Schlagwort: Ukraine

Zbigniew Brzezinskis Erbe – Der andere Nachruf

De mortuis nihil nisi bene – über Verstorbene nur Gutes!

Diese Regel aus der Zeit des römischen Imperiums mag auch für Zbigniew Brzezinski, eine der Ikonen des US-Imperiums gelten, der jetzt nach lebenslangem Einsatz für die amerikanische „supremacy“ im Alter von 89 Jahren verstarb. Möge er endlich den Frieden finden, den er sein Leben lang nicht finden konnte – der Nachwelt bleibt überlassen, sich mit den keineswegs friedlichen  Wirkungen seines Erbes auseinanderzusetzen, ohne ihn weiter belangen zu können.  

Die Pax  Americana war Brzezinskis Obsession – Russland, davor die Sowjetunion sein lebenslanger Gegner, der diese globale Friedensordnung gefährde. Dem  sei nur zu begegnen, so Brzezinskis Botschaft in dem  bekanntesten seiner Bücher, „Die einzige Weltmacht“, das er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrieb, wenn die USA in die Lage kämen, Eurasien zu beherrschen, d.h., Russland daran zu hindern wieder zur Weltmacht aufzusteigen.

In dieser Sicht folgte Brzezinski den „Herzland“-Schlussfolgerungen, die von den Geopolitikern Halford  Mackinder und Nicholas J. Spykmans als Essenz aus den Erfahrungen des britischen Commonwealth gezogen worden waren: Nur wer das ‚Herzland‘ beherrsche, das Zentrum Eurasiens, könne die Welt beherrschen, war ihr Fazit.

Schon vor der Veröffentlichung des Titels „Einzige Weltmacht“, das der Welt den US-amerikanischen Herrschaftsanspruch schonungslos, man könnte sogar sagen, schamlos offenlegte, schon zu Zeiten des Kalten Krieges, noch als Sicherheitsberater unter Jimmy Carter 1976, arbeitete Brzezinski systematisch auf eine Schwächung der Sowjetunion hin. Die Schwächung der Union war die Leitlinie seines Handelns. Erwähnt seien nur ein paar herausragende Stationen.

So sein Werben um China in den Jahren vor 1978. Dabei ging es ihm nicht etwa darum, China – wie sein Gegenspieler Henry Kissinger vorschlug – in ein globales Dreierbündnis USA, Sowjetunion, China zur Sicherung der globalen Stabilität einzubinden. Ihm ging es darum die Sowjetunion zu isolieren und zu schwächen. Diese Grundposition hat er bis ins seine letzten strategischen Arbeiten beibehalten.

Bekannt und immer wieder notwendig zu zitieren, weil charakteristisch für sein Verständnis von Politik, ist die unverhohlene Genugtuung, die Brzezinski  äußerte, als US-Präsident Jimmy Carter 1979 seinem Rat folgte, die Afghanischen Mudschaheddin in einer verdeckten CIA-Aktion gegen die sowjetische Invasion aufzubauen. 

Auch wenn schon oft zitiert, dürfen diese Passagen in einer Würdigung der politischen Biographie Brzezinskis nicht fehlen: „Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee“, brüstete er sich im Januar 1998 unverhohlen den Redakteuren von „Le nouvel  Observateur“ gegenüber. „Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten […]. Am Tag, an dem die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu liefern. Und tatsächlich sah sich Moskau während der folgenden zehn Jahre gezwungen, einen Krieg zu führen, den sich die Regierung nicht leisten konnte, was wiederum die Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsgebiets zur Folge hatte.“

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah Brzezinski die Zeit gekommen, die Vorstellungen einer Welt unter der Herrschaft einer „einzigen Weltmacht“ tatsächlich zu verwirklichen. Jetzt müsse die amerikanische Politik die Verantwortung übernehmen, die ihr zugefallen sei, in dem sie verhindere, dass Russland sich jemals  wieder zu einem Imperium entwickeln könne. Ihm schwebte eine Dreiteilung des russischen Raumes in einen europäischen, mittelrussischen und fernöstlichen Teil vor, eingefasst von Europa im Westen, Japan im Osten, der Türkei im Süden, die er ungeschminkt „Vasallen“ der USA nannte. Insbesondere müsse die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich nach Westen gezogen werden, weil Russland ohne die Ukraine nicht wieder zum Imperium werden könne.

Im Übrigen müsse die US-Politik weltweit dafür sorgen, dass sich kein neuer Rivale entwickeln könne, der die Herrschaft der USA in Frage stellen könne. Nur so könne ein globales Chaos verhindert und die Entwicklung einer demokratischen Weltordnung möglich werden. Das war die Aufgabenbeschreibung für die USA als Weltpolizist. Grundlage dafür sah Brzezinski im „American Way of Life“ als der in seinen Augen gegenwärtig höchsten Zivilisationsstufe.

Bekanntlich liefen die Dinge nicht ganz so, wie Brzezinski sich das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhofft hatte. Andere Kräfte, als die von ihm favorisierten, bestimmten die US-Politik nach seinem Ausscheiden aus den Diensten Carters. Nicht einverstanden war er mit dem Golfkrieg 1990, mit dem von G.W. Bush vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Terrorismus nach 2001, mit der Invasion in den Irak 2003. Nicht einverstanden war er mit der Politik gegen den Iran wie auch mit der Destabilisierung Syriens unter Barack Obama. Er war der Ansicht, dass mit diesen Aktivitäten, die der Strategie des „new american century“ der Neo-Konservativen folgten, das Ansehen in der Welt verspielt  werde, das die USA nach und durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gewonnen hatten.

Auseinandersetzen musste Brzezinski sich nach 9/11 2001 andererseits mit Kritikern, die ihm vorhielten er habe durch seine Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin den islamistischen Terror in die Welt gerufen. Das ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die USA – seinem Rat folgend – Osama Bin Laden und die Seinen mit Waffen und Logistik in Afghanistan ausrüsteten. Die Bilder, wie er voller Stolz, Osama Bin Laden persönlich Waffen aushändigt, gingen durch die Welt.

Entsprechend dieser Misstöne und katastrophalen Ergebnisse der tatsächlichen US-Politik fielen die Bücher, mit denen Brzezinski nach dem Erscheinen von „Die einzige Weltmacht“ auf die US-Politik einzuwirken versuchte, sehr viel weniger euphorisch aus.

In „Second Chance“ legte er 2006 eine vernichtende Bilanz zur Amtszeit der drei Präsidenten vor, die dem sowjetischen Zusammenbruch gefolgt waren: Der ältere Bush, George Bush, von Brzezinski knapp Bush I benannt,  habe es nicht verstanden, mit dem Pfund zu wuchern, das ihm durch den Zusammenbruch der Sowjetunion zugefallen sei, sein Nachfolger Bill Clinton habe die amerikanischen Möglichkeiten überschätzt, der jüngere George W. Bush, bei Brzezinski Bush II,  habe das Ansehen, dass die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als einzige verbliebene Supermacht und erstes globales normsetzendes Imperium gewonnen hätten und die Ressourcen des Landes auf kriminelle Weise verspielt. 

Zudem sei die Sozial- und Bildungspolitik unter der Präsidentschaft der drei Genannten, speziell der von Bush II auf ein Niveau gefallen, auf dem mit der eigenen Bevölkerung keine Weltpolitik zu machen sei. Nur wenn diese Fehler erkannt würden, warnte Brzezinski, könne es für den Erhalt der US-Weltmacht noch eine zweite Chance geben.

Das nächste und letzte Buch Brzezinskis, 2012 vorgelegt, befasst sich unter dem Titel „Strategic Vision. America and the Crisis of Global power“ dann schon nur noch mit den Fragen, was aus dem Niedergang der amerikanischen Dominanz vor dem Hintergrund heraufkommender neuer Mächte und dem allgemeinen „Erwachen der Völker“, die die amerikanische Vorherrschaft in Frage stellen, folgen könnte. „In der Tat“, warnt Brzezinski im Geleitwort zu diesem Buch gar, „es gibt da  mehrere alarmierende Ähnlichkeiten  zwischen  der Sowjetunion in den Jahren direkt vor  ihrem Zusammenbruch und dem Amerika  im frühen 21 Jahrhundert.“ Das war nicht nur ein Abgesang auf die Allein- sondern überhaupt auf die Vorherrschaft der USA.  

Nichtsdestoweniger zieht sich auch durch diesen letzten strategischen Beitrag sowie durch die letzten Auftritte Brzezinskis der antirussische Faden – aggressiver als je zuvor bis hin zu Brzezinskis offenen Eintreten für den aktiven Regimechange in der Ukraine auf der ‚Sicherheitskonferenz‘ 2014, die den ‚revolutionären‘ Ereignissen auf dem Kiewer Maidan 2014 voranging. Auf dieser Konferenz war Brzezinski noch einmal einer der entscheidenden Stichwortgeber.

Die Intervention folgte nahezu drehbuchartig seinen Vorgaben – lief dann allerdings, wie viele andere US-Interventionen zuvor aus dem Ruder. Zwar fand sich Brzezinski nicht zu dumm, Wladimir Putin wegen dessen positiver Aufnahme des Krim-Referendums und seiner Unterstützung der Autonomiebestrebungen im Osten der Ukraine einen neuen Hitler zu nennen, forderte auch die Ausrüstung der Ukraine mit Waffen seitens der NATO – sprach sich aber gegen eine Mitgliedschaft Kiews in der NATO und der EU aus.

Das Ergebnis der US-Intervention in der Ukraine entsprach und entspricht bis heute nicht dem, was Brzezinski sich von ihr erhofft hatte, nämlich, ein attraktives Zeichen zu setzen, dass auch die russische Bevölkerung dazu anreizen sollte, sich ihres ‚Diktators‘ zu entledigen und den Modernisierungen und der ‚entwickelteren‘ Kultur des Westens zuzuwenden und so den ‚Herzraum‘ Eurasiens für den Westen, konkret die USA zu öffnen.

O-Ton Brzezinski: „Eine Ukraine, die Russland nicht feindlich gegenübersteht, aber ihm in ihrem Zugang zum Westen etwas voraus ist, ist eine tatsächliche Ermutigung für Russland sich nach Westen in Richtung einer möglichen lohnenden europäischen Zukunft zu bewegen.“

Das Gegenteil ist geschehen. Die Ukraine wurde für die russische Bevölkerung zum abschreckenden Beispiel, wohin Westbindung führen kann. Statt „lohnender“ Annäherung an den Westen, wurden die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union nachhaltig beschädigt, schart sich die russische Bevölkerung eng um Wladimir Putin, ungeachtet innenpolitischer Kritiken, als dem Garanten ihrer Stabilität und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Ein Präsident Trump zudem, statt die Attraktivität des „american way of life“ in der Welt zu erneuern, trägt mit jeder seiner Aktivitäten weiter zur Misskreditierung des amerikanischen Traums bei, so dass an eine Eroberung des ‚Herzlandes‘ auf friedlichem, zumindest nicht militärischen Wege weniger zu denken ist als je zuvor.

Ob die US-Hardliner sich damit zufrieden geben werden, ist eine Frage, die nunmehr über Brzezinski hinausgeht.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Weitere Informationen zu Brzezinskis Wirken

Auf der Website: www.kai-ehlers.de unter Stichwort Brzezinski

Erhellend auch die Videos zu Brzezinskis Afghanistan-Einsatz auf Kritisches Netzwerk

Neu: Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen. Ethischer Aufschrei aus den Sprachenkriegen am Ende der UdSSR am Beispiel Moldawiens

Geleitwort des  Herausgebers

Geschichte wiederholt sich nicht. Und wenn sie sich doch wiederholt, dann nur als Farce, wie wir heute zu sagen gewohnt sind. Manches Mal offenbaren sich die Ereignisse von gestern allerdings auch als die embryonale Form nachfolgender Kataklysmen. 

So ist es mit dem moldauischen Sprachenkrieg, über den der Moskauer Schriftsteller und Poet, Jefim Berschin, der als Korrespondent der „Literaturnaja Gazeta“ direkt in die Geschehnisse hineingezogen wurde,  in  seiner dokumentarischen Erzählung Zeugnis ablegt.

Mit Gewalt versuchte eine moldauisch sprechende Mehrheit, der nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion soeben in die Unabhängigkeit  taumelnden sozialistischen Sowjetrepublik Moldau, im Sommer 1992 der Bevölkerung des seit Jahrhunderten vielsprachigen Moldauer Raumes im Namen einer nationalen Einigung die moldauische Sprache als einzige aufzuzwingen.

Der Versuch führte zu einem eruptiven Gemetzel, kurz, aber extrem brutal und blutig, das mehr als 1500 Menschen das Leben kostete. Eine Einigung wurde nicht gefunden. Die jenseits des Dnjestr lebenden Teile der Bevölkerung Transnistriens, die die gewaltsame Verengung ihrer Vielvölkerkultur auf das Moldauische nicht akzeptieren wollten, erklärten sich zur unabhängigen Republik. Völkerrechtlich wurde sie bis heute von niemandem anerkannt. Die unentschiedene Beziehung zwischen Moldau und der Dnjester-Republik schwelt, um es paradox zu formulieren, heute als einer der „eingefrorenen Konflikte“ im Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen. Russland, unterhält dort eine Friedenstruppe von ca. 1000 Mann.

Was damals in einer kurzen Eruption geschah, wiederholt sich mehr als 20 Jahre später in einem um Vieles erweiterten Maßstab im ukrainischen Krieg, in dem wieder versucht wird in diesem extrem pluralistischen Raum des süd-östlichen Europa, zudem in unmittelbarer Nachbarschaft zum moldauischen Schauplatz von 1992 eine nationale Einheit, diesmal die ukrainische mit Gewalt gegen sprachliche und kulturelle Minderheiten zu erzwingen.  Mindestens 10.000 Menschen fanden bei diesem gnadenlosen Schlachten bisher den Tod, nicht gerechnet die ungezählten die Opfer von Unterernährung, von Krankheit und die mehr als eine Million Flüchtlinge, die Zerstörung der Potenzen eines von Natur aus reichen Landes, die die Bevölkerung ins Elend gestürzt hat.  

Der ukrainische Krieg erscheint wie ein in überdimensionales aufgeblasenes Déjà vue des Moldauer Sprachenkrieges. Continue reading “Neu: Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen. Ethischer Aufschrei aus den Sprachenkriegen am Ende der UdSSR am Beispiel Moldawiens” »

Putins Notruf – und kaum einer hört hin. Betrachtungen im Schatten des US-Wahlkampfes

Waldai 2016: Unüberhörbar deutlich, und doch im Westen unter dem Getöse des amerikanischen Wahlkampfes nahezu ungehört, schickte der russische Präsident Wladimir Putin als Hauptredner der dreizehnten Waldai-Konferenz vom Ende Oktober, die inzwischen als östliches Gegenstück zur Münchner Sicherheitskonferenz gesehen werden muss, einen Notruf in die Welt: Nichts habe sich seit der letzten Konferenz zum Besseren gewendet, so leitete er seine Rede ein, tatsächlich, wäre es ehrlicher zu sagen, nichts habe sich geändert.[1]

Noch „ehrlicher“ wäre es, in Fortsetzung des Putinschen Komparativs festzustellen, dass genau dieses „nichts“, so paradox es klingen mag, das ist, was die Lage verändert hat – und zwar zum Schlechteren hin.

Ein kurzer Rückblick auf die Reden, die Putin bei den Konferenzen 2014 und 2015 hielt, mag das verdeutlichen und damit den Ton der Rede von 2016 verständlicher werden lassen.

 

Vom Angebot zur Mahnung

Die Rede vom elften Treffen  2014 stand unter der Frage „Weltordnung: Neue Regeln oder ein Spiel ohne Regeln?“. Die Rede  enthielt, bei aller unüberhörbaren Kritik an der Einkreisungspolitik des Westens, die alle Reden Putins seit seinem Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“ transportieren, ein klares Angebot. Angeboten wurde von Putin die aktive Beteiligung Russlands an der Stabilisierung der internationalen Ordnung durch gezielte gegenseitige Achtung und Stärkung der Souveränität aller Nationen auf Basis des für alle gleichermaßen geltenden Völkerrechtes  im Rahmen ihrer Kooperation in der UNO. In dieses Angebot war die Wahrung der eigenen russischen Interessen ausdrücklich mit eingeschlossen:

„Russland hat seine Wahl getroffen“, erklärte Putin damals in voller Zuwendung zu Russlands „Partnern“, wie er seine westlichen Gegenüber nannte, „unsere Prioritäten bestehen in einer weiteren Vervollkommnung der demokratischen Institutionen und einer offenen Wirtschaft, in einer beschleunigten inneren Entwicklung unter Berücksichtigung aller positiven derzeitigen Tendenzen der Welt und der Konsolidierung der Gesellschaft auf Grundlage traditioneller Werte und des Patriotismus. Auf unserer Tagesordnung steht die Integration, diese Tagesordnung ist positiv und friedlich, wir arbeiten aktiv mit unseren Kollegen in der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der BRICS und anderen Partnern zusammen. Diese Tagesordnung zielt auf die Entwicklung von Beziehungen der Staaten untereinander und nicht auf Absonderung. Wir haben nicht vor, irgendwelche Blöcke zusammenzuzimmern oder uns in einen Schlagabtausch ziehen zu lassen. Jeder Grundlage entbehren auch Behauptungen, Russland sei bestrebt, irgendein Imperium wieder zu errichten oder verletze die Souveränität seiner Nachbarstaaten. Russland verlangt nicht nach irgendeinem besonderen, außerordentlichen Platz in der Welt, das möchte ich betonen. Indem wir die Interessen der anderen achten, möchten wir einfach, dass man auch unsere Interessen berücksichtigt und unsere Positionen achtet.“ [2]

In einer Rede die er am 29. September 2015 vor der UN-Vollversammlung zum  70. Jahrestag der Organisation, hielt, bekräftigte Putin übrigens dieses Angebot noch einmal: „Russland glaubt an das riesige Potential der UNO, das uns helfen sollte, eine globale Konfrontation  zu vermeiden und zur Strategie der Kooperation überzugehen. Zusammen mit anderen Staaten  werden wir konsequent  auf die Stärkung  der zentralen und koordinierenden  Rolle der UNO hinarbeiten.“

2015, bei der 12. Waldai-Konferenz schlug Putin einen wesentlich besorgteren Ton an. Hintergrund war die Ausweitung der Konflikte von der Ukraine auf Syrien, der anhaltende Sanktionskrieg  gegen Russland und die ausufernde Dämonisierung Russlands in den westlichen Medien. Unter dem Thema „Krieg und Frieden: Mensch, Staat und die Gefahr eines großen Konflikts im 21. Jahrhundert“ ging Putin die aktuellen Krisen-Schauplätze durch: Ukraine, Syrien, IS, der Sanktionskrieg. Er betonte die Legitimität des russischen Militäreinsatzes in Syrien, die im Einklang mit der Souveränität des Landes stehe, im Gegensatz zur illegitimen Intervention der USA und der von ihr geführten Koalition. Er warnte vor einer Teilung Syriens als „schlimmstem Szenario“ und wurde schließlich sehr deutlich, als er erklärte, nach der Entwicklung von Atomwaffen könne es in einem globalen Konflikt keine Sieger geben. Es liege klar auf der Hand, dass ein solcher Konflikt mit einer gegenseitigen Vernichtung zu Ende gehen würde. „In dem Versuch, eine Waffe mit immer höherer Zerstörungskraft zu entwickeln“, so Putins Fazit zum Thema der Tagung, „machte der Mensch einen groß angelegten Krieg sinnlos.“[3]

In der westlichen Berichterstattung mutierte diese Passage selbstverständlich – so muss man es leider sagen – umgehend zur Drohung.

 

2016: Bemerkenswerte Obertöne

Die aktuelle Rede vom Oktober 2016 unterscheidet sich von den zuletzt vorausgegangenen in bemerkenswerter Weise. Genau betrachtet zerfällt sie in drei Teile, von denen der erste und der letzte, so kann man es inzwischen schon sagen, im konventionellen Rahmen des gegenwärtigen Konfliktmanagements bleiben und deshalb hier nur kurz gestreift werden sollen.

Im ersten Teil der Rede führt Putin die bisherige Kritik an der Politik des Westens zu einer offenen Anklage gegen die von den USA betriebene Politik des Regime-Change. Die USA gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten hätten die Chance einer globalen Verständigung, welche in den späten 80ern und frühen 90ern bestanden habe, bewusst ausgeschlagen. Im Ergebnis befinde sich das „System der internationalen Beziehungen“ in einem „fiebrigen Zustand“, könne die globale Ökonomie ihre „Systemkrise“ nicht überwinden. Im Schlussteil der Rede geht es Putin um aktuelle Maßnahmen des Krisenmanegements. Er bekräftigt die bekannte Position Russlands, „dass Souveränität die zentrale Idee des gesamten Systems der internationalen Beziehungen sei“, um die herum allein Stabilität auf nationaler und internationaler Ebene entwickelt werden könne. Als möglichen Schritt in diese Richtung schlägt er die Entwicklung einer „Art Marshall Plan“ für die Staaten des mittleren Ostens vor, darüber hinaus auch gleich den Übergang zu Entlastungen und Aufbauhilfe für andere schwache Staaten,

 

Mahnungen an die „Eliten“

Zwischen der konventionellen Einleitung, in der Putin die Systemkrise konstatiert, und dem pragmatischem Schlussteil des Minimalprogramms zur Stabilisierung des Mesopotamischen Raumes,  führt der Hauptteil der Rede, anknüpfend an seine Charakterisierung der globalen Lage als „fiebrige Situation,  in eine ganz andere Dimension:

Die Frage stelle sich, so Putin, „was erwartet die Welt, wenn die Dinge sich in dieser Weise fortsetzen? Was für eine Welt werden wir morgen haben? Haben wir Antworten auf die Fragen, wie Stabilität, Sicherheit und eine nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu gewährleisten sind?“

Und er beantwortet diese Frage im nächsten Atemzug gleich selbst: „Traurig zu sagen, es gibt keinen Konsens zu diesen Fragen in der heutigen Welt. Mag sein, dass Sie in Ihren Diskussionen zu einigen allgemeinen Schlüssen gekommen sind, und ich wäre natürlich interessiert, sie zu hören. Aber es ist sehr klar, dass es einen Mangel an Strategie und Ideen für die Zukunft gibt. Das lässt ein Klima der Unsicherheit entstehen, das direkte Folgen auf die öffentliche Stimmung hat.“

Soziologische Studien rund um die Welt zeigten, so Putin, dass die Menschen in  verschiedenen Ländern  und auf verschiedenen Kontinenten dazu tendierten, die Zukunft trübe und öde zu sehen. Dies sei bedauerlich. Die Zukunft verlocke sie nicht, sondern ängstige sie. Zugleich sähen sie keine realen Möglichkeiten, irgendetwas zu ändern, Einfluss zu nehmen und Politik zu gestalten. Selbst in den entwickeltsten Demokratien habe die Mehrheit der Bürger keinen wirklichen Einfluss auf die politischen Prozesse und auf die Macht. Die Menschen fühlten eine zunehmende Kluft zwischen ihren Interessen und den Vorstellungen der „Eliten“ vom  „einzig richtigen Weg, einem Weg, den die Eliten selbst bestimmen.“ Ergebnis: Referenden und Wahlen brächten immer öfter Überraschungen für die Autoritäten hervor. Diese Entwicklung könne nicht einfach als „populistische“ Radikalisierung abgetan werden vielmehr gehe es hier um „gewöhnliche Menschen, normale Bürger, die ihr Vertrauen in die herrschende Klasse verlieren.“!

Es stelle sich schließlich die Frage: „Wer ist tatsächlich die Randgruppe? Die expandierende Klasse der supranationalen Oligarchie und Bürokratie, die in der Tat oft nicht gewählt ist und die nicht durch die Gesellschaft kontrolliert werden kann, oder die Mehrheit der Bürger, die einfache und klare Dinge wollen – Stabilität, freie Entwicklung ihrer Länder, Aussichten für ihr Leben und das ihrer Kinder, Bewahrung ihrer kulturellen Identität und, schließlich, Sicherheit für sich und ihre Lieben.“

Es folgen noch Ausführungen zum internationalen Terrorismus, der von einer fernen Bedrohung zu einer alltäglichen geworden sei. Man solle denken, so Putin, dass nach langen Verhandlungen nun eine gemeinsame Front gegen den Terrorismus zustande gekommen sei. Aber leider zeigten die westlichen Länder  das „unerklärliche und ich würde sagen irrationale Verlangen“, immer wieder dieselben Fehler zu machen wie zuvor schon in Afghanistan, Irak, Libyen, jetzt in Syrien, zu glauben nämlich, man könne Terroristen in gemäßigte, die man für eigene Ziele benutzen könne, und radikale unterscheiden.

Aber dies, so Putin sei ein sehr gefährliches Spiel, und er wende sich noch einmal an die „Spieler“: „Die Extremisten sind in diesem Falle schlauer, cleverer, und stärker als ihr, und wenn ihr diese Spiele mit ihnen spielt, werdet ihr immer verlieren.“

Unüberhörbar schwingt hier die Warnung vor möglichen Unruhen und Revolten mit. Als Präsident Russlands, das von Revolutionen mehr als jedes andere Land geschüttelt wurde, weiß Putin, wovon er spricht.

 

Und dazu die USA: Koinzidenz des Unvereinbaren

Putins mahnende Worte zur Abgehobenheit der „Eliten“, zum schwindenden Vertrauen der Bevölkerungen in ihre Regierungen, zu den daraus hervorgehenden Tendenzen der Selbstorganisation kamen zu einer Zeit, in der die USA sich in einem erschreckend inhaltlosen Wahlkampf  selbst zerfleischten.

Lassen wir hierzu eine Stimme aus der Zahl der besten Freunde der USA zu Wort kommen, der „Frankfurter Allgemeine Zeitung.

In einem Kommentar kurz vor der Wahl kam sie zu folgendem Fazit: „Schlammschlachten um das Weiße Haus  gab es in der langen Geschichte  der amerikanischen Demokratie auch früher.  Doch steht zu befürchten, dass die jüngste nicht am Wahltag endet.  In Amerika tobt ein neuer, ein politischer Bürgerkrieg, in dem nicht nur schwarze Bürger gegen weiße Polizisten und die Demokraten gegen die Republikaner kämpfen, sondern auch die Angehörigen einer sich um den amerikanischen Traum betrogen fühlenden Unter- und Mittelschicht gegen das politische und ökonomische `Establishment´. Dieses ist auch selbst gespalten. In ihm tritt der Isolationismus gegen den Interventionismus an und der Überrest des amerikanischen Missionsglaubens gegen ‚America First“. (…) Die Führungsmacht des demokratischen Westens (…) droht in einer Zeit an sich selbst zu scheitern, in der sie in der Weltpolitik als ein den Werten der liberalen Demokratie verpflichteter Stabilitätsanker und global agierender Ordnungsfaktor gebraucht würde wie selten zuvor.“ ‘…[4]

„Der russische Präsident“, heißt es dann zu Begründung der aus dem Zustand der USA resultierenden Gefahr, „betreibt eine aggressive, remilitarisierte Außenpolitik unter Missachtung internationaler Regeln und Prinzipien, um sein Regime  zu sichern und um von den Missständen im Inland abzulenken. Er nutzt für seine Zwecke nun auch das Machtvakuum und das Chaos, das Washington  nach dem Abzug aus dem Irak im Nahen Osten  hinterließ.“ Auch China wolle Supermacht werden. Die Türkei drohe  zu einer islamistischen Präsidialdiktatur zu werden.  Die EU stecke in der schlimmsten Krise ihrer Geschichte. Kurz: „Die freie Welt wird von Lähmung und Spaltung und Zerfall geplagt und nicht nur in Moskau, sondern auch in den westlichen Völkern  finden manche, das geschehe ihr recht.“

 

Führungswechsel?

Was, fragt man sich, hat dies alles zu bedeuten? Was kann aus dem Zusammentreffen dieser von Putin in Waldai beschworenen und von den USA in ihrem irren Wahlkampf vorgeführten großen Leere bei den „Eliten“ und der wachsenden Unzufriedenheit der „Menschen“  entstehen? Ist das amerikanische Zeitalter mit einem Donald Trump als zukünftigem Präsidenten nun an ihren Tiefpunkt gelangt? Wird Russland neue globale Führungsmacht, die zusammen mit Europa ein eurasisches Zeitalter eröffnet? Steht China vor der Tür? Oder gar die Türkei als Wiedergeburt osmanischer Größe?

Mitnichten. Spekulationen dieser Art verbieten sich. Sicher ist allein, dass die Grundfragen der gegenwärtigen Übergangsepoche die herrschenden politischen Mächte an eine Grenze führen, die zu überschreiten, nicht nur neue Formen der Politik erfordert, sondern auch neue Orientierungen nötig macht, über die heute in keinem der herrschenden Länder, genauer bei keiner ihrer „Eliten“ eine Vorstellung besteht.

Deutlich tritt die Frage zutage, auf die es bisher keine Antwort gibt: Wie will, wie kann die Menscheit leben in einer Welt, die durch profitorientierte Automation und bei gleichzeitigem Wachstum der Weltbevölkerung immer mehr Menschen hervorbringt, die als „Überflüssige“ an den Rand der Gesellschaften gedrängt werden?

Angesichts dieser Lage ist Putins Stimme zurzeit die vernünftigste, wenn er zur Einhaltung des geltenden Rahmens internationaler Beziehungen und zu „wahrer Führungskraft“ aufruft, die darin bestehe, konkrete Wege der Friedenssicherung aufzuzeigen. Was eine von Trump angeführte US-Regierung bringt, wird sich bald  zeigen.

Eine nachhaltige Lösung liegt allerdings auch in Putins Notruf nicht. Bloßes Krisenmanagement muss letztlich in Stagnation enden, solange die Perspektiven nicht über die „Sicherung des Wachstums“ hinausweisen – denn das heute herrschende Verständnis von Wachstum ist ja gerade die Ursache der Konflikte.

Bleibt also nur die Hoffnung, dass die von  Putin genannten weltweiten Impulse aus den unruhig werden Bevölkerungen, selbst die Dinge in die Hand nehmen zu wollen, die „Eliten“ zwingen neue Wege zu gehen – oder selber zu gehen. Ob das auch seine eigene Perspektive ist, ließ Putin in seiner Rede offen.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Erscheint demnächst:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, Neuauflage, hrsg. vom Verein zur Förderung der deutsch-russischen Medienarbeit e.V., Dezember 2016,

Bestellungen über www.kai-ehlers.de

[1] Dieser Absatz wie alle folgenden  Passagen der Waldai-rede Putins werden zitiert nach der englischen Übersetzung aus sott.net: https://www.sott.net/article/332371-Putin-2016-speech-at-Valdai-Discussion-Club

[2] Siehe dazu auch: Kai Ehlers, “Wladimir Putins Botschaft an den Westen – ein Zeitfenster für Alternativen“, nachzulesen u.a. auf www.kai-ehlers.de

[3] https://de.sputniknews.com/politik/20151022305127363-garantierte-gegenseitige-vernichtung/

[4] Dieses und die folgenden drei Zitate aus „Selbstmörderische Supermacht“, Kommentar in der FAZ vom 5.11.2016

Merkels Minsker Märchenstunde

Parallel zu den NATO- Übungen in Polen, begleitet durch die neue Zielvorgabe von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Militärausgaben über das von der NATO geforderte Maß auf das der  Vereinigten Staaten heben zu wollen,  sollen nach dem Willen der EU, allen voran der deutschen Kanzlerin Merkel nun auch die Sanktionen, welche die EU im Sommer 2014 gegen Russland beschlossen hat, um ein weiteres halbes Jahr bis Ende Januar 2017 verlängert werden. Dies beschlossen die Botschafter der 28 EU-Staaten bei ihrem  letzten Treffen Anfang Juni einstimmig. Ihr Beschluss wurde soeben von Brüssel bestätigt.

Als Begründung für die Notwendigkeit der Verlängerung der Sanktionen wurde von der Botschafterversammlung angegeben, dass es mit der  Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die im Februar 2014 zwischen Angela Merkel, François Hollande , Wladimir Putin und Petro Poroschenko als „Reaktion auf Russlands Unterstützung der Separatisten“ beschlossen wurden, noch ‚gewaltig hapere‘, so der Tenor im Mitteilungsblatt der Regierung, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22.06.2016, dem ein ausführlicher Bericht zu dem Treffen zu entnehmen war. In dem Bericht heißt es:

„Nicht nur wird der damals  zugesagte Waffenstillstand immer wieder gebrochen. Noch längst wurden zudem offenbar nicht alle schweren Waffen  aus der Pufferzone abgezogen. Und nach wie vor  stehen die in Minsk  vereinbarten Kommunalwahlen  in der Ostukraine aus.“ Weitere Begründungen werden nicht gegeben.“

Stimmt. An der Grenze zwischen den Donbas-Republiken und der Kiewer Ukraine wird nach wie vor geschossen. Nicht mitgeteilt wird jedoch, wer schießt, obwohl die Frage eindeutig zu beantworten wäre: beide Seiten schießen. Die Klage darüber konnte man in den letzten Monaten in wachsendem Maße den Berichten der OSZE entnehmen und sogar aus Munde des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeiers hören. (siehe dazu diverse Berichte in russland.ru, jetzt russland.news), wenn er seine Eindrücke über die Erfolge der Demokratisierung in der Ukraine immer unzufriedener kommentierte.

Dass die  Kommunalwahlen der Ostukraine ausgeblieben seien, stimmt allerding s nur noch halb. Tatsache ist, es fanden Wahlen in der Ostukraine statt, allerdings nicht nach den in Minsk  vereinbarten, sondern nach eigenen örtlichen Bedingungen, weil die in den Minsker Beschlüssen vereinbarten Voraussetzungen von Kiew trotz diverser Gesprächsangebote aus dem Ostteil des Landes nicht hergestellt wurden. Eine Erinnerung an diese Vereinbarungen und ein Bestehen auf ihrer Einlösung sucht man in den  Begründungen für die aktuelle Sanktionsverlängerung jedoch vergebens.

Dabei könnte alles so einfach sein, wenn diese Vereinbarungen des Minsker Protokolls, die den Kern des Konfliktes zwischen Kiew und den Ostgebieten betreffen,  genannt, anerkannt und erfüllt würden. Sie lauten: Die Kiewer Regierung führt eine Verfassungsänderung durch, als deren wesentliches Ergebnis sie den Gebieten Donezk und Lugansk eine begrenzte Autonomie zugesteht, auf deren Grundlage dann Wahlen für die gesamte Ukraine durchgeführt werden können. (Siehe die Fakten zu den Vereinbarungen im 2. Teil dieses Artikels)

Tatsache ist, dass die Verfassungsreform bis heute nicht durchgeführt wurde, dass keine direkten Gespräche zwischen Kiew und den Donbas-Vertretern zur Vorbereitung und Einleitung einer solchen Reform zustande kamen – sei es, weil Poroschenko und seine Umgebung es selbst nicht wollen, sei es weil sie durch das nationalistisch dominierte Parlament daran gehindert werden. Mit Terroristen verhandeln wir nicht, hieß die bisher dabei von Kiewer Seite insgesamt verfolgte Linie.

Von  all dem – den ursprünglichen Vereinbarungen, wie deren Missachtung durch Kiew – ist,  wie gesagt, in den Begründungen für die Verlängerung der Sanktionen nicht mehr die Rede. Zwar werden von deutscher Seite, Steinmeier, großzügig „schrittweise Lockerungen“ der Sanktionen angeboten,  allerdings nur, wenn  „substanzielle Fortschritte“ bei der Umsetzung der Verträge erkennbar würden – substanziell von russischer Seite, versteht sich, wobei im Nebel bleibt, worum es hierbei gehen soll, da Russland eh schon seine Unterstützung auf die Aufrechterhaltung der rudimentären Infrastrukturen der Gebiete reduziert hat, die OSZE-Kontrollen in  mitträgt, den beschlossenen Fahrplan, wie oben  benannt, immer wieder zusammen mit den Donbas-Vertretern einklagt.

Dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wäre, wie er öffentlich erklärte, als „Signal aus Moskau“ sogar schon mit einem „Wahlgesetz für die Ostukraine“ Genüge getan. Aber selbst dafür, höhnt die „Frankfurter“, habe es in Minsk nicht gereicht.

Ähnliche  Töne wie die Steinmeiers und Gabriels sind auch von den Franzosen und Italienern,  waren in St. Petersburg vor einer Woche auch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu hören. Ungarn und Griechen schwanken. Gänzlich unnachgiebig sind die Balten und die Polen.

Kurz, es gibt durchaus widersprüchliche Positionen innerhalb der EU zu der Frage  und es fragt sich, wie lange die nach außen demonstrierte Einigkeit aufrechterhalten werden kann.  Nach dem Austritt Englands aus der EU stellt sich diese Frage noch einmal aktueller. In der Beschlussfassung zu den Sanktionen stellten jedoch weder Steinmeier, noch die Franzosen, noch die Italiener, noch sonst irgendjemand die Einstimmigkeit in Frage.

Die Beendigung der Minsker Märchenstunde lag  dann bei der deutschen Kanzlerin, die „klarstellt(e)“, wie die „Frankfurter Allgemeine“ es kernig formulierte, dass sie  eine Lockerung  der Sanktionen für „verfrüht“ halte. Die Zeitung weiß zu diesem Vorgang im Übrigen noch die folgende nette Anekdote zu berichten:

„Ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen war in der vergangenen Woche  mit zwei ranghohen Diplomaten  des Auswärtigen Amtes  nach Minsk gereist.  Nach der Reise  konnte Merkel sowohl Skeptikern in der EU als auch ihrem Koalitionspartner ausrichten: Seht her, wir haben es versucht. Aber es reicht noch nicht. Steinmeier und Gabriel mussten dies akzeptieren.“ So einfach ist das.

Was immer Kanzlerin Merkels Emissäre dort in „Minsk“ und bei wem  gefunden haben mögen – die tatsächlichen Vereinbarungen vom Februar 2015 fanden sie dort offenbar nicht. Angesichts eines solchen kollektiven Misserfolges bei der Suche nach Originalquellen oder auch einfach bedauerlichen Gedächtnisverlustes scheint es sinnvoll noch einmal an daran zu erinnern, was in den ursprünglichen Vereinbarungen zu finden wäre, was auch nicht mit neuen Reisen nach Minsk gesucht werden müsste, wenn man es denn finden wollte:

Dies kann jetzt und hier an Hand eines Textes von mir geschehen, der sich vor nahezu einem Jahr, am 1. Mai 2015, schon einmal die Aufgabe stellte, daran zu erinnern, was in Minsk tatsächlich beschlossen und schon seinerzeit beiseitegeschoben worden ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

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Es folgt jetzt der Originaltext vom 1. Mai 2015, veröffentlicht u.a. in Russland.ru/russland.news

 

Wie alles sein könnte –

Ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen

 

Eigentlich ist alles ganz einfach: Die ukrainische Führung akzeptiert die Vereinbarungen des zweiten Minsker Treffens vom 12. Februar 2015, das heißt, sie geht mit den politischen Vertretungen der inzwischen selbst verwalteten Gebiete Donezk und Lugansk in direkte Verhandlungen über den autonomen Sonderstatus, den diese Gebiete ausgehend vom jetzigen Status quo in einer demokratisch und dezentral organisierten Ukraine erhalten sollen. Die Bereitschaft zu diesen Gesprächen geht von der Einsicht aus, dass eine militärische Lösung der Verfassungsprobleme der Ukraine nicht möglich ist.

Die Gespräche um Ausmaß und Form des autonomen Sonderstatus – Föderalisierung, Autonomie, lokale Sonderrechte oder einfache verwaltungstechnische Dezentralisierung – sind zugleich Bestandteil einer Verfassungsreform, als deren Ergebnis die autoritäre zentralstaatliche Organisation der Ukraine in eine dezentrale Demokratie umgewandelt werden soll.

Soweit, so klar, ein solches Vorgehen entspräche voll und ganz den Vereinbarungen, die in Minsk II getroffen wurden. Zur Erinnerung hier die entsprechenden Passagen der Minsker Vereinbarungen, die das Prozedere für die oben beschriebene Entwicklung unmissverständlich benennen (zitiert nach der „Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Ukrainekrise“, die dort am 19. Februar 2015 in Übernahme der Minsker Vereinbarungen beschlossen wurden):

 

Aufnahme eines Dialogs

Punkt 1 des Minsker Maßnahmenpaketes:

„Aufnahme eines Dialogs am ersten Tag des Abzugs (der schweren Waffen – ke) über die Modalitäten  von lokalen Wahlen  in Übereinstimmung mit ukrainischem Recht und dem Gesetz der Ukraine über  das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk  sowie über die künftigen Regelungen  für diese Regionen auf der Grundlage dieses Gesetzes. Unverzügliche Verabschiedung eines Beschlusses des Parlaments der Ukraine spätestens 30 Tage nach der Unterzeichnung dieses Dokuments, in dem das Gebiet, das einen Sonderstatus genießt, nach dem Gesetz der Ukraine über das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk festgelegt wird, und zwar auf der Grundlage der Linie des Minsker Memorandums vom 19. September 2014.„[i]

Kompliziert formuliert – aber doch klar: Nach Rückzug der schweren Waffen soll der direkte Dialog zwischen der Kiewer Führung und den selbstverwalteten  Gebieten Donezk und Lugansk aufgenommen werden, um den Status dieser Gebiete, auch den territorialen, im Verbund des ukrainischen Staates zu klären. Es werden keine Vorgaben über die Form und den Charakter dieses Status gemacht.

Noch deutlicher wird die Forderung nach einem Dialog in den Punkten 9 und 11 des Abkommens; diese Punkte sollen hier, wiewohl auch etwas mühsam zu lesen, ebenfalls zitiert werden, um Einseitigkeiten, Missverständnissen oder sei es auch nur einer allgemeinen Amnesie entgegenzuwirken:

 

Absprache und Einvernehmen

Punkt  9 und 11 des Maßnahmenpakets:

 „Wiederherstellung der vollen Kontrolle über die Staatsgrenze durch die ukrainische Regierung im gesamten Konfliktgebiet, die am ersten Tag  nach den lokalen Wahlen und nach der umfassenden politischen Regelung (lokale Wahlen in den gesonderten Regionen und Verwaltungsgebieten Donezk und Lugansk auf der Grundlage des Gesetzes der Ukraine und einer Verfassungsreform) endet; diese Regelung soll bis Ende 2015 finalisiert werden, vorausgesetzt, dass Absatz 11 in Absprache und im Einvernehmen mit Vertretern der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe umgesetzt wird.“

 

Punkt 11 lautet, um das gleich anzuschließen:

„Durchführung einer Verfassungsreform  in der Ukraine, wobei die neue Verfassung  bis Ende 2015 in Kraft treten soll und die Dezentralisierung  als Schlüsselelement vorsieht (einschließlich einer Bezugnahme auf die Besonderheiten  in den gesonderten Regionen Donezk und Lugansk, und  zwar in Absprache mit den Vertretern dieser Regionen), und Verabschiedung dauerhafter Rechtsvorschriften über den Sonderstatus der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  bis Ende 2015 in Übereinstimmung mit den in der Fußnote dargelegten Maßnahmen. (Anmerkung)“

Ist schon mit diesen Punkten klar, dass NICHTS gehen kann, ohne die Aufnahme eines direkten Gespräches zwischen Kiew und den „gesonderten Regionen“, so beseitigen die Fußnoten („Anmerkung“) jeden Zweifel, was der Geist von Minsk II, der so oft beschworen wird, eigentlich ist – oder sein könnte.

 

Möglichkeit zu Initiativen

„Anmerkung: Nach dem Gesetz über das Sonderverfahren für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  handelt es sich um folgende Maßnahmen:

– Verzicht auf Bestrafung, strafrechtliche Verfolgung und Diskriminierung von Personen, die in die Ereignisse verwickelt waren, die in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk stattgefunden haben;

– Recht auf sprachliche Selbstbestimmung;

– Beteiligung von Organen der lokalen Selbstverwaltung an der Ernennung der Leiter  der Staatsanwaltschaften und Gerichte in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk;

– Möglichkeit für zentrale Regierungsstellen, Vereinbarungen mit Organen der lokalen  Selbstverwaltung betreffend die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der gesonderten  Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk zu initiieren;

– Staatliche Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk mit Regionen der Russischen Föderation  durch zentrale Regierungsstellen;

– Schaffung von Volkspolizeieinheiten durch Beschlüsse der lokalen Räte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Die Befugnisse der in vorgezogenen Wahlen  und von der Werchowna Rada der Ukraine nach diesem Gesetz ernannten Abgeordneten von lokalen Räten und Amtsträgern können nicht vorzeitig beendet werden.“

 

Im Mittelpunkt der direkte Dialog

Auch wenn hier wieder kompliziert  formuliert wird und ohne an dieser Stelle auf  Einzelheiten eingehen zu können, geht doch auch aus den Anmerkungen eins klar hervor: Im Mittelpunkt der Absprachen steht die Einleitung eines direkten Dialoges zwischen den Konfliktparteien – und in diesem Zuge selbstverständlich auch mit anderen Regionen der Ukraine – um die Frage, welche Form eine Dezentralisierung der Ukraine annehmen kann. Über die konkrete Ausgestaltung soll miteinander gesprochen werden.

Merke: eine bestimmte Form wird in der Vereinbarung nicht vorweggenommen. Zu verhandeln wäre also über unterschiedliche Vorstellungen von der Föderalisierung, über Autonomie, lokale Sonderrechte bis hin zu einfacher Dezentralisierung von Verwaltungsbefugnissen. Die ganze Bandbreite steht zur Debatte.

Als Gesprächspartner werden die „Vertreter dieser Regionen“ zum einen und „zentrale Regierungsstellen“ zum anderen benannt. Den zentralen Regierungsstellen wird in den Anmerkungen (Satz vier) die „Möglichkeit“ eingeräumt, Vereinbarungen mit Organen der lokalen Selbstverwaltung zu „initiieren“, wohlgemerkt, nicht etwa zu verordnen oder zu befehlen, sondern ausdrücklich als Möglichkeit zu initiieren. Auch hier wieder keine Vorgabe einer bestimmten oder gar nur einer Lösung.

 

Politische Grundfrage lösen

Die Erfüllung weiterer Punkte des Minsker Abkommens – wie: Rückzug schwerer Waffen,  Amnestie, Gefangenenaustausch, humanitäre Hilfe, Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Landesteilen der Ukraine, „Entwaffnung illegaler Gruppen“, Rückzug aller „ausländischen bewaffneten Formationen“ wird dann möglich, kann dann einen Sinn machen und dann entspannende und aufbauende Folgen haben, wenn dieser Dialog um die grundsätzlichen politischen Fragen der Beziehung zwischen dem Kiewer Zentrum und als Statthalter des Staates und seiner einzelnen Subjekten effektiv im direkten Gespräch der Konfliktparteien aufgenommen wird.[ii]

Der Bevölkerung der Ukraine täte es zweifellos mehr als gut, wenn diese Gespräche endlich begonnen würden. Das gilt für die westliche Ukraine ebenso wie für die östlichen Teile, insbesondere natürlich für die „gesonderten Gebiete“ von Donezk und Lugansk, deren soziale und technische Infrastruktur durch den inzwischen einjährigen Krieg soweit zerstört ist, dass ein Leben dort auf ein Vegetieren unter dem Existenzminimum heruntergekommen ist.

Gut wäre die Aufnahme des Dialoges zweifellos auch für die Völker Russlands und die der Europäischen Union, denen die, in immer neue Milliarden gehenden, Lasten für den sinnlosen Sanktionskrieg des Westens gegen Russland und für die Kriegswirtschaft der Ukraine aufgebürdet werden.

Kommt noch das Aufatmen dazu, das durch die Welt ginge, wenn nicht Säbelrasseln, sondern Dialog, Verständigung und Kooperation die internationale Agenda bestimmte.

 

Falsches Spiel

Tatsächlich hat die erste Sitzung der ukrainischen Verfassungskommission, die eine Dezentralisierung der Ukraine einleiten soll, inzwischen stattgefunden –  allerdings gerade n i c h t  im Geiste der Minsker Vereinbarungen, sondern in dessen glatter Verkehrung: Föderalisierung sei eine „biologische Waffe“, die man der Ukraine „von außen aufzwingen“ wolle, „um unsere Einheit zu zerstören“, erklärte Präsident Poroschenko gleich zu Beginn der ersten Sitzung der Kommission. Damit schloss er eine offene Aussprache um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Dezentralisierung von vornherein aus. „Die Ukraine ist und bleibt ein Einheitsstaat“, postulierte er.

Zwar setzte Poroschenko, an die Kommission gewendet, noch hinzu: „Für diejenigen, die über Föderalisierung sprechen, schlage ich ein Instrument namens ‚Referendum‘ vor. Ich bin bereit für ein solches Referendum, wenn Sie das für notwendig halten.“ Den eigentlichen Punkt aber setzte Ministerpräsident Jazenjuk mit dem Statement: „Eine neue Verfassung müsse die Interessen des gesamten Landes berücksichtigen – von West nach Ost. Der Dialog mit dem Osten kann erst dann stattfinden, wenn es dort rechtmäßig gewählte Abgeordnete  gibt.  Wir verhandeln nicht mit russischen Kriminellen oder Terroristen.“[iii]

Der ukrainische Parlamentsvorsitzende Wolodymyr Hroisman erklärte im TV-Sender ‚Inter“, die Zentralregierung werde nach Abhaltung freier Lokalwahlen mit den Gewinnern  einen politischen Dialog führen. Anführer von Banditengruppen und Kämpfern  der sog.  „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ an künftigen Wahlen schieden jedoch aus. Und wörtlich: „Es können keine Mörder, keine Bandenführer und alle anderen gewählt werden. Das sind Verbrecher, die bestraft werden müssen.“[iv]

 

Autonomie von Kiews Gnaden

Voraufgegangen war diesen Auftritten die Verabschiedung eines „Gesetzes über die Autonomie in den Separatistengebieten“ in der Werchowna Rada Kiews. Nach diesem Gesetz soll über einen Autonomiestatus der Gebiete Donezk und Lugansk erst nach den gesonderten Kommunalwahlen vom 25. Oktober 2015  entschieden werden. Außerdem legt das Gesetz eine Liste von Ortschaften fest, für die künftig eine Autonomie gelten soll. Diese Territorien werden in dem Gesetz zu „vorübergehend  besetztem Gebiet“ erklärt.

Alle diese Änderungen wurden ohne Beteiligung der Vertreter von Donezk und Lugansk getroffen. Vorschläge, für den Verfassungsprozess, darunter auch solche zu den Kommunalwahlen, die die Vertreter von Donezk und Lugansk nach Kiew geschickt hatten, wurden von dort nicht beantwortet.[v]

Mit dem Gesetz über die Autonomie in den Separatistengebieten und den darauf folgenden Weichenstellungen des Verfassungskongresses ist das Minsker Abkommen faktisch vom Tisch. Die Konsequenz des Gesetzes wäre vielmehr, wenn es umgesetzt  werden könnte, dass die „gesonderten Gebiete“ ihren blutig erkämpften Sonderstatus erst aufgeben müssten, um ihn sich von Kiew dann wieder gewähren zu lassen. Es ist klar, dass die politischen Körperschaften, die durch die Referenden und die unabhängig von Kiew durchgeführten lokale Wahlen n Donezk und Lugansk im Lauf des Jahres 2014 legitimiert worden sind, sich darauf nicht einlassen können. Was jetzt kommt, wenn keine Korrektur erfolgt, kann unter diesen Umständen nur auf eine Fortsetzung der bisherigen „Anti-Terror-Aktion“ hinauslaufen, die sich wahlweise  als Verfassungsreform, Dezentralisierung oder Demokratisierung tarnt. Dass die so ins Visier genommenen „Terroristen“, dies nicht widerstandslos hinnehmen werden, ist ebenso klar. Offen ist allein, wie weit sich die hinter den Konfliktparteien stehenden Schutzmächte in die neue Runde der Konflikte aktiv mit einmischen oder mit in sie hinein ziehen lassen wollen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                             Freitag, 1. Mai 2015

Bücher zum Thema:

Peter Strutynski (Hg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, Papyrossa

 

Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.), Ukraine m Visier, Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, Selbrund Vlg.

 

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte

 

 

 

[i] Wortlaut von Minsk 1: http://www.bpb.de/internationales/europa/ukraine/192488/dokumentation-das-minsker-memorandum-vom-19-september

[ii] Vollständiger Wortlaut der UN-Resolution: http://www.russland.ru/resolution-des-un-sicherheitsrates-zur-ukrainekrise/

[iii] http://de.euronews.com/2015/04/06/poroschenko-ja-zur-dezentralisierung-nein-zum-foederalismus/

 

[iv] http://www.ukrinform.ua/deu/news/hroisman_von_einer_fderalisierung_der_ukraine_kann_keine_rede_sein_14829

[v] http://www.dw.de/keine-chance-auf-frieden-f%C3%BCr-ostukraine/a-18323459

Globales Zwischenhoch: Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum?

Die Augen müsse man sich reiben, alles werde auf den Kopf gestellt, konnte man dieser Tage in dem führenden Blatt der deutschen Konservativen, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.06.2016 lesen.

Empörung breitete sich auf den Bonner und Brüsseler Etagen aus. Einen „ungeheuerlichen Vorwurf“  erkannte der  Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Eckpfeiler der deutschen, der europäischen Außenpolitik, gar der NATO-Strategie sah man bedroht. Man wolle doch nur die Sicherheit an Russlands Grenzen sichern; ein anderes Interesse als Friedenserhaltung verfolge die NATO nicht, schob Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag darauf nach.

 

Putins Angebot: Weg mit den Sanktionen

Was war geschehen? Auf dem 20. Petersburger Wirtschaftsforum vom 17.06.2016, zu dem rund 500  Vertreter und Vertreterinnen von ausländischen Unternehmen aus 60 Ländern, vornehmlich aus dem Nahen Osten und Asien, aber auch aus den USA und der EU angereist waren, unter ihnen auch der Präsident der Europäischen Kommission der EU, Jean-Claude Juncker, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Gäste aus der EU mit dem Angebot überrascht, die von Russland als Reaktion auf die vom Westen nach den Krim-Ereignissen gegenüber Russland verhängten Sanktionen von Russlands Seite her aufzuheben. Gemeinsam könne  man an den Aufbau einer eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft  gehen  – wenn Russland sich darauf verlassen könne, anschließend nicht (man konnte das feine ‚wieder‘ mit heraushören) betrogen zu werden.

Und nicht nur das: Nicht nur lobte UN-Präsident Ban Ki-Moon Gastgeber Putin für seinen mutigen Schritt und dankte für sein Engagement in Syrien, nicht nur kniff sich Juncker eine Zustimmung zu dieser Perspektive ab, vorausgesetzt, dass  Russland sich weiter kooperativ zeige, nein, allen voran nutzte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Gut-Wetter-Lücke zwischen dem Treffen in St. Petersburg und der für den 8. und 9. Juli bevorstehenden NATO-Tagung,  mit Hinweis auf das zur Zeit in Polen durchgeführte  Nato-Groß-Manöver „Anaconda“ in der „Bild am Sonntag“ öffentlich zu mahnen: „Was wir jetzt nicht tun sollten, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeschrei  die Lage weiter anzuheizen.“

 

Aber war denn nicht alles ganz anders …

Aber die  so Ermahnten können es einfach nicht glauben. War denn nicht alles ganz anders? Werden damit nicht alle Tatsachen auf den Kopf gestellt? War es nicht so, wie man es in der FAZ vom 20.Juli lesen konnte ? „Ursache für die Eiszeit  ist der Verstoß Russlands gegen Prinzipien,  die jahrzehntelang für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt hatten. Es war nicht die Nato, sondern der Kreml, der die Krim okkupierte und der in der Ostukraine einen (Sitz-)Krieg führt. Es ist nicht die Nato, sondern Moskau,  vor dem sich  die baltischen Republiken und Polen fürchten,  weswegen sie aus freien Stücken der atlantischen Allianz beitraten. Bis zur Annexion der Krim spielte die Nato militärisch in diesen Ländern keine Rolle. Auch die vier Bataillone, die dort stationiert werden sollen,  stellen keine Bedrohung für Russland dar, das auf seiner Seite der Grenze Divisionen stehen hat.  Steinmeier spricht zu Recht  von ‚symbolischen Panzerparaden‘. Die Nato-Verbände haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, das der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe.  Und dass die NATO einen Angriff  auf eines ihrer Mitglieder  als Angriff auf alle betrachten würde.“

Bemerkenswert! Wirklich bemerkenswert diese Sicht! Man kann die Welt doch von sehr verschiedenen Seiten betrachten. Aber man muss sich hier nicht bei den gröbsten Verdrehungen aufhalten, wie etwa der, Russland habe die Krim „besetzt“, man  muss auch nicht den Versuchen Steinmeiers und seiner Parteigänger erliegen, das Schwanken zwischen Verlängerung der Sanktionen gegen Russland und zögernder Anerkennung für dessen Einsatz in Syrien für eine „neue Entspannungspolitik“ auszugeben, es gar noch „im Geiste Brandts“ verstehen. Zu offensichtlich ist die Hilflosigkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit dieser Politik, wenn man wahrnehmen muss, wie in strategischen Hinterstuben zugleich Pläne für die nächste Phase geplanter Aggression geschmiedet werden:

  • Die Forderung von 51 US-Diplomaten aus dem Mittelbau des außenpolitischen Establishments, die in einem offenen Brief verlangen, die Politik des „Regimechange“ in Syrien durch Bombardierung von Assads Truppen wieder aufzunehmen. Dies würde den Krieg mit Russland zumindest in Kauf nehmen.
  • Das Offenhalten des Ukraine-Konfliktes, indem die ukrainische Regierung sich – trotz verbaler Kritiken seitens der EU, Steinmeiers, und selbst seitens der USA von ihnen dennoch geduldet – weigert, den Donbas-Republiken ihren im Minsker Vertrag vereinbarten Autonomiestatus zuzuerkennen – die Schuld dafür aber der andauernden „Aggressivität“ der Russen zuschiebt.
  • Die nochmalige Verlängerung der Sanktionen seitens der USA und der EU gegen Russland, sogar Forderungen nach weiterer Verschärfung, so dass es Millionen wirklich wehtue, weil nur so an einen Sturz Putins gedacht werden könne.

 

An einem Wendepunkt angekommen

 Man muss auch Russland nicht in Schutz nehmen als wäre es ein Neugeborenes, das den  Härten der US-, EU-, Nato-Welt und überhaupt den imperialen globalen Realitäten, den Verleumdungen Russlands als Reich des Bösen mit einer Widergeburt Hitlers als Präsidenten noch nicht gewachsenen sei, dem also schon einmal Fehler unterlaufen könnten, ohne dass man es dafür kritisieren müsste. Aus der zweiten und dritten Reihe werden auch in Russland durchaus dumpfe Töne laut.

Nein, man muss jetzt vor allem erst einmal die Tatsache erkennen, dass Russland 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder in die Weltpolitik eingetreten, dass sein Präsident Putin ungeachtet aller Anwürfe als Wiedergänger Hitlers zum anerkannten globalen Krisenmanager aufgerückt ist. Und man muss dies nicht nur konstatieren, um sich dann darauf auszuruhen, es ist auch wichtig zu erkennen, wie es dahin kam, welche Elemente in diesem Krisenmanagement wirksam sind und wo seine Grenzen liegen, um zu verstehen in welcher Etappe der Neuordnung wir uns 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der systemgeteilten Welt, die den Kriegen des vorigen Jahrhunderts folgte, heute befinden.

Denn ungelöst sind die aus dem letzten Jahrhundert herüber gewachsenen Grundfragen, die über ein vorübergehendes Krisenmanagement durch eine charismatische Figur wie den gegenwärtigen russischen Präsidenten weit hinausführen.

Wer diesen Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre richtet, erkennt, dass die globale Konstellation mit Putins neuerlichem Angebot an die Europäische Union an einem Wendepunkt angekommen ist.

 

Drei Etappen des  russischen Aufstiegs

Drei Etappen lassen sich bei dem Aufstieg Russlands in seine gegenwärtige Rolle des globalen Krisenmanagers benennen:

Das ist zunächst das  Wegbrechen jeglicher Staatlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und dem Kniefall vor dem Westen unter Boris Jelzin in den Jahren 1985 bis 1998.

Das ist darauf folgend die Wiederherstellung rudimentärer Staatlichkeit und einer mühsamen inneren Stabilisierung unter Putin  im Inneren des Landes seit 1998 bis heute (allerdings schon begonnen unter Primakow 1998, was in der Regel unterschlagen wird).

Das ist, aus dem inneren Krisenmanagement erwachsen, der Übergang in ein Wiedereintreten des Landes in seine Rolle als Integrationsknoten Eurasiens, der für die Newcomer aus den ehemaligen Kolonien zum wichtigsten Partner in ihrem Streben nach einer Ablösung der von den USA allein und militärisch dominierten Weltordnung wurde.

Aber nicht Diktat und Repression, wie westliche Propaganda es immer wieder nahelegt,  hat diesen Weg des inneren und danach äußeren Krisenmanagements getragen, nicht imperiale Stärke,  sondern im Gegenteil eine von Putin aus dem geschwächten eurasischen Zentrum heraus entwickelte Politik des Konsenses.

Aus dem Konsens heraus ist Russlands Wiederherstellung seiner Staatlichkeit im Inneren erfolgt, zweifellos „vertikal“, nicht demokratisch, aber gestützt auf die Struktur realer Vielfalt im Lande. Aus dem inneren Konsens heraus hat Russland seine Rolle als Motor einer internationalen Gegenbewegung der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion Union entwickelt – letztere immer mit Blick auf Kooperation, nicht zuletzt mit der EU, statt auf Konfrontation.

Die Angebote Putins, Medwedews und anderer russischer Politiker zur Kooperation in einer „Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok“ waren die immer wiederkehrende Essenz dieser Politik, bis Russland sich angesichts der zügellosen Ost-Erweiterung von EU, NATO und dem frechen Vordringen der USA auf den eurasischen Kontinent, ihrem schrittweisen, systematischen Einkreisen der russischen Grenzen seit der Auflösung des Warschauer Paktes, gezwungen sah,  aus der Duldung dieser Einkreisung  in die Verteidigung seiner Grenzen zugehen.

 

Übergang zur offensiven Verteidigung

Das geschah erstmalig mit der deutlichen Antwort auf die georgischen Provokationen von 2004, die Russland militärisch zurückwies.

Das wiederholte sich gegenüber den Versuchen, die Ukraine 2008, dann endgültig seit dem Maidan 2013/14 ins westliche Bündnis zu ziehen, indem Russland den Austrittswillen der Krim in einem schnellen Referendum aufgriff und den Osten in seinen Autonomiebestrebungen personell und sachlich unterstützte.

Das steigerte sich schließlich in dem Einsatz von Kampffliegern in Syrien, nachdem alle Versuche, eine friedliche Beilegung des von der US-Allianz betriebenen gewaltsamen „Regimechanges“ auf dem Verhandlungswege mit der US-geführten „westlichen Allianz“ zu erreichen, auch im fünften Jahr dieses unerklärten Krieges noch am Widerstand der USA gescheitert waren. Erst  der Einsatz der russischen Bomber erzwang jetzt den – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.

Ähnliches gilt für die Ukraine, deren „eingefrorener Konflikt“ nur deshalb nicht heiß weiter läuft, weil Russland nach wie vor als Garantiemacht hinter den selbsterklärten Republiken des Donbas steht.

Dies alles sind bekannte Tatsachen, die hier nicht zum hundertsten Male neu im Detail ausgebreitet werden müssen. Dadurch werden sie für die, die sie leugnen, nicht wahrer. Diese Menschen sehen die Dinge schlicht von der anderen Seite. Es dürfte wichtig sein, ihre Motive und Aktivitäten nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen.

 

Erkennbare Grenzen

Aber hier werden selbstverständlich auch schon die Grenzen des russischen Krisenmanagements sichtbar, das nach der Ausdehnung seiner Sicherheitspolitik  in den globalen Raum nunmehr wieder in verstärktem Maße mit der  Sicherung seiner inneren, hauptsächlich der sozialen und „nationalen“ Fragen, d.h., der Entwicklung seiner Republiken konfrontiert ist. Darüber hinaus stellt sich für Russland auf längere Sicht die Frage, ob und wie es unter diesem Druck die Kraft hat, dem Kulturimpuls als „Entwicklungsland neuen Typs“ gerecht zu werden, der in der Überwindung von sowjetischem Sozialismus und heutigem Turbo-Kapitalismus neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen könnte, die sich auf die tausendjährige (zweifellos auch sehr widersprüchliche)  Gemeinschaftskultur Russlands stützen  könnten – ohne dass daran nach dem Niedergang des Zarismus, danach dem des sowjetischen Imperiums, nunmehr auch der als zentralisierte Föderation übriggebliebene  Vielvölkerorganismus des neuen Russland zerbricht.

Dies alles muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass die grundlegenden Konflikte der sich heute entwickelnden globalen Übergangsordnung in keiner Weise gelöst, ja, zum Teil noch nicht einmal richtig erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, dann leichtfertig oder sogar wissentlich – ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen der globalen Bevölkerung – beiseitegeschoben werden.

Es sind dies Fragen, die das ganze globale Feld heute betreffen, aber eben auch Russland in seiner Dynamik als aus der Asche des Sozialismus auftauchendem potentiellen Protagonisten einer möglichen Neuordnung, dem die widersprüchliche Aufgabe zufällt, sich als „Hybrid“ neu zu erfinden, der sich in die „Moderne“ einfügen muss, der sich aber in seiner undefinierten, in Bewegung befindlichen Mischung aus gemeinschaftsorientierten und neo-kapitalistisch orientierten Lebensweisen nicht in die „normalen“, sprich zerstörerischen Krisenzyklen der kapitalistischen Welt einfügen kann – und es auch nicht will.

Die Grundfragen, deren Lösung ansteht, sind nicht zu umgehen – so oder so nicht. Fassen wir sie zusammen, dann lauten sie so:

  • Wie wollen wir leben, wenn nicht sozialistisch nach Art der Sowjetunion, aber auch nicht im nach-sozialistischen Turbo-Kapitalismus? Wie wird die soziale Frage der „Überflüssigen“ gelöst, die aus der ungebremsten Automatisierung bei gleichzeitiger rasanter Vermehrung der Weltbevölkerung erwächst?
  • Wie wird die „Nationale Frage“ in einer Welt gelöst, auf der unter dem Prinzip „Teile und Herrsche“ bei gleichzeitigen globalen Zentralisierungstendenzen immer mehr „eingefrorene Konflikte“ als Minenfelder für zukünftige Politik zurückbleiben?
  • Wie sind die zerstörerischen Folgen des immer noch wachstumsorientierten Expansionismus ohne Krieg zu bewältigen?

Wie lange und wie weit Russland zur friedlichen, kooperativen Lösung dieser Fragen beitragen kann, ist eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende Frage der nächsten Etappe.

 

Kai Ehlers, 21.06.2016

www.kai-ehlers.de

 

 

 

Hier Vorschläge aktuell — Stand 12.04.2018

  • Ukraine, Syrien, Korea – Bestandsaufnahme und Analyse des aktuellen Propagandakrieges
  • Kann Deutschland neutral sein? Überlegungen zur Rolle Deutschlandsals Scharnier und Mitte im Ost-West-Konflikt
  • Angst vor Russland, warum?
  • Putin im Fadenkreuz – Warum und wie Russland das durchhalten kann.Eintauchen in die Frage der russischen Autarkie
  • Europa ohne Russland? Kann es Europa ohne Russland geben? Betrachtungen zu paradoxen Verbundenheit und Russland und Europa.
  • Auf der Suche nach der russischen Idee. Skizze aktueller Ansätze. Gibt es einen russischen Nationalismus?
  • Dreigliederung – Traum oder Weg aus der globalen Krise?
  • Was treibt die Menschen in den Krieg? Egoismus, Altruismus, ethischer Individualismus

Zwei Anmerkungen noch:

Ich bin auch zur Übernahme von Themen bereit, die Ihnen das aktuelle Geschehen aufdrängt,

Nach wie vor stehen die Themen in meinem Angebot, die Sie weiter unten finden.

Mit freundlichen Grüßen, Kai Ehlers                                              

Spoiler-Titel
 

Generelles:

  • Was ist das Russische an Russland? Stichwort: Vielvölkerorganismus statt Nationalstaat
  • Mitteleuropas Aufgabe zwischen westlichem Herrschaftsanspruch und östlichem Kulturkeim. Stichwort: Vermittlung von westlichem Individualismus und östlichen Gemeinschaftstraditionen
  • Krise des Nationalstaats. Stichwort: Notwenigkeit und mögliche Formen einer neuen Völkerordnung
  • Was ist am Islam so attraktiv? Stichwort: Islam (bis hin zum Islamismus) als ganzheitliches (verführerisches) Angebot jenseits der „Alternative“  von Kapitalismus ODER Sozialismus
  • 1917 bis 2017 – Aufbruch oder Jahrhundertstau? Stichwort: Rückschau auf die Dynamiken des Jahrhunderts, Ergebnis und Ausschau
  • Revolte der „Überflüssigen“? Stichwort: Ausbau der Festung Europa innen und außen?
  • Wie wir wirklich leben wollen – Elemente einer Vision

 

Prinzipielles:

  • Seminar: Neue Formen des Denkens (kennenlernen und einüben).  Stichwort: Lebendige Dialektik von Stau und Bewegung nach den Gesetzen des  (kretischen) Labyrinthes

Für eine genauere Bestimmung der Themen nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf,
entweder über das nach folgende Kontaktformular oder direkt per Mail: info@kai-ehlers.de

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    Frühere, bereits gehaltene Vorträge dokumentiert:

    Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

    Ukraine, Syrien, Libyen, Irak, Türkei, Afghanistan – unter dem Druck der Flüchtlingsströme von Süden in den Norden des Globus jetzt auch die Europäische Union: das Kampffeld, auf dem nationale Souveränität in Frage gestellt wird und wo sie umso radikaler behauptet wird, weitet sich zusehends aus. Die großen Mächte schieben nationale Souveränität beliebig beiseite, kleine Völker wie die Kurden, wie die Uiguren Chinas, wie Indigene Südamerikas ringen um Autonomie oder „nationale Widergeburt“, arbeiten vergessene Geschichte in eigenen Epen auf. So etwa die Tschuwaschen Russlands, deren neuestes „Nationalepos“ soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist.
    Bei all dieser nationalen Selbstbesinnung und ihrer gleichzeitigen Zerstörung stellt sich die Frage, welche Bedeutung Autonomie, nationale Wiedergeburt, genereller nationale Souveränität, Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung, die heute als Norm gilt, in der gegenwärtigen Krise hat.
    Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
    Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
    Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
    Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
    Und weiter: Als Nationalstaaten galten und werden faktisch auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings die EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien gehandelt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
    Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
    Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
    Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
    Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
    Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine „nationale“ Gültigkeit, genauer, keine nationalen Grenzen mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
    War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Missachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
    Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
    Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
    Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
    Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
    Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
    Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
    Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
    Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

    Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

    Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

    Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

    Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?

    Wieder einmal will man uns einnebeln: Dem Demokratisierungsprozess in der Ukraine stehe nur noch Russlands Unterstützung für die nicht anerkannten Republiken Donezk und Lugansk entgegen. Eine Befriedung Syriens und damit ein Ende des Terrors wie auch der Flüchtlingsbewegungen würden nur durch Russlands Festhalten an Präsident Baschar el-Assad verhindert. Continue reading “Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?” »

    Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

    Schriftliche Fassung eines Vortrags
    auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

    Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »

    DEUTSCH – EUROPÄISCHE SCHWANENGESÄNGE: Der Tag als die Einsicht kam …

    Deutsch-Europäische Schwanengesänge
    Der Tag als die Einsicht kam …
    Das muss man gelesen haben. Das reißt sogar Kranke vom Lager:
    In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem deutschen Kampfblatt der EU-Kampagne gegen die „Bedrohung aus Russland“, vorgetragen von einem der schärfsten Vollstrecker dieses Kurses, Reinhard Veser, war am. Freitag, d. 25.09.2015 auf S. 10, unter der Überschrift „Eine Misserfolgsgeschichte – Ukraine-Konflikt und Flüchtlingskrise: Die EU formuliert ihre Nachbarschaftspolitik neu“ Folgendes zu lesen.Ich zitiere:

     

    „Ich wünsche mir einen Ring von Freunden um die Europäische Union und ihre engsten Nachbarn herum, von Marokko bis Russland und zum Schwarzen Meer“, sagte der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi im Dezember 2002. Damals, kurz vor der Aufnahme der Staaten Ostmitteleuropas, begann die EU, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die Beziehungen zu ihren Nachbarn langfristig und systematisch gestalten könnte. Das Schlüsselwort von Prodis Rede war Stabilität: Die von der EU innerhalb ihrer Grenzen geschaffene Stabilität solle auf die benachbarten Regionen ausgedehnt werden. Es sollte freilich nicht eine beliebige Form der Stabilität sein, sondern eine, die aus der Förderung von Demokratie und Rechtsstaat, aus wirtschaftlicher und politischer Kooperation entsteht. Einigen Nachbarn wurde langfristig der EU-Beitritt in Aussicht gestellt, andere sollten so nahe wie möglich an sie herangeführt werden.
    Heute ist die EU von so viel Instabilität umgeben wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Russland ist mehr Feind als Freund, in der Ukraine herrscht Krieg, die Türkei entfernt sich immer weiter von demokratischen Verhältnissen und schlittert in eine neue gewaltsame Eskalation des Konflikts mit den Kurden, aus den zerfallenden Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas strömen in bis vor kurzem unvorstellbaren Massen Flüchtlinge nach Europa – durch Balkanstaaten, in denen zwölf Jahre, nachdem ihnen feierlich eine Beitrittsperspektive eröffnet worden war, mehr Hoffnungslosigkeit als Fortschritt zu erkennen ist. Von den Zielen der Nachbarschaftspolitik wurde so gut wie keines erreicht. Die 2008 gegründete „Union für das Mittelmeer“ hat nie politische Bedeutung gewonnen. Das ist bei der im Jahr darauf ins Leben gerufenen „Östlichen Partnerschaft“ zwar ganz anders, doch mit Folgen, die nicht beabsichtigt waren: Russland verstand die Initiative als geopolitische Kriegserklärung – der Krieg in der Ukraine ist seine Antwort.

    Angesichts dieser Bilanz wird in Brüssel derzeit an einem neuen Konzept für die Nachbarschaftspolitik gearbeitet, das im November vorgestellt werden soll. Ein von der Kommission im Frühjahr dazu veröffentlichtes Papier besteht vor allem aus vielen Fragen und einigen wenigen Erkenntnissen: Es sei eine „klarere Analyse der Interessen sowohl der EU als auch ihrer Partner“ nötig, außerdem müsse das Verhalten „der Nachbarn der Nachbarn“ bedacht werden.
    Spricht man in Brüssel mit EU-Diplomaten, benennen sie bereitwillig vor allem eine Schwachstelle der bisherigen Nachbarschaftspolitik: Man habe zu wenig berücksichtigt, dass die potentiellen Partnerländer unterschiedliche Bedürfnisse haben, unterschiedlich entwickelt sind und verschiedene Grade und Formen der Annäherung an die EU wünschen. Das habe in diesen Ländern zu dem Eindruck geführt, dass es sich weniger um eine Partnerschaft als vielmehr um eine einseitige Beziehung handle, in der die EU Vorgaben mache – und das obwohl die EU, so ein ranghoher Diplomat, ihre eigenen Interessen eigentlich zu zurückhaltend verfolgt habe. Auch das soll sich ändern: Die Formulierung der eigenen Interessen soll künftig in der Nachbarschaftspolitik mehr Raum einnehmen. Ein Beispiel dafür liegt angesichts der Flüchtlingskrise auf der Hand – die Sicherung der Außengrenzen.

    So versuchen manche EU-Diplomaten noch immer, die russische Wahrnehmung, die „Östliche Partnerschaft“ diene der Schaffung einer gegen Russland gerichteten westlichen Einflusszone, mit dem Mantra wegzubeten, sie sei gegen niemanden gerichtet. Doch das wird nicht nur im Kreml niemanden überzeugen, sondern geht auch an der osteuropäischen Wirklichkeit vorbei, denn sowohl in Georgien, Moldau und der Ukraine als auch in den baltischen Staaten und Polen wird die „Östliche Partnerschaft“ sehr wohl als Mittel zur Zurückdrängung des russischen Einflusses betrachtet.
    Eher hilflos wirken auch die Erklärungen, mit welchen Mitteln den Nachbarn geholfen werden soll, auf dem rechten Pfad von Demokratie und Marktwirtschaft voranzuschreiten. In Brüssel weiß man sehr wohl, dass die bisherigen Aktionspläne zur Förderung von Reformen an einer harten Realität gescheitert sind, in der Korruption, Klientelismus und eine politische Kultur vorherrschen, in der Kompromisse als Zeichen von Schwäche verstanden werden. Dass die europäischen Kooperationsprogramme nur ineffizient sind, wie auf dem Balkan, ist dabei nicht der schlimmste Fall. In der Republik Moldau etwa erscheint die EU heute in den Augen vieler Bürger als Komplize korrupter Seilschaften, die in den vergangenen Jahren im Gewand „proeuropäischer“ Parteien auftraten: Auf dem Papier trieben sie viele Reformen voran und wurden dafür von Brüssel gelobt, während sie gleichzeitig die staatlichen Institutionen unter sich aufteilten und als Privateigentum behandelten und die Banken des Landes ausplünderten. Sollte die Ukraine nicht an der russischen Aggression, sondern wie nach der orange Revolution an den eigenen Eliten scheitern, besteht die Gefahr, dass sich dieser Ansehensverlust der EU in einem viel größeren Maßstab wiederholt.

    Allerdings steht die EU auch vor einem kaum lösbaren Dilemma: Sie muss mit den in diesen Ländern vorhandenen Kräften zusammenarbeiten, wenn sie überhaupt etwas tun will – und dass sie im eigenen Interesse wenigstens versuchen muss, die Nachbarschaft zu stabilisieren und wirtschaftlich und politisch voranzubringen, ist unbestreitbar. Die dürftigen Ergebnisse von gut zehn Jahren Nachbarschaftspolitik selbst in kleinen europäischen Ländern zeigen indes, dass die Chancen, Fluchtursachen in den arabischen Bürgerkriegsstaaten oder in Afrika wirksam zu bekämpfen, nicht besonders groß sind.

    Über allem der Leitkommentar des Tages
    unter der Überschrift „Applaus aus Moskau“
    Vorausgegangen war der aktuellen Ausgabe der FAZ vom 25.09.2015 eine Erklärung der Bundeskanzlerin Merkel bei dem aktuellen Gipfeltreffen der EU in Brüssel in der Nacht vom 24.09. auf Donnerstag, den 25. Und tags darauf die Regierungserklärung in Berlin, dass angesichts der „Flüchtlingskrise“ nicht nur über deren Integration, auch nicht nur über deren Eindämmung nachgedacht, sondern auch mit Assad gesprochen werden müsse.
    Die Bundeskanzlerin, habe in ihrer Regierungserklärung viele Punkte genannt, an denen die Politik des Westens ansetzen müsse, wenn er nicht von den Millionen Flüchtlingen überrannt werden wolle, heißt in dem Kommentar der in der gleichen Printausgabe erschien, in dem auch Vesers „Misserfolgsschichte“ zu lesen ist.
    In der von mir gelesenen FAZ-Printausgabe hat der Kommentar von Berthold Kohler den Titel „Applaus aus Moskau“.
    Den Kommentar zu diesem Schwanengesang wird die Wirklichkeit schreiben.

    Pressefassung bei russland.ru

    Dort lesen unter dem Stichwort: Analysen, Hintergründe:

    Kai Ehlers: Deutsch-Europäische Schwanengesänge …

     

    Videovortrag: Globaler Maidan – Kampf um globale Menschenrechte

    Liebe Besucherinnen, liebe Besucher dieser Seite.

    Der oben genannte Vortrag zum „Globalen Maidan“ wurde von mir am 28.05.2015 auf Einladung der Initiative „artikel20gg“ in Berlin gehalten. Wegen seiner Aktualität, die man geradezu beängstigend nachhaltig nennen könnte, stelle ich ihn hier als ersten Beitrag nach meiner Rückkehr von meiner Sommerreise durch Russland noch einmal auf die Eingangsseite meiner WEB: Dialogverweigerung in der Ukraine, Druck auf Griechenland, „Überflüssige“, die nach Europa strömen… Suche nach Alternativen – als wäre das alles erst gestern gesprochen worden.

    Zwei Teile: Vortrag und für Menschen mit Geduld Antworten in der anschließenden Diskussion. Über Rückmeldungen würde ich mich freuen.

    http://artikel20gg.de/video/05-Ehlers.htm

     

    Jefim Berschin, Kai Ehlers – Gespräch zur Lage in der Dnesterrepublik

    Im Juli erklärte der ukrainische Präsident Poroschenko den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnesterrepublik „lösen“ zu wollen. Seitdem ist „Prednestrowien“ (so im Russischen) als neuer Krisenherd, der den ukrainischen Konlikt um eine gefährliche Dimension erweitert, ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Bei seinem Aufenthalt in Russland führte Kai Ehlers ein Gespräch mit Jefim Berschin über die Lage in der „Dnjesterrepublik“. Jefim Berschin wurde dort geboren, hat als Journalist der „Literaturnaja Gasjeta“ an den Kämpfen teilgenommen, die 1991/2 zur Abspaltung dieses Gebietes von Moldawien geführt haben. Er lebt heute als Journalist, Schriftsteller und Poet in Moskau. Das Gespräch wurde in Tarussa (kleine Stadt 200 Kilometer südlich von Moskau, im Sommergarten des dort wohnenden Herausgebers der Internetueitung „russland.ru“ Gunnar Jütte, geführt.

    Das Gespräch kann russisch und deutsch gehört werden, es findet in simultaner Übersetzung statt.

    http://www.russland.ru/sommergespraech-ueber-moldawien-video/

     

    Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen

    Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.

    Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen. Continue reading “Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen” »

    NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel

    Erinnern wir uns: Die Ukraine wurde von der EU im Herbst 2013 in die Alternative des Entweder-Oder getrieben: entweder mit der eurasischen oder mit der Europäischen Union. Das Ergebnis liegt offen vor aller Augen: Spaltung der Ukraine in drei Teile: Kiew, Osten und die an Russland übergegangene Krim. Ein weiterer Zerfall des Landes droht, wenn nicht endlich der Dialog zwischen den nach Autonomie strebenden östlichen Gebieten Donezk und Lugansk, sowie anderer nach mehr lokaler Selbstverwaltung verlangender Teile der ukrainischen Bevölkerung aufgenommen wird, wie in den Minsker Vereinbarungen beschlossen, wenn stattdessen die Bestrebungen nach Autonomie von Kiew mit dessen „Anti-Terror-Aktion“ beantwortet werden. Continue reading “NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel” »

    NATO, Russland, Ukraine – ein Versuch Rote Linien zu erkennen

    (Überarbeiteter und gekürzter Vortrag von der Konferenz:
    „1955 – 2015: 60 Jahre BRD in der NATO – 60 Jahre Herausforderung für Friedenspolitik und Friedensbewegung“)

    .
    Siebzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, im zweiten Jahr des ukrainischen Krieges findet die Moskauer Parade zum Sieg über den Faschismus in Abwesenheit der damaligen Alliierten und heutigen westlichen Partner, dafür in demonstrativer Gegenwart des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping statt. An der Parade auf dem Roten Platz beteiligen sich anstelle westlicher Abordnungen wie in den Jahren zuvor dieses mal Paradetruppen aus China, Indien, Kasachstan, Weißrussland, Tadschikistan, Kirgisien und der Mongolei. Demonstrativ führt Russland sein modernisiertes Waffenarsenal vor. In seiner die Parade begleitenden Rede fordert Putin allerdings nicht etwa die Weltherrschaft, wie manche Medien ihm andichten, sondern die Schaffung eines weltweiten Sicherheitssystems ohne Blöcke.

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    Wie alles sein könnte – ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen

    Eigentlich ist alles ganz einfach: Die ukrainische Führung akzeptiert die Vereinbarungen des zweiten Minsker Treffens vom 12. Februar 2015, das heißt, sie geht mit den politischen Vertretungen der inzwischen selbst verwalteten Gebiete Donezk und Lugansk in direkte Verhandlungen über den autonomen Sonderstatus, den diese Gebiete ausgehend vom jetzigen Status quo in einer demokratisch und dezentral organisierten Ukraine erhalten sollen. Die Bereitschaft zu diesen Gesprächen geht von der Einsicht aus, dass eine militärische Lösung der Verfassungsprobleme der Ukraine nicht möglich ist. Die Gespräche um Ausmaß und Form des autonomen Sonderstatus – Föderalisierung, Autonomie, lokale Sonderrechte oder einfache verwaltungstechnische Dezentralisierung – sind zugleich Bestandteil einer Verfassungsreform, als deren Ergebnis die autoritäre zentralstaatliche Organisation der Ukraine in eine dezentrale Demokratie umgewandelt werden soll. Continue reading “Wie alles sein könnte – ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen” »

    Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

    Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

    Bericht vom 44. „Forum integrierte Gesellschaft“  am Samstag, 15.03.2015

    Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

    Das Thema ist gut für einen Streit. Und nicht nur für einen. Zunächst geht es darum, zu klären, wovon die Rede sein soll: Vom geographischen Europa – bis zum Ural, wie die traditionelle Einteilung unserer Schulbücher reicht? Vom Kulturraum Europa, der an der russischen Grenze endet – oder reicht er doch bis Wladiwostok? Von der Europäischen Union? Ist dann von der Eurozone zu reden? Oder von Brüssel? Oder von 28 Nationen, die darum ringen unter wachsender deutscher Dominanz ihre Eigenständigkeit zu wahren? Und sind die „europäische Friedensordnung“ der Schlüssel zur eurasischen und die eurasische der Schlüssel zur globalen Friedensordnung? Und braucht es dafür Tribunen, Demagogen, zeitweilige Diktatoren? Bringt der Prozess sie hervor oder behindern sie diesen Prozess? Continue reading “Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?” »

    Mord an Boris Nemzow – Absage an Pawlowsche Reflexe – eine fast persönliche Erklärung

    Der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow wurde soeben nachts auf offener Straße gemeuchelt. Eine schändliche Tat! Ich verurteile sie ohne jede Einschränkung! Seiner Familie, seinen Freunden, allen, die durch den Mord schockiert sind, gehört mein uneingeschränktes Mitgefühl. Soweit bisher erkennbar, waren Leute am Werk, denen an einer Aufheizung der politischen Situation im Lande und in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen gelegen ist. Denkbar ist auch, dass Kräfte mit ihm abgerechnet haben, die er sich im Laufe seines geschäftlichen Lebens zu Feinden gemacht hat. Bisher sind alle Versionen offen. Continue reading “Mord an Boris Nemzow – Absage an Pawlowsche Reflexe – eine fast persönliche Erklärung” »

    Alternativen für eine selbstbestimmte Gesellschaft – können wir und was können wir dazu aus den Vorgängen in der Ukraine lernen?

    Zugegeben, die Fragestellung ist vermessen. Während in Kiew mit einem „Marsch der  Würde“ der demokratische Erfolg des Maidan beschworen wurde, allen voran unter Teilnahme des gegenwärtigen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, während sich in Moskau, organisiert von aktiven Vaterlandsverteidigern,  Zehntausende unter aufgebrachten Rufen „Kein Maidan in Russland“, „Keine Ukrainisierung in Russland“ zum Protest gegen die „Faschisten“ in Kiew versammelten, während in Sewastopol tags darauf der 23. Februar zum Tag des „Russischen Frühlings“ erklärt wurde, hörte man aus Lugansk und aus Donezk nichts dergleichen. Weder Pro noch Contra wurde demonstriert – Donezk lag stattdessen weiter unter Beschuss seitens der Ukrainischen Truppen, wie selbst regierungsnahen deutschen Medien zu entnehmen war. Continue reading “Alternativen für eine selbstbestimmte Gesellschaft – können wir und was können wir dazu aus den Vorgängen in der Ukraine lernen?” »

    Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk

    Kai Ehlers: Wie erleben Sie unsere heutige Situation?

    Irina Golgowskaja: Ich denke, dass die westeuropäische Zivilisation zusammenbricht, noch schneller als vor schon fünf Jahren. Das geschieht faktisch dadurch, dass Amerika als schärfster Ausdruck der westlichen Zivilisation, im Niedergang begriffen ist. Amerika versucht Putin zum Krieg zu provozieren und glaubt, dass es dabei davonkommt. Tatsächlich wird das anders ablaufen: Die Amerikaner beginnen, dann treten die Muslime mit in den Krieg ein, danach die Chinesen, Russland wird am Ende übrigbleiben. Continue reading “Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk” »

    Ein Jahr nach dem 22. Februar 2014

    Ein Jahr nach dem  22. Februar 2014, an dem der Maidan zum Fanal wurde, wenige Tage nach der Niederlage der Kiewer Offensive gegen den Osten des Landes, am Wendepunkt der Frage, ob es weitere Eskalationen mit internationaler Ausweitung geben wird oder eine (zumindest vorläufige) Runde politischer Verhandlungen, ist es angebracht, angesichts der immer wieder durch neue Legenden erweiterten Mythen um den ukrainischen Krieg einige Tatsachen in Erinnerung zu rufen.

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    Minsk II – was gut ist und was besser sein könnte

    Halten wir uns knapp: Gut ist es und für die Menschen in der Ukraine eine Hoffnung, dass verhandelt wurde, und zwar nicht über Waffenlieferungen an Kiew, sondern über Wege zur friedlichen Lösung der Konflikte des Landes. Gut ist, dass an diesen Gesprächen nicht nur die Präsidenten Kiews, Russlands, Frankreichs und ihre Stäbe teilnahmen, sondern auch die Vertreter der Volksrepubliken, wenn auch immer noch am Katzentisch.

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    Achtung – Mythen um die Ukraine

    Kaum ein Jahr ist seit dem politischen Umsturz in Kiew vergangen und schon verwandeln sich die damaligen Vorgänge und ihre Folgen in Mythen, die das Zeug haben, Geschichte zu erklären, bevor sie stattgefunden hat. Die wichtigsten sollen hier aufgezeigt werden.

     

    Mythos eins: Russland führt Krieg gegen die Ukraine:

    Diese Behauptung führt konsequent dahin, dass Angela Merkel und François  Hollande heute vor aller Welt in der Pose von Schlichtern auftreten können,

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