgetauscht werden können: Es beginnt mit der Feststellung André Glucksmanns, heute gehe ein Riss durch den Westen – Querelen in der NATO, in der EU, sogar in der UNO. Da es den „Ostblock“ nicht mehr gebe, bedeute das Auflösung der bestehenden Ordnung. Stimmt, aber dann man vermisst man doch die Erkenntnis, dass es sich bei diesem Riss nicht einfach um vermeidbare Bündnis-Querelen handelt, sondern um eine grundlegende Krise der heutigen industriellen Welt, in der das Ende des Sowjet-Imperiums, Russlands und auch Chinas Umbrüche dem Westen nur vorangingen: Nach der Krise des „Ostblocks“ nun die Krise des „Westblocks“. Zu diesem Zusammenhang schweigt der Philosoph.

Zuzustimmen ist der Kritik André Glucksmanns, Chirac, Schröder, Putin und die Chinesen hätten allzu stark polarisiert, als sie „Friedenskoalition“ der „Kriegskoalition“ entgegenstellten. In der Tat, die Polarisierung hat etwas von einer Augenwischerei für die ganz Dummen an sich. Doch wird sie ja nicht nur von einer, sondern von beiden Seiten betrieben. Hat man doch einen George W. Bush gesehen, der seit seinem Amtsantritt, und zwar erkennbar weit genug vor dem 11.9. 2001, seine Verbündeten mit Alleingängen der „einzig verbliebenen Weltmacht“ vor den Kopf stößt und seit dem 11.9. 2001 die Welt in Gute und Böse aufteilt.
Eine Heuchelei ist es zweifellos, auch da ist André Glucksmann zuzustimmen, sich eine „Koalition des Friedens“ zu nennen, wenn man wie Putin in Tschetschenien eine ganze Stadt in Trümmern gelegt habe oder, wie die Chinesen, bis heute kein kritisches Wort über das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens zulasse. Aber gehört Vietnam nicht auch mit in diese Aufzählung, wo die USA versuchten, ein ganzes Volk auszurotten? Die „Friedenskoalition“ trete auf wie leibhaftige Apostel des Friedens, polemisiert Glucksmann. Ja, aber hat nicht George W. Bush den Kreuzzug gegen die „Achse des Bösen“ verkündet?
Hart kritisiert Glucksmann die Veto-Mächte des UNO-Sicherheitsrates: Die fünf ständigen Mitglieder des Rates, erklärt er, benutzen ihr Vetorecht zur verschleierten Durchsetzung eigener Interessen. Richtig, aber warum zählt der Kritiker nur vier der ständigen Mitglieder des Rates auf? Was ist mit dem fünften, den USA? Wofür benutzen die USA den Sicherheitsrat – wenn sie es überhaupt für nötig befinden, ihn zu benutzen? Etwa zur Demokratisierung der UNO?
Ja, der „Klub der fünf“ ist kein Parlament der Völker. Das ist wahr und die Frage Glucksmanns, wieso die Stimme Brasiliens weniger zählen soll als die der Veto-Mächte, ist mehr als berechtigt. Die Veto-Regelung ist ein Überbleibsel aus dem kürzlich zuende gegangenen Jahrhundert. Doch auch in dieser Kritik sind die Namen der „Friedens-“ und der „Kriegskoalition“ wieder austauschbar. Die Newcomer und die Kleinen in der UNO werden weder von der einen noch von der anderen Seite für voll genommen.
Selbstverständlich war es einfacher, wie Herr Glucksmann bemerkt, mit „Ho, ho, Ho Chi Min“ gegen den Vietnamkrieg auf die Straße zu gehen als mit „Kein Krieg in IRAK“ und „Nieder mit Saddam“ gegen einen Krieg im IRAK; Für ein Volk, das für den Sieg im Volkskrieg kämpft, ist eben leichter Partei zunehmen, als für eines, das sich unter einem Diktator duckt. Invasion bleibt deswegen aber immer noch Invasion. Hieraus abzuleiten, Protest gegen eine Invasion sei gleichbedeutend mit einer Unterstützung für die Diktatur, ist schlicht demagogisch.

Auch in der Kritik, wie Glucksmann sagt, an „meinem Freund Joschka Fischer“ muss man dem Philosophen zustimmen: Fischer war für den Krieg im Kosovo – nun ist er gegen den Irak-Krieg; das ist kurzsichtig, inkonsequent, und vielleicht sogar verlogen. Er hätte wissen können, dass die US-Intervention im Kosovo nur der Einstieg der USA in ein weltweites präventives militärisches Krisenprogramm war. Tatsache ist aber auch, dass die öffentliche Kriegserklärung des George W. Bush gegen die „Achse des Bösen“ nicht vor, sondern nach der Intervention im Kosovo, nämlich nach dem 11.9.2001 erfolgte. Heute ist daher deutlicher als damals, dass die Welt bei Durchführung einer solchen Globalpolitik vor der Perspektive einer unabsehbaren Reihe von Abrüstungskriegen unter US-Vorgaben stünde. US-Politik hat sich vor der Welt in rasantem Tempo als krisen- und inzwischen auch kriegstreibend entpuppt. Jetzt wird bereits Syrien bedroht – wer dann? Wie viele Diktatoren dieser Art sollen auf diese Weise beseitigt werden? Deutlicher gefragt: Welche Despoten sollen beseitigt werden und welche nicht? Wer bestimmt das? Mit welchem Ziel und in wessen Namen?
André Glucksmann gibt keine Antworten auf diese Fragen, er trifft nur die Feststellung, dass wir uns heute in einer „radikal neuen Situation“ befänden. Wahr gesprochen!

Aber ist die neue Situation eine Folge des 11. September 2001, wie Glucksmann meint? Nein, das ist sie nicht. Sie ist eine Folge der Auflösung der bi-polaren Welt-Ordnung und des darauf folgenden Versuches der Amerikaner, das, wie ihre Strategen es nennen, „historische Fenster“ zu nutzen, um sich die globale Vorherrschaft zu sichern und mögliche zukünftige Konkurrenten im Keim zu ersticken…

Ungeachtet dessen sieht André Glucksmann die Amerikaner als Opfer, die nun von den Kriegsgegnern als Täter hingestellt würden, wie das ja öfter geschehe. Absichtlich oder unabsichtlich rückt er „die Amerikaner“ damit in die Nähe der Juden, für die diese Aussage üblicherweise getroffen wird. Tatsache ist, dass am 11,9.2001 tausende Menschen Opfer des Terrors wurden. Sie sind zu betrauern. Aber ist Krieg die einzige mögliche Antwort? Darf man da anderer Meinung sein, ohne gleich zu den Bösen, unterschwelligen Anti-Semiten oder den europäischen Sträußen zu gehören, die den Kopf vor der Realität in den Sand stecken? Von welcher Realität ist die Rede? Dazu hören wir von Herrn Glucksmann nichts, außer dass nunmehr eine Verbindung von Bin-Laden-Terrorismus und Pjön Jang-Verdrängung drohe.

Was also will Andé Glucksmann uns sagen? Ihm wäre zuzustimmen, wenn er es dabei beließe, die allgemeine Heuchelei der Mächtigen zu geißeln. Das ist das Vorrecht des Philosophen. Wenn er dabei aber die USA aus seiner Kritik ausnimmt, dann heuchelt auch er. Das wäre sogar noch hinzunehmen; das Heucheln ist gegenwärtig in Mode. Schlimmer noch ist, dass er den Anschein erwecken möchte, als stünde er über den Parteien – ohne auch nur einen einzigen Gedanken vorzubringen, wie die Welt zu einer neuen Ordnung finden könnte, in welcher der Krieg nicht wieder zu einem Mittel der Politik wird, wie von den USA zur Zeit propagiert.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de