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Russland ohne Europa? Auf der Suche nach der „russischen Idee“ – oder ist Russland nationalistisch?

 

Mit der vierten Amtszeit Wladimir Putins tritt Russland in eine neue Phase seiner nachsowjetischen Entwicklung ein. Zweifellos ist Putins Wiederwahl ein Ausdruck davon, dass die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nach wie vor Stabilität sucht. Und nicht zu Unrecht muss das Votum für ihn auch als Votum für eine stärkere Besinnung Russlands auf einen vom Westen unabhängigen eigenen Weg verstanden werden.

Putin wird sich alle Mühe geben, seinem Image als Stabilisator gerecht zu werden, innen- wie auch außenpolitisch. Ebenso klar ist aber auch, dass bloße Stabilität auf Dauer die Identitätslücke nicht füllen kann, in die Russland mit dem doppelten Bruch seiner Geschichte gefallen ist, einmal durch den Sturz des Zarismus in den  Revolutionen von 1905 und 1917, das zweite Mal siebzig Jahre später durch die Implosion der Sowjetunion 1991. 

Die Frage ist also: Was geschieht unter dem „westlichen Hut“, den Russland sich aufgesetzt hat? Was für ein Bewusstsein von der Rolle Russlands in der Welt wächst hinter den Fassaden der Modernisierung im Lande, in den Herzen und Köpfen der Menschen heran?

Anders gefragt, in welchen Verwandlungen erscheint heute das, was früher die „russische Idee“, danach siebzig Jahre lang die sowjetische Idee genannt wurde?

Noch anders: Was ist von westlichen Anwürfen zu halten, in Russland entwickle sich ein aggressiver Nationalismus?

Erlauben Sie mir zu diesen Fragen einen persönlichen Einstieg.

 

Ein Buch erscheint  

Passend zu der erneuten westlichen Medienkampagne gegen Russland nach den Wahlen zur russischen Präsidentschaft und wie gerufen zu meinem Text „Europa ohne Russland?“[1], der soeben erschienen war, wurde mir über meine Website ein Buch avisiert mit dem Hinweis, dass mich die in diesem Buch entwickelten Perspektiven eines eigenen russischen Weges vielleicht interessieren könnten.

Absender der Mail: Verlag Hagia Sophia mit dem Namenszusatz: „Philosophia Eurasia“;  Titel des Buches: „Das Zivilita-Gestirn“, Autor W.S. Milowatskij.[2]

Die Umstände, unter denen das Buch bei mir auftauchte, reichten aus, mich neugierig darauf werden zu lassen, ob aus ihm Hinweise für die zukünftigen Beziehungen Russlands zu sich und zu Europa und der Welt zu gewinnen sein könnten.

Das Buch, als es bei mir eintraf, erwies sich als Übersetzung aus dem Russischen mit einem extrem globalisierungskritischen Vor- und Nachwort des in Deutschland lebenden orthodoxen Erzpriesters André Sikojew, vor dem sich die hierzulande gewohnte Links-rechts-Radikalität fast pausbäckig ausnimmt. Das Buch erschien ursprünglich 2015 bei der „Gesellschaft zum Gedenken der Äbtissin  Taissija“, St. Petersburg, also bei einem kirchlichen russischen Herausgeber. Der Verlag „Hagia Sophia“, der das Buch jetzt in Deutschland herausbrachte, bezeichnet sich selbst als Nischenverlag, dessen Anliegen es sei, russische Philosophie, Tradition und die Ansätze zur Erneuerung russischer Identität aus orthodoxer Sicht deutschen Lesern bekannt zu machen und neue Wege der Krisenbewältigung aufzuzeigen.

Autor Milowatskij, von Haus aus Biologe, Philosoph und Historiker steht fest in der Denktradition des bekannten sowjetischen, international anerkannten  Naturwissenschaftlers und Ökologen Wladimir Wernadskij (1863 bis 1945), aus dessen Forschungen zur Biosphäre und der sich durch die geistige Tätigkeit des Menschen daraus erhebenden Noossphäre als sich selbst steuernder planetarischer Gesamtheit die in den sechziger Jahren im Westen entwickelte Gaia-Theorie des „New Age“ hervorging.[3] Ausführlich zitiert Milowatskij aus Wernadskijs Arbeit „Biossphäre und Noossphäre“ [4]:

„Der Mensch verstand zum ersten Mal  real“, schrieb Wernadskij, „dass er Bewohner eines Planeten ist, und unter einem neuen Aspekt denken und wirken kann – ja muss – nicht nur unter dem Aspekt einer Einzelpersönlichkeit, einer Familie oder eines Stammes, eines Staates oder seiner Bündnisse, sondern auch unter planetarischem Aspekt gerade im Lebensbereich, in der Biossphäre, in einer bestimmten irdischen Hülle, mit welcher er untrennbar, gesetzmäßig verbunden ist, und aus welcher er nicht heraustreten kann. Ihre Funktion ist seine Existenz. Er trägt sie überall mit sich.“ (Hervorhebungen von Milowatskij) (S. 70, siehe Anm. 2)

Weitere Bezugsgrößen Milowatskijs sind die Klassiker der “Russischen Idee“ von Fjodor Dostojewskij bis Leo Tolstoij. Das Buch stützt sich im Übrigen demonstrativ auf wissenschaftliche, historische und auch geistliche Quellen aus Ost und West. Leider geht gleich zu Beginn des Buches, wenn auch nur aus einer Fußnote in der Einführung durch den Erzpriester Sikojev auch hervor, dass die „eurasische Schule“ Alexander Dugins[5], die Sikojev  als „wichtigsten Gegenentwurf“ zu den „Exklusivgedanken“ Zbigniew Brzezinskis und Henry Kissingers benennt, ebenfalls zu Milowatskijs Bezugsgrößen gehört. ‚Leider‘ sage ich, weil dieser Einstieg mit einem im Westen als Putins Rasputin verschrienen Ideologen, sei dies berechtigt oder nicht, den Ausführungen Milowatskijs von vornherein einen Akzent mitgibt, der es schwer macht, die in dem Buch vorgestellten Inhalte unbelastet wahrzunehmen.  

 

Kritik der Globalisierung

Nichtsdestoweniger fordert das Buch fraglos zur Wahrnehmung und Auseinandersetzung heraus, wenn man verstehen will, was sich zur Frage der russischen Identität und der Rolle Russlands in der Welt heute in Russland, sagen wir, in traditionell orientierten Sphären des Landes entwickelt: Vorgestellt werden soll, auf Wernadskijs Forschungen aufbauend, eine zukünftige, ökologisch orientierte  „planetarische“ Welt, welche die gegenwärtig herrschende  Globalisierung und dadurch ausgelöste Nivellierung der traditionellen russischen Kultur durch neue Impulse ablösen könne.

Unter dem Ausdruck „Zivilita-Gestirn“, den Milowatskij an Stelle des von ihm als zu vieldeutig empfundenen Begriffes der Zivilisation einführt, wird Wernadskijs naturwissenschaftlich begründete Vision der Einbindung des Menschen in Biossphäre und Noossphäre zu einer Ordnung verschiedener Kulturräume auf Basis festen Glaubens an die sich selbst steuernde Göttlichkeit von Natur und Welt ausgeweitet. Dabei soll das „Gestirn“ für die Gesamtheit miteinander verbundener „Zivilitae“ stehen.

Unter „Zivilita‘ versteht der Autor eine kommunitäre Großgemeinschaft, in welcher der Einzelne unter der Voraussetzung eines gemeinsamen kulturellen Codes zum Bestandteil eines kollektiven Selbstbewusstseins werde, wo er sozusagen zu seiner ‚Volkheit‘ kommt; ausdrücklich lehnt Milowatskij dabei  eine Einengung der „Zivilita“ auf nur ethnische Kriterien ab. Die „Zivilita“ ist für ihn ein nicht ethnisch und nicht durch Staatsgrenzen definiertes Subjekt der Geschichte, in welchem der einzelne Mensch seinen Platz findet.

Bei all dem bewegt sich das ganze Traktat in Begriffen der Moderne, wie Geozivilisation, Globalisierung, Multipolarität, Modernisierung, Selbstorganisation und dergleichen mehr und macht seine Argumentation immer wieder auch an aktuellen politischen Ereignissen fest.  Soweit gekommen durfte man gespannt sein, ob sich da neue, zukunftsweisende Verbindungen auftun.

 

Das Wesen der „Zivilita“

Lassen wir den Autor selbst zu Wort kommen. Unter der Überschrift „Über das Wesen der Zivilita“ definiert er in einer langen Passage:

„Jeder lebendige Organismus ist notwendig  mit diesem oder jenem Öko-System, mit einer ökologischen Gemeinschaft ‚verbunden‘. Ebenso kann kein sozialer Organismus existieren, ohne zu diesem oder jenem sozialhistorischen oder kulturellen Supersystem zu gehören.

Das Hauptmerkmal der Zivilitae besteht darin, dass es sie gibt!

Das Menschengeschlecht kann nicht einfach ein Aggregat von einfachen Individuen sein; nicht eine triviale Masse oder irgendeine Herde, gesichtslos und amorph. Es (so im Buch! – ke) verfügt über viele Gesichter und hat seine besonderen Formen der Existenz. Die Zivilitae sind die größte und komplizierteste Form seiner Selbstorganisation. Etwas ausführlicher: Die Zivilita ist eine planetare kulturhistorische Gesamtheit, welche (oft informell) eine größere Gruppe von Ländern umfasst, die nach einem Paradigma leben. Diese Gesamtheit hat gewöhnlich keine exakten Grenzen, keine gemeinsame Verfassung und überhaupt keinerlei einheitliche Sammlung von Gesetzen. Sie ist eingefügt in eine bestimmte geographische Zone und in der Regel gebunden an diesen oder jenen Kontinent! Die ganze Menschheit ist organisiert in Gestalt von etwa fünf bis sieben Haupt-Zivilitae: In die Russische, Westeuropäische, Chinesische, Indische, Lateinamerikanische und die Afrikanische. Es existieren abgesondert einige Zivilisationen, welche nur ein Land darstellen: Die Japanische und Israelische. Wir rechnen sie nicht den Zivilitae zu: Sie haben keinen planetaren Charakter. Es gibt auch Länder, welche weder zu den Zivilitae noch zu den Zivilisationen gehören:  Sie sind dafür noch nicht reif.

Die Zivilitae werden durch ein persönliches Prinzip charakterisiert, man könnte sie auch katholische (griech. Gemäß dem Ganzen – allumfassende) Persönlichkeiten (Hervorhebung durch W.S. Milowatskij ) nennen, die in sich Millionen Personen bergen, die nur im Rahmen dieser Einheiten sich voll realisieren, darin schöpferisch fruchtbringend, geistig unbeirrt und wahrhaftig existieren können.

Diese allumfassenden Persönlichkeiten lassen sich nicht künstlich konstruieren – sie entstehen und entwickeln sich im Gang der Geschichte auf natürliche Weise, organisch wachsend, wie ein lebendiger Organismus. Wie jede Persönlichkeit haben sie ihr eigenes Gesicht, ihren eigenen Charakter und ihr Selbstbewusstsein.

Die Zivilitae sind untereinander unvermischt (Hervorhebung durch den Autor). Wie auch die Tierarten – das ist eine ihrer fundamentalen Eigenschaften. Sie müssen auch unvermischt bleiben, andernfalls verlöre  ihre Existenz den Sinn – der Kernpunkt liegt gerade darin, das sie abgesondert und unterschieden sind.“ (S. 35/36, siehe Anm. 2)

 

 Eingängige Worte…

Die Welt sei heute auf dem Weg, so Milowatskij weiter, sich zu einem Konzert der unterschiedlichen ‚Zivilitae‘ zu entwickeln, eben das „Gestirn“. Bei aller Verschiedenartigkeit seien die einzelnen Kultureinheiten doch nach gleichen Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die sich aus ihrem „planetarischen“ Wesen ergäben. Das sind nach Milowatskij, ohne hier ins Detail gehen zu wollen: „Verschiedenartigkeit“, „Selbstbewusstsein“ als besondere kulturelle Einheit, „Kontinentalität“, „gemeinsames Paradigma“ aller in einer „Zivilita“ lebenden Individuen, Vorrang des geistigen Kernbestandes vor der Ökonomie, dauernde „Entwicklungsdynamik“, Austausch und Kooperation über spezielle „Brücken“ bei bewusster Bewahrung des eigenen Charakters.

Jede „Zivilita“, so Milowatskij, verfüge über eine eigene Struktur: „Kern, Thesaurus, Korpus, Peripherie und Grenze.“: Im Kern werde „das Kulturelle, Religiöse, Politische und Industrielle zentriert“. Im Thesaurus seien „die sakralen Schriften enthalten, die das zivilitane Selbstbewusstsein formieren“. Der Korpus erstrecke sich „weit über die Grenzen des Kerns, wird aber durch den Thesaurus definiert. Die Peripherie stehe Wache „für die Ganzheit der Zivilita“. Ihre Grenzen, so Milowatskij schließlich, „fallen nicht mit  den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch  das Anziehungsvermögen des Kerns (Hervorhebung durch Milowatskij), durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

Für den russischen Thesaurus zählt Milowatskij auf: „Das Evangelium, die Heldensagen, das ‚Wort‘ des Ilarion, die Nestor-Chronik, die Stadt Kitesch, Sergij von Radonesch, das Kulokowo-Feld, die Entschlafungs-Kathedrale des Kreml, die Stadt des heiligen Apostels  Peter (Sankt Petersburg), Puschkin, ‚Krieg und Frieden‘ von L. Tolstoij, Stalingrad.“ Vieles mehr gehöre noch dazu, aber man müsse ja Maß halten. Der Korpus erstrecke sich vom Ladogasee, über Kiew, Dnjepr, Groß-Nowgorod, , Don und Wolga, Pskow,  Kasan und Ural, und Sibirien selbstverständlich – dies alles sind Namen unseres  heiligen russischen Korpus…Kamtschatka, Tundra, Asiatische Steppen usw. – das ist die Peripherie.“  Aber auch der Kaukasus, das Altai-Gebirge, Wladiwostok stünden Wache für die Ganzheit  der „Zivilita“. Schwierig sei es, Grenzen zwischen dieser und jener Zivilita zu ziehen. „Aber es gibt sie. Bei weitem fallen sie nicht mit den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch das Anziehungsvermögen des Kerns, durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

In gleicher Weise, wenn auch nicht so ausführlich werden die nichtrussischen „Zivilitae“ charakterisiert, die westeuropäische etwa durch die King-James-Bibel, die „Principia“ von Newton, die Werke von John Locke und Adam Smith, die Texte von Lincoln und Darwin, die chinesische Zivilita durch Konfuzius, die islamische durch den Koran usw.

Man könnte versucht sein, in diesem Ansatz – bereinigt von religiösen Überhöhungen und einseitigen Zuweisungen – eine Perspektive zu suchen, die über eine bloße Wiedergeburt russisch-orthodoxer, selbst eurasischer Traditionslinien hinaus tatsächlich in einen Raum des Miteinanders kultureller Großräume zielt – wenn, ja, wenn die berechtigte Kritik an den Auswüchsen der gegenwärtigen ökonomisch dominierten Globalisierung am Ende nicht unter Überschriften wie „Die sich überhebende Zivilita“ (gemeint ist Europa – mit Nordamerika und Australien) oder „Planetarität statt Globalismus“ als „Konfrontation zweier Strategien“ auf eine prinzipielle Ebene gehoben würde (Gemeint ist Eurasien ohne Westeuropa contra USA/‘Westen‘). Auf dieser Ebene reduzieren sich am Ende all die schönen Worte von gegenseitiger Anregung der Kulturen auf eine grobe Kampfansage gegen „den“ westlichen „Kulturimperialismus“, gegen „den“ Liberalismus, gegen ein von den USA geführtes „aggressives“ und „hedonistisches“ Europa und schließlich gegen „die Pest der Homoehen usw.“

Im „planetarischen“ Kampf gegen „den“ Liberalismus, wie er gegen Ende des Buches immer deutlicher hervortritt, mutiert der Mensch unversehens wieder zum Gefangenen eines dogmatischen Kollektivismus, von dem er soeben mit modernistischen Vokabeln befreit werden sollte. Vergeblich sucht man Aussagen dazu, wie das planetarische Selbstbewusstsein der „Zivilita“ sich zum Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen verhält. Von Selbstbewusstsein des Einzelnen ist keine Rede. Nicht die Befähigung des Menschen zu  freier Selbstbestimmung, eingebettet, versteht sich, in kooperative Gemeinschaft erweist sich als Ziel der „planetarischen“ Vision, wie man eingangs des Traktates als Lehre aus dem dogmatischen Kollektivismus der Sowjetzeit noch erwarten durfte, sondern die Einordnung des einzelnen Menschen in den Code seiner „Zivilita“, für deren Entwicklung und Erhaltung er eintreten müsse. „Das ist“, so fasst Milowatskij in den letzten Zeilen des Traktates sein „Fazit“ zusammen  „sozusagen unser planetarischer ‚Gehorsam‘.“ (Hervorhebung durch – Milowatskij)

 

Der Duginsche Kontext

Unverkennbar, wenn auch im Text nicht offengelegt, tritt hier nun auch der in der Anmerkung des Erzpriesters Sikojev eingangs nur angedeutete Duginsche Kontext hervor, allerdings weniger in seinen geopolitischen Dimensionen als in den ihnen zugrundeliegenden ideologischen Positionen. Schauen wir ein bisschen genauer, was das bedeutet: „Indem wir verstehen, was der Feind am meisten fürchtet“, schreibt Dugin in seinem ideologischen Hauptwerk „Die vierte politische Theorie“[6], in welchem er dem Liberalismus als der siegreichen Ideologie der Moderne den „eschatologischen“, also endzeitlichen Kampf ansagt, „schlagen wir die Theorie vor, daß jede menschliche Identität akzeptabel und berechtigt ist, außer der des Individuums. Der Mensch ist alles andere als ein Individuum. …Der Liberalismus muss besiegt und vernichtet, das Individuum  von seinem Piedestal  herabgeholt werden.“ (S. 53, siehe Anm. 5)

Und weiter fragt Dugin unter der Prämisse, dass die „Vierte politische Theorie“ das Brauchbare“ (S. 49, siehe Anm. 5) von Kommunismus, Faschismus und Liberalismus nach Eliminierung ihrer Fehler nutzen müsse: „Könnten wir irgendetwas dem Liberalismus entnehmen – eben diesem hypothetisch besiegten  und desorientierten Liberalismus?“ und antwortet: „Ja, es ist die Idee der Freiheit“, setzt aber gleich hinzu: ,Der Unterschied besteht darin, dass diese Freiheit als eine menschliche aufgefasst wird und nicht als Freiheit für das Individuum …  In die Gegenrichtung sich bewegend, kam das europäische Denken, zu einem anderen Schluss: „Der Mensch (als Individuum) ist ein Gefängnis ohne Mauern“ (Jean Paul Sartre); in anderen Worten, die Freiheit eines Individuums ist ein Gefängnis. Um eigentliche Freiheit zu erlangen, müssen wir die Grenzen des Individuums  überschreiten. In diesem Sinn ist die Vierte politische Theorie eine Befreiungstheorie, die jenseits des Gefängnisses in die Außenwelt vordringt, wo die Geltung der individuellen Identität endet.“ (S. 54, siehe Anm. 5)

Menschlich statt individuell – bemerkenswert! Aber es kommt noch deutlicher: Unter der Überschrift „Die neue politische Anthropologie: Der politische Mensch und seine Mutationen“ fügt Dugin hundert Seiten später hinzu: „Was der Mensch wird, wird nicht von ihm als Individuum, sondern von der Politik abgeleitet.  … Wir glauben, wir seien ‚causa sui‘, Selbstursache, und finden uns nur dann in der Sphäre der Politik. Es ist aber die Politik, die uns formt.“ Und weiter:  „Die anthropologische Struktur des Menschen wandelt  sich mit dem politischen Systemwechsel. … Am Pol der Moderne haben wir ja das rationale, autonome Individuum; am anderen Pol ein Teilchen eines bestimmten ganzheitlichen Ensembles.“ (S.185 …)

Hier wird der von Milowatskij zitierte Satz Wernadskijs, wonach die Biosphäre die „bestimmte irdische Hülle“ sei, aus welcher der Mensch nicht heraustreten könne, von Dugin noch weiter überdehnt als schon von Milowatskij und gleich darauf noch einmal weiter, wenn Dugin für die von ihm reklamierte „Post-Anthropologie“ schließlich die Vision einer „Angelopolis“ entwirft, in der „die Sphäre des Politischen beginnt, kontrolliert zu werden durch und begründet zu werden auf der Konfrontation zwischen übermenschlichen Wesen. Das sind Wesen“, so Dugin, „die weder menschlich noch göttlich sind (oder überhaupt nicht göttlich). ‚Angelopolis‘ besitzt ein enormes Potential, politische Rollen zu verteilen, ohne Menschenartige und Post-Menschenartige einzubeziehen. … Es gibt wirklich eine Kommandozentrale in der Post-Politik. Es gibt Akteure, und es gibt Entscheidungen, aber sie sind in der Postmoderne völlig entmenschlicht. Sie sind jenseits aller anthropologischen Rahmen.“ (S. 192)

Vor dem Hintergrund dieser Positionen gewinnt der von Erzpriester Sikojev nur unter dem Stichwort der Geopolitik erwähnte Duginsche Kontext eine nicht mehr zu übersehende ideologische Dominanz, unter deren Druck die Vision des „Zivilita-Gestirns“ endgültig ihre planetarische Unschuld verliert und auf schlichten orthodoxen antiliberalen Kollektivismus zusammenschrumpft, soweit sie nicht in den geopolitischen Feinderklärungen Duginscher Prägung steckenbleibt. Für eine Erneuerung  der russischen Identität in gegenseitiger Befruchtung verschiedener Kulturen, insbesondere der europäischen und russischen, und die gegenseitige Förderung unterschiedlicher Kulturräume wie im Ansatz versprochen war, bleibt da nichts übrig. Eher schon ist sie geeignet, wenn solche Ideen denn aufgegriffen werden sollten, zu einer wachsenden Entfremdung und zu Spannungen zwischen den Kulturen beizutragen.  

 

Der rationale Gegenentwurf

 Hier angekommen wird es Zeit nach rationalen Gegenentwürfen Ausschau zu halten. Auch hier möchte ich zunächst noch einmal persönlich einsteigen, diesmal allerdings mit einem Griff in die Erinnerung.

Zu sprechen ist von Prof. Igor Tschubajs, nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Anatoly Tschubajs, der als radikaler ‚Westler‘, als „Oberprivatisierer“ das absolute Hassobjekt der russischen Bevölkerung wurde.

Igor Tschubajs lernte ich im Jahr 2000 bei Forschungen nach der russischen Re-Orientierung als Professor an der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau kennen, wo er dabei war eine Fakultät für „russische Studien“ aufzubauen.  Er wollte „russische Studien“ als Unterrichtsfach in die neue Bildungspolitik zur Neu-Entwicklung der „russischen Idee“ einführen.

Tschubajs erklärte mir damals, dass die neue Macht, das war der soeben angetretene Wladimir Putin, nicht begriffen habe, worum es eigentlich gehe, nämlich, dass man sich heute mit dem Problem des doppelten Bruches beschäftigen müsse, der in der russischen Geschichte zum einen durch den Eintritt des Sowjetstaates, zum zweiten durch dessen Zusammenbruch vor sich gegangen sei. Er erklärte, dass man die Sowjetunion als Bruch der russischen Geschichte verstehen müsse, weil sie die Kontinuität der russischen Staatlichkeit grundsätzlich zerstört habe, dass man nach dem jetzigen erneuten Bruch also zurückgreifen müsse auf die staatlichen und kulturellen Wurzeln vor der Sowjetunion. Allerdings dürfe man dabei nicht in die Vergangenheit zurückgehen wollen, sondern müsse an den Entwicklungsimpulsen anknüpfen, die damals von den Bolschewiki abgerissen worden seien. Tschubais vertrat diese Theorie unter dem Stichwort der „Wiederherstellung der Kontinuität“ der russischen Entwicklung, die unter scharfer Kritik des durch die Sowjetpolitik verlorenen Jahrhunderts in die heutige Moderne geführt werden müsse.[7]

Nach Dugin befragt, der damals auch von „Wiederherstellung der Kontinuität“ sprach, antwortete Tschubajs: „Wenn Dugin und seine Parteigänger von ‚Kontinuität‘ sprechen, so wollen sie, soweit ich das verstehe, in vielem das alte Russland wiederherstellen, das damals existierte. Aber das zu bewirken ist nicht möglich und nicht nötig, denn Russland war ein Imperium, Russland war mit Eroberungen befasst. Russland betrieb eine expansive Politik bei gleichzeitiger Vereinheitlichung. Das ist heute absolut unnötig und unmöglich“[8]

Inzwischen hat Tschubajs sechs umfangreiche Bücher zu diesen Fragen veröffentlicht, die zum Teil im englischsprachigen Ausland herausgegeben wurden. Er ist auf einer schwer zu verstehenden Zwischenspur zwischen Rückwendung in die vorsowjetische Zeit und Übernahme der westlichen Moderne angekommen – unter Rückgriff auf die Spur der beginnenden kapitalistischen Entwicklung des zaristischen Russlands, die, so seine Sicht,  durch die Sowjets unterbrochen und geschädigt worden sei.

 

Definitionen

Lassen wir auch Igor Tschubaijs selbst zu Wort kommen. Die folgenden drei Statements, sind einem kleinen Traktat für den „Hausgebrauch“ entnommen, in dem er unter dem Titel „Wie wir unser Land verstehen sollen“ [9] versucht Begriffe zu klären und Bewusstsein für russische Kontinuität zu schaffen:

  • Zu den Grundlagen der „russischen Idee“:

„Die Werte, auf denen sich unser Staat im Laufe vieler Jahrhunderte ausformte, sind die Orthodoxie, die Sammlung der russischen Länder, und der dorfgemeindliche Kollektivismus. Bei jeglichem Volk gehört zur nationalen Idee auch seine Sprache, bei uns natürlich die russische.“

  • Zur Krise der „russischen Idee“:

„Wie wir sagten, hat Russland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem es das größte Staatsgebilde der Welt errichtet hatte, einen sehr günstigen entwickelten Zustand erreicht. Und in diesem Moment zeigte sich, dass das Fundament des Gebäudes von Erosion bedroht war. Alle drei Dimensionen der russischen Idee gerieten gleichzeitig in eine Krisenzeit und machten Reformen notwendig. Die Dorfgemeinde störte die Entwicklung des Agrosektors, die Sammlung der russischen Länder hatte sich erschöpft und die Orthodoxie geriet, wie das gesamte europäische Christentum, in Konflikt mit der Herausforderung des Atheismus.“ (Hervorhebung durch Tschubaijs)

  • Zur heutigen Situation:

„Siebzig sowjetische Jahre haben Russland aus der europäischen und Weltgeschichte herausgebrochen, aus dem natürlichen Fluss der Zeit gerissen. Und deshalb kommt der unsinnige Streit, ob wir Europa, ob wir Eurasien, ob wir Asiopa sind, nicht zur Ruhe. Tatsächlich ergänzen die beiden europäischen Traditionen einander, aber die Erben des Westlichen Roms und des Östlichen Roms haben ihre je eigene Besonderheit. Darüber kann man nachdenken.“

Aus dieser Position zwischen den Zeitbrüchen erklärt sich die ganz und gar zwittrige Lage, in die Tschubaijs gekommen ist, einerseits an die russische vorrevolutionäre Tradition anknüpfen, andererseits das heutige Russland an die heutige Westlichkeit anschließen zu wollen. Folgerichtig demonstrierte er anlässlich der Wahlen 2012 zusammen mit der liberalen Opposition gegen die Politik Putins, ging dafür sogar für 24 Stunden in Arrest. Damit steht er auf der Seite der liberalen Putingegner. Andererseits wurden seine Schriften auch von liberaler Seite aus ins Abseits gedrängt. Liberale Gazetten verweigerten Besprechungen zu seinen Büchern, liberale Lehrstühle  verschlossen sich ihm. Im Ergebnis all dessen wurde das von ihm begründete „Zentrum für Russlandforschung“ geschlossen. Ein Lehrbuch zur „Vaterlandskunde“ für den Schulunterricht und entsprechende Praxis blieb ein regionales Ereignis usw. Die Liste seiner immer wieder versuchten Ansätze ist lang.

Mit seinen Vorstellungen einer „Russischen Schule“ oder „Russlandkunde“ sitzt Tschubaijs zwischen allen Stühlen – nicht einverstanden mit der herrschenden Macht, nicht einverstanden mit romantisierenden, klerikalen Traditionalisten, nicht einverstanden mit rückwärtsgewandten neo-sowjetischen Nostalgikern, aber auch nicht mit der pro-westlichen liberalen Opposition. Aber zuversichtlich beschließt sein kleines Traktat für den „Hausgebrauch“ mit den Worten: „Die wiedererstandene und reformierte Russische Idee, das ist Historismus, Umgestaltung, Geistigkeit, Sittlichkeit und Demokratie. Kehren wir doch nach Russland zurück…Alles fängt erst an. Wir werden es schaffen.“

 

Bruchlinien

Betrachtet man die beiden hier skizzierten Ansätze, dann stellt sich die Frage: Wo ist die „russische Idee“ also heute gelandet? Da ist Tschubajs in einem vorbehaltlos zuzustimmen: Russland lebt gegenwärtig in Brüchen, mehrere Etappen der Geschichte existieren gleichzeitigen neben-  und miteinander. Für jeden ist etwas dabei, für die Vertreter eines „Zivilita-Gestirns“ ebenso wie für Sowjetnostalgiker, für Traditionalisten wie für „Westler“, für Machtpragmatiker wie für Anarchisten. Russland ist heute, entgegen dem äußeren Anschein, eine durch und durch uneinheitliche, plurale Gesellschaft, immer noch auf der Suche nach sich selbst – bis hinein in die neue Klassenwirklichkeit, die Spaltung zwischen Stadt und Land, die unterschiedliche Entwicklungen der Regionen und Religionen des Landes.

Insofern ist es vollkommen sinnlos von einem russischen Nationalismus, einer Gleichschaltung, einer Diktatur Putins oder dergleichen reden zu wollen.

Alle Versuche eine neue „russische Idee“, gar eine nationale Idee aus dem Boden stampfen zu wollen, sind bisher gescheitert: Das betrifft den von Jelzin seinerzeit eingerichteten „Wettbewerb“ zur Entwicklung einer „nationalen Idee“ ebenso wie die frühen Versuche Dugins und der mit ihm verbundenen nationalistischen Kreise. Allein Dugins „eurasischer“ Ansatz hat eine gewisse Basis in der Politik gefunden, allerdings von Putin pragmatisch reduziert auf die Reorganisation der russischen Staatlichkeit im eurasischen Raum, ohne die mystischen Ideologisierungen, die Dugin darauf aufgebaut hat.

So wundert es auch nicht, dass Dugin 2014 – nach vorübergehender Nähe zur Macht‘ – angestoßen von Protesten der universitären Öffentlichkeit gegen nationalistische Entgleisungen von ihm im Ukraine-Konflikt, von seiner Professur an der Lomonossow Universität suspendiert wurde

Tatsächlich ist Russlands Politik – nur scheinbar im Widerspruch zur  kollektivistischen Tradition des Landes – durch und durch personalistisch. Es ist eher so: Wenn sich etwas durch die russische Geschichte zieht, dann ist es diese personalistische Struktur, die Spontaneität und Zentralismus immer wieder in Polarität miteinander verbindet. Stichwort: Guter ‚Natschalnik‘, also: Chef, gute Sowchose, guter Zar, gutes Russland. Schlechter ‚Natschalnik‘, schlechte Sowchose, schlechter Zar, schlechtes Russland. Guter Putin, gutes Russland, schlechter Putin, schlechtes Russland. Auf den Westen fixierte Kritiker subsumieren das gern alles unterschiedslos unter Korruption. Die gibt es, zweifellos, und nicht zu knapp, und natürlich liegt hier auch die Gefahr der Willkür, bis hin zu despotischer Selbstherrlichkeit der ‚Macht‘, die sich aus der anarchischen Grundstruktur der Gesellschaft speist. In eben dieser anarchischen Grundstruktur liegen aber auch Russlands Qualitäten – die Priorität des Menschlichen vor dem Rechtlichen.

Wenn dieses Russland nun nach Europa schaut, dann sieht es dort einen Verfassungsstaat, eine Vertragsgesellschaft. Der Rechtsstaat, die deutsche Pünktlichkeit fasziniert die russische Bevölkerung – und schreckt sie zugleich ab. Russlands Stabilität, das Lebensgefühl der in Russland lebenden Menschen steht und fällt mit dem guten (oder schlechten) Natschalnik‘. Anders gesagt, russische Demokratie ist nicht formal; russische Demokratie kommt aus der Person, aus dem Herzen – oder sie kommt nicht.

In dieser Sphäre liegt auch die geradezu instinktive Ablehnung der von der EU oder einzelnen europäischen Staaten ausgehenden Menschenrechtsmahnungen als Menschenrechtelei. Das kann man gut finden oder nicht; es ist einfach ein Ausdruck der unterschiedlichen Paradigmen, in denen die Menschen leben. Darin ist den russischen Kritikern eindeutig zuzustimmen, auch wenn das orthodoxe Motto ‚Moral statt Recht‘ für Menschen mit europäischer Sozialisation schwer zu verstehen ist. Man könnte aber auch voneinander lernen und miteinander Fähigkeiten entwickeln, die über die starre Polarität hinausführen,  statt sich nur voneinander abzugrenzen und sich in feindlicher Frontstellung zu versteifen.

Die gegenwärtige Sanktionspolitik der EU mit Rückenwind der USA, die sich als menschenrechtlich darstellt, wird in Russland jedenfalls nicht als ein Zugewinn an Recht, sondern als das genaue Gegenteil, als die Zunahme von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, als Abbau persönlichen Vertrauens wahrgenommen. Da verkehren sich die Werte, und aus möglicher Kooperation zum gegenseitigen Nutzen wird eine schroffe Abwendung.

Blickt man von Moskau aus nach China, dann ist das entgegen dem, was vom  Westen aus gegenwärtig wahrgenommen wird, für die russische Mentalität, für die Menschen Russlands noch weniger akzeptabel als das, was sie von westeuropäischer Seite erleben. Die steife Ritualisierung und Dogmatisierung chinesischer Politik, chinesischer Kultur – auch in ihrer aktuellen Xi Jinping Variante – ist dem anarchischen, dem personalen Charakter der russischen Mentalität vom tiefsten Wesen her fremd. Insofern ist über ein strategisches Bündnis hinaus kein Zusammenwachsen der chinesischen und der russischen Kultur zu erwarten – wenn nicht über die Vermittlung durch die europäisch-westliche Kultur, die in ihrer Rechtsförmigkeit, aber zugleich doch auch Beweglichkeit das steife Chinesische und das anarchische Russische in einen Ausgleich bringen könnte.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu das Buch:

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

(zu beziehen über den Buchhandel oder den Autor: www.kai-ehlers.de)

 

[1] www.kai-ehlers.de: „Europa ohne Russland?“

[2] W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn. Traktat über die Planetarität der Menschheit und das Projekt Gottes in der Geschichte. Mit einer Einleitung und einem  Nachwort von Erzpriester André Sikojev, Edition Hagia Sophia, Philosophia Eurasia 3, Wachtendonk, 2018

[3] Peter Krüger, W.I. Wernadskij, Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 55, Teubner Verlagsgesellschaft, 1881

Außerdem: Kai Ehlers, Sowjetunion – mit Gewalt zur Demokratie?, Galgenberg, Hamburg 1991, Exkurs S. 39

[4] W.I. Wernadskij, Biossphäre und Noossphäre, Moskau 2013, S. 262 zitiert nach W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn, S. 70

[5] In der Anmerkung  zu Beginn seiner Einführung schreibt Sikojev u.a.:

Brzezinskis geopolitischer Klassiker The grand chessboard – American Primary  and its geostrategic  Imperatives (1977) trägt im deutschen Untertitel Amerikas Strategie der Vorherrschaft (2015) . Henry Kissingers „World Order“  ist demselben monopolaren  imperialistischen Raumdenken geschuldet, auch wenn  Kissinger  sich sehr viel mehr  als sein politischer Vorläufer wissenschaftlich fundiert  und kritisch reflektiert mit den eigenen Ansprüchen auseinandersetzt.  Beide Fundmentalwerke der Geopolitik  sind bis heute aktuell, zumindest  für das Verständnis  der zentralen  Euro-Atlantischen  Machtstrukturen und ihre Handlungsführer.

Den wichtigsten Gegenentwurf zu diesem anglosächsischen auf dem Exklusivgedanken  der Auserwähltheit  der westlichen Zivilisation  aufgrund des finanzökonomischen Erfolgs ihres Wirtschaftsmodells beruhenden – lieferte die Eurasische Schule A.G. Dugins mit den Grundlagen des Eurasiertums (Moskau 2002), Geopolitik (Moskau 2011) und Geopolitik Russlands (Moskau 2012)

[6] Alexander Dugin, Die vierte politische Theorie, ARKTOS, London 2013, S. 53/54

[7] Kai Ehlers, Themenheft 9, Sommer 2000: ‚Priemstwo‘ – Akzeptanz.  Russland auf dem Weg zu sich selbst. Gespräche über die russische Idee.

[8] ebenda

[9] Igor Tschubais, Wie wir  unser Land verstehen sollen, Shaker media, 2016, aus dem Russischen  Arsis Books, 2014. Zitate: S. 17, 29, 70

Herrschaft des Mutmaßlichen – über die Chancen in einer prekären Stagnation

Über 100 Raketen wurden in der Nacht vom 13. auf den 14. April von amerikanischen, britischen und französischen Stationen auf den souveränen Staat Syrien abgeschossen, um Syrien für einen ‚mutmaßlichen‘ Giftgaseinsatz in der Stadt Duoma zu ‚bestrafen‘. Deutsches Militär war nicht beteiligt, Deutschland unterstütze den Angriff jedoch, wie Kanzlerin Merkel vor und nach dem Bombardement ausdrücklich erklärte.[1] Desgleichen die Spitzen der Europäischen Union. Ebenso die Türkei, Israel und selbstverständlich die NATO.

Russland, Wladimir Putin protestierte, verlangte eine Krisensitzung des UN-Sicherheitsrates und rief zur Mäßigung auf. Iran nannte den Beschuss ein Verbrechen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres rief alle Konfliktparteien zur Zurückhaltung auf. Donald Trump twitterte, weitere Optionen seien noch offen. Aus dem Pentagon verlautete, mit dem nächtlichen Beschuss sei die Strafaktion vorerst abgeschlossen.

Die Welt hielt den Atem an. Von allen Seiten hörte man – und kann es immer noch hören – jetzt beginne „der Krieg“. Zweifellos ist dieser Angriff zusammen mit der Skripal-Kampagne eine irritierende und aggressive Zuspitzung der in den letzten Monaten vom Westen betriebenen anti-russischen Feindpropaganda.

Dennoch ist dieser Angriff nicht das eigentliche Problem, nicht der „Beginn des Krieges“. Der Schaden war gering. Menschen kamen nicht ums Leben. Direkte Konfrontationen mit russischen Kräften in Syrien wurden vermieden. Der Krieg, wenn der syrische gemeint ist, hat ohnehin schon lange begonnen und wird auch ungeachtet von Aussagen des „Westens“ zu dieser aktuellen „Strafaktion“ weiter ausgetragen werden.

Das ist kein Grund sich zurückzulehnen, aber es gilt zu erkennen, dass das aktuelle Bombardement eine „Botschaft“ für ein noch sehr viel tiefer liegendes Problem unserer gegenwärtigen Ordnung ist. Sichtbar wurde dieses Problem in der Art, wie Donald Trump die Welt auf diese „Aktion“  vorbereitete – oder auch nicht vorbereitete, um in seiner Diktion zu sprechen: „Never said when an attack on Syria would take place. Could be very soon or not so soon at all!“, so sein Twitter in den Tagen vor dem Bombardement. Direkt, auch vom Tenor her, hieß dieser Sprachkrüppel: „Nie gesagt, wann ein Angriff auf Syrien stattfinden würde. Könnte sehr bald sein oder ganz und gar nicht sehr bald.“ [2]

 

Trump – Destabilisator

Was war das? Was ist das? Eine Kriegserklärung? Nein, „nur“ eine „Botschaft“. Eine persönliche Botschaft Donald Trumps? Nein, für eine persönliche Botschaft fehlt das Subjekt in der Mitteilung. Auch das ist bezeichnend. War es eine Mitteilung an Freund und Feind, was die USA zu tun gedenken? Eine Strategie? Nein, eine Woche zuvor hatte Trump noch erklärt, die USA wollten sich aus Syrien zurückziehen.

Nein oder auch ja, um in Trumps Diktion zu bleiben – dieser Twitter-Spruch charakterisiert die politische Situation mehr als die Raketen, die jetzt abgefeuert wurden. Er bildet das aktuelle Konzentrat jener Botschaft, die seit 2014 in zunehmendem Maße die politische und mediale Kommunikation durchsetzt, um nicht zu sagen zersetzt, und die mit Trumps Amtseinführung sprunghaft eskalierte: die Herstellung einer Regellosigkeit als Realität, sei es bewusst oder unbewusst.

Diese ‚Botschaft‘ Trumps steht exemplarisch für den Zustand, besser gesagt für die Erosion der heutigen Völkerordnung: Wir erleben eine Zeit der Mutmaßungen, der Vertragsaufkündigungen, der Entgrenzungen, der politischen Alleingänge, der Auflösung für gültig gehaltener  Regeln. Tatsachen, Beweise, Gewissheiten verflüchtigen sich in einen Nebel, der sich in Wortschwaden wie „mutmaßlich“, „wahrscheinlich“, „höchst wahrscheinlich“, „so gut wie keine Zweifel“  und ähnlichen Wendungen über den Globus ausbreitet. Es ist eine Zeit, in der sich der Übergang aus der Nachkriegsordnung, von der seit 1991 nur noch die unipolare Welt der US-Dominanz übrig geblieben war, in eine mögliche neue multipolare Ordnung von ihrer schlechtesten Seite zeigt – eben als Regellosigkeit, als ein sich andeutendes Chaos.

Resümieren wir kurz:

  • Bruch gültiger Rechtsnormen im „Fall Skripal“ – der Kodex „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt nicht mehr.
  • Bruch des Völkerrechts und der Rückzug aus völkerrechtlichen Vereinbarungen – nationale Souveränität wird beiseite geschoben.
  • Missachtung der Vereinten Nationen – ihr Votum wird beiseite geschoben.
  • Verlust von Vertragssicherheit – heute Austritt aus internationalen Verträgen wie den Klimaschutzverträgen, den Freihandelsvereinbarungen, selbst den WTO-Vereinbarungen, morgen schon Wiedereintritt nach neuen Bedingungen.
  • Verdrängung von Diplomatie durch vollendete Tatsachen und Geheimdienstaktivitäten.
  • Opportunistische ad-hoc-Entscheidungen statt strategischer Verlässlichkeit.

Dies alles ist natürlich nicht ganz neu, wurde auch nicht nur von den USA praktiziert, bekommt jetzt aber einen herrschenden Zug im Nachtrab  der jüngsten US-Politik. Bisher gültige Regeln des zivilen und des staatlichen Zusammenlebens werden außer Kraft gesetzt, schlicht übertreten. Die Welt wird in einen chaotischen Zustand zurückversetzt, der hinter den ersten Völkerbund, ja noch hinter den ersten Weltkrieg zurückfällt, als imperiale Raubzüge um Aufteilung kolonialer  Zugriffe noch an der Tagesordnung waren.

Ist Trump also ein Anarchist, wie manche  glauben? Ist er ein vormoderner Dummkopf? Nein, er ist weder ein Anarchist noch ist er ein vormoderner Dummkopf. Er ist Geschäftsmann, der nach dem Prinzip des uneingeschränkten  Rechts des Stärkeren handelt. Anarchie heißt ja nicht Regellosigkeit, sondern Freiheit von Herrschaft auf der Basis anerkannter Regeln, die für alle gleichermaßen gelten. Die Regellosigkeit Trumps kippt dagegen in unkontrollierbare Willkür und – soweit es die Politik betrifft – in rücksichtslose Verteidigung der von Schrumpfung bedrohten US-Dominanz um. Von Anarchismus keine Spur! Regelbruch, Herstellung von Unsicherheit als  Herrschaftssicherung, solange die eigenen Kräfte noch reichen.

Ähnliche  imperiale Agonien sind aus der Geschichte zur Genüge bekannt: Rom, das mongolische Großreich, das britische Commonwealth, Napoleons kurzlebiges Kaiserreich, die Sowjetunion – um in aller Kürze nur an einige dieser Prozesse zu erinnern.

Die Frage drängt sich auf: Was kommt nach einem Liquidator wie Trump? Aber diese Frage soll hier erst einmal unbeantwortet stehen bleiben.

 

Putin – Krisenmanager

Demgegenüber steht Wladimir Putin, ausgebildeter Geheimdienstler, Etatist, das genaue Gegenteil eines Geschäftsmannes. Putin ist ein Mann, der sich in den letzten achtzehn Jahren als Stabilisator, als Krisenmanager[3], als jemand einen Namen zu Hause und in der Welt gemacht hat, der genau solcher Regellosigkeit entgegentritt, der auf Einhaltung der Regeln der Nachkriegsordnung auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion pocht, der für die Verteidigung der von der UNO repräsentierten Nationalstaatsordnung im Sinne der Achtung von Souveränitätsrechten der Völker eintritt.

Seit Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz erstmalig öffentlich gegen die Interventions- und Fraktionierungspolitik der USA auftrat, sind die Beziehungen zwischen den USA und Russland von diesem Konflikt gezeichnet. In Syrien findet dieser Konflikt zurzeit seine bisher krasseste Zuspitzung. Aber Syrien steht letztlich nur exemplarisch.

Warum agiert Russland in dieser Weise? Weil Russland neo-imperiale Absichten verfolgt? Nein, Russland agiert so zum Selbstschutz und in dieser Position als Kraft, welche die bestehende Völkerordnung gegen die von den USA ausgehenden Auflösungs- und Fraktionierungstendenzen verteidigt, sogar reformieren will, wo sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Mit dieser Politik ist Russland zum Orientierungspol für diejenigen geworden, die sich davor schützen wollen, vom Niedergang der amerikanischen Ordnung mitgerissen und erschlagen zu werden. Zugleich ist Russland zur Ermutigung für diejenigen geworden, die eine neue Ordnung anstreben, von der allerdings noch nicht klar ist, wie sie aussehen könnte.

In den Kreis dieser Kräfte gehören neben China, Indien, Iran und dem östlichen eurasischen Raum[4] auch afrikanische und südamerikanische Länder. Putin muss ihnen gegenüber seinem Namen als Stabilisator gerecht werden, das bedeutet für ihn, auf die Entbindung von Regellosigkeit nicht mit Regellosigkeit zu antworten, sondern mit dem Versuch, die bestehende Ordnung zu halten. Entsprechend klingen jetzt seine Mahnungen zur Mäßigung an die Adresse des Westens im „Fall Skripal“ und in Bezug auf Syrien.

Wohin Putin seine Verpflichtungen als Krisenmanager und Stabilisator treiben, ist zurzeit ebenso nicht zu beantworten wie die an Trump als Liquidator sich stellende Frage.

 

Ein globales Kartenhaus

In der Konfrontation der von den USA, konkret von Trump ausgehenden Destabilisierung und den Bemühungen Russlands, konkret Putins, um Stabilisierung der bestehenden Völkerordnung ist eine prekäre Stagnation entstanden, in der es nicht vor und nicht zurückgeht. Letztlich kann diese Situation, wenn auch China noch hinzutritt, nur zu einer neuen Ordnung führen, wie das schon häufig in der Geschichte geschehen ist, doch steht hier heute ein mächtiges ABER im Weg. Das ABER hat die Gestalt eines globalen Kartenhauses, in das die Karten sämtlicher heute herrschenden Kräfte verbaut sind. Die tragenden Karten, ohne hier alle zu nennen, sind:

  • die Aufrechterhaltung der Weltfinanzordnung,
  • die Aufrechterhaltung des atomaren Gleichgewichts,
  • die Eindämmung des Wachstum der Weltbevölkerung,
  • der Erhalt des Status quo der Ressourcennutzung.

Keiner will der Erste sein, der eine Karte aus diesem Gebäude herauszieht und damit das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringt.

 

Was tun?

Die prekäre Stagnation des globalen Kartenhauses ist Bedrohung und Chance zugleich. Was geschieht, wenn jemand tatsächlich eine der Karten zieht, muss nicht lange ausgemalt werden, sei es, dass Angriffe auf die Dollar-Dominanz das Spekulationsgleichgewicht fluten, sei es, dass irgendwo Entscheidungen  getroffen werden, doch Atomwaffen einzusetzen, sei es, dass ein zunehmender Migrationsdruck zum Zusammenbruch der Ordnung in den „entwickelten Ländern“ führt, sei es, dass jemand die Karte der Ressourcennutzung neu spielen will.  Das Ziehen einer einzigen Karte aus diesem Gebäude ließe das ganze Konstrukt zusammenbrechen, also muss man sich arrangieren. Tut man es nicht mehr, ist für alle das Finale angesagt.

Wichtiger als über ein solches Finale zu spekulieren, ist zu verstehen, dass – solange die Situation der prekären  Stagnation anhält – die Chance besteht, Keime zu setzen für eine andere Lebensordnung als die, die zu dieser Situation geführt hat. Das bedeutet, im Bewusstsein der Bedrohung wie auch der Möglichkeiten, die der Stand der Entwicklung heute hergibt, nicht zuletzt auch unter ökologischen Aspekten, neue gesellschaftliche Regeln zu entwickeln, die diesen sich andrängenden Umwälzungen förderlich sind.

Die Bedingungen dafür sind, einfach gefasst:

  • In der arbeitsteiligen Weltwirtschaft von heute arbeitet die Mehrheit der Menschen immer weniger nur für sich selbst, soweit es die Herstellung der Produkte betrifft, sondern in zunehmendem Maße für andere, generell gesprochen, für eine gegenseitige Versorgung, die den einzelnen Menschen trägt. Niemand müsste „überflüssig“ sein, wenn dies verstanden und gefördert würde.
  • Die weltweite Verflechtung der Wirtschaft hat die Nationalstaaten schon längst überholt. Im Zuge technischer Vernetzung ermöglicht sie zugleich neue Verbindungen mit wirtschaftlichen Kreisläufen vor Ort, wenn nationalistische Interessen nicht störend dazwischen gehen.
  • Die kulturelle Entwicklung der Welt weist, allen noch bestehenden Rückbindungen zum Trotz, auf einen Zugewinn an Freiheit für den einzelnen Menschen bei gleichzeitig wachsendem Bedürfnis nach Empathie und spiritueller Sinnfindung hin.

 

Wir schaffen schon längst tagtäglich ein gemeinsames Kapital, aus dem das Einkommen für die einzelnen Menschen nicht mehr im Stücklohnverfahren, sondern pauschal generiert werden könnte. Arbeit wird von einer individuellen Lebensvorsorge tendenziell zur Dienstleistung an der Gesellschaft und, je bewusster dies geschieht, kann sie sogar zur Liebestat für die Mitmenschen werden. Das ist natürlich nicht erst seit heute so, aber der Stand der Produktivkräfte erlaubt diese Entwicklung auf einem neuen, erhöhten Niveau. 

Eine Überwindung des natürlichen Egoismus ist unter solchen Bedingungen nicht mehr nur eine moralische Forderung, mit der die Realität der gegenseitigen Ausbeutung bisher immer wieder von ihrer Rückseite her aufrechterhalten wurde, sondern kann zum Lebensalltag werden, der aus dem realen Grad unseres heutigen Entwicklungsstandes erwächst.

Es bedarf keiner moralischen Zeigefinder, keiner ausgedachten Utopien, keiner blutigen Umstürze des Bestehenden. Es geht „nur“ darum, die Tatsache bewusst wahrzunehmen, dass alle, einzelne Menschen wie Völker, bereits in hohem Maße füreinander tätig sind, und Verhaltensweisen und Strukturen im sozialen und politischen Umgang miteinander auf den Weg zu bringen, die der bereits herangereiften Realität der sich so entstandenen Dienstleistungsgesellschaft entsprechen und ihre weitere Entwicklung  fördern, lokal wie global.

Soll keine/r sagen, dass das nicht möglich sei –  es wird ja in Teilen der Gesellschaft, wo öffentliche Dienste geleistet werden, schon lange praktiziert – allerdings bisher sozusagen zwangsweise durch den Staat, der etwa Lehrern und anderen öffentlich tätigen Menschen ein Einkommen für ihre Dienste unabhängig von ihrer Stunden- oder Stückleistung zukommen lässt. Ähnliches gilt, vom Staat unabhängig, für große übernationale Korporationen, wo der Einzelne im kooperativen Netz tätig ist. In unzähligen kleineren Unternehmen und Basis-Initiativen werden solche Lebens- und Arbeitsformen heute häufig spirituell getragen, zudem rund um den Globus in zunehmendem Maße erprobt.

„Nur“, heißt aber selbstverständlich, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, dass eine intensive, allseitige, langfristig angelegte, bildungsorientierte Aufklärung zu der Frage entwickelt werden muss, welcher Grad der Gegenseitigkeit sich unter der Schale der weltweit noch bestehenden Konkurrenz-Verhältnisse bereits herausgebildet hat, den Geist dieser Gegenseitigkeit nach Kräften zu fördern und im Alltag zur Wirkung zu bringen.  

Es besteht heute die Chance von der Konkurrenzgesellschaft auf die nächste Stufe einer Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe auf der Basis des füreinander erarbeiteten Kapitals überzugehen, wenn die prekäre Übergangszeit von der unipolaren in eine multipolare Welt dafür genutzt wird, solche Keime zu setzen.

Eine multipolare Welt, eine multikulturelle Gesellschaft kann dann ein Zukunftsentwurf werden, wenn sie sich um diese Achse des selbst bestimmten Füreinanders, statt eines Gegeneinanders dreht. Zu hoffen und daran zu arbeiten ist, dass diese Erkenntnis sich nicht als Zusammenbruch des globalen Kartenhauses, sondern als dessen vorsichtiger Umbau vollzieht.

 

Siehe dazu auch:

Kai Ehlers, Die Kraft der ‚Überflüssigen’ und die Macht der Überflüssigen, BoD, 2016, Bestellung über www.kai-ehlers.de

[1] https://www.bz-berlin.de/welt/usa-frankreich-und-grossbritannien-fliegen-luftangriffe-in-syrien

[2] https://twitter.com/realDonaldTrump?ref_src=twsrc%5Etfw&ref_url=http%3A%2F%2Fwww.russland.news%2Fdonald-trump-wir-schlagen-sehr-bald-gegen-syrien-zu-oder-auch-nicht-so-bald%2F

[3] https://test.kai-ehlers.de/2016/06/globales-zwischenhoch-putin-krisenmanager-chande-oder-irrtum/

[4] https://test.kai-ehlers.de/2017/12/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien/

Angst vor Russland, warum? Der genauere Blick auf die Putinschelte

Wird der Westen von Russland bedroht? Glaubt man den Kommentaren, die gegenwärtig rund um den `Fall Skripal‘ wieder einmal Konjunktur haben, dann müsste man das annehmen. Man kann allerdings auch die Frage stellen, die sich hinter all dem Getöse erhebt: Woher diese Angst? Wovor fürchten sich die USA – obwohl doch die ‚einzige Weltmacht‘? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der ‚höchsten zivilisatorischen Werte‘? Wovor fürchten sich all diese beflissenen medialen Brandbeschleuniger?

 

Russlands Autarkie

Die Antwort ist  umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie.

Die russische Autarkie ist dreifach begründet: Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen in der Weite Russlands: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Das ist zum dritten die Vielfalt des Völkerorganismus, aus der dem Land – bei allem unvermeidlichen Zentralismus – starke Kräfte zufließen.

 Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – unabhängig von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder es könnten. Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf  der jüngeren Geschichte bereits in die Lage, westlichen, konkret europäischen Eroberungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939.

Heute ist es wieder so: Trotz technischen Nachholbedarfs, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt auch nach 1991 wieder, nicht nur zu überleben, sondern, zwar noch geschwächt, aber doch mit neuer Stärke aus der Krise hervorzugehen.

 

Stabilisierung innen und außen

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht. Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte – soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind, um nur an die wichtigsten Stationen zu erinnern: Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin  2002 nach dem Niedergang in den 90ern, Auftritt gegen die Militarisierungspolitik der USA bei der Münchner Sicherheitstagung 2007, im Anschluss daran eine – so kann man es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen – konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. In ihrer Folge wurde Russland zum Impulsgeber einer sich aus der Dominanz der USA und des Westens allmählich lösenden multipolaren  neuen Welt,  während die ehemals ‚Neue Welt‘, die USA, sich in dem Versuch, die ihr 1991 zugefallene Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickte und immer verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

Wird Putins Politik unter diesen Gesichtspunkten sachlich überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, der Russland wieder auf den Weg zu sich selbst und als Großmacht wieder ins globale Spiel gebracht hat. 

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun mehr und mehr erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, weil auf dem Höhepunkt der amerikanischen Weltordnung angekommen, sondern das sie auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen werden könnte.

 

Great game – neu aufgelegt

Diese Kräftelage macht deutlich, worum es bei dem neuaufgelegten „Great Game“ geht, soweit es Russland betrifft: Es geht zunächst darum Russland von der Verfügungsgewalt über seine natürlichen Ressourcen zu trennen. Das trifft sogar dann noch zu, wenn nicht nur über Gas und Öl, sondern auch über erneuerbare Energien oder Energien aus Naturkräften wie Wind, Wasser, Sonne gesprochen wird. Selbst neue Verfahren der Energiegewinnung, wie OPV (Organische Photovoltaik), die heute am Horizont auftauchen, sind in diese Perspektive mit eingeschlossen, solange auch dafür eine Kunststoffbasis beruhend auf Öl gebraucht wird.

 Es geht dem Westen des Weiteren um politische Interventionen, die Russland daran hindern sollen, vom Impulsgeber der sich ausbildenden multipolaren Ordnung zu deren globaler Bezugsgröße zu werden. Konkret geht  es darum, Putin nicht weiter Statur als globaler Stabilisator und Krisenmanager gewinnen zu lassen. Dem dient die Dämonisierung Putins als neuer Hitler, neuer Stalin, als Aggressor usw., nach dem Motto: „Irgendetwas bleibt immer hängen“.

 

Schlechte Karten für den Westen

Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen: Sie können versuchen Russland über Sanktionen zu schwächen; sie können versuchen Russland in einen Rüstungswettlauf  zu treiben, sie können versuchen Russland in Kriege an seinen Grenzen zu verwickelt. Sie könnten davon träumen, Russland unter Ausnutzung von Widersprüchen in seinem Vielvölkergefüge nach dem Muster der Ukraine in einen Regimechange zu treiben oder schließlich gar direkt mit Krieg zu überziehen.

Letztlich ist keine dieser  Optionen realistisch, solange politische Vernunft das strategische Handeln bestimmt: Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Ein direkter militärische Angriff auf Russland, der mehr bewirken sollte als eine zeitweise Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung, wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, wenn sich die Feindpropaganda an ihren eigenen Ängsten hochzieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

Siehe auch die umfangreichere Analyse zur gleichen Frage aus dem Jahre 2008 auf der WEBsite des Autors. Darin  werden historischen Grundlagen und Entwicklung der russischen Autarkie ausführlich dargelegt.   

Russland – Weltmacht im Wartestand. Oder auch: Angst vor Russland, warum?

Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin

Auf: https://test.kai-ehlers.de/?s=Angst+vor+Russland%2C+warum%3F++

 

Salisbury – Hintergründe ohne Tatsachen

 

Die einzige zum Giftanschlag von Salibury bekannte Tatsache ist – dass es bisher keine Tatsachen gibt: Keine Fakten, wer, wie, wann das Gift nach Salisbury transportiert hat und wie es eingesetzt wurde.  Selbst die Opfer wurden bisher nicht befragt. Stattdessen eine „lange Liste bösartiger Aktivitäten Russlands“ seitens der britischen Regierung,  die beweisen soll, dass Russland „höchst wahrscheinlich … verantwortlich ist für diesen rücksichtslosen und verabscheuungswürdigen Akt.“[1]

Es geht offenbar gar nicht um die Fakten. Worum also dann?

Aufgezählt werden von Politikern und Medien unisono, kritiklos den Londoner Vorgaben folgend, die „Vergehen“, die Russland sich in den letzten Jahren habe zuschulden kommen lassen, so allen voran in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Das beginnt bei der „Annexion“ der Krim, führt über die „Invasion russischer Soldaten in die Ostukraine“, den „Abschuss des Passagierflugzeuges MH 17“, die „Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow in unmittelbarerer Nähe des Kremls“, „Russlands rücksichtsloses Vorgehen in Syrien“ bis in die „Dopingfälle russischer Athleten.“

Dazu kommen noch diverse angebliche Cyber-Attacken Russlands.

Mit diesen Aufzählungen wird das erste Motiv deutlich, um das es in dieser „Affäre“ geht: So wenig Fakten für den „Fall“ Salisbury vorgelegt werden, so wenig geht es bei der Aufzählung der russischen „Vergehen“ um Fakten. Vielmehr geht es hier um die gezielte Anwendung des alten römischen Prinzips ‚semper aliquid haeret‘, ‚irgendetwas bleibt immer hängen‘, anders gesagt, eine politische Rufmordkampagne gegen Russland, bei dem das ganze Instrumentarium der ideologischen Kriegführung bis hin zur konzertierten Ausweisung russischer Diplomaten  ausgefahren wird.

Die nächste Frage ist natürlich: Wofür, warum jetzt, wem nützt es?

 

„Solidarität“

 Im Vordergrund der Kampagne steht das Wort ‚Solidarität‘, für welche die Vertreter und Vertreterinnen des atlantischen Bündnisses sich gegenseitig beglückwünschen und bedanken. Theresa May dankte Jean-Claude Juncker, Juncker dankte May, alle zusammen dankten Trump. Schließlich trat sogar die NATO noch dem Solidaritätsbündnis bei. Man fühlt sich gestärkt.

Aber ist man wirklich gestärkt? Hier darf man Fragen stellen, die vielleicht ein bisschen zur Entwirrung der Motivlage beitragen können, zunächst der kleinen, um es so zu sagen, ohne dabei allerdings allzu sehr ins Detail gehen zu wollen: 

Theresa May hat wohl das offensichtlichste Motiv. Wenn sie die Position des kleiner gewordenen Britanniens als Weltmacht nach dem Ausstieg aus der EU halten möchte, dann braucht sie den atlantischen Rahmen, vor allem die Anlehnung an die USA.

Jean-Claude Juncker muss sich schon seit geraumer Zeit Sorgen um den Zusammenhalt der Europäischen Union machen. In der Frage der Sanktionspolitik nehmen die Differenzen zwischen den Mitgliedern erkennbar zu.

Donald Trump schafft sich mit seinem aktuellen Sprung in das atlantische Bündnis Bewegungsfreiheit gegenüber seinen Kritikern, die ihm seine Kontakte zu Russland und seine zu große Nähe zu Wladimir Putin vorwerfen.

Und nicht zu vergessen die NATO: sie ist angesichts einer sich entwickelnden globalen Multipolarität in eine Sinnkriese gekommen, in der sie sich nur durch neu entstehende Ost-West-Spannungen legitimieren kann.

Alles zusammen wird in der gegenwärtigen Kampagne gegen Russland zu einem aktuellen Befreiungsschlag gebündelt.

 

Hintergründe

Mit dieser Beschreibung des vordergründigen Nutzens ist die Frage nach den Hintergründen jedoch noch nicht beantwortet. Dazu muss  noch ein genauerer Blick auf die Liste der „Vergehen“ geworfen werden, die Russland vorgezählt werden.

Lässt  man die diversen nicht zu beweisenden Behauptungen über russische Cyber-Attacken auf atlantische Netze beiseite, dann bleiben in diesem Potpourri von Anklagen die wichtigsten Stichworte: Georgien, Krim/Ost-Ukraine und Syrien.

Diese drei Stationen bezeichnen die Marken, an denen der westliche, konkret der US-dominierte globale Hegemonieanspruch in den zurückliegenden Jahren an seine Grenzen stieß – durch Russlands Aufbegehren, um es in einer Formulierung zu sagen, die das Kräfteverhältnis realistisch beschreibt.

Erinnern wir uns:

  • Mit dem Einmarsch in Georgien 2008 warf Russland nicht nur den provokativen Versuch einer Annektion Michail Saakaschwilis gegenüber Nord-Ossetien zurück; mit der Zurückweisung Saakaschwilis zog Russland zugleich die unübersehbare Rote Karte gegen eine weitere Ost-Erweiterung von EU und NATO.
  • Mit der Aufnahme der Krim 2014 in den russischen Staatsverband zum einen, mit der Unterstützung der Ost-Ukraine um die Erhaltung und Entwicklung ihrer Autonomie nach dem Regimewechsel in der Ukraine zum Zweiten verhinderte Russland die Überführung der Ukraine in die EU und die NATO. Russland widerstand damit der strategischen Kastration, wie sie in den Plänen der US-Strategie vorgesehen war, nachzulesen bei Zbigniew Brzezinski.
  • Mit dem Eingriff zur Unterstützung Baschar al-Assads in Syrien seit 2016 stoppte Russland nicht nur den von den USA beabsichtigten Regimechange in Syrien, sondern darüber hinaus die Verwandlung des gesamten mesopotamischen Raumes in ein amerikanisches Protektorat und Aufmarschgebiet gegen Russland, Iran, Türkei und Nordafrika nach den Plänen des „new american century“.

Russland, konkret Putin hat in diesen Prozessen die Statur eines globalen Krisenmanagers gewonnen. Die aktuelle Kampagne hat das Ziel, Russland, Putin in dieser Rolle zu demontieren.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

[1] Siehe: Russland.news : http://www.russland.news/wp-content/uploads/2018/03/UK_Briefing.pdf

Solidarität? Achtung: Begriffsvergiftung

Dass zu den Vorfällen in Salisbury bisher keine Beweise vorliegen, weder in die eine, noch in die andere, noch in eine dritte Richtung ist eine Tatsache, die von niemandem bestritten wird – selbst nicht in den sklavischsten Ausgaben der Mainstreamorgane.

Nehmen wir als Beispiel das mediale Sprachrohr der deutschen Bundesregierung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ: In ihrem Kommentar zu den Ausweisungen russischer Diplomaten lässt sie Peter Sturm unter der Überschrift „Aktive Solidarität“ schreiben:  

„Zwar weiß die Öffentlichkeit weiterhin nicht, was genau die britische Premierministerin  beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche  zum Vergiftungsfall Skripal vorgelegt hat. Aber wäre es unplausibel gewesen, hätte zumindest die Bundesregierung  nicht so reagiert, wie sie es getan hat“.

Als Begründung folgt: Als Scharfmacher in der Politik gegenüber Russland habe sich Berlin nie betätigt, trotz Cyberangriff auf deutsche Regierungscomputer, der „mutmaßlich“ ebenso von Russland ausgegangen sei wie der Mordanschlag in Großbritannien, wisse die Bundesregierung vielmehr zu differenzieren.

„Warum auch nicht?“, fragt die FAZ großzügig: „Die russische Führung war bei ihren Versuchen, EU und NATO zu schwächen, in den vergangenen Jahren recht erfolgreich. Diese Erfolge sind einigen  in Moskau offenbar zu Kopfe gestiegen, was zu immer waghalsigeren Manövern  beigetragen haben mag. Die Ausweisungen signalisieren jetzt, dass Moskau die Schraube zu weit gedreht hat. Dies muss Präsident Putin irgendjemand in aller Ruhe und in aller Deutlichkeit klar machen. Angela Merkel und Emmanuel Macron könnten dies. Sie könnten Putin bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass er sich im Sommer  im Glanz  eines Fußballfestes sonnen möchte, dass aber die Frage erlaubt sein muss, ob man sich als Gast in Russland sicher fühlen kann, wenn schon im Ausland  Dinge wie der Anschlag in Salisbury passieren.“

So what? Alles nur eine pädagogische Maßnahme, um  eine weitere West-Erweiterung Russlands abzuwenden, alles nur Sorge um die Sicherheit gefährdeter Fussbalfans?

Man muss fragen, wie lange unsere Gesellschaft das Gift von Salisbury noch  schlucken will.  

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Putins Wahlsieg – Signal für ein Russland nach Putin?

In Russland wurde gewählt. Was zu erwarten war, ist eingetreten: eine überwältigende Mehrheit für Wladimir Putin.

In Zahlen: 76,69 % für Putin, 11,77 % für seinen sozialistischen Herausforderer Pawel Grudinin , 5,65 % für den ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski; die restlichen Kandidaten und Kandidatinnen fielen weit unter die 5% Marke. „Korruptionsjäger“ Alexei Nawalny scheiterte mit seinem Boykottaufruf. 

Die Botschaft der Wahl ist unüberhörbar:  Stabilität, Sicherheit, keine Revolution, nicht einen Weg zurück, keine Abenteuer voran, alles wie gehabt. Ruhe ist der erste Wunsch des nachsowjetischen Menschen. Wär‘s nicht  nachweislich ein russisches – es könnte ein deutsches Wahlergebnis sein.

Und doch, wer glaubt, dass alles so weitergehen werde wie bisher, irrt sich. Der Sieger selbst versprach Veränderungen für den Fall seiner erneuten Präsidentschaft: Entbürokratisierung, Wachstum der Wirtschaft, Reformen im Sozialen. Und er versprach diese Veränderungen nicht nur; mit rigider Umbesetzung von Ämtern traf er schon im Vorfeld der Wahl  Vorsorge dafür, das Notwendige auch durchsetzen zu können, was er jetzt vornehmen muss, denn das ist klar: das Votum des Wahlsieges bekam er zwar für die von ihm verfolgte Politik der Stabilität, aber ewige, zudem noch autoritäre  Stabilität muss letztlich enden – in Stagnation.

Die drohende Stagnation ist wohl die größte Herausforderung  für  den in seinem Amt bestätigten Präsidenten, außenpolitisch wie auch innenpolitisch.

Außenpolitisch sind weitere Erfolge wie die Eingliederung der Krim, die Teilbefriedung Syriens, das Bündnis mit China zurzeit kaum vorstellbar. Die Welt hat sich im Status quo festgefahren. Russlands,  konkret Putins Rolle darin ist die des Krisenmanagers. In dieser Frage kommt zurzeit niemand an ihm vorbei, aber Entwicklungsperspektiven sind darin kaum erkennbar, außer der von Putin in seiner kürzlich gehaltenen Rede an die Nation deutlich demonstrierten Bereitschaft Russland gegen jedwede zukünftige Angriffe zu verteidigen.

Innenpolitisch stehen für Russland lange vernachlässigte Reformen an. Das beginnt mit so banalen, aber drängenden Themen wie der nationalen Müllbeseitigung, geht über das Wohnungsproblem, die  Zweiklassenmedizin, marode Infrastrukturen bis hin zu einer krass auseinander klaffenden Schere zwischen arm und reich.

Mit Blick auf die innere Entwicklung hat Putin vor der  Wahl starke Aussagen gemacht, Kräfte der Selbstorganisation stärken zu wollen. Sein Aufruf an die Kandidaten nach der Wahl, die Kräfte zu bündeln, geht in die gleiche Richtung. Solche Töne in Verbindung mit der Ankündigung sozialer Reformen könnten von der russischen Bevölkerung als Versprechen auf Liberalität und wachsenden Wohlstand verstanden werden. 

Wenn andererseits Wachstum der Motor für Reformen sein soll, bedeutet das mehr sozialen Druck auf die Bevölkerung bis hin zu Vorschlägen aus den Beraterkreisen Putins, um nur ein Problem stellvertretend zu nennen, die Renten zu kürzen, indem das Rentenalter hinaufgesetzt wird.

Kurz gesagt: Putins Programm wird ein Spagat zwischen Modernisierung und sozialen Versprechungen, der auch von einem erfahrenen Kampfsportler, wie er es ist, schwer zu halten sein wird.

Im Land wachsen  zudem die Stimmungen, dass Russland sich nicht weiterhin einfach dem Prozess der kapitalisierenden Globalisierung unterwerfen dürfe, sondern wieder auf einen eigenen Weg finden müsse. Aber unklar ist immer noch, wie dieser aussehen könnte. Alle bisherigen Versuche, einen eigenen Weg zu definieren, sind auf halber Strecke stehen geblieben: So Gorbatschows ökologischer Aufbruch; so Jelzins nationale Idee. Ist Putins Weg nach Eurasien jetzt sinnstiftender?

Nein, es wird keine Ideologie helfen. Entscheidend wird sein, ob Putin es schafft, die Basiskräfte des Landes zu aktivieren – das heißt, Initiativen auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Daran wird er gemessen werden. Daran wird sich zeigen, wohin die russische Gesellschaft geht.

Kai Ehlers, www.kai- ehlers.de

 

Siehe das Buch:

Kai Ehlers, Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

Bezug über: www.kai-ehlers.de

 

(Dieser Artikel erschien am 22.03.2018 unter anderer Überschrift und leicht verändert in „Freitag“)

 

 

Das Lindenblatt auf Putins Schulter – oder warum Putin auf Wahlkampfreisen geht

In Russland wird demnächst  ein neues Staatsoberhaupt gewählt.  Das neue wird das alte sein, Wladimir Putin. Das ist die allgemeine Erwartung, der man wohl zustimmen muss: Putin hat das Land stabilisiert. Er hat den Schuldendrachen besiegt, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seinen Klauen hielt. Er hat die Zinsgier des internationalen Kapitals zurückgewiesen, als er bei seinem Amtsantritt weitere Kredite des IWF und der Weltbank ablehnte und die Altschulden der Sowjetunion gegen den Widerstand der westlichen Banken beglich. Er hat die vielköpfige Schar der Privatisierungsgewinnler gezähmt, die sich aus dem Chaos der Ära Jelzins  erhoben hatten und sie im Konsens um sich zum Nutzen der Stabilisierung Russlands gruppiert. Im Krieg mit den Tschetschenen hat er verhindert, dass der Zerfall der Sowjetunion sich als Zerfall Russlands entlang seiner Vielvölkerstruktur fortsetzte. Er hat einen Stabilitätsfonds geschaffen, mit dem er zwei Krisen und drei Amtszeiten überstand. Alle oppositionellen Angriffe, berechtigt oder nicht berechtigt, sind an ihm abgeprallt, ebenso wie Versuche aus dem Ausland, ihn als neuen Stalin oder Hitler zu diffamieren.  Am Ende wuchs er sogar, wenn auch getrieben von wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, über den innenpolitischen Stabilisierer zum außenpolitischen Krisenmanager[1] empor, der mit China an einer neuen multipolaren Weltordnung baut[2], welche die USA in die Schranken weisen könnte. Die internationale Rating-Agentur Forbes setzte ihn kürzlich zum vierten Mal hintereinander auf Platz eins der einflussreichsten Menschen unserer Zeit.[3]

Kurz, dieser Mann scheint vielen seiner Landsleute und nicht nur diesen und nicht wenigen auch zu ihrem Ärger, unverwundbar wie seinerzeit Siegfried, nachdem er im Blut des von ihm erlegten Drachen gebadet hatte. Herausforderer, die mit ihm jetzt um das Amt des Präsidenten konkurrieren, haben keine Chance, ihn zu  besiegen, es sei denn, sie treffen ihn dort, wo einst Siegfried getroffen werden konnte, als ein Lindenblatt zwischen seinen Schulterblättern die Aushärtung des Drachenblutes verhindert hatte.

 

Die Riege der Konkurrenten

Betrachten wir Putins Konkurrenten. Da ist zunächst der „ewige Zweite“, wie er im Lande genannt wird, der Chef der „Kommunistischen Partei Russlands“ (KPRF) Gennadij Sjuganow. Er ist zwar soeben zugunsten eines neuen unverbrauchten Kandidaten der KP, Pawel Grudinin[4] zurückgetreten. Grudinin ist als erfolgreicher landwirtschaftlicher Unternehmer auch über die traditionellen Kreise der alten Riege der KPRF hinaus eine angesehene politische Figur, die für eine mögliche Erneuerung der KP steht. Aber auch der jüngere und weltoffenere Grudinin wird, mit der sklerotisierten KPRF im Schlepptau, nicht mehr als einen Achtungserfolg einfahren können.

Ähnliches, wenn auch vielleicht nicht gerade von Achtung die Rede  sein kann, kann man von dem Kandidaten der „Liberaldemokratischen Partei“ (LDPR), Wladimir Schirinowski[5] sagen. Er ist als provokativer Rechtsaußen ebenfalls Dauerkandidat bei Wahlen zur Präsidentschaft seit Beginn der nachsowjetischen neuen russischen Staatlichkeit. Meinungsumfragen, wie auch aktuell ‚gefühlte‘ Wahrnehmungen im Lande, die aus der Tatsache resultieren, dass die LDPR ein besseres ‚Händchen‘ für die Nöte der Bevölkerung zeige als die übrigen Parteien, besonders  die ‚Partei der Macht‘, „Einheitliches Russland“, geben ihm die Chance zur KPRF aufzuschließen. Eine ernste Konkurrenz für den Amtsinhaber wird aber auch er nicht werden.

Bleiben neben Grudinin und  Schirinowski noch Kandidaten und Kandidatinnen aus der zweiten Reihe, die nicht dem etablierten Parteiengefüge entstammen, sondern mit persönlichen Unterstützerkreisen antreten. Sie nehmen nach eigenen Aussagen durchweg allein deswegen an der Wahl teil, weil sie Putin nicht allein das Feld überlassen wollen. Keine/r von ihnen kann, sofern sie zur Wahl zugelassen werden, mit mehr als zwei, drei, höchstens fünf Prozent der Stimmen rechnen. Alles andere wären Überraschungen.

Da ist zunächst Grigori Jawlinski, ein aus der Zeit Jelzins übrig gebliebener Veteran der Liberalen, von dem kaum jemand noch etwas anderes erwartet als die Befriedigung von dessen persönlichen politischen Ambitionen. Weiterhin Oligarch Boris Titow, Chef der „Wachstumspartei“, als neo-liberaler Vertrauter Putins ein eher unglaubhafter Konkurrent. Weiter Anton Bakow, Unternehmer, Antikommunist,  Vorsitzender der Monarchistischen Partei der Russischen Föderation, der das Zarentum wieder errichten will. Sodann Maxim Suraikin, Chef der „Kommunisten Russlands“, einer seit 2012 begründeten Konkurrenzorganisation zur KPRF.

Dieses Mal sind auch einige Frauen dabei: Xenia Sobtschak, die Tochter von Putins Ziehvater Anatoly Sobtschak, dem verstorbenen Bürgermeister von St. Petersburg, parteilos, die sich mit ihrer Wahlkampfparole „Gegen alle“  allerdings von vornherein aus dem Rennen geschossen hat. Sodann Katja Gordon, Journalistin, Menschenrechtsaktivistin, die sich für Frauenrechte einsetzt und – unübersehbar im mehrfachen Sinn  des Wortes – Elena Berkowa, ehemalige Pornodarstellerin aus Murmansk, die in high-heels und Dessous posiert.

Als bisher Letzte  meldete Alina Gamzatova, Muslimin aus Dagestan ihre Kandidatur an. Als Ziel gab sie an, ihr gehe es nicht darum mit Putin zu konkurrieren, sondern die radikalen Islamisten in ihrer Republik zu bekämpfen.[6]

Offen ist, ob Michail Prochorow, Unternehmer und Sergej Mironow, Vorsitzender der Partei „Gerechtes Russland“, die 2012 mit zur Wahl standen, auch dieses Mal antreten werden und ob sich noch weitere Kandidaten melden.

Der nach früheren Umfragen und umtriebigen Aktivitäten möglicherweise aussichtsreichste Konkurrent, Alexei Nawalny, der sich in den letzten Jahren als ‚Korruptionsjäger‘ zu einer beachtlichen politischen Figur hinaufgearbeitet hat[7], wurde auf Grund des gegen ihn verhängten Urteils wegen Unterschlagung Ende Dezember von der Wahl ausgeschlossen. Er versucht jetzt eine Wahlboykottkampagne im Land in Gang zu setzen.

So wie die anderen mit ihrer Kandidatur, hat Nawalny allerdings auch mit seinem Boykottaufruf keine Chance Putins Wiederwahl ernsthaft in Frage zu stellen. Erst recht wird er kaum so etwas wie einen russischen Maidan inszenieren können, wie es sich nicht wenige westliche Beobachter erhoffen.[8] Wird doch seine aktuelle Kampagne selbst von Putins Intimfeind Michail Chodorkowski abgelehnt, der die russische Bevölkerung aufruft, für jeden „annehmbaren Kandidaten“ zu stimmen, nur nicht für den „vorherbestimmten Gewinner“.[9]

Werfen wir einen Blick auf die Marge, an der Putins Herausforderinnen und Herausforderer sich messen lassen müssen: Lässt man die vorangegangenen Wahlen beiseite, die abgesehen von Putins Einstieg im Jahr 2000 mit 52,94% der Stimmen, mit ihren hohen Werten von 71,31% für Putin 2004, mit 70,88% für seinen Ersatzmann Dimitri Medwedew 2008 schon außerhalb des politischen Horizontes von heute liegen, dann kann auch die Präsidentenwahl von 2012, an der sich 65 Prozent der russischen Wahlberechtigten beteiligten, schon eine Ahnung davon geben, welchen Abstand Putins Konkurrenten aufzuholen hätten, wenn sie ihn jetzt im Amt des Präsidenten ablösen wollten: Putin kam 2012  auf 64,35 Prozent der Stimmen, Sjuganow auf 17, 38, der liberale Oligarch Prochorow auf 8,00, Schirinowski  auf 6,30, der eher linke Konservative Sergei Mironow auf 3,90 Prozent. Weitere Kandidaten, u.a. Jawlinksi, waren erst gar nicht zur Wahl zugelassen worden.[10]

Bei einer Umfrage vom April 2017, wen die Menschen zu dem Zeitpunkt der Befragung wählen würden, entschieden sich 48% für Putin, je 3% für Sjuganow und Schirinowski; alle anderen blieben bei einem Prozent.[11]

 

Vorsprung mit Einschränkungen

Der Vorsprung Putins ist offensichtlich. Aber etwas, nur eine Kleinigkeit, wie es scheinen mag,  ist dieses Mal anders: Dieses  Mal könnten mehr Kandidaten auf der Liste stehen als 2012. Zwar mindert das nicht den Vorsprung Putins vor allen anderen Bewerbern und Bewerberinnen, aber alle anderen zusammen könnten die Zustimmungsrate zu Putin unter das Niveau senken, das die russische Führung mit der Zielmarke 70/70[12], soll heißen, bei 70 prozentiger Wahlbeteiligung 70 Prozent der Stimmen für Putin, vorgeben möchte.

Und noch etwas ist neu: Erstmals traten in den vorangegangenen Kommunalwahlen vom September  2017 in Moskau jüngere Kräfte auf einer Liste an, die nicht aus der Konkursmasse der Alt-Liberalen à la Jawlinksi oder aus den Reihen der provokativen Parteigänger des ermordeten Boris Nemzow, aber auch nicht aus der Spur Nawalny´s hervorgingen. Sie fanden vielmehr in der praktischen Selbstorganisation auf Bezirksebene zusammen.

Der Initiator der Liste, ein ehemaliger Abgeordneter der Moskauer Duma, Dimitri Gudkow schaffte es, unter dem Motto „unabhängige Kandidaten“ die zerstrittenen oppositionellen Kräfte von unten  her zu bündeln und zu einem beachtlichen Erfolg zu führen, auch wenn Nawalny, wie der ‚Spiegel‘ anmerkt, „es nicht fertig brachte, Gudkow und seinem Team zu gratulieren.“[13]  Bei insgesamt 1502 kommunalen Abgeordneten brachte die Liste 262 Kandidaten in die Moskauer Kommunalvertretungen ein. Sie wurden damit zur zweiten  Kraft neben den kommunalen Vertretern der bisher unangefochten herrschenden Partei „Einheitliches Russland“, welche die  Mehrheit im kommunalen Bereich hält.

Gudkow hält sich bereit, als Kandidat zu der für 2018 anstehenden Bürgermeisterwahl in Moskau anzutreten. Die Vorgänge in Moskau könnten Initiator für eine von unten entstehende, echte Opposition in anderen Großstädten Russlands werden.[14]   

Dies alles, der Andrang von Kandidaten und Kandidatinnen, die Putin nicht besiegen, aber einengen wollen, der Boykottaufruf Nawalny’s, die Botschaft, die von dem Erfolg der Opposition in den Moskauer Wahlen ausgeht, macht erkennbar, warum Putin, obwohl sein Wahlsieg absehbar ist und er sich ruhig zurücklehnen könnte, um die Ergebnisse abzuwarten, dennoch den aktiven Wahlkampf betreibt, bei dem er gegenwärtig zu beobachten ist. Vorzugsweise will er vor jugendlichen Auditorien, in Betrieben, generell mit sozialen Themen und erklärtermaßen als unabhängiger Kandidat auftreten.[15] Bezeichnend dafür ist, wie er die Ankündigung seiner Kandidatur vor 15.000 Jugendlichen des 2015 nach der Übernahme der Krim in den russischen Staatsverband ins Leben gerufenen „Allrussischen Freiwilligenforums“[16], in der Jugendliche sich für Flüchtlingshilfe und Katastrophenschutz einsetzen, und gleich danach vor Veteranen und Arbeitern des Autowerks GAZ in Nischni Nowgorod inszenierte. Zwar lässt er sich von der Partei „Einheitliches Russland“ unterstützen, ist aber sichtlich bemüht, sich von deren schlechtem Image als ‚Partei der Macht‘ abzusetzen, der von der Bevölkerung die Verantwortung für Bürokratismus,  Korruption und sinkendes materielles Lebensniveau angelastet wird.

Einfach gesagt, es geht nicht darum, ob Putin für eine vierte Amtszeit gewählt wird, sondern wie. Mit einem Ergebnis, das deutlich unter seinem bisherigen Ranking und den Zielvorgaben für die kommende Wahl bliebe, bekäme Russland zwar keinen neuen, aber einen geschwächten Präsidenten. Damit tritt das Lindenblatt auf Putins Schultern deutlich hervor: Es heißt Legitimation. Ohne einen eindeutigen neuen Vertrauensbeweis, der erkennbar über den 52, 94 Prozent aus seiner Antrittswahl 2000 liegt, wenn schon nicht über der 70ger Marke der Wahlen von 2004 und 2008, wird er die kommende Legislaturperiode nicht ohne Entstehung innerer Unruhen bewältigen können.

 

Die Last der Stabilität…

Es ist ja eine widersprüchliche, wenn nicht gar eine fatale Situation, in der Putin sich befindet: Die Stimmen, die ihn erneut ins Amt des Präsidenten führen sollen, wenn alles so läuft, wie zur Zeit absehbar, erhält er für seinen siebzehnjährigen Stabilitätskurs, der ihn zum unersetzbaren Kapitän auf dem russischen Schiff hat werden lassen, ohne den nichts läuft. Erhält er den gewünschten Zuspruch, selbst wenn nicht ganz in gewünschter Höhe, kann er ihn durchaus als Aufforderung zur Fortsetzung seines bisherigen Kurses annehmen. Zugleich ist aber  klar, dass er den Kurs angesichts wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die seine dritte Amtszeit seit der Krise 2014/2015 begleiten, nicht zuletzt der Verschuldung, die das Land jetzt wieder eingeholt hat, nach der Wahl nur halten kann, wenn es ihm gelingt, den Impuls der Modernisierung zu erneuern, mit dem er im Jahr 2000 angetreten ist – und wenn er sich zugleich der Lösung der überfälligen sozialen Fragen zuwendet.

Nach Lage der Dinge, die durch seinen autoritären Führungsstil entstanden ist, bedeutet das, eine Stabilität, die auf Basis eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber einem allmächtigen Zentrum, das heißt, Putin, zunehmend in Stagnation überzugehen droht, erneut in Bewegung bringen zu müssen. Es bedeutet privates Unternehmertum wieder von staatlicher Bevormundung zu befreien, private unternehmerische Aktivitäten wie auch generell Initiativen der Selbstorganisation von der Basis der Gesellschaft bis in die Verwaltungsorgane hinein nicht nur wieder zuzulassen, sondern zu fördern, ohne dabei die Autorität des Zentrums, seine eigene Machtbasis zu schwächen.

Zugleich muss Putin aber Korruption und Eigenmächtigkeiten von Gouverneuren, Oligarchen, bürokratischen Korruptionsgemeinschaften, die ihren eigenen Interessen zum Schaden des Landes nachgehen, die Kapital angesichts der Erosion des Modernisierungskurses zunehmend „off shore“ auslagern, aktiv, ggfls. sogar repressiv an die Leine nehmen, dabei aber vermeiden, von einer autoritären Modernisierung in eine Diktatur abzugleiten. Die massiven Umbesetzungen leitender Posten, die in letzter Zeit im russischen Machtapparat vorgenommen wurden, lassen das Ausmaß dieses Problems erkennen.[17]

Paradox formuliert, muss Putin autoritäre Wege einschlagen, um eine autoritäre Erstarrung der politischen Strukturen wieder in Bewegung zu bringen. Das ist eine Aufgabe, die nicht ohne Widerstände durchführbar ist.

Zugleich muss es ihm gelingen, die im Zuge der Konfrontation mit dem Westen seit der Krise 2014/15 gewachsenen, aber vernachlässigten sozialen Probleme mit Blick auf Befriedung einer unruhig werdenden Bevölkerung aufzugreifen. Das Land ist gespalten in eine superreiche Oberschicht, eine kleine konsumorientierte Mittelschicht und eine große Mehrheit von Menschen, die heute nur knapp über der Armutsgrenze leben, heute erkennbar knapper als in den Aufbaujahren nach 2000, als der Öl-Preisboom der Regierung eine lockere Sozialpolitk ermöglichte, welche die vom Zusammenbruch der Union gebeutelte Bevölkerung zu befrieden vermochte.

Zunehmende lokale und überregionale Proteste im Lande sind ein deutlicher Ausdruck dieser veränderten Lage im Lande – das sind Aktivitäten der Transportarbeiter gegen die Einführung eines Mautsystems, das ihre Selbstständigkeit stranguliert. Das sind verzweifelte Bauernproteste gegen Landraub und Korruption durch eine kleptokratische Landoligarchie. Es sind lokale Lohnkämpfe, Mieterproteste gegen korrupte Spekulation mit Immobilien und Bauprojekten zu Lasten der Wohnung suchenden Bevölkerung, es sind Unruhen im Bildungsbereich, Mängel im Gesundheitswesen und in der Justiz usw., von den Zuständen in Sozialhilfestationen oder gar Gefängnissen ganz zu schweigen.[18]

 

… aber kein russischer Maidan

Ein russischer Maidan, wie manche im Westen unken, wird sich daraus allerdings zurzeit kaum entwickeln. Das muss hier noch einmal betont werden: 94 % der Bevölkerung erklärten bei einer entsprechenden Umfrage im März 2017, dass sie eine solche Entwicklung wie in der Ukraine nicht für möglich halten.[19] Auftritte Putins, bei denen er vor ‚Unruhestiftern vom Schlage Saakaschwilis‘ warnt, sind zurzeit eher als Wahlkampfagitation einzuordnen. Vor dem Hintergrund, dass die Ukraine Saakaschwili zum Agenten Moskaus stempeln will, sind sie möglicherweise auch noch als Botschaft an die Ukraine zu verstehen, dass Russland mit Saakaschwili nichts zu schaffen habe.

Dass hinter der aktuellen Wahlkampfagitation Putins selbstverständlich die innenpolitischen Strategien stehen, auf die Putin und sein ’Kommando‘ gegebenen Falles bereit sind zurückzugreifen, wenn sie es für nötig halten möglichen inneren Unruhen zu begegnen, ist ebenso klar. Nach den Vorgängen in der Ukraine 2014 liegt das Schwergewicht russischer Sicherheitsstrategien bis hinauf in die 2017 vorgelegte  neue Version darauf, mögliche Unruhestiftung von außen nach dem Muster des Kiewer Maidan präventiv zu verhindern und gegebenen Falles repressiv zu ersticken. Eine Nationalgarde, die dem Präsidenten direkt unterstellt ist, steht seit ihrer Gründung 2016 für solche Fälle bereit. [20]

Zurzeit aber, um darauf zurück zu kommen, geht es um mögliche Reformen. Beide Aufgaben, ein erneuter Privatisierungsschub zum einen, verbunden mit sozialen Einschnitten, dirigistische Maßnahmen zur Disziplinierung der Wirtschaft zum anderen, verbunden mit einer Sozialpolitik im Interesse der  Mehrheit der Bevölkerung stehen konträr zueinander. Der ungelöste Widerspruch ist geeignet, den bisherigen Konsens Putinscher Politik, in welcher der Präsident als oberster Wächter einer halb liberalen, halb autoritären Politik Balance hielt, platzen zu lassen.

Wenn das bisher noch nicht geschehen ist, ist das der Tatsache zu verdanken, dass diese Schwierigkeiten, angesichts der empfundenen Bedrohung des Landes durch äußere Mächte sowohl in den oberen Etagen, als auch an der Basis der Bevölkerung bisher als notwendig und unvermeidlich für die Verteidigung der Sicherheit des Landes hingenommen wurden. Die Eingliederung der Krim, die erfolgreiche Kriseneindämmungspolitik Putins in Syrien, Russlands neue Rolle als Weltmacht im Verbund mit China haben dem durchlässig gewordenen wirtschaftlichen begründeten Konsens aus den Anfangsjahren der Putinschen Ära noch einmal einen neuen, einen politischen Halt in der gemeinsamen Abwehr der äußeren Feinde verliehen. Zugleich belasten die enormen Kosten, welche die außenpolitischen Einsätze nach sich ziehen, auch diesen Konsens zunehmend. Länger ist deshalb eine Reform, die sich den seit 2014 gewachsenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsproblemen zuwendet, auch durch weitere außenpolitische Erfolge nicht mehr oder nur unter der Gefahr von Illoyalität in den Führungsetagen und zunehmenden sozialen Unruhen in der Bevölkerung aufzuschieben.

 

Polare Programme 

Eine Ahnung von der Zerreißprobe, die Russland bevorsteht, lassen die Programme erkennen, die im Vorfeld der Wahlen, zuletzt auf dem Wirtschaftsforum im Juni 2017, öffentlich diskutiert wurden. Sie sind verbunden, um in aller Kürze nur die Extreme zu nennen, mit den Namen Alexei Kudrin zum einen und Sergei Glasjew zum anderen. Beide sind informelle, aber enge Berater Wladimir Putins.

Kudrin, von 2000 bis 2011 Finanzminister, ist Träger der Modernisierungspolitik Putins aus den ersten beiden Amtsperioden. Nach vorübergehendem Zurücktreten von diesem Amt, wurde er 2016 zum Vorsitzenden des Wirtschaftsrates beim Präsidenten ernannt. Putin beauftragte ihn, ein Programm für eine nach der Wahl 2018 einzuleitende Wirtschafts- und Strukturreform vorzulegen. Kudrin sieht die Lösung der Krise in einer radikalen neo-liberalen Öffnung der russischen Wirtschaft für den Weltmarkt auf vornehmlich privatwirtschaftlicher Grundlage. Sie soll den Modernisierungskurs aus den ersten Amtsjahren Putins wieder aufgreifen. Zur Ankurbelung wirtschaftlicher Gesundung schlägt Kudrin den Verkauf, also die Privatisierung von Staatsfirmen vor, allen voran die großen Öl- und Gaskomplexe. Dies alles soll von Einschränkungen staatlicher Sozialausgaben flankiert werden, allem voran durch Erhöhung des Rentenalters und Kürzung der Renten. Bildung und Gesundheit will Kudrin dagegen fördern; das liegt durchaus in der neo-liberalen Logik des Programms, denn diese Sektoren werden für eine effektive Modernisierung gebraucht.[21]

Dem Programm Kudrins steht das Konzept Sergei Glasjews gegenüber. Nach einem bewegten Lebensgang durch die konservative politische Landschaft Russlands, einschließlich vorübergehender Mitgliedschaft in der KPRF wurde Glasjew 2009 Leiter des Sekretariats des „einheitlichen Wirtschaftsraumes“ von Russland, Weißrussland und Kasachstan. 2012 ernannte Putin ihn zu seinem Berater für die Integration der eurasischen Wirtschaft. Glasjew fordert eine staatliche Regulierung, der Wirtschaft, genauer deren entschlossene Fortsetzung nach Regeln, die eher an sowjetische Strukturen und Methoden anknüpfen.

Schon 2014, gleich nach den Maidan-Ereignissen, hatte Glasjew mit einem Plan von sich reden gemacht, wie Russland auf die westlichen Sanktionen regieren solle: mit klaren dirigistischen Maßnahmen müsse der russische Staat, vertreten durch die russische Zentralbank, russisches Kapital aus dem Ausland zurückholen, statt sich westlichem Kapital weiter zu öffnen, wie Kudrin es vorschlage. Mit einer Politik der „Entdollarisierung“ müssten russische Guthaben auf Banken in neutralen Ländern außerhalb des NATO-Bereiches transferiert werden. Der radikalste Vorschlag Glasjews besteht darin, den russischen Schuldendienst gegenüber  internationalen Gläubigern angesichts der durch die Finanzsanktionen entstandenen, nicht einlösbaren Verschuldung Russlands einzustellen, das heißt, Russland, wenn die Sanktionszange weiter geschlossen gehalten werde, mit der Begründung, dass Zahlungsverkehr unter Sanktionsbedingungen ohnehin nicht möglich sei, praktisch für Bankrott zu erklären, gleichzeitig aber, die Finanzbeziehungen mit China zu stärken. Die Umsetzung dieser Vorschläge käme einer radikalen Abkoppelung Russlands vom Westen gleich.

Innenpolitisch fordert Glasjew eine harte Besteuerung der oligarchischen Superprofite, um damit ein soziales Sicherungssystem in Russland und den Schutz russischer Minderheiten in den ehemaligen sowjetischen Republiken aufzubauen. Das wäre eine Sozialpolitik vom Zuschnitt der KPRF.[22]

Putin hat sich bisher nicht entschieden, welcher Seite er den Zuschlag geben will, außer, dass er im Wahlkampf erklärt, sich in Zukunft den sozialen Fragen zuwenden zu wollen. So oder so stehen jedoch, wenn er das Amt des Präsidenten erneut antritt, Entscheidungen an, die die bisherige politische Konstellation ablösen werden, in der Putin als ‚Zar‘ über den unterschiedlichen Fraktionen der Gesellschaft den überparteilichen, quasi neutralen Konsens halten konnte, in welchem Liberalismus und Traditionalismus, neo-kapitalistisches Laissez faire und rigide Staatskontrolle des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens einander die Waage hielten. Das Wahlergebnis wird den Ausschlag geben, wofür Putin sich entscheidet, wie das neue ‚Kommando` im und um den Kreml herum aussehen, nach welchen Regeln es arbeiten wird – und welche Veränderungen für Russlands Zukunft aus dieser  Entscheidung folgen werden. Vorab verbietet sich jede Spekulation.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zwei Bücher zum Thema:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte Entwürfe, 2005. Knapper Blick auf Russland nach dem Antritt Putins 2000, 85 Seiten.

Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg,  2014/5. Band I: Gorbatschow und Jelzin, Band II: Putin, Medwedew, Putin

Authentischer, chronologisch verfolgbarer Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika und im heutigen Russland.

Weitere Titel unter: www.kai-ehlers.de

Eine interessante Bearbeitung des Textes findet sich unter http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/das-lindenblatt-auf-putins-schulter-oder-warum-putin-auf-wahlkampfreisen-geht

 

[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Globales Zwischenhoch:  Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum? https://test.kai-ehlers.de/2016/06/globales-zwischenhoch-putin-krisenmanager-chande-oder-irrtum/

[2] Siehe dazu:  Kai Ehlers, „Globaler Farbwechsel –Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien.  https://test.kai-ehlers.de/2017/12/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien/

[3] The guardian, 14.12.2016

[4] Sputnik news, 26.12.2017

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wolfowitsch_Schirinowski

[6] rt deutsch, 03.01.2018

[7]Kai Ehlers: „Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki.  https://test.kai-ehlers.de/2017/08/was-kommt-nach-putin-kai-ehlers-im-gespraech-mit-boris-kagarlitzki/

[8] Dazu diverse Internetberichte 25. Und 26.12. 2017

[9] rt deutsch, 25.10.2017

[10] Alle Zahlenangaben nach Wikipedia: Präsidentschaftswahlen in Russland 200,2004,2008, 2012

[11] Dazu Daten in Russland Analysen, 334 vom 12.05. 2017, S. 18

[12] Epoch times, 27.03.2017

[13] Spiegel Online,  11.09.2017

[14] Siehe dazu: Russland Analysen 340 vom 22.09.2017S. 2 ff

[15] Russland news:  http://www.russland.news/putin-gab-seine-kandidatur-fuer-das-amt-des-praesidenten-bekannt/

[16] Siehe dazu :Russland Analysen 291 vom 27.02.2015, S.15

[17] Siehe dazu: Russland Analysen 334 vom 12.05.2017, S. 10 ff, Stichwort: „Elitenwechsel“

[18] Siehe dazu: Russland Analysen 333 vom 31.03.2017

[19] Ebenda, Grafiken S. 18 ff

[20] Siehe dazu: „Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich“ auf der Website von Kai Ehlers: https://test.kai-ehlers.de/2017/12/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

[21] Siehe dazu u.a.: Spiegel Online, 3.06.2017

[22] Siehe dazu: diverse Einzelberichte unter dem Stichwort: der Glasjew-Plan,

    außerdem: Peter W. Schulze, Wohin steuert Russland mit Putin? Campus, 2004, S. 172 ff.

 

Globaler Farbwechsel – Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien

Beim GO, dem in Asien beliebten strategischen Brettspiel geht es beim wechselseitigen Besetzen der Spielfläche durch schwarze oder weiße Steinchen um Geländegewinn. Dabei kann ein Steinchen, zur rechten Zeit an die richtige Stelle gesetzt, auf einen Schlag die eben noch dominante Farbe des Feldes umschlagen lassen, wenn die so eingekreisten Steinchen des Gegners aus dem Feld genommen werden. Plötzlich tritt eine vorher gewachsene, aber übersehene Konstellation hervor.[1]

Ein solcher Farbwechsel ist durch den Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Rückzug russischer Truppen aus Syrien, verbunden mit seiner Erklärung, der Terrorismus sei besiegt und die Menschen könnten in ihr Land zurückkehren, um es wieder aufzubauen, soeben auf dem globalen Spielbrett  vor sich gegangen.  Putins Besuche in Ankara und Ägypten, dazu seine öffentliche Kritik an der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ergänzen das Bild. Was wird da erkennbar?  

 

Das „Heartland“ beherrschen?

Wer die Welt beherrschen wolle, hieß es bisher, der müsse Eurasien beherrschen; wer Eurasien beherrschen wolle, müsse das „Herzland“, also Russland, beherrschen – müsse es am Besten in drei Teile teilen, einen östlichen, einen mittleren und einen westlichen, die sich so gegeneinander abgrenzen und manipulieren ließen.

Der so sprach, schrieb und zu handeln versuchte, um damit den Fortbestand  des US-Imperiums nach dem Zusammenbruch  der bipolaren Welt  Ende der 80/Anfang der 90 Jahre  zu sichern, Zbigniew Brzezinski, ist inzwischen verstorben. Seine Thesen, basierend auf den Erfahrungen des britischen Empire, erstmals 1904 bei Halford Mackinder formuliert [2], von Brzezinski in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch „Die einzige Weltmacht“)[3] nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1997 mit Blick auf Russland weiter ausgearbeitet, sind jedoch nach wie vor brandaktuell – allerdings in Umkehrung dessen, was das Ziel Brzezinskis war und nach anderen Regeln, eben denen des asiatischen GO, statt des westlichen Schach.

Es gelang nicht das „Herzland“ zu teilen,  jedenfalls nicht in drei Teile. Zwar wurde es von seinen Rändern her beschnitten – Ost-Europa, Kaukasus, Baltikum, Zentralasien. Zwar wurde es eingekreist durch „bunte Revolutionen“. Zwar wurde es militärisch bedrängt mit der Stationierung von NATO „Battle Groups“ und Raketen-Abschussrampen direkt vor seinen Grenzen. Aber es konnte doch trotz allem vom Westen nicht kolonisiert werden, jedenfalls nicht auf Dauer, sondern hat sich nach dem katastrophalen Zusammenbruch der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts in den Jahren ab 2000 dann unter seinem zu der Zeit neu antretenden Präsidenten Wladimir Putin schrittweise von innen her stabilisiert. Es hat sich zum Integrator  des eurasischen Raumes entwickelt, der daran geht, sich selbst zu organisieren, statt Objekt imperialen Zugriffs aus dem Westen zu sein.

Als Vielvölkerorganismus, der die Stürme des ersten und des zweiten  Weltkrieges, des Kalten Krieges wie auch den Druck der US-geführten unipolaren Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion im Kern, wenn auch immer noch geschwächt, überlebte, wurde Russland, selbst plural organisiert, zusammen mit China zum faktischen Modell und Impulsgeber des multipolaren Gegenentwurfes gegenüber der unipolaren Imperialordnung der USA.

Steinchen für Steinchen hat sich diese neue Ordnung unerkannt unter der Dominanz der amerikanisch-europäischen Weltordnung herausgebildet – nicht zuletzt auch als Ergebnis überheblicher Abschätzigkeit des Westens gegenüber dem „unterentwickelten Osten“, also gegenüber Russland, China, generell Asien.  Man erinnere sich nur daran, mit welcher Häme und Vordergründigkeit die wiederholten, mühsamen, in den Anfängen nicht sehr erfolgreichen Anläufe Russlands kommentiert wurden, den durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen Fliehkräften im eurasischen Raum entgegenzuwirken. Das betrifft Russlands Beteiligung an der “Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), in der die aus der Sowjetunion ausgeschiedenen ehemaligen Republiken, außer den baltischen, zusammenfinden wollten. Das betrifft die Versuche Russlands mit der kleineren „Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung“  (GUAM), bestehend aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien, zu kooperieren. Das betrifft den „Vertrag zur kollektiven Sicherheit“ (OVKS) und schließlich auch die bilateralen Beziehungen Russlands zu einzelnen der neu entstandenen Staaten und halbstaatlichen autonomen Gebiete.

 

Viele kleine Schritte vom Westen nach Osten…

 In der Rückschau treten die in der Vergangenheit unscheinbar gesetzten Steinchen, aus denen das aktuelle Bild auf dem globalen Brett hervorging, dafür jetzt umso deutlicher hervor:

  • 1964 entwickelt China, nach der Spaltung der kommunistischen Welt weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörig, die Strategie einer multipolaren Weltordnung.
  • 1984/5 übernimmt Michail Gorbatschow mit Beginn der Perestroika die Option der Multipolarität auch für Russland, wenngleich noch ganz auf Zusammenwachsen Russlands mit Europa im „Europäischen Haus“ orientiert.  
  • 1996 schließen China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan sich zu den „Shanghai fünf“ zusammen, um die aus dem Zerfall der Sowjetunion resultierenden Grenzprobleme zu klären.
  • 1997 legen Russland und China der UNO ein Papier zur Entwicklung einer multipolaren, anstelle der unipolaren Weltordnung vor.
  • 1998 lenkt der russische Ministerpräsident Jewgeni Primakow, noch unter Boris Jelzins Orientierung auf den Westen, Russlands Außenpolitik aktiv auf Asien. Er sucht eine Allianz mit Indien und China unter Einschluss von Weißrussland. Mit dem Abbruch eines bereits eingeleiteten Staatsbesuches (er gibt dem Flugkapitän Befehl zur Rückkehr!) brüskiert er die USA wegen des von ihr geführten Kosovokrieges.
  • 2000 tritt Wladimir Putin sein Amt als Staatspräsident Russlands mit der Erklärung an, er wolle nicht nur Russlands Staatlichkeit wiederherstellen, sondern das Land in Übereinstimmung mit seiner historischen Rolle wieder zum „Integrationsknoten Eurasiens“ machen, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.
  • 2000 schließen sich Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zur „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ zusammen; 2002 treten Moldawien, die Ukraine und Armenien, 2006 auch Usbekistan dieser Gemeinschaft mit bei.
  • 2001 erweitern sich die „Shanghai fünf“ zur „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Sie versteht sich als Kooperationsorgan zwischen der Volksrepublik China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Die SOZ befasst sich über die bisher von den „Shanghai fünf“ behandelten Fragen der Grenzsicherheit und Stabilität der Region hinaus auch mit Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten. Der Organisation gehören seit 2017 neben den Gründerstaaten auch Indien und Pakistan an. Damit repräsentiert die SOZ heute die Hälfte der Weltbevölkerung; Weißrussland und die Türkei sind als „Dialogpartner“ angeschlossen.
  • 2001 schließen sich die Länder Brasilien, Russland, Indien und China (Kürzel: BRIC-Staaten, nach den Anfangsbuchstaben der beteiligten Länder) zu einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft zusammen,  die sich als Entwicklungsgemeinschaft gegen die Vormacht der USA wendet.  Seit 2011 nimmt Südafrika an den jährlichen Gipfeln der BRIC-Staaten teil, die seitdem unter dem erweiterten Kürzel  BRICS firmieren und turnusmäßig zu jährlichen Gipfeln zusammenkommen.
  • 2009 schließen sich 29 Staaten Süd-Ost-Asiens zu einem Wirtschaftsraum zusammen, nachdem sie seit 1967 bereits locker im Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (von englisch: Association of Southeast Asian Nations)  verbunden waren.  Die Gründung weiterer Unter-Organisationen für regionale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, zur Förderung des Handels uam. folgen. Die ursprüngliche Orientierung gegen die Sowjetunion und gegen China beginnt in eine Kooperation mit der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und den BRICS-Treffen überzugehen.  
  • 2013 stellt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Kasachstan das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ vor, das den gesamten eurasischen Raum von Osten bis Westen, von China über Zentralasien und Russland bis nach Europa in dem Entwurf einer Länder übergreifenden Kooperation miteinander verbinden soll. Das Projekt versteht sich ausdrücklich als ziviler Gegenentwurf zu der militärisch gestützten Globalisierungs- und aggressiven Fraktionierungspolitik der USA.
  • 2014 geht die „Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft“ in die verbindlichere „Eurasische Wirtschaftsunion“ (EAWU) über. Mitglieder sind Kasachstan, Russland und Weißrussland, ab 2015 auch Armenien und Kirgisistan.
  • 2014 gründen die BRICS-Staaten die „Neue Entwicklungsbank“ als Gegenkraft zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um der Dollarherrschaft etwas Eigenes von Seiten der Entwicklungsländer entgegensetzen zu können.
  • 2015 kommt eine „Asiatische Infrastrukturinvestmentbank“ (AIIB) als Hauptfinanzier des Seidenstraßenprojektes hinzu, ebenfalls als Gegenkraft zu Weltbank und dem IWF. Den 21 Gründungsmitgliedern aus dem asiatischen Raum schlossen sich 57 Interessenten an, von denen die meisten aus dem östlichen und süd-östlichen eurasischen Raum kommen. Dabei sind aber auch Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – trotz ausdrücklicher Warnungen aus den USA.
  • 2016 wirbt Putin beim turnusmäßigen ASEAN-Gipfel erfolgreich für engere Kooperation der ASEAN-Staaten mit Russland und China im Zuge des Seidenstraßenprojektes und Zusammenwirkens mit der „Eurasischen Wirtschaftsunion“.
  • 2016 unterzeichnen China, Russland und die Mongolei ein Entwicklungsprogramm zur Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftskorridors im Zuge der Seidenstraßen-Initiative.
  • 2016/2107 finden die turnusmäßigen BRICS Gipfel in GOA/Indien (2016), in Xiamen/China (2017) in lockerer Koordination mit Gipfeln der ‚Eurasischen Wirtschaftsunion‘ und dem ASEAN-Netz statt.
  • Seit 2017 werben Vertreter der russischen Politik, konkret Putins Chef-Berater für Ostpolitik, Sergei Karaganow[4], massiv für die Zusammenführung von „Europäischer Wirtschaftsunion“, der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, den ASEAN-Staaten und dem Projekt „Neue Seidenstraße“ zu einem „Projekt Großeurasien“, wobei sie in Aussicht stellen, darin  auch die Türkei, den Iran, Israel und Ägypten einzubeziehen. „Europa“ wird ebenfalls eingeladen – wenn es die Kraft dazu aufbringen könne; die USA werden ausdrücklich außen vor gehalten.
  • Im Mai 2017 treffen sich 29 Staats- und Regierungschefs aus dem eurasischen Raum auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf dem „Seidenstraßen-Forum“ in Peking. Unter den Gästen wird Wladimir Putin als wichtiger Partner und Förderer hervorgehoben.
  • Im November 2017 versammeln sich die ASEAN-Staaten zum 50jährigen Jubiläum ihrer Organisation (und ihrer diversen Vorläufer) in Anwesenheit Chinas und Russlands. China und Russland machen erfolgreich ihren Einfluss geltend, Trumps Drohungen gegen Nord-Korea diplomatisch einzuhegen.

Überschaut man die entstandene Konstellation, dann wird unschwer erkennbar, wie  massiv sich die Gewichte in den letzten Jahren und dies mit zunehmender Intensität in Richtung einer dichter werdenden eurasischen Vernetzung verändert haben.

 

… und ihr politischer Rahmen

Ein weiterer Blick zurück, dieses mal auf die politischen Rahmendaten, die diesen Prozess begleiten, macht diese Entwicklung noch offensichtlicher:

  • 2001: Wladimir Putin hält seine erste Auslandsrede – in deutscher Sprache, im deutschen Bundestag. Trotz bereits vereinbarungswidrig erfolgter erster Schritte zur Erweiterung der NATO nach Osten betont Putin damals, noch ganz im Strom der von Gorbatschow formulierten Idee des „gemeinsamen Europäischen Hauses“, die Einheit der europäischen Wertekultur und die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Das einheitliche und sichere Europa müsse zum „Vorboten“ für eine sichere Welt werden. Eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok könne der Ausdruck davon sein.
  • 2007: Nach weiteren Ost-Erweiterungen der NATO, angesichts der vom Westen offen unterstützten „Bunten Revolutionen“ in Georgien 2003, in der Ukraine 2004, in Kirgisistan 2005, des gescheiterten Ansatzes in Weißrussland, 2006, sowie den parallel dazu 2004 und 2007 folgenden Ost-Erweiterungen der EU, geht Wladimir Putin auf der „Sicherheitskonferenz“ in München erstmals in Distanz zu den westlichen Weltherrschaftsansprüchen. Er macht seine Kritik allerdings hauptsächlich an der Militarisierungspolitik der USA fest, erkennbar bemüht, zwischen USA und EU taktisch zu differenzieren.
  • 2008: Russland weist die provokativen Versuche des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili militärisch zurück, der im Schatten der NATO-Erweiterung einseitige Grenzkorrekturen auf Kosten Russlands vornehmen will. Das war zugleich als gelbe Karte für NATO und EU zu verstehen, von der geplanten Fortsetzung ihrer Erweiterungspläne über den südlichen Kaukasus hinaus nach Zentralasien Abstand zu nehmen.
  • 2014: Als deutlicher Abbruch der West-Integration muss Russlands Aufnahme der KRIM in den Russischen Staatsverband und die halbmilitärische Unterstützung der Kämpfe der Regionen Donezk und Lugansk um ihre Autonomie verstanden werden. Mit ihrer Politik in der Ukraine-Krise zeigte Russland dem Westen, also der Allianz von NATO, EU und den USA, dass es ein weiteres Vordringen des Westens, vor allem westlichen Militärs auf russische Kosten nicht hinnehmen werde. Die daraufhin vom Westen eingeleitete Sanktionspolitik wirkt seitdem als Brandbeschleuniger für die eurasischen Integrationsprozesse.
  • 2016/2017: Das militärische Eingreifen Russlands in Syrien hat nicht nur den Eroberungszug der US-Politik in Mesopotamien beendet und Syrien in eine vorläufige Waffenruhe geführt. Es hat Russlands Südflanke auch vom Druck der westlichen Allianz befreit und es zum zurzeit wichtigsten Akteur im mesopotamischen Raum werden lassen. Der wird über Russlands neue Bündnispartner Iran und Türkei zudem anschlussfähig für den eurasischen Raum, während die USA sich unter Trump aus der aktiven Politik im mesopotamischen Raum vorläufig zurückziehen, um die Hände frei zu haben für Asien. Putin wird von der globalen Öffentlichkeit –  im Westen widerstrebend und widerwillig, versteht sich – als „neuer starker Mann“ in Syrien und Mesopotamien wahrgenommen. Man werde sehen, schränken die westlichen Kommentatoren ein, noch sei Syrien nicht wirklich beruhigt und Putin wolle nur Punkte für seine innenpolitischen Auftritte sammeln. 
  • 2017: Auf der, schon erwähnten, ASEAN-Konferenz vom November trat die neue Konstellation im globalen Kräftefeld klar zutage: Nicht nur traten China und Russland den atomaren Drohungen Trumps gegen Nordkorea entschieden entgegen. US-Präsident Donald Trump, der mit großem Einsatz versuchte, in dem entstandenen asiatischen Netz Fuß zu fassen, hatte den ASEAN-Mitgliedern nach seiner,  zugunsten der von ihm ausgerufenen Politik des „Amerika first“ vorgenommenen Aufkündigung der „Transpazifischen Partnerschaft“ (TTP) nicht viel zu bieten, so dass sie nach neuen regionalen Zusammenschlüssen suchen. Die Vision eines „Großeurasien“ erwachsend aus einem Zusammenwirken der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ und dem „Projekt Seidenstraße“ rückt in den Mittelpunkt auch des ASEAN-Staatenbündnisses. Die USA sind nicht Bestandteil dieses Prozesses, die EU ist als Handelspartner am westlichen Ende der Seidenstraße geduldet.

 

Ermutigende Perspektiven…

Man muss die aus der eurasischen Selbstorganisation zum einen und den politischen Entfremdungen und Zusammenstößen zwischen Russland und dem Westen heute entstandene Konstellation nicht überbewerten. Soviel aber ist offensichtlich: Die USA und in ihrem Schatten Europa, konkret die EU haben ihre historische Definitionsmacht als imperiale Zuchtmeister des Globus verloren. Heute kommt die Ansage zur Entwicklung Eurasiens nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten – aus Russland, aus China, aus Zentral- und Süd-Ost-Asien mit Unterstützung einer zunehmenden Zahl von Ländern, die im Aufkommen eines starken Eurasiens die Möglichkeit  sehen, sich vom Druck der ‚westlichen‘ Weltherrschaft zu befreien.  Anders als zuvor aus dem Westen kommt dieser vom Osten herkommende Impuls zur Entwicklung Eurasiens nicht als militärisch gestützter  Impuls von ‚Teile und Herrsche‘, sondern als Prozess des Sammelns und sich Verbündens, des Länder-, Kultur- und Sprachräume übergreifenden Verlangens nach gegenseitiger tatsächlicher Entwicklungshilfe, statt der Herstellung neo-kolonialer Abhängigkeiten unter dem Etikett einer solchen daher.  In dieser Entwicklung kündigt sich eine Tendenz, bescheidener gesagt, eine Chance, noch bescheidener formuliert, die Möglichkeit  für die Entwicklung einer neuen Phase der Weltpolitik an: die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Kooperation einer multikulturell vernetzten Staaten-Gemeinschaft, in der Staaten sich darauf beschränken können, sich gegenseitig zu stützen.

  

… und mögliche Störungen

Um aber nicht in Wunschträume zu verfallen, muss allerdings daran erinnert werden, dass noch nicht alle Steinchen im Spiel und noch nicht alle Möglichkeiten der Störung ausgereizt sind: Ohne in Spekulationen zu verfallen, darf  davon ausgegangen werden, dass sich die „einzige Weltmacht“ mit der jetzt entstandenen Konstellation nicht zufrieden geben wird. Ansatzpunkte, von denen aus, um im Bild zu bleiben, ein erneuter Farbwechsel im globalen Spiel, klarer gesagt, im Ringen um die kommende Rolle Eurasiens bei der Herausbildung einer neuen Weltordnung, seitens des bisherigen Hegemonen erzwungen werden könnte, sind klar zu erkennen. Sie heißen: Europa, Korea und Mesopotamien, alle drei noch von Brzezinski seinerzeit als „Brückenköpfe“ zur Eroberung des „Herzlandes“ benannt und in den zurückliegenden Jahren auch genutzt. Das wäre: Europa als Stoßkeil vom Westen her, wenn es der US Politik gelingt, die EU, insonderheit Deutschland weiter  in die Konfrontation mit Russland zu treiben und so eine Beteiligung Europas an dem „eurasischen Projekt“ zu hintertreiben; Japan, das sich von Korea bedroht fühlt, als Stoßkeil vom Osten her, wenn es gelingt, den koreanischen Konflikt im Herzen der sich erst konsolidierenden ASEAN-Staaten-Gemeinschaft weiter anzuheizen, und schließlich der mesopotamisch-afrikanische Raum als Störfeld vom Süden her, wenn es gelingt, dieses Gebiet allen aktuellen militärischen und diplomatischen Erfolgen der russischen Einsätze zum Trotz erneut zu destabilisieren.

Nicht zuletzt lebt auf westlicher Seite immer noch die Hoffnung, Wladimir Putin, der sich soeben den Anforderungen stellen muss, die aus seiner Absicht resultieren, in eine neue Phase seiner Präsidentschaft einzutreten, ungeachtet seiner außenpolitischen Erfolge über innenpolitische, vornehmlich soziale Probleme stolpern zu sehen. Genauer gesagt sogar, seine außenpolitischen Erfolge zu relativieren, zu stören, wenn möglich sogar zu zerstören, in dem Wissen, dass er für sein innenpolitisches „Rating“, das heißt, für seine zukünftige innenpolitische Handlungsfähigkeit angesichts wachsender innenpolitischer Widerstände, nicht zuletzt sozialer Art auf außenpolitische Erfolge angewiesen ist. Wenn es gelänge, Putin innenpolitisch zu destabilisieren, würde dem eurasischen Projekt ein wesentlicher Pfeiler entzogen.

Noch unberührt von  all dem ist dabei die Frage, ob das „Eurasische Projekt“, wenn es sich denn ungestört entwickeln könnte, tatsächlich zu einer neuen Ordnung führen würde, welche die nationalstaatliche Konkurrenz hinter sich zu lassen in der Lage wäre oder ob es nur der Herausbildung eines neuen Hegemonen Vorschub leistet, nämlich Chinas. Dies wäre dann ein neues Spiel nach ganz alten Regeln, über dessen Ausgang nur spekuliert werden könnte.  

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema das Buch:

Kai Ehlers, Asiens Sprung in die Gegenwart. Russland – China – Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums „Inneres Asien“., Pforte, 2006

(In dem Buch werden die grundlegenden Entwicklungslinien dieses Raumes als „Treibhaus der Evolution“ skizziert)

Zu beziehen über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel)

[2] In „The geographical pivot of history“ , siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Halford_Mackinder

[3] Deutscher Titel: „Die einzige Weltmacht“, erschienen bei  Fischer tb, 2001

[4] Sergei Karaganow, Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, u.a. in Spiegel 28/2016

 

Für eine Bearbeitung des Textes mit weiterführendem Anschaungsmaterial und Hintergrundlinks siehe:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien

Ausserdem Unzensiertes Aktuelles und Strategisches zu Russland in: http://www.russland.news/

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki

Russland geht auf die nächsten Präsidentenwahlen im Jahr 2018 zu. Es gibt eine Stimmung im Lande, die befürchtet, dass den Zeiten der relativen Stabilität nunmehr Zeiten sozialer Probleme folgen könnten, dass Putin die von ihm betriebene Politik des Krisenmanagers, des Lavierens im Konsens zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nicht mehr in der gleichen Weise wie bisher halten könne, dass eine Zeit der Instabilität bevorstehe, die entweder Putin selbst oder einen Nachfolger zwingen könne, zu einer „wirklichen Diktatur“ überzugehen, um die von ihm auf dem Weg der „gelenkten Demokratie“ nach Ansicht seiner Kritiker in Korruption steckenbleibende Kapitalisierung  nunmehr mit Gewalt sauber durchzusetzen. Alexei Nawalny ist hier der Stichwortgeber.

Die provokanteste Position zu diesen Fragen vertritt Boris Kagarlitzki, Russlands prominentester Neulinker, Direktor des Institutes für Erforschung der Globalisierung und der Sozialen Bewegungen. Das Gespräch wurde unmittelbar vor der letzten großen Massendemonstration vom 12.Juni geführt. Continue reading “Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki” »

Russland 2017 – Impressionen einer Sommerreise

Bericht im Forum integrierte Gesellschaft

Liebe Freunde, liebe Freundinnen des Forums integrierte Gesellschaft

Das war doch wieder einmal ein gelungenes Treffen, in dem unsere gute alte Jurte erneut ihre volle Kraft zeigen konnte, nachdem das letzte Treffen zum Thema Europa mangels Beteiligung praktisch nicht stattfinden konnte. Meine Lebensgefährtin Frederike von Dall `Armi und ich, Kai Ehlers hatten eingeladen, um über unseren kürzlich in Russland verbrachten Aufenthalt zu berichten, präzisiert unter der Frage, ‚Was kommt nach Putin? ‘.
Es ging um die gegenwärtig sich in Russland entwickelnden oppositionellen Proteste zum Einen, um Impressionen aus dem kulturellen und sozialen Alltagsleben in der ‚Provinz‘, genauer in der Tschuwaschischen Republik an der Wolga zum Zweiten – zusammengefasst, wenn man so will, zu der sachlichen Frage, was in nächster Zeit – und schließlich überhaupt – von Russland zu erwarten ist und wie die Beziehungen zu Russland gestärkt werden können. Continue reading “Russland 2017 – Impressionen einer Sommerreise” »

Krieg oder Frieden? Dem Treffen der 20 zum Geleit.

In Hamburg treffen sie just zusammen, um zu beraten, wie es in der Welt politisch weitergehen soll – in einer Zeit, in der kaum jemand weiß, wie es weitergehen kann. Hier finden Sie den Video-Mitschnitt eines Vortrags, der sich passend zu den Vorgängen in Hamburg mit den anstehenden Fragen befasst: Stichworte zur gegenwärtigen Lage, Stichworte zu möglichen Alternativen, sowie Einschätzungen zu der Rollneverteilung zwischen den großen ‚Playern‘ in diesem großen Spiel.

Hier anklicken: https://youtu.be/5i3nMlX6Ydk

Endlich eine Opposition in Russland?

Mehr als sechzigtausend Menschen auf Russlands Straßen gegen Korruption und Bürokratismus, davon die Hälfte unter dreißig Jahre alt – ist das eine neue Opposition?

Wünschenswert wäre es ja, wenn in Russland eine Opposition heranwüchse, die der Staatsführung das Recht auf Selbstbestimmung, basierend auf einer für alle gleichermaßen gesicherten Existenz abfordern könnte, denn das ist, bei allen Erfolgen, auf die Wladimir Putin verweisen kann, unverkennbar die Schattenseite der von ihm eingeführten vertikalen Stabilität.

Aber ist das, was nach den gegenwärtigen Protesten gegen Korruption als Opposition in den westlichen Medien dargestellt wird, dazu angetan, einen solchen Impuls in die Wirklichkeit zu bringen? Darin sind sich selbst diejenigen, die jetzt das Hohelied eines nach Freiheit verlangenden Jugendprotestes singen, keineswegs einig.

 

Kaum soziale Parolen

Auffallend, wie schon bei früheren vergleichbaren Massenprotesten, zuletzt denen anlässlich der Wahlen 2012,  ist auch jetzt wieder, dass neben Forderungen wie  „Nieder mit …“ kaum weiterführende politische oder gar soziale  Forderungen laut wurden. Dieses Mal wurde der Ruf „Nieder mit Putin“ sogar noch durch den quasi stellvertretenden Ruf „Nieder mit Medwedew“ ersetzt. Dies alles geschieht zudem zu einer Zeit, in der Putin von einem Rating zwischen 70 und 80, aktuell sogar 81 Prozent getragen wird.

Auffallend ist in der Tat, dass  überraschend viele Jugendliche an diesen jüngsten Protesten teilnahmen. Aber wie russische Soziologen durchaus richtig bemerkten, könnten die aktuellen Straßenaktionen Strohfeuer sein, die heute aufleuchten und morgen so schnell zurückfallen, wie sie hochgekommen sind, mit einem Wort, sie könnten sich als Facebookproteste erweisen, die keine über den Moment hinaus gehende Basis und über das bloße Treffen hinausgehende Zielvorstellungen haben.

Zudem stehen die Proteste auf dem sehr fragwürdigen Boden einer Kampagne, die mehr Indizienketten als Tatsachen für die Verfehlungen liefert, die Medwedew angelastet werden. Wie fragwürdig die Kampagne letzten Endes ist, muss darüber hinaus jedem deutlich werden, der bedenkt, dass Alexei Nawalny, ihr Initiator – durch ihn selbst mit dem Hinweis bestätigt, dass anders eine solche Kampagne im autoritären Russland nicht möglich sei – wesentlich von den USA unterstützt wird. Das ist Hilfe ausgerechnet von der Seite, die in der Person Donald Trumps als neuem Präsidenten Korruption und Clanwirtschaft öffentlich zum Prinzip erhebt.   

Was sind denn – selbst wenn man der Spur des von Nawalny vorgelegten Materials folgen könnte – ein paar über Mittelsmänner gehaltene Villen Dimitri Medwedews in Sotschi oder Italien, was ist selbst die Putin nachgesagte Begünstigung seiner früheren Petersburger Seilschaft gegen das offen zur Schau getragene globale Beziehungsgeflecht des Trump-Clans, der jetzt die USA regiert? Da könnte die Kampagne, wenn die von ihr Aufgerufenen den Kampf gegen Korruption nicht nur lokal, sondern prinzipiell  angehen, den Aktivisten Nawalnys sehr schnell auf die eigenen Füße fallen.

 

Event oder soziale Bewegung?

Aber wie auch immer – das eigene Land ist nicht Amerika, also äußert sich der Unmut über die heutigen Verhältnisse zunächst einmal in der eigenen Realität.  Das gilt vor allem für die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der aktuellen Proteste. Wenn sich  daraus mehr entwickeln sollte als ein paar spannende Events,  wäre das gut; kaum etwas wäre wichtiger für Russlands weitere Entwicklung als eine politisch erwachende Jugend.

Nach allen Erfahrungen mit bisherigen Protesten in Russland ist es allerdings eher ungewiss, ob aus der gegenwärtigen Anti-Korruptions-Kampagne mehr entsteht als ein kurzfristiges Aufschäumen,  auch wenn es Nawalny, unterstützt vom Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, von dem ehemaligen Schachweltmeister Garry Kasparow und anderen vom Ausland her agierenden, ihrem Verständnis nach liberalen langjährigen Putin-Gegnern gelingen sollte über kurzfristige Mobilisierungen hinaus langfristig eine oppositionelle Bewegung zustande zu bringen –– es sei denn, die Staatsmacht bliese die Funken der gegenwärtigen aktuellen Proteste durch Repression zu einem offenen Brand auf. Hier ist natürlich Raum für Provokationen von allen Seiten.

Basis für einen solchen Brand wäre allerdings durchaus gegeben, wenn sich die eher spielerischen Facebook-Proteste gegen Korruption mit existenziell begründeten sozialen Protesten in verschiedenen Gegenden Russlands verbänden.  Zu nennen ist da genug. Da sind die Bereiche Bildung – zu geringe Bezahlung der Lehrkräfte, schlecht ausgerüstete Schulen; Gesundheit – trotz immer noch garantierter Grundversorgung eine Zweiklassenmedizin; Justiz – Willkürurteile im Interesse der Reichen; Wohnungswesen – mangelnder zu teurer Wohnraum, aktuell die geplante Zwangssanierungen großen Stils in Moskau, die zu Lasten der Bewohner zu gehen drohen;  seit Jahren landesweit streikende Fernfahrer; Kleinbauern, die gegen Landraub protestieren; Rentner, die Renten fordern, von denen sie leben und nicht nur vegetieren; Arbeiter, die immer wieder für die Auszahlung ausstehende Löhne kämpfen müssen.

Kurz, viele Dutzend Einzelaktionen und –proteste finden zur gleichen Zeit im Lande parallel  zu der von Nawalny  und seinen ausländischen Freunden mobilisierten Kampagne statt. Wenn die Nawalny-Kampagne und diese sozialen Proteste sich miteinander verbänden, dann könnte daraus ein Flächenbrand entstehen – wenn, dann.  

 

Verschiedene oppositionelle Wellen

Die so entstandene Situation gibt Anlass darüber nachzudenken, was in Russland Opposition ist, wenn man nicht schematisch für den Westen geltende Verhältnisse und Vorstellungen auf Russland übertragen will. Da kann ein Blick zurück in die neuere russische Geschichte helfen. In deren Verlauf gingen sehr verschiedene Wellen von Opposition durch das Land und es macht Sinn sich diese Wellen in ihrer Unterschiedlichkeit in Erinnerung  zu rufen.

Da haben wir – noch im Übergang von der Sowjetunion  in das nachsowjetische Russland – die Opposition Michail Gorbatschows, das heißt, der unteren Parteiebene gegen die konservativen Kräfte des Politbüros. Das war der Versuch, jene Kräfte im Lande an die Schalthebel kommen zu lassen, die unzufrieden waren mit der Knebelung der Initiative, und diese Unzufriedenheit in Politik umzusetzen. Diese Opposition hatte eine breite, historisch gewachsene Basis in der Bevölkerung und sie wurde unterstützt von Kräften an der Spitze der Partei, die die Krise des Landes erkannt hatten. Es ging um die Befreiung  der persönlichen Handlungsfreiheit vom Joch der kollektivistischen Bevormundung. Von interessierter Seite wurde diese Opposition sogar Revolution genannt. Ihr Ergebnis ist bekannt. Sie führte die Sowjetunion zuerst in die Euphorie, dann ins Chaos.

Die nächste oppositionelle Bewegung war die von Boris Jelzin geschürte im Jahr 1991, die zur Ablösung Gorbatschows durch Jelzin führte. Als die erste Welle der Reformen aus dem Ruder zu laufen begann und Gorbatschow sich zum Bremser wandelte, trat Jelzin auf das Gaspedal. Unter den Parolen „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“ mobilisierte er die Unzufriedenheit der Bergarbeiter, die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Republiken, die Ungeduld der Städter, denen die Umwandlung nicht schnell genug gehen konnte.  Das „Programm der 500 Tage“ mobilisierte eine breite Opposition, vor allem in den größeren Städten,  gegen die Mächte der Beharrung. Ergebnis war der Zerfall des Landes, des Imperiums als Ganzem wie auch der inneren staatlichen und sozialen Strukturen der gesamten Gesellschaft.

Dagegen erhob sich 1993 eine dritte Welle der Opposition, diesmal ganz anderer, konservativer Art:  Eine stark motivierte, allerdings äußerst heterogene Bewegung verschiedenster Kräfte wandte sich gegen die Zwangs-Privatisierung der Jelzin-Administration, forderte zumindest eine langsamere Gangart, vermischt mit national-patriotischen Tönen, die sich gegen eine Okkupation des Landes durch den Westen wandten. Der Widerstand war aber kein allgemeiner mehr wie in den Jahren zuvor; die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf den Kongress der Volksdeputierten, das halbdemokratische, noch aus der sowjetischen Parteistruktur entstandene Volks-Vertretungs-Organ, das Gorbatschow eingeführt hatte. Jelzin ließ diesen Widerstand im Haus des Deputiertenkongresses, heute ‚Weißes Haus‘ genannt, von Panzern zusammenschießen. Mindestens 120 Menschen fanden dabei den Tod.

 

Präsidialverfassung statt Opposition

Nach diesen Ereignissen war der Widerstand gegen die Auflösung der Sowjetunion, insbesondere gegen die Privatisierung im Lande gebrochen, die Bevölkerung müde. Die von Jelzin eingeführte Präsidialverfassung fixierte die neu entstandene Lage. Er regierte  von da an über Verordnungen. Weder auf alltäglicher, im weitesten Sinne gewerkschaftlicher Ebene noch in der von Jelzin entmachteten kommunistischen Linken konnte sich eine nennenswerte Gegenkraft bilden. Opposition  reduzierte sich auf kommentierende Parteiauftritte in dem neugebildeten Parlament, der Duma, die an die Stelle des Deputiertenkongresses getreten war. Neu-Sozialistische und radikaldemokratische Reformansätze blieben Splittergruppen außerhalb der Duma. 

Eine Opposition, wenn man es so nennen möchte, fand Jelzin allein in den strukturellen Machtkonstellationen des Landes, den eigenmächtig agierenden Oligarchen, die zu Ende seiner Amtszeit mit dem einflussreichsten von ihnen, Wladimir Beresowski, als Sicherheitsberater an der Spitze faktisch eine Schattenregierung bildeten, mit den von Moskau aus kaum zu kontrollierenden Gebietsfürsten in den Republiken, mit den Tendenzen der Sezession, in denen sich  der Zerfall der Sowjetunion auf dem Gebiet des neuen Russland fortzusetzen drohte. In den zwei Tschetschenienkriegen (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) fand dieser Konflikt seinen exemplarischen und für das neue Russland existenziellen Ausdruck.

 

Putins Einstieg: Tschetschenien

Die Tschetschenienkriege kennzeichnen aber zugleich auch den Übergang aus der Phase des Zerfalls in die der Konsolidierung. Der zweite Tschetschenienkrieg ist mit dem Namen Wladimir Putins untrennbar verbunden. Die Beendigung der tschetschenischen Sezession gab ihm die stabile Machtposition, von der aus er die Kräfte des Landes neu zusammenzuführen konnte. Das war die Disziplinierung der Oligarchen, die Einführung vertikaler Verwaltungsstrukturen in den in Republiken auseinanderstrebenden Organismus des Landes und nicht zu vergessen die Unterwerfung der Gewerkschaften unter ein rigides Arbeitsgesetz. Damit war die strukturelle Opposition aus der Zeit Jelzins in einen Konsens eingebunden, der Modernisierung und Wiederaufbau zusammenführte. Putin war und ist der Manager dieses Konsenses.

Ergebnis war, allgemein gesprochen, eine Differenzierung der nach-sowjetischen russländischen Gesellschaft, in welche die raue Klassenwirklichkeit wieder einzog. Die Schroffheit dieser Entwicklung wurde dadurch gemildert, dass es Putin gelang die Oligarchen dazu zu veranlassen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen und in bescheidenem Maße wieder in die sozialen Verpflichtung einzutreten, die sie zuvor im gewerkschaftlichen, kommunalen und regionalen Bereich wahrgenommen hatten, als das gesellschaftliche Leben noch von den Betrieben her organisiert war.

 

Jelzins alte Garde in der Opposition

Solange diese Entwicklung zu einem allgemeinen Ansteigen des Lebensniveaus führte, verhielt die Bevölkerung sich ruhig,  weil sie – wenn auch auf niedrigem Niveau – einen gewissen Anstieg der sozialen Sicherung gegenüber der Zeit Jelzins erlebte.

Als neue Opposition entwickelte sich jetzt aber die aus den Ämtern verdrängte liberale Schicht der Jelzinzeit, allen voran mit Vertretern wie Boris Nemzow, groß geworden als Privatisierungsspezialist in Nischni Nowgorod, daraufhin Minister unter Jelzin, Gary Kasparow und anderen Liberalen. Finanziert wurden ihre Kampagnen anfangs von Beresowski, der sich nach London abgesetzt hatte, später von Chodorkowski im Lande selbst. Chdorkowski steht erklärtermaßen jetzt auch wieder hinter den aktuellen Protesten, inzwischen vom Ausland her wie seinerzeit Beresowski.

Die Liberalen entwickelten eine Daueropposition gegen Putin, fanden aber in der Bevölkerung keinen Rückhalt,  bis dahin, dass sie selbst in der Duma nicht mehr vertreten waren. Sie gingen stattdessen zu einer außerparlamentarischen Provokationsstrategie über, in der sie sich bemühten, den ‚Putin-Staat‘ mit Gesetzesübertretungen, vor allem mit Durchführung nicht genehmigter Demonstrationen zum Eingreifen zu veranlassen und so als autoritär vorzuführen.  

So dümpelten die Kräfte während der ersten Amtszeit Putins vor sich hin, auf der einen Seite eine mit dem sozialen Gesunden, teils auch nur Überleben beschäftigte Bevölkerung, auf der anderen die kleine liberale Minderheit, die sich mit einer nicht abreißenden Serie von provokativen Straßenaktionen den Rücktritt Putins forderten – ohne ihrerseits ein anderes Programm als den Ruf nach dem Wiedereintritt der Jelzinschen Verhältnisse, ohne irgendein Programm zur Lösung der sozialen Probleme anzubieten.   

Eine Zäsur brachte das Jahr 2005/2006, als die Regierung Putin einen entscheidenden Schritt in der Monetarisierung von Sozialleistungen vorangehen wollte. Rentner, Schüler und Lehrer gingen dagegen auf die Straße, sodass die Regierung es vorzog, diese Maßnahmen als ganzes Paket zurückzunehmen und in ein Programm der schrittweisen Umsetzung umzugießen. Eine Bewegung konnte so nicht entstehen.

Eine weitere Zäsur wurde das Jahr 2011/12. Mit ihren Protesten gegen Wahlfälschungen trat erstmalig die neu entstandene Mittelklasse Russlands aktiv in Erscheinung. Auch zu der Zeit jedoch nicht mit sozialen Forderungen, sondern über die Kritik an Wahlfälschungen hinaus vor allem mit Forderungen nach mehr persönlicher Freiheit auf unterschiedlichsten Gebieten. Russische Analytiker – wie der Reformsozialist Boris Kagarlitzki – erklärten damals, dass man die Ursache für  diese Orientierung darin sehen könne, dass diese Mittelklasse, vor allem die städtische, zu der Zeit zu einem gewissen Wohlstand gekommen, nunmehr nach mehr politischer Bewegungsfreiheit, Reisefreiheit etc., verlangte, aber die soziale Lage im Lande überhaupt nicht im Blick hatte.

Putin trat dem seinerzeit mit einem Programm entgegen, das einen „Zukunftsdialog“ zwischen Regierung und Bevölkerung vorschlug. Endlich aufgegriffen würden jetzt, ließ er verlauten, die schon nach den Protesten von 2005 verkündeten, aber nicht durchgeführten, „nationalen Programme“, also Maßnahmen zur Förderung „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie  der Landwirtschaft. Darüber hinaus sollte die Verwirklichung der ausstehenden Rentenreformen endlich eingeleitet werden. Dies alles müsse zugleich mit einer Stärkung Russlands gegen die äußeren Bedrohungen durch die aus dem Gleichgewicht geratende Weltordnung verwirklicht werden.

Das außenpolitische Ziel Russland wieder stark zu machen und als Krisenmanager in die Weltpolitik einzubringen, konnte Putin weitgehend verwirklichen. Innenpolitisch sind die meisten Dinge, die er damals versprach bis heute offen. Ja mehr noch, nach dem Fall des Ölpreises ist die innenpolitische Situation merklich schwieriger geworden, besonders auf dem Lande. Die Übernahme der Krim, die Unterstützung des ukrainischen Ostens, die Einsätze in Syrien sowie die Sanktionen, mit denen Russland vom Westen belegt wurde, sind weitere Faktoren, die das Land unter Druck gebracht haben und weiter bringen.

Zwar zeigt das Rating von 81 Prozent für Putin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung dem Präsidenten noch immer, mehr sogar als nach den Wahlen 2012 vertraut, auf Dauer lassen sich die bisher  nicht eingehaltenen Versprechungen auf innenpolitische Reformen jedoch nicht durch äußere Erfolge kompensieren.

Wenn nach der relativen innenpolitischen Ruhe der letzten Jahre jetzt die Perspektive aufscheint, auch wenn darin nur eine blasse Möglichkeit liegt, dass die aktuellen Proteste der Navalny-Kampagne sich mit den sozialen Unruhen zu einer Bewegung verbinden könnten, sieht Putin sich vor die Herausforderung gestellt, sich den vernachlässigten innenpolitischen Problemen jetzt  erkennbar zuzuwenden. Jetzt muss er definitiv ein Programm vorlegen, das sich der so lange offen gebliebenen Fragen annimmt, wenn er soziale Verwerfungen in der nächsten Amtsperiode, für die er sich inzwischen  erneut zur Wahl gestellt hat, überstehen will.

Es scheint, dass er sich dessen bewusst ist, denn er hat bereits die Erarbeitung eines umfassenden Reformprogramms für die Zeit nach der Wahl 2018 in Auftrag gegeben. Wohin dabei sein Würfel rollt, in Richtung des ehemaligen Finanzministers Alexei Kudrin, eines erklärten Liberalen mit entsprechenden neo-liberalen Perspektiven oder zu Sergei Glasjew, der eher konservative Vorstellungen vertritt, oder zu einem Mittelweg zwischen beidem, und wie das konkret aussehen kann, ist dabei allerdings noch ganz offen. Die letzte Entscheidung liegt möglichweise entgegen allen öffentlich zurzeit vorgebrachten Vermutungen nicht bei Putin allein, sondern in der Frage, wie sich die Protestkultur im Lande weiter entwickelt. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die ‚Macht‘, auch hier nicht nur Putin, klug genug und bereit ist, Repressionen zu vermeiden, konkret auch Nawalny als Kandidaten in der Reihe der Prätendenten für die bevorstehende Präsidentenwahl zu akzeptieren und den versprochenen offenen Dialog zu suchen, der nach 2005 und auch nach 2012 noch nicht wirklich stattgefunden hat.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Siehe hierzu die beiden Bände:

  • Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, Laika, 2014/15
  • Kai Ehlers, Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte, 2005

Bezug über den Buchhandel oder direkt über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

Russland: Entwicklungsland neuen Typs

Russland und der Westen stehen heute nicht nur in der politischen, sondern auch in der kulturellen Kontroverse. Die westliche Propaganda  betrachtet Russland wie einen unterentwickelten Paria, mit dem auch nur freundschaftlich zu verkehren schon für eine Stigmatisierung und den Verlust eines hohen Amtes ausreicht.

Der folgende Text mag dazu beitragen,  die russische ‚Unterentwicklung‘ von einer anderen Seite her zu betrachten. Er ist heute so wahr wie 2005, als er geschrieben wurde – angesichts der neueren Konfrontationen möglicherweise noch wahrer als zur Zeit seiner Entstehung.

 

Kai Ehlers

 

Mit Jefim Berschin[1] steige ich in die Fragen ein, die sich aus der Einsicht ergeben, dass Russland heute – zum wiederholten Male – zum globalen Entwicklungsland geworden ist, und das nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern im Sinne des wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs – ein Entwicklungsland neuen Typs. In Russland bleibt kein Stein auf dem anderen, auch im mentalen Bereich; es gibt keine Prioritären, keine eindeutigen, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum ‚Kapitalismus‘ oder (zurück) zum ‚Sozialismus‘, zum Christentum oder zum Islam, überhaupt zur Religion oder zum Atheismus usw. Es wirbelt vielmehr alles durcheinander, auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Wechselwirkung der Vielfalt pur!

    Insofern wird Russland erneut – wie schon mehrere Male in der Geschichte – zum  Entwicklungsland in dem Sinne, dass sich im Russischen Raum als Integrationsraum Euro-Asiens die Einflüsse aus allen Ecken der Welt überschneiden und neu gestalten. Das formuliert ja interessanter Weise auch Wladimir Putin. Die Form, die diese Entwicklung unter seiner Ägide zurzeit annimmt, ist höchst unglücklich – eine Wiederauflage des Paternalismus von der Art der Selbstherrschaft, im Wesen aber ist gar keine andere Politik möglich als die der Erneuerung der Integrationskräfte Russlands.

    Das Ringen um neue Ziele, neue Kräfte, neue Methoden der Integration bestimmt das gesamte russische, genauer gesprochen, russländische Leben, also nicht nur das der slawischen Russen, sondern das der Völker- und Kulturgemeinschaft Russlands – nicht zuletzt und im tiefstgreifenden Maße im Bereich der Ethik, Moral und Religion. Ohne neue Ethik kann dieser Raum, können die Menschen dort nicht überleben. In der Vielgestaltigkeit, ja in der chaotischen Vielfalt des Raumes, der aber doch ein Gesamtraum ist, liegt, wie jedes Mal deutlich wird, wenn man sich mit offenen Augen in Russland aufhält, die tiefe Begründung für den ethischen Extremismus, mit dem und in dem die russische Bevölkerung lebt: Nur extreme Besinnung auf moralische Verbindlichkeiten kann den Menschen in diesem offenen Raum, der allen Zentralisierungs- und Isolierungsbemühungen und –phasen zum Trotz immer wieder durch von außen kommende Einflüsse (wie jetzt die Globalisierung) chaotisiert wird, so etwas wie einen Halt, eine Sicherheit, eine Heimat geben.

    Die Heimat der russischen Menschen ist deshalb auch weniger – wie bei uns – die schöne Landschaft oder dergleichen, sondern die russische Kultur, was immer darunter verstanden wird, sind die Werte des Zusammenlebens, die Sprache, die Lieder usw. – letztlich die Moralität von Gemeinschaft, eben deswegen, weil in dieser Weite die Moral einer Gemeinschaft ein besonderes schützenswertes Gut ist, das nicht einfach existiert, sondern gegen die uferlose, grenzenlose Weite hergestellt und bewahrt werden muss. Einfach gesagt: Der europäische Mensch ist froh, einen Platz zu finden, an dem er allein sein kann; in Russland ist man froh, Gemeinschaft zu finden, die einen vor dem Alleinsein und Ausgesetzt-Sein schützt.

    Jetzt sind eben diese traditionellen moralischen Werte, durch die siebzig Jahre des realen Sozialismus zugleich bewahrt und diskreditiert, wieder einmal fundamental in Frage stellt – ähnlich wie zu Zeiten des Mongolensturms, ähnlich wie zu Zeiten Iwans IV., ähnlich wie zu Zeiten der großen Bauernrevolten im 18. Jahrhundert, ähnlich wie zu Zeiten des einbrechenden Kapitalismus und der Revolutionsjahre Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal bricht die Außenwelt in das mühsam zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd des Kontinents hergestellte Gleichgewicht ein – dieses Mal als ‚Globalisierung‘. Wieder einmal muss Russland von Grund auf seine Moral des Überlebens zwischen den territorialen, ethnischen und geistigen Extremen neu definieren. Insofern Russland das Zentrum des euro-asiatischen Kontinentes bildet, der seinerseits die größte Land- und Bevölkerungsmasse des Globus konzentriert, betrifft diese Definition die gesamte existierende Welt. In Maßen war das auch früher so – mit Auswirkungen auf die europäische wie auf die asiatische Entwicklung; heute im Zuge der Entwicklung, ja einer neuen Stufe der Intensivierung des globalen Marktes und damit sich entwickelnder gegenseitiger Abhängigkeiten betrifft diese Definition den gesamten Globus, ob wir wollen oder nicht. Grob gesprochen: Es kann der Welt nicht gleichgültig sein, welche Seite der russischen Wirklichkeit heute auf sie einwirkt – die Brutalität der russischen Mafia oder die Kultur der russischen Gemeinschaftstraditionen, oder, noch exponierter formuliert, die asozialen oder die sozialen Impulse, die aus der Transformation, sagen wir auch ruhig, aus der Modernisierung der russischen Gemeinschaftsethik heute hervorgehen.

    In Russland treffen heute Individualismus und Kollektivismus am härtesten, am schroffsten, im weitesten Maße und im tiefsten Sinne aufeinander; hier werden Neue Formen des Miteinanders von Einzelinteresse und Kollektivinteresse am extremsten ausprobiert, durchlitten, erfunden – auf allen Ebenen der menschlichen Existenz, vom Kindergarten bis zum Tod und bis zu den Vorstellungen vom Leben nach dem physischen Tode. In diesem Sinne ist Russland heute ein gewaltiges Feld schöpferischer Unruhe von globaler Bedeutung, das neue ethische Räume entstehen lässt.

    Jefim Berschin spricht hier geradewegs von Religion, wobei er sich gleichzeitig von bestehenden Glaubensgemeinschaften distanziert: Sein Credo: Gott im Menschen finden. Vom Judaismus über die historischen Glaubensgemeinschaften des Christentums und des Islam zum Ego des heutigen Menschen – dies, meint er, sei Russlands historische Botschaft. Das ist ein großer Entwurf.

    Ich möchte da vorsichtiger sein: Die Elemente einer Wissenschaft von der Transformation, die für mich aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte russischer Geschichte hervortreten – Krise der Pyramide als Gesellschaftsmodell, Erinnerung an das Labyrinth, Selbstorganisation in der Gemeinschaft – öffnen zwar neue mentale Räume, die ohne Zweifel auch über Russland hinaus gültig sind, aber sie sind doch noch nicht mehr als ein Gerüst, an dem neue Vorstellungen entstehen können. Eine neue Ethik ist das noch nicht.

    Vor allem ist es kein Automatismus: Der gegenwärtige Kurs Putins treibt Russlands Entwicklung auf eine neue Weggabelung zu: In seiner TV-Rede zu Beslan[2], deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Wie die Maßnahmen zeigen, die er vor und nach Beslan einleitete, meint er damit ganz offensichtlich nicht „Demokratie“ nach westlichem Vorbild, sondern etwas sehr Russisches, nämlich die Überwindung der gegenwärtigen Smuta, der Großen Unordnung, durch eine patriarchale Konsensgesellschaft. Die Smuta ist der Zustand des ungeordneten Pluralismus zwischen Asien und Europa, in den Russland im Lauf seiner Geschichte immer wieder versunken ist, wenn die Zentralmacht verfiel. In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin macht den Versuch, diese Polarität zu modernisieren, nachdem Gorbatschow sie gekündigt und Jelzin sie ins pluralistische Chaos überführt hatte. Putins gegenwärtige Stärke ist dabei Voraussetzung und Bremse zugleich: Voraussetzung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft, Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen entgegen handelt. Das lässt den angestrebten Konsens zur leeren Geste verkommen. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus verlangt eine ideologische Aufrüstung, zu der die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht motiviert ist.

     Im Ergebnis vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft in eine herrschende politische Klasse auf der einen, eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten zurückzieht auf der anderen Seite. Putin steht vor der Wahl, diese Verweigerung zu akzeptieren oder sie mit Gewalt zu brechen. Sie akzeptieren heißt, den unabgesicherten Weg der Transformation fortzusetzen, dem Kapital die Symbiose mit einer agrarisch orientierten Selbstversorgung als Dauereinrichtung, ja, als Perspektive zuzumuten und Schritt für Schritt neue Beziehungen zwischen ihnen entstehen zulassen; sie brechen, würde bedeuten, einen Ausweg in neuen Fortschrittsillusionen und expansiven imperialen Abenteuern zu suchen. Welchen Weg Putin in Zukunft wählen wird, ist offen; zur Zeit versucht er sich auf der Mitte zu halten. Solange Putin aber – oder ein Nachfolger Putins – den Weg der Reformen geht, besteht die Chance, dass die Transformation des patriarchalen Fürsorgestaats allen Härten und Krisen zum Trotz nicht in die Katastrophe, sondern in eine Erneuerung der traditionellen Symbiose von Produktion und Selbstversorgung unter heutigen Bedingungen führt. Damit könnte Russland einen Weg der Modernisierung gehen, in dem sich individuelle Initiative westlichen Zuschnitts und traditionelle russische Gemeinschaftsstrukturen zu einem neuen Verständnis der Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gemeinschaft verbinden, das auch für den Westen Impulse enthält. Möglich ist dies aber nur, wenn Russland bei der Entwicklung seines Weges nicht isoliert und angefeindet, sondern in seinen exemplarischen Werten erkannt und gefördert wird.

 

(Entnommen aus:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch?, Pforte  Entwürfe, 2005, zu beziehen über den Verlag oder direkt über den Autor www.kai-ehlers.de

 

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

[1] Jefim Berschin, Journalist, Schriftsteller, Dichterin Moskau

Bücher von und mit ihm:

– Jefim Berschin, Kai Ehlers, Dikoe Pole, wildes Feld, Bod, 2016, 9,99 €

– Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte 2009, 1990 €

(Bezug der Bücher über www.kai-ehlers.de). 

[2] Bei der Geiselnahme von Beslan im September 2004 brachten nordkaukasische ‚Gotteskämpfer‘mehr als 1100 Kinder und Erwachsene in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan in ihre Gewalt. Die Geiselnahme endete nach drei Tagen in einer Tragödie – bei der Erstürmung des Gebäudes durch russische Einsatzkräfte starben nach offiziellen Angaben 331 Geiseln. (Nach Wikipedia)

Siehe auch: https://test.kai-ehlers.de/2004/09/beslan-wer-sind-die-opfer-wer-sind-die-tter/

Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes

Ungeachtet des angekündigten Kuschelkurses zwischen Donald Trump und Wladimir Putin, ungeachtet aller Beteuerungen aus Kreisen der EU wie auch der politischen Etagen Deutschlands, man wolle sich um ein gutes Verhältnis zu Russland bemühen, ungeachtet der von niemandem zur Zeit mehr bestrittenen Tatsache, dass das Schlachten in Syrien durch das Hinzutreten von Russland in einen – zumindest vorläufigen – Waffenstillstand übergegangen ist, also, ungeachtet all dieser Signale, ist das Verhältnis zwischen den Weltmächten doch nach wie vor das bekannte: die soeben zurückliegende „Sicherheitskonferenz“ in München brachte es unmissverständlich an den Tag: dort hat, wie die  „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es treffend zusammenfasste, die neue amerikanische Regierung in der Person des US-Vize-Präsident Mike Pence den Europäern „Bündnistreue in der NATO und eine Kritische Haltung gegenüber der russischen Aggression zugesichert.“ US-Präsident Trump twitterte gar in Abwesenheit, er sei ein „NATO-Fan“. Continue reading “Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes” »

Putin und Trump – ein Gespann? Ein Versuch hinter die Worte zu blicken

Ja, möchte man sagen – und doch nein. Ungeachtet unterschiedlicher persönlicher und politischer Profile sind Donald Trump und Wladimir Putin ein Gespann, notgedrungen, ob sie es wollen oder nicht. Und sind es doch nicht.

Beide sind vor einen Wagen gespannt, dessen Räder im Sumpf ungelöster globaler Probleme und Aufgaben zu versinken drohen. Sie selbst und die hinter ihnen stehenden „Eliten“ sind ratlos, wie sie mit der aus allen Fugen schießenden globalen Expansionsdynamik und der wachsenden Ungleichheit zwischen den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung und der bedrohlich wachsenden Zahl Benachteiligter, Ausgegrenzter, „Überflüssiger“, Marx würde sagen, überflüssig gemachter Paupers umgehen oder sich ihrer entledigen können. Immer ungeduldiger fordern diese Milliarden ihren Anteil am Reichtum der Welt, global und lokal. Eine Elitendämmerung kündigt sich an, wenn keine Vernunft einkehrt.

Die unipolare Weltordnung, die mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war, ist in wilder Bewegung.  Syrien ist dafür der aktuelle Brennpunkt, wo Kämpfe um lokale Souveränität, regionale Einflusszonen und globale Vorherrschaft sich an der Grenze zum globalen Krieg überschneiden.  

Denkbar wäre natürlich, dass die „Eliten“ in dieser Krisensituation, ungeachtet ihres Herkommens und ungeachtet der persönlichen Profile ihrer Vertreter und Vertreterinnen gemeinsam an einer Lösung dieses Knotens arbeiten, um ihre Ratlosigkeit zu überwinden, ja, sich vielleicht gar bereitfinden Ratschläge und Hilfe von „unten“ zu akzeptieren,  statt Milliarden von Menschen zu ohnmächtigen Zuschauern  oder zu Opfern ihrer Entscheidungen zu machen.

In Einzelfragen, die gegenwärtig in ersten Telefonaten zwischen dem neuen Mann in Washington und seinem schon länger amtierenden Kollegen in Moskau verhandelt werden, könnte tatsächlich Einiges möglich werden. Die Rede ist von der Einrichtung geschützter Zonen für Flüchtlinge in Syrien, von einem Ende der  Sanktionspolitik gegen Russland, von  einer Beilegung der Krim- und Ukrainekonflikte. Schließlich sogar von einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Terror – wobei allerdings schon zu fragen ist, was unter „dem“ Terror jeweils verstanden wird.  

Das alles klingt nach Frontbegradigungen – und wäre auch zu begrüßen, wenn es zu Entspannung auf überfälligen Konfliktfeldern führen, wenn es dazu beitragen könnte, die weitere Ausbreitung des Terrorismus zu verhindern. Allerdings muss hier über die Frage hinaus, was jeweils unter Terror verstanden wird, festgehalten werden, dass Terrorismus nicht mit Waffengewalt, auch mit einer russisch-amerikanisch kombinierten Militäraktion nicht zu beseitigen sein wird, sondern nur mit einer grundlegend anderen Politik der „entwickelten“  gegenüber der sich entwickelnden Welt, die den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben vor Ort zu gestalten.

Im Übrigen sind schon die ersten außenpolitischen Dekrete des neuen US-Präsidenten, die ein willkürliches Einwanderungsverbot aus einer Reihe von muslimischen Ländern in die USA verfügen, eher geeignet, dem Terrorismus weltweit neue Kämpfer und Kämpferinnen aus diesem Feld zuzuführen als ihn zu dämpfen. Auch flackern in der Unsicherheit des neuen Frontverlaufs ungelöste Konflikte wieder auf wie in der Ukraine, andere sind zu erwarten. 

 

Unterschiedliche Perspektiven

Obwohl gleichermaßen eingespannt und trotz möglicher Kompromisse in Einzelfragen streben Putin und Trump doch in entgegengesetzte Richtungen. Der eine, Putin, strebt seit seinem Amtsantritt 1999/2000 in die Richtung einer kooperativen Weltordnung, aus wohlverstandener eigener Schwäche  und aus bitterer historischer Erfahrung, wohin eine Überdehnung der eigenen Kräfte führt.

Der andere, Trump, getrieben von dem Bestreben, von globalen Verpflichtungen nicht länger, wie er sagt,  „ausgebeutet“ zu werden, setzt unter dem Motto „America first“ auf Parzellierung  gewachsener globaler Strukturen – bei gleichzeitiger Überhöhung seines und des US-Machtanspruches. Das setzt autoritäre und nationalistische Impulse frei.

Weit entfernt also davon in eine Richtung zu ziehen, obwohl in einem Gespann, gehen die Dynamiken Russlands und der USA extrem auseinander. Putin  orientiert auf Stabilisierung und Reform der nationalstaatlichen Ordnung, wie sie sich in den Vereinten Nationen herausgebildet hat und in ihrer Charta fixiert ist. Trump forciert bilaterale Beziehungen unter Führung der USA.

Damit setzt sich ins Extrem fort, was schon die Politik der letzten Jahre bestimmt hat. Sollte man die Situation, die so entsteht, in ein Bild bringen, so müsste man das einer Waage wählen, deren eine Seite sich senkt, während die andere sich hebt. Schauen wir im Detail.

 

Schrumpfen mit Trump?

Seit Jahren zielt die US  Strategie darauf die globale Vorherrschaft der USA nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ zu bewahren – und kann doch deren Verfall nicht  aufhalten. Bester Zeuge dafür ist der bekannte US-Stratege Zbigniew Brzezinski, in dessen Büchern die Stufen des Verfalls der US-Vormacht umso deutlicher hervortreten, je stärker er die Vorzüge dieser Macht hervorzuheben bestrebt ist – darin ein unfreiwilliger Vorbote Trumps, der jetzt auf den unteren Sprossen dieser Stufenleiter als Erbe erscheint:

Den Zusammenbruch der Sowjetunion begrüßt Brzezinski mit dem  Fanfarenruf des Siegers in dem Buch: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“[1]. Es erschien erstmals 1997, avancierte danach zum Weltbeststeller. In dem Buch wird das strategische Szenario entworfen, wie die USA die ihr in den Schoß gefallene Weltherrschaft  bewahren könnten, wenn sie dafür sorgten, dass in der Welt, insbesondere in Eurasien in Zukunft kein neuer Rivale sein Haupt erheben könne. Auf dieser Linie entwickelten die USA nach 1990/91 ihre Politik der Einkreisung Russlands.

Zehn Jahre später, 2006, schon wesentlich gedämpfter, folgt Brzezinskis erste Bilanz unter dem Titel: „The second chance“[2]. In diesem Buch schaut er auf die Präsidentschaften von Bush I, Clinton und Busch II zurück (so Brzezinskis Schreibweise).  Bush I – in Brzezinskis Charakteristik ein mittelmäßiger Verwalter, der nichts aus dem Sieg von 1990/91 gemacht habe, Clinton – ein Parvenü, der der Welt zu viel versprochen und dadurch amerikanisches Potential  leichtfertig verschleudert habe, Bush II  – ein politischer Hasardeur, der mit seinem brachialen, alleingängerischen „Krieg gegen den Terrorismus“ amerikanisches Ansehen in der Welt und dessen Vormachtstellung in krimineller Weise geschädigt habe. Zugleich habe er die Bildung der Bevölkerung sträflich vernachlässigt. Mit dem von ihm zurückgelassenen Bildungsniveau der US-Bevölkerung, so Brzezinski, sei keine Weltpolitik zu machen. 

Eine zweite  Chance für die in der Folge dieser drei Präsidenten geschwächte Weltmacht könne es nur geben, so Brzezinski, wenn das Land einen neuen Anlauf nähme, den „American way of life“ durch eine Bildungsoffensive im Innern und eine Bündnisoffensive nach außen zu erneuern. Barack Obamas Politik des „Yes we can“ war ein Kind dieser Kritik, eine Offensive des Lächelns bei gleichzeitiger Eskalation der US-Interventionen im Selbstmandat.

Noch ein Intervall später, 2013, im Vorjahr zum Ukrainischen Maidan, unter dem Titel „Strategic Vision, America and the crisis of global Power“[3]  sieht Brzezinski sich zu der Aussage gezwungen: „Angesichts des neuen dynamischen,  und international komplexen und politisch erwachenden Asien ist die neue Realität die, dass keine Macht versuchen kann – in Mackinders Worten[4] – Eurasien ‚zu beherrschen‘ und so die Welt zu ‚kommandieren‘.  Amerikas Rolle, besonders  nachdem es zwanzig Jahre vergeudet  hat (having wasted), muss jetzt sowohl subtiler als auch verantwortlicher gegenüber Asiens neuen Machtrealitäten sein. Herrschaft durch einen einzigen Staat, wie mächtig auch immer, ist angesichts des Hochkommens neuer regionaler Spieler (player) nicht länger möglich“. Nur unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, wiederholt Brzezinski beschwörend, könne dem  weiteren Niedergang der US-Vormacht entgegengewirkt werden.

Wie die Entwicklung zeigt, hat eine breiter angelegte Bündnispolitik  unter Obama auch nach Brzezinskis zweiter Ermahnung den weiteren Niedergang der US-Vormacht nicht aufhalten können, sondern mit der Politik des Regime Changes und der gezielten Tötung durch Drohnen noch tiefer in die Sackgasse des US-Alleingangs geführt. Darüber konnte auch Obamas aggressive Propaganda gegenüber dem angeblichen Kriegstreiber Russland nicht hinwegtäuschen. Das Ukrainische Abenteuer, wie auch der vorläufige Rückzug der USA aus Syrien haben vielmehr die zunehmende Schwäche der USA klar erkennen lassen.

Trump ist der Erbe  dieses innen- und außenpolitischen Niedergangs. Statt sich in ein erweitertes Bündnis der von Brzezinski beschworenen „Newcomer“ zur Herausbildung einer kooperativen Kraft einzugliedern, sucht er den Weg in die weitere Fraktionierung der internationalen Ordnung, die er, wie gesagt, als Last empfindet – in der irrigen Annahme Amerika auf diese Weise wieder groß machen zu können. Das geschieht ohne erkennbares Programm nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.

Im Gegensatz zu den zurzeit vor allem in Europa grassierenden Klagen, mit Trumps brachialem Motto werde die demokratische Tradition der „Pax Americana“ gebrochen, findet der unter diesem Schild bisher verdeckte Nationalismus der USA mit Trump lediglich seine unverhüllte Zuspitzung und Offenbarung. Die irritierte Empörung der atlantischen Partner der USA angesichts dieser Offenbarung des tatsächlichen Charakters der US-Politik lässt vor allem anderen eine Sorge erkennen, nämlich die, mit der Demaskierung der US-Politik zugleich selbst demaskiert zu werden.

 

… und wachsen mit Putin?

Demgegenüber Putin – ebenfalls Erbe, allerdings einer gegenläufigen Entwicklung. Sie steigt von Michail Gorbatschow, der ins europäische, über Boris Jelzin, der gleich ins amerikanische Haus einziehen wollte bis zu Putins und Medwedews immer aufs Neue wiederholtem Angebot auf, gemeinsam mit der NATO eine „Sicherheitsarchitektur“ von Wladiwostok bis Lissabon schaffen zu wollen . 

Auf dieser Linie ging es darum Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zu Kräften zu bringen. Dafür brauchte das Land eine Stärkung der internationalen Ordnung, wie sie von den Vereinten Nationen repräsentiert und in ihrer Charta beschrieben wird. Wohlverstanden im eigenen Interesse Russlands, aus eigener Schwäche, zum Schutz gegen die übermächtige Dominanz der USA.

Die Stationen dieses spät- und nachsowjetischen Restaurationsprozesses folgten nicht aus einem Programm der Revanche und der Re-Imperialisierung, wie vom Westen unterstellt, sondern aus den Tatsachen des für die Bevölkerung lebensbedrohlichen Zusammenbruchs der Sowjetunion und den blanken Notwendigkeiten einer Restauration der russischen Staatlichkeit, sprich fundamentaler sozialer Strukturen.   

Gorbatschow bat den Westen 1991 um Hilfe für die Verwirklichung seiner Reform des Sozialismus – die er, versteht sich, von den potentiellen Geldgebern nicht erhielt. Man schickte ihn vom Londoner G7-Treffen zum Scheitern nach Haus, während man Jelzin zu gleicher Zeit ermutigte und half, das Land für eine ökonomische und kulturelle Kolonisierung durch den Westen zu öffnen.

Erst mit Wladimir Putin kehrte so etwas wie die Besinnung Russlands auf sich selbst in die russische Gesellschaft zurück. Putin formulierte bei seinem Amtsantritt zwei grundlegende Ziele, die er danach beharrlich verfolgte und bis heute verfolgt: Russlands Staatlichkeit wieder aufzubauen und Russland entsprechend seiner gewachsenen historischen Rolle wieder zum Integrationsknoten Eurasiens zu machen.

Mit diesem Arbeitsprogramm, seinerzeit unprätentiös als einfache Internetmeldung der Öffentlichkeit bekanntgegeben, wandte er sich zunächst der  Stabilisierung der inneren Verhältnisse des Landes zu, verpflichtete die Oligarchen ihren im Zuge der Privatisierung des Volksvermögens gegeneinander geführten Krieg einzustellen und sich dem Wiederaufbau des Landes zuzuwenden. Das bedeutete für die neuen Reichen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, wieder in minimale kommunale und soziale Verpflichtungen einzusteigen, ihre privaten Vermögen in eine korporative Führung zu überführen, die sich staatlichen Regeln zu unterwerfen hatte. 

Kurz, es war ein Aufbauprogramm. Wer nicht wollte, wurde  beiseite gedrängt. Man erinnere sich an die Namen Wladimir Gussinski, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, die unter Jelzin – neben dem IWF – zu den unerklärten Herrschern Russland aufgestiegen waren.

Der eigentliche Befreiungsschlag Putins bestand jedoch in der Aufkündigung der von Jelzin eingegangenen Abhängigkeit von den Milliardenkrediten des IWF, darauf folgend auch noch in der Rückzahlung der sowjetischen Altschulden an die westlichen Gläubiger, die an der Rückzahlung überhaupt kein Interesse hatten, sondern es lieber gesehen hätten, die Schulden wachsen zu lassen.

Nach der inneren Konsolidierung trug Putin den Anspruch seines Krisenmanagements in die Außenpolitik, um dort der Einkreisung zu begegnen. Von da an ging es Zug um Zug entsprechend den allmählich wachsenden Kräften des neuen Russland.

2007: Putins Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“, bei dem er der aggressiven Militarisierung der Weltpolitik durch die USA, sowie der ebenso aggressiven Ost-Erweiterungspolitik der EU und der NATO erstmals weltöffentlich entgegentrat – ohne dass er zu der Zeit ernst genommen worden wäre. Die westlichen Medien ließen ihn vielmehr als Möchtegern Kraftprotz erscheinen.

Dann aber 2008: Nach der Serie „bunter Revolutionen“ und angesichts neuer Ansätze der Ost-Erweiterung von NATO und EU in die Ukraine, über Georgien und darüber hinaus, zieht Russland die gelbe Karte gegen die Provokationen des Georgischen Präsidenten Saakaschwili, der sich Ossetien einverleiben will.

In der Folge der Georgischen Krise, ebenfalls 2008, entstehen erste Ansätze zur Gründung der Eurasischen Union – übrigens nicht von Putin, sondern vom Kasachischen Präsidenten Nasarbajew angestoßen. 2010 folgt die aktive Erneuerung des Angebotes an die NATO zur Bildung einer gemeinsamen „Sicherheitszone“. 2013 schlägt Russland vor, das Problem der Ost-West-Gespaltenheit der Ukraine zwischen europäischer und eurasischer Union einvernehmlich in Gesprächen zu lösen. Keines dieser Angebote erschien dem Westen wert darauf einzugehen.

Mit dem vom Westen betriebenen Regimewechsel in der Ukraine 2014 ging Russland vom passiven Widerstand gegen die westliche Einkreisungspolitik zum aktiven über, indem es das Referendum der Bevölkerung der Krim zur Frage einer Rückkehr der Halbinsel nach Russland aktiv unterstützte und die Krim in den russischen Staatsbestand aufnahm. Zugleich förderte Russland die Bestrebungen im Osten der Ukraine nach Autonomie – lehnte von dort ausgehende Beitrittswünsche allerdings ab, ja, unterband sogar den Aufbau einer eigenen Staatlichkeit des Gebietes als „Novo Rossia“.

Mit dem Eingreifen  russischer Bomber auf Seiten Baschar al Assads in Syrien und gegen den „Islamischen Staat“ , das zum vorläufigen Rückzug der USA aus deren Interventionsreihe in Mesopotamien führte, fand das russische Krisenmanagement seinen vorläufigen Höhepunkt. Ergebnis ist das gegenwärtige Krisenpatt zwischen den USA und Russland, wie es sich in den von der Türkei, Russland und Iran initiierten Waffenstillstandsverhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana niederschlug, an denen die USA nur als Beobachter teilnahmen. Was daraus folgt, ist offen.

 

Patt – aber gemeinsame Interessen?

So stehen sich diese beiden globalen „Partner“ heute gegenüber. Wenn jedoch von gemeinsamen Interessen, wenn gar von gemeinsamer Sprache der Präsidenten die Rede ist, wenn gesagt wird, Trumps  „America first“ bedeute das Gleiche wie Putins seinerzeit erklärte Absicht, Russland wieder aufbauen zu wollen,  wenn gar gesagt wird, beide seien gleich unberechenbar, oder auch, jetzt würden die USA genauso unberechenbar wie vorher Putin, dann ist das nichts weiter als Augenwischerei, im harmlosesten Fall einfach Unkenntnis historischer Tatsachen oder Dummheit. 

Fakt ist die unübersehbare Kontinuität der Putinschen Politik, der seit seinem Amtsantritt vollkommen berechenbar Schritt für Schritt von der Stabilisierung der innenpolitischen Situation Russlands zur Stabilisierung der globalen Beziehungen fortgeschritten ist – während die USA im gleichen Maßstab ihre Berechenbarkeit verloren haben und mit Trump jetzt gänzlich zu verlieren sich anschicken.

Ergebnis ist, dass die beiden großen Mächte, die heute – neben China als bisher stillem Begleiter – die Weltpolitik wesentlich bestimmen, auf polaren Seiten ein und derselben gegenwärtigen Entwicklung stehen, eben als ein Gespann. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, wenn Trump die Weltordnung in nationale Fragmente zerlegen, der andere, Putin,  die Souveränität des Nationalstaates als Voraussetzung für Stabilität erhalten will.

Putin und Trump treffen an ein und demselben kranken Punkt der gegenwärtigen internationalen Weltordnung aufeinander, beide allerdings letztlich, wenn auch auf gegensätzlichen Seiten, auf löcherigem Boden, denn die heutige Form der globalen Nationalstaatsordnung, manifestiert in den vereinten Nationen, die der eine erhalten, der andere noch weiter als bisher beiseiteschieben will, ist angesichts der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technik und Kultur so oder so überlebt. Sie bedarf nicht nur der Reform, sie bedarf einer zeitgemäßen Weiterentwicklung.

Unter nationalstaatlicher Grundorganisation des heutigen Staatenlebens, um das hier in aller Kürze zu verdeutlichen, ist das im 19. Jahrhundert entstandene Credo zu verstehen, nach dem alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens von der Wirtschaft bis zur Kultur durch den nationalen Einheitsstaat unter staatlichem Gewaltmonopol zusammengefasst und verwaltet und gegenüber allen anderen Staaten zur Geltung gebracht werden, mit denen jeder Staat für sich Arbeitskräfte, Ressourcen und Märkte mit anderen teilen muss.

Kurz gesagt: was des einen Staates Gewinn, ist  zwangsläufig des anderen Verlust. Kriege sind bei dieser Ordnung umso unvermeidlicher, je größer die Anzahl der Nationalstaaten wird, die sich in dieser Weise den globalen Kuchen teilen müssen.

Beim Stand der Dinge ist die Politik, die Trump einzuschlagen gedenkt allerdings die gefährlichere, insofern sie die schon von seinen Vorgängern betriebene Fraktionierung dieser Ordnung unter dem Slogan „America first“ ohne Rücksicht auf zukünftige Folgen, nur getrieben vom spontanen Abwärtstrend der US-Supermacht, wie er sich in dem Weckruf „America first“ ausdrückt, ins Extrem zu treiben antritt. Putins Strategie, insofern sie das eigene Überleben nur im Rahmen eines globalen Krisenmanagements begreift, beinhaltet demgegenüber immerhin die Chance, so etwas wie einen vorübergehenden globalen Stabilitätsrahmen herzustellen,  der ein Sprungbrett für eine Ordnung bilden könnte, die über den Nationalstaat als Grundorganisation  des heutigen Staatenlebens hinausweisen – könnte.

 

Vom Zweier- zum Dreierpatt

Dass die Frage der heute anstehenden Neuordnung letztlich nicht allein zwischen den beiden Polen USA und Russland ausgetragen wird, ist dem bisher Gesagten schließlich noch hinzuzufügen. Zwar treten gewisse historische Linien aus der Vergessenheit der Geschichte wieder hervor, so die anglo-amerikanische, die aus der Tradition des Britischen Commonwealth heraus einem eigenen Kurs gegenüber Mitteleuropa und Eurasien folgt. Das ist eine Spur, die sich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über den zweiten bis zu den jetzt wieder hervortretenden Konstellationen  zieht. Sie  zielt auf eine Schwächung Europas, genauer der europäischen Mitte, insbesondere Deutschlands, noch  genauer und aktuell gesagt auf die Verhinderung einer möglichen deutsch-russischen Achse. Der Austritt Britanniens aus der EU und seine neue Nähe zu den USA unter Trump lässt diese Linie nach Brexit und US-Präsidentenwechsel unmissverständlich hervortreten.

Die historischen Parallelen sind allerdings nur noch bedingt gültig, eine einfache Wiederholung historischer Konstellationen wird es nicht geben können, weil inzwischen – wie schon von Brzezinski unter dem Stichwort der tendenziellen West-Ost-Verschiebung der globalen Machtzentren richtig beschrieben  – andere Kräfte in der Welt aufgetreten sind, insbesondere China. Damit ist der historische Impuls des Commonwealth nicht mehr das einzige bestimmende Element in der Weltgeschichte und auch nicht in der Beziehung zwischen den USA und Britannien und kann es, wenn kein Wunder geschieht, auch nicht wieder werden.

Ein Dreiecksverhältnis ist entstanden, bestehend aus Russland plus China, Europa und den USA, in das sich alle anderen Länder der Welt einfügen müssen. Das könnte dem zwischen Russland und USA entstandenen Patt vorübergehend  eine festere Haltbarkeit geben.

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Könnte,  wenn …

Allerdings kann selbst in einer solchen Dreiecksbeziehung nicht mehr entstehen als eben ein vorübergehendes Stillhalteabkommen. Warum? Weil die Grundfragen der gegenwärtigen Entwicklung, durch Krisenmanagement allein nicht zu lösen sind, solange die drei, und nicht nur die drei, sondern alle Mächte der Welt, alle heute herrschenden Kräfte der Welt, an der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Expansion festhalten, die ja ihrerseits letztlich Ursache der Krisenerscheinungen ist, wie wir sie heute haben.

Nicht oft genug kann wiederholt werden: Wir leben in einer Welt, in der alle bisherigen Versuche das Paradies auf Erden herzustellen gescheitert sind. Das betrifft das Glücksversprechen des Kapitalismus ebenso wie das des realen Sozialismus. Die bisherige Form der Globalisierung erweist sich darüber hinaus auch nicht als Lösung, sondern als Verschärfung dieser Ergebnisse. Die Frage stellt sich also, wie wollen wir leben, wenn nicht so, aber auch nicht so?

Solange eine Antwort auf diese Frage nicht über die Reduzierung des Menschen auf einen „Homo Konsumentis“ hinauskommt, der nur in Kategorien beständiger Expansion, wirtschaftlich gesprochen „Wachstum“ denken und leben kann, solange keine andere Weltorientierung, kein anderes Verständnis vom Menschen in der Welt entwickelt worden ist, das ihn wieder als kosmisches Ganzes begreift, solange ist eine weitere Zuspitzung der genannten Widersprüche unumgänglich, in welcher Konstellation auch immer.  

Das betrifft auch die nationale Frage. Zwar könnte die Achtung der internationalen Ordnung, wie sie die Charta  der Vereinten Nationen enthält, einen Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen abgeben, wenn sich alle Länder darauf als zur Zeit noch verbindlichen Rahmen einigen könnten, und niemand total quer schösse, aber – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – angesichts der globalen Verflechtung unserer heutigen Weltwirtschaft, Technik und Kultur ist die nationale Ordnung des Völkerlebens, ist die nationale Organisation, konkreter gesprochen, der nationale Zugriff auf das Feld der Ressourcen etc., ein auslaufendes Modell.

Die heute anstehenden Aufgaben, allen voran die Bewirtschaftung von Ressourcen – als Beispiel seien nur Öl und Internet genannt – können nur dann befriedigend und friedlich gelöst werden, wenn dies in nicht national begrenzter gemeinschaftsdienlicher Verwaltung  geschieht. Das allein kann eine Entwicklung öffnen, die im Rahmen der allgemeinen Nutzung zugleich zu der existenziell notwendigen Wiederbelebung lokaler Räume durch miteinander verbundene größere oder kleinere Bedarfsgemeinschaften führt.

Gebraucht wird eine Differenzierung gesellschaftlicher Aktivitäten, bei welcher der einzelne Mensch zugleich selbstorganisiert und in kooperativer Gemeinschaft leben kann, ohne von einem Staatsmonopol oder gar einem globalen Hegemons auf einen bloßen Konsumenten reduziert und zum Schräubchen fremder Interessen erniedrigt  zu werden.  

Mögliche Ansätze zu Entwicklungen in diese Richtung gibt es viele – globale,  regionale und lokale. Nach dem ersten, ebenso nach dem zweiten Weltkrieg und heute. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und wird viel ausprobiert . Eine Verwirklichung im großen Maßstab steht jedoch noch aus. Ein vorübergehendes Patt der heutigen Großmächte und ihrer politischen wie auch persönlichen „Follower“ könnte eine Chance sein, einen neuen Anlauf zur Förderung solcher Alternativen zu entwickeln. Klar ist jedoch: Die Rückführung der jetzigen globalen in bi-nationale Beziehungen unter der Dominanz eines Hegemons, wie das von der amerikanischen Politik, genauer von ihrem gegenwärtigen Präsidenten zurzeit anvisiert wird, ist nicht dazu geeignet, Alternativen auch nur ansatzweise zu fördern. Sie läuft auf eine Zertrümmerung solcher Ansätze hinaus. Möglicherweise ist das auch ein Weg zur Erkenntnis, aber es ist der schlechtere Weg.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu  das Video:

http://www.russland.news/putin-und-trump-ein-gespann-video

 

 

und das Buch:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Eigenverlag, Bestellung über: www.kai-ehlers.de

 

Außerdem Vortragsangebote, die Sie buchen können:

Siehe dazu auf der Eingangsseite: VORTRÄGE BUCHEN

[1] Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht, 1996 bei Fischer, neu herausgegeben bei Kopp Verlag, 2015

[2] Brzezinski, Zbigniew, Second Chance, 2006, English, Basic books, 2007

[3] Brzezinski, Zbigniew, Strategic vision, America and the crisis of global power, English, S. 131, Basic Books,

[4] Mackinder, Halford, 1861 – 1947, britischer Geopolitiker, Begründer Theorie des „Herzlandes“

Syrien – Regime Change der globalen Art?

Syrien, das Land des mesopotamischen Halbmonds – Wiege der europäischen, der westlichen Kultur. Wird es auch ihr Sterbebett sein, wie manche Zeitgenossen und Zeitgenossinnen schon fürchten? Oder gibt es andere Aussichten?

Vieles wurde dazu schon gesagt. Das Unbestreitbarste sei hier vorangestellt, nämlich: Dass es sich bei dem, was gegenwärtig in Syrien geschieht, nicht um einen Bürgerkrieg, sondern um einen Stellvertreterkrieg handelt. Diese Tatsache bedarf keiner neuen Beweise mehr. Berichte und Analysen wie die der Ethnologin, Islam- und Politikwissenschaftlerin Karin Leukefeld, die seit 2000 als freie Journalistin aus dem Nahen Osten, direkt aus Syrien berichtet, sind für jeden verfügbar.[1] Mehr als ein Dutzend Kriegsparteien, 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land, das dem Terror preisgegeben ist, das sind Tatsachen, die für sich sprechen. Dass es nicht um das Wohl der dort lebenden Menschen, sondern um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist ebenfalls klar.

Wichtig zu erkennen sind aber auch die inneren Probleme Syriens, die aus der Lage des Landes zwischen europäischer Orientierung als jungem säkularem, aus der Willkür nachkolonialer Grenzziehungen hervorgegangenem Nationalstaat und seinem traditionellen, nach umfassender geographischer und ideologischer Ganzheit strebenden arabisch-muslimischen Umfeld, speziell den Aktivitäten der über Syrien hinaus organisierten Muslimbrüderschaft erwachsen.

Es waren diese Widersprüche, die Bashar al-Assads Reformansatz, mit dem er seine Regierung im Jahre 200O antrat, in bewaffnete Auseinandersetzungen abgleiten ließen. Die eben zugelassene Opposition spaltete sich schon auf ihrem ersten legalen Kongress 2011 in einen gewaltfreien Teil und militante Widerständler aus dem fundamentalistischen Milieu, die von Anfang an von außerhalb Syriens unterstützt wurden. Die Regierung Assads sah sich in Kämpfe verwickelt und griff hart durch.  Zu einem Krieg, der das Land zerfetzt, hätte die Situation ohne Interventionen von außen jedoch nicht führen müssen.

Dazu noch einmal Karin Leukefeld, die aus intimer Kenntnis des Landes versichert: „Während die regionalen und internationalen Akteure Syrien nach ihren Vorstellungen und Interessen aufteilen, wollen die Syrer ihr Land und ihre Gesellschaft  heilen und wieder aufbauen. Ließe man sie gewähren, könnten sie in einem halben Jahr viele Fronten beruhigen, ist ein UN-Diplomat überzeugt, mit dem ich mehrmals gesprochen habe. Es sind die ausländischen Einflüsse, die sie daran hindern.“

Dies alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden, zumal Regierung und Medien, einschließlich Wikipedia die Version des Syrischen Krieges als Bürgerkrieg  entgegen jeder inzwischen nicht mehr zu leugnenden Offensichtlichkeit weiter aufrechterhalten. Selbst die kürzlich erfolgte öffentliche Anweisung Obamas, die Nußra-Front, also eine der aktivsten „Rebellen“-Gruppen, wie sie in westlichen Medien genannt werden, nicht weiter zu unterstützen, führt nicht zu einem Eingeständnis, dass diese Gruppe und mit ihr andere „Rebellen“ bisher als Instrumente der Interventionen  benutzt wurden. Und unerwähnt bleibt, dass diese Politik zu einer Ausbreitung des Terrorismus bis in die Zusammenrottung des „Islamischen Staates“ auf der halben Fläche des syrischen Landes und Teilen des Irak geführt hat. 

 

Die andere Dimension

Etwas Drittes rückt jedoch in den aktuellen Absprachen zwischen den gegenwärtigen Hauptantagonisten USA und Russland um einen Waffenstillstand in Syrien inzwischen mehr und mehr zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde dieses Andere durch einen demonstrativen öffentlichen Auftritt Bashar al-Assads im September 2016. Unmittelbar, nachdem die USA und Russland ihre Absicht öffentlich gemacht hatten, ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen, erklärte er, der syrische Staat sei „entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die Syrischen Streitkräfte würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“ fortsetzen.[2]

Der Auftritt verblüffte.  Bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass in den  Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt worden war,  welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende zugedacht ist,  obwohl in den Jahren und noch in den Wochen zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten worden war.

Die russische Position war bis dahin eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen. Alles andere muss notwendig ins Chaos führen.

Ebenso eindeutig war die amerikanische, in ihrem Gefolge westliche Position: Assad muss zurücktreten, um Raum zu geben für eine demokratische Neuordnung  und Stabilisierung Syriens und darüber hinaus des mittleren Ostens.    

Weniger bekannt war, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier überraschte ein von der „Deutschen Welle“ in die Öffentlichkeit gebrachtes Interview, das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung,  zu der Frage gegeben hatte, wie er zu der zu erwartenden Annäherung stehe.

Assads Antwort war deutlich, als er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf einen Nenner brachte, den er „value and deal“ nannte – „Value“ als Motivation für die russische, „Deal“ für die amerikanische Intervention.

Anders als die Politik der USA, so erläuterte die „Deutsche Welle“ Assads Sicht, beruhe  Russlands  Politik nicht darauf, „Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten“. Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne.

Die Russen, so Assad selbst, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.[3]

 

Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Wladimir Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Schon beinahe gebetsmühlenartig klang das, sich in Aufritten führender russischer Politiker wiederholende Angebot zur gemeinsamen Schaffung einer „Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis Lissabon“.  Putin „schockierte“ damit 2007 die sog. Sicherheitskonferenz von München; Dimitri Medwedew wiederholte das Angebot auf der NATO-Konferenz von Lissabon 2010. Kern war immer die Stärkung der UNO und der KSZE als organisatorisches Rückgrat einer solchen Sicherheits-Struktur auf der Basis einer Anerkennung  der Souveränität von Nationen als verbindliche globale  Grund-Ordnung – mit dem Ziel einer Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen.   

In seiner letzten großen Rede auf dem 13. Waldai-Forum vom 27. Oktober 2016 unterstrich Wladimir Putin diese Position Russlands noch einmal: „Für uns gibt es keinen Zweifel, dass die Souveränität die zentrale Idee des gesamten Systems der internationalen Beziehungen ist.  Ihre Anerkennung und  ihre Festigung  wird helfen Frieden und Stabilität zu sichern  sowohl  auf internationaler wie auf nationaler Ebene.“

Er beließ es nicht bei dieser allgemeinen Feststellung, sondern konkretisierte: „Man muss  der internationalen Agenda die Aufgabe hinzufügen den Ländern des Mittleren Ostens dabei zu helfen, eine nachhaltige Staatlichkeit, Ökonomie und soziale Sphäre wieder aufzubauen. Das  ungeheure Ausmaß an Zerstörung erfordert die Aufstellung eines langfristigen Programms, eine Art Marshall-Plan, um die von Krieg und Konflikten zerrissenen Gebiete wieder zu beleben. Russland ist unbedingt willens sich aktiv an solchen gemeinschaftlichen Bemühungen zu beteiligen.“[4]

 

USA: Spiegelverkehrt

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nahmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung  zu betreiben.

Diese Politk ist durch das unter G.W. Bush entwickelte „Project of a new American century“[5] und das daran anschließende weiterführende Projekt eines „Greater Middle East“ [6] mit dem darin nicht misszuverstehenden Aktionsterminus der „kreativen Zerstörung“, schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden.

Beide Projekte entstanden nicht etwa aus politischer Not, etwa um ein Chaos im Nahen Osten zu befrieden, sondern gingen aus der Schule des bekannten US-Strategen Zbigniew Brzezinski hervor,  der den nah-östlichen zusammen mit dem zentralasiatischen Raum in seinen Skizzen zur Erhaltung der US-Vorherrschaft als „Eurasischen Balkan“ definiert hatte. Die schwächeren Länder darin bezeichnete er als „Brückenkopf“ für den Zugriff der USA auf die Rohstoffvorkommen dieses Gebietes und zur Stabilisierung der US-Vorherrschaft, insbesondere zur Eindämmung russischen Einflusses.[7] Auch dies ist sattsam bekannt.

 

Syrien letzte Station

Syrien war auf dieser Line die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Am 18. August 2011 forderte Obama Assad öffentlich zum Rücktritt auf: „Die Vereinigten Staaten werden vom Streben der syrischen Bevölkerung nach einem friedlichen Übergang zur Demokratie inspiriert… Die  Zukunft Syriens muss von seiner Bevölkerung bestimmt werden, aber Präsident Bashar al-Assad steht ihr im Weg. … Die Vereinigten Staaten können und werden Syrien diesen Wandel nicht diktieren. Es liegt nun in der Hand der syrischen Bevölkerung, ihre Politiker selbst zu wählen, und wir haben den starken Wunsch der Menschen vernommen, dass es in ihrer Bewegung keinen Eingriff von außen geben soll. Die Vereinigten Staaten werden Bestrebungen vorantreiben, die ein demokratisches und gerechtes Syrien für alle Bürgerinnen und Bürger des Landes hervorbringen. Wir werden einen derartigen Ausgang der Ereignisse unterstützen, indem wir Präsident Assad dazu drängen, diesem Wandel nicht mehr im Wege zu stehen, und indem wir uns zusammen mit der internationalen Gemeinschaft für die allgemeinen Rechte der syrischen Bevölkerung einsetzen.[8]

Zu  welchem Wandel die Unterstützung der USA geführt hat, muss hier nicht noch einmal ausgeführt werden.  Festzuhalten ist nur, dass Obama sich bis heute nicht von dem Aufruf gelöst hat. Was sein Nachfolger tun wird, ist offen.

 

Wendepunkt Libyen

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war das für Russland Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht,  Russland ist inzwischen auch soweit wieder zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegen zu treten.

Dahinter werden selbstverständlich auch neue Konstellationen im globalen Kräfteverhältnis sichtbar: China, Indien, Iran, Türkei, Südafrika, Südamerika, Saudi-Arabien, die Staaten der EU, Kanada und kleinere Mitläufer – alle interessiert an der  Ausweitung ihrer Spielräume durch eine Zähmung der USA, nicht wenige von ihnen wie die Staaten der EU, wie Iran,  die Türkei, Saudi-Arabien, Quatar, Israel direkt oder indirekt in die Kriegshandlungen auf dem syrischen Boden involviert.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende„ herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder schwenken die USA auf die Linie Russlands ein, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und  Syriens erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt würde. 

 

Noch einmal Assad

Unter dem Eindruck der Verunsicherung, die von dem Ergebnis der US-Wahl ausging, bekräftigte Assad im Gespräch mit dem Portugiesischen  Fernsehens (RTP TV) im November 2016 noch einmal seine Position.[9]

Drei Passagen dieses äußerst lesenswerten Interviews sollen hier vorgestellt werden:

Erstens: Was er dazu sage, dass Russland, der Iran und die Hizbollah an der Seite der syrischen Armee im Einsatz seien.

Assad: „Sie sind hier, weil sie wichtige Hilfe anbieten konnten, denn in der Situation, der wir uns jetzt gegenübersehen, geht es nicht nur um ein paar Terroristen innerhalb Syriens: es ist wie ein internationaler Krieg gegen Syrien. Diese Terroristen sind von zig ausländischen Staaten unterstützt  worden, so dass Syrien nicht in der Lage gewesen wäre ohne Hilfe seiner Freunden dieser Art des Krieges zu begegnen.“[10]

Zweitens: Ob er nicht fürchte in Abhängigkeit von Putin zu geraten:

Assad: „Nein, erstens, wir sind vollkommen frei, nicht teilweise, vollkommen frei, in Bezug auf alles, was Syrien betrifft. Zweitens, was wichtiger ist oder wenigstens so wichtig, wie der erste Teil oder der erste Faktor, ist die Tatsache, dass die Russen  ihre Politik immer auf Werten aufbauen, und diese Werte sind die Souveränität anderer Länder, das internationale Recht, der Respekt für andere Völker, oder Kulturen, so dass sie in nichts intervenieren, was die syrische Zunft oder das Syrische Volk betrifft.“ [11]

Drittens: Ob er der Ansicht des designierten neuen UN-Generalsekretärs António Guterres zustimmen könne, dass Frieden oberste Priorität für Syrien habe:

 

Assad: „Unbedingt. Natürlich. Es  ist seine Priorität, und natürlich ist es unsere Priorität, das ist selbstverständlich. Es ist nicht nur unsere Priorität; es ist eine Priorität des Mittleren Ostens, und wenn der Mittlere Osten stabil ist, ist der Rest der Welt stabil, denn der Mittlere Osten ist das Herz der Welt, geografisch und geopolitisch, und Syrien  ist das Herz des Mittleren Ostens, geografisch und geopolitisch. Wir sind die Bruchlinie; wenn man diese Bruchlinie nicht beachtet, wird man ein Erbeben bekommen, das ist das, was wir immer gesagt haben. Darum ist diese Priorität  aus unserer Sicht hundertprozentig korrekt, und wir sind bereit  in jeder Weise zu kooperieren, um Stabilität in Syrien zu erreichen, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Interessen des Landes und des Willens des Syrischen Bevölkerung.“ [12]

 

Treffender lässt sich die Bedeutung des syrischen Krieges kaum noch beschreiben.

 

 

Souveränität für alle?

Hier erhebt sich allerdings die weiter führende Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe oder eines Volkes von den Vertreten des Souveränitätsprinzips die gleiche  Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das vor allem die Kurden, die heute in drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Rojawa“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Rojawa“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre kommunitäre Verfassung, die auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, insbesondere auch der Frauen  aufbaut, nicht nur zu einem zukunftsweisenden Modell für ganz Syrien werden. Es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für „Rojawa“ gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, sie vorübergehend dulden wie Russland  oder sie gar, wie die Türkei,  als „Terroristen“ bekämpfen.

 

„Islamischer Staat“ als Teil des Problems

Zum Nachdenken in diesem Zusammenhang fordert heraus, was Ibrahim al Dschaafari, Außenminister des Irak gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ äußerste, als er dieser Tage zu den „Fortschritten bei der Befreiung Mossuls“ befragt wurde:

„Es ist Hass entstanden bei den jungen Menschen in der Dritten Welt, „erklärte er. „Sie glauben, sie leben in einer Welt, die sehr reich ist, sie aber leben in armen Verhältnissen. Und sie sehen den Wohlstand,  und alle die Rechte der Europäer und Amerikaner.  Es gibt eine ‚Nordwelt‘, wo 20 Prozent der Menschen leben, denen 80 Prozent des Vermögens gehört. Und eine ‚Südwelt‘, wo 80 Prozent der Menschen leben, denen aber nur 20 Prozent gehören.“ 
Und er mahnt: „Wir müssen alle zusammen gegen den Terrorismus kämpfen. Nicht jeder allein für sich, sondern  alle Menschen dieser Erde. Alle  Länder sind vom IS-Terror  betroffen. Wenn die Dschihadisten  aus dem Irak oder aus Syrien oder Ägypten  vertrieben werden, dann werden sie woanders hingehen, wo es stabil ist. Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu einem Weltkrieg geworden. Im ersten Weltkrieg bekämpften sich nur die Militärs, im Zweiten Weltkrieg gab es große zivile Opfer. Dieser dritte Weltkrieg ist ein neuer Krieg. Er richtet sich allein gegen Zivilisten.“[13]

 

Und, darf man zustimmend ergänzen, auch wenn manches in Dschaafaris Text Kritik herausfordert, etwa seine Sicht auf die Weltkriege: Hass ist nicht nur in der islamischen Welt entstanden und die Welle des Aufruhrs, die auf die „entwickelte Welt“ zurollt, kommt nicht nur von außen, sondern auch von innen.

Der Krieg in Syrien, heißt das, ist nicht nur mehr als ein Bürgerkrieg, er ist aber auch nicht nur ein Stellvertreterkrieg, er ist ein Weltordnungskrieg.  Es geht um nicht weniger als um die Frage: Wie wollen und wie können wir morgen in einer Welt leben,  die immer mehr Menschen, hervorbringt, die sich nicht als Überflüssige an den Rand drängen lassen wollen.

 

Kampf um eine neue Ordnung

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität,  Selbstbestimmungsrecht der Völker und Selbstbestimmungsrecht des Individuums in ein neues Verhältnis zueinander bringt.

In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht, klar gesprochen, dem Modell des amerikanisch dominierten Finanzkapitalismus unterworfen ist.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiter führende Frage, WIE das geschieht.  Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation oder gar – darüber hinaus – durch neue Formen des Arbeitens und miteinander Lebens, die über   die heute noch herrschenden Ausbeutungsverhältnisse hinausführen.

Vor diesem Hintergrund ist die Zurückweisung der von den USA betriebenen „kreativen Zerstörung“ und deren Ablösung durch eine Orientierung auf Stabilität und strikte Einhaltung der nationalen Souveränität im Rahmen einer reformierten UN heute die rationalste Alternative, eine Art Minimalkonsens in Form eines globalen Stabilitäts- und Entwicklungspaktes – wenn sich nicht nur eine gewaltsame Ablösung des bisherigen Hegemons durch einen anderen vollziehen soll.  Ein solcher Pakt könnte den Rahmen für die Bearbeitung der anstehenden Fragen abgeben. Eine Lösung ist er noch nicht.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

 [1] U.a. Kasseler Friedensforum, 30.11.2015,  siehe auch ihr Buch: “Flächenbrand: Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat“, Papyrossa, (Neue Kleine Bibliothek) 20. Februar 2016

[2] Zitiert nach FAZ, 13.09.2016

[3] https://www.google.de/?gws_rd=cr&ei=bpvZV-vPLq-W6QSL8KbADw#q=DW+USA+wollen+in+Syrien+mit+Russland+zusammenarbeiten

[4] Präsident Russlands, Protokoll des 13. Waldai-Treffens: http://en.kremlin.ru/events/president/news/53151 (Englisch)

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fraum_Mittlerer_Osten

[7] Brzezinski, Zbigniew: „Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, Fischer tb 14358, 1999, Darin insbesondere der Abschnitt „Geostrategische  Akteure und geopolitische Dreh- und Angelpunkte“, sowie das Kapitel “Eurasischer Balkan“.

[8] http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien/obama.html

[9]  Portugiesisches Fernsehen, RTP TV, 16. November2016 , Syrien Arab News Agency (SANA), http://sana.sy/en/?p=93484

[10] ebenda, Frage 5

[11] ebenda, Frage 7

[12] RTP TV Channek, 16. November,  2016

[13] FAZ, Montag, 21.11.2016 , S. 2: „Wir brauchen einen Marshallplan für Mossul“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in „Hintergrund“ 1/2017

 

Globales Zwischenhoch: Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum?

Die Augen müsse man sich reiben, alles werde auf den Kopf gestellt, konnte man dieser Tage in dem führenden Blatt der deutschen Konservativen, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.06.2016 lesen.

Empörung breitete sich auf den Bonner und Brüsseler Etagen aus. Einen „ungeheuerlichen Vorwurf“  erkannte der  Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Eckpfeiler der deutschen, der europäischen Außenpolitik, gar der NATO-Strategie sah man bedroht. Man wolle doch nur die Sicherheit an Russlands Grenzen sichern; ein anderes Interesse als Friedenserhaltung verfolge die NATO nicht, schob Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag darauf nach.

 

Putins Angebot: Weg mit den Sanktionen

Was war geschehen? Auf dem 20. Petersburger Wirtschaftsforum vom 17.06.2016, zu dem rund 500  Vertreter und Vertreterinnen von ausländischen Unternehmen aus 60 Ländern, vornehmlich aus dem Nahen Osten und Asien, aber auch aus den USA und der EU angereist waren, unter ihnen auch der Präsident der Europäischen Kommission der EU, Jean-Claude Juncker, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Gäste aus der EU mit dem Angebot überrascht, die von Russland als Reaktion auf die vom Westen nach den Krim-Ereignissen gegenüber Russland verhängten Sanktionen von Russlands Seite her aufzuheben. Gemeinsam könne  man an den Aufbau einer eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft  gehen  – wenn Russland sich darauf verlassen könne, anschließend nicht (man konnte das feine ‚wieder‘ mit heraushören) betrogen zu werden.

Und nicht nur das: Nicht nur lobte UN-Präsident Ban Ki-Moon Gastgeber Putin für seinen mutigen Schritt und dankte für sein Engagement in Syrien, nicht nur kniff sich Juncker eine Zustimmung zu dieser Perspektive ab, vorausgesetzt, dass  Russland sich weiter kooperativ zeige, nein, allen voran nutzte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Gut-Wetter-Lücke zwischen dem Treffen in St. Petersburg und der für den 8. und 9. Juli bevorstehenden NATO-Tagung,  mit Hinweis auf das zur Zeit in Polen durchgeführte  Nato-Groß-Manöver „Anaconda“ in der „Bild am Sonntag“ öffentlich zu mahnen: „Was wir jetzt nicht tun sollten, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeschrei  die Lage weiter anzuheizen.“

 

Aber war denn nicht alles ganz anders …

Aber die  so Ermahnten können es einfach nicht glauben. War denn nicht alles ganz anders? Werden damit nicht alle Tatsachen auf den Kopf gestellt? War es nicht so, wie man es in der FAZ vom 20.Juli lesen konnte ? „Ursache für die Eiszeit  ist der Verstoß Russlands gegen Prinzipien,  die jahrzehntelang für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt hatten. Es war nicht die Nato, sondern der Kreml, der die Krim okkupierte und der in der Ostukraine einen (Sitz-)Krieg führt. Es ist nicht die Nato, sondern Moskau,  vor dem sich  die baltischen Republiken und Polen fürchten,  weswegen sie aus freien Stücken der atlantischen Allianz beitraten. Bis zur Annexion der Krim spielte die Nato militärisch in diesen Ländern keine Rolle. Auch die vier Bataillone, die dort stationiert werden sollen,  stellen keine Bedrohung für Russland dar, das auf seiner Seite der Grenze Divisionen stehen hat.  Steinmeier spricht zu Recht  von ‚symbolischen Panzerparaden‘. Die Nato-Verbände haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, das der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe.  Und dass die NATO einen Angriff  auf eines ihrer Mitglieder  als Angriff auf alle betrachten würde.“

Bemerkenswert! Wirklich bemerkenswert diese Sicht! Man kann die Welt doch von sehr verschiedenen Seiten betrachten. Aber man muss sich hier nicht bei den gröbsten Verdrehungen aufhalten, wie etwa der, Russland habe die Krim „besetzt“, man  muss auch nicht den Versuchen Steinmeiers und seiner Parteigänger erliegen, das Schwanken zwischen Verlängerung der Sanktionen gegen Russland und zögernder Anerkennung für dessen Einsatz in Syrien für eine „neue Entspannungspolitik“ auszugeben, es gar noch „im Geiste Brandts“ verstehen. Zu offensichtlich ist die Hilflosigkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit dieser Politik, wenn man wahrnehmen muss, wie in strategischen Hinterstuben zugleich Pläne für die nächste Phase geplanter Aggression geschmiedet werden:

  • Die Forderung von 51 US-Diplomaten aus dem Mittelbau des außenpolitischen Establishments, die in einem offenen Brief verlangen, die Politik des „Regimechange“ in Syrien durch Bombardierung von Assads Truppen wieder aufzunehmen. Dies würde den Krieg mit Russland zumindest in Kauf nehmen.
  • Das Offenhalten des Ukraine-Konfliktes, indem die ukrainische Regierung sich – trotz verbaler Kritiken seitens der EU, Steinmeiers, und selbst seitens der USA von ihnen dennoch geduldet – weigert, den Donbas-Republiken ihren im Minsker Vertrag vereinbarten Autonomiestatus zuzuerkennen – die Schuld dafür aber der andauernden „Aggressivität“ der Russen zuschiebt.
  • Die nochmalige Verlängerung der Sanktionen seitens der USA und der EU gegen Russland, sogar Forderungen nach weiterer Verschärfung, so dass es Millionen wirklich wehtue, weil nur so an einen Sturz Putins gedacht werden könne.

 

An einem Wendepunkt angekommen

 Man muss auch Russland nicht in Schutz nehmen als wäre es ein Neugeborenes, das den  Härten der US-, EU-, Nato-Welt und überhaupt den imperialen globalen Realitäten, den Verleumdungen Russlands als Reich des Bösen mit einer Widergeburt Hitlers als Präsidenten noch nicht gewachsenen sei, dem also schon einmal Fehler unterlaufen könnten, ohne dass man es dafür kritisieren müsste. Aus der zweiten und dritten Reihe werden auch in Russland durchaus dumpfe Töne laut.

Nein, man muss jetzt vor allem erst einmal die Tatsache erkennen, dass Russland 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder in die Weltpolitik eingetreten, dass sein Präsident Putin ungeachtet aller Anwürfe als Wiedergänger Hitlers zum anerkannten globalen Krisenmanager aufgerückt ist. Und man muss dies nicht nur konstatieren, um sich dann darauf auszuruhen, es ist auch wichtig zu erkennen, wie es dahin kam, welche Elemente in diesem Krisenmanagement wirksam sind und wo seine Grenzen liegen, um zu verstehen in welcher Etappe der Neuordnung wir uns 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der systemgeteilten Welt, die den Kriegen des vorigen Jahrhunderts folgte, heute befinden.

Denn ungelöst sind die aus dem letzten Jahrhundert herüber gewachsenen Grundfragen, die über ein vorübergehendes Krisenmanagement durch eine charismatische Figur wie den gegenwärtigen russischen Präsidenten weit hinausführen.

Wer diesen Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre richtet, erkennt, dass die globale Konstellation mit Putins neuerlichem Angebot an die Europäische Union an einem Wendepunkt angekommen ist.

 

Drei Etappen des  russischen Aufstiegs

Drei Etappen lassen sich bei dem Aufstieg Russlands in seine gegenwärtige Rolle des globalen Krisenmanagers benennen:

Das ist zunächst das  Wegbrechen jeglicher Staatlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und dem Kniefall vor dem Westen unter Boris Jelzin in den Jahren 1985 bis 1998.

Das ist darauf folgend die Wiederherstellung rudimentärer Staatlichkeit und einer mühsamen inneren Stabilisierung unter Putin  im Inneren des Landes seit 1998 bis heute (allerdings schon begonnen unter Primakow 1998, was in der Regel unterschlagen wird).

Das ist, aus dem inneren Krisenmanagement erwachsen, der Übergang in ein Wiedereintreten des Landes in seine Rolle als Integrationsknoten Eurasiens, der für die Newcomer aus den ehemaligen Kolonien zum wichtigsten Partner in ihrem Streben nach einer Ablösung der von den USA allein und militärisch dominierten Weltordnung wurde.

Aber nicht Diktat und Repression, wie westliche Propaganda es immer wieder nahelegt,  hat diesen Weg des inneren und danach äußeren Krisenmanagements getragen, nicht imperiale Stärke,  sondern im Gegenteil eine von Putin aus dem geschwächten eurasischen Zentrum heraus entwickelte Politik des Konsenses.

Aus dem Konsens heraus ist Russlands Wiederherstellung seiner Staatlichkeit im Inneren erfolgt, zweifellos „vertikal“, nicht demokratisch, aber gestützt auf die Struktur realer Vielfalt im Lande. Aus dem inneren Konsens heraus hat Russland seine Rolle als Motor einer internationalen Gegenbewegung der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion Union entwickelt – letztere immer mit Blick auf Kooperation, nicht zuletzt mit der EU, statt auf Konfrontation.

Die Angebote Putins, Medwedews und anderer russischer Politiker zur Kooperation in einer „Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok“ waren die immer wiederkehrende Essenz dieser Politik, bis Russland sich angesichts der zügellosen Ost-Erweiterung von EU, NATO und dem frechen Vordringen der USA auf den eurasischen Kontinent, ihrem schrittweisen, systematischen Einkreisen der russischen Grenzen seit der Auflösung des Warschauer Paktes, gezwungen sah,  aus der Duldung dieser Einkreisung  in die Verteidigung seiner Grenzen zugehen.

 

Übergang zur offensiven Verteidigung

Das geschah erstmalig mit der deutlichen Antwort auf die georgischen Provokationen von 2004, die Russland militärisch zurückwies.

Das wiederholte sich gegenüber den Versuchen, die Ukraine 2008, dann endgültig seit dem Maidan 2013/14 ins westliche Bündnis zu ziehen, indem Russland den Austrittswillen der Krim in einem schnellen Referendum aufgriff und den Osten in seinen Autonomiebestrebungen personell und sachlich unterstützte.

Das steigerte sich schließlich in dem Einsatz von Kampffliegern in Syrien, nachdem alle Versuche, eine friedliche Beilegung des von der US-Allianz betriebenen gewaltsamen „Regimechanges“ auf dem Verhandlungswege mit der US-geführten „westlichen Allianz“ zu erreichen, auch im fünften Jahr dieses unerklärten Krieges noch am Widerstand der USA gescheitert waren. Erst  der Einsatz der russischen Bomber erzwang jetzt den – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.

Ähnliches gilt für die Ukraine, deren „eingefrorener Konflikt“ nur deshalb nicht heiß weiter läuft, weil Russland nach wie vor als Garantiemacht hinter den selbsterklärten Republiken des Donbas steht.

Dies alles sind bekannte Tatsachen, die hier nicht zum hundertsten Male neu im Detail ausgebreitet werden müssen. Dadurch werden sie für die, die sie leugnen, nicht wahrer. Diese Menschen sehen die Dinge schlicht von der anderen Seite. Es dürfte wichtig sein, ihre Motive und Aktivitäten nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen.

 

Erkennbare Grenzen

Aber hier werden selbstverständlich auch schon die Grenzen des russischen Krisenmanagements sichtbar, das nach der Ausdehnung seiner Sicherheitspolitik  in den globalen Raum nunmehr wieder in verstärktem Maße mit der  Sicherung seiner inneren, hauptsächlich der sozialen und „nationalen“ Fragen, d.h., der Entwicklung seiner Republiken konfrontiert ist. Darüber hinaus stellt sich für Russland auf längere Sicht die Frage, ob und wie es unter diesem Druck die Kraft hat, dem Kulturimpuls als „Entwicklungsland neuen Typs“ gerecht zu werden, der in der Überwindung von sowjetischem Sozialismus und heutigem Turbo-Kapitalismus neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen könnte, die sich auf die tausendjährige (zweifellos auch sehr widersprüchliche)  Gemeinschaftskultur Russlands stützen  könnten – ohne dass daran nach dem Niedergang des Zarismus, danach dem des sowjetischen Imperiums, nunmehr auch der als zentralisierte Föderation übriggebliebene  Vielvölkerorganismus des neuen Russland zerbricht.

Dies alles muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass die grundlegenden Konflikte der sich heute entwickelnden globalen Übergangsordnung in keiner Weise gelöst, ja, zum Teil noch nicht einmal richtig erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, dann leichtfertig oder sogar wissentlich – ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen der globalen Bevölkerung – beiseitegeschoben werden.

Es sind dies Fragen, die das ganze globale Feld heute betreffen, aber eben auch Russland in seiner Dynamik als aus der Asche des Sozialismus auftauchendem potentiellen Protagonisten einer möglichen Neuordnung, dem die widersprüchliche Aufgabe zufällt, sich als „Hybrid“ neu zu erfinden, der sich in die „Moderne“ einfügen muss, der sich aber in seiner undefinierten, in Bewegung befindlichen Mischung aus gemeinschaftsorientierten und neo-kapitalistisch orientierten Lebensweisen nicht in die „normalen“, sprich zerstörerischen Krisenzyklen der kapitalistischen Welt einfügen kann – und es auch nicht will.

Die Grundfragen, deren Lösung ansteht, sind nicht zu umgehen – so oder so nicht. Fassen wir sie zusammen, dann lauten sie so:

  • Wie wollen wir leben, wenn nicht sozialistisch nach Art der Sowjetunion, aber auch nicht im nach-sozialistischen Turbo-Kapitalismus? Wie wird die soziale Frage der „Überflüssigen“ gelöst, die aus der ungebremsten Automatisierung bei gleichzeitiger rasanter Vermehrung der Weltbevölkerung erwächst?
  • Wie wird die „Nationale Frage“ in einer Welt gelöst, auf der unter dem Prinzip „Teile und Herrsche“ bei gleichzeitigen globalen Zentralisierungstendenzen immer mehr „eingefrorene Konflikte“ als Minenfelder für zukünftige Politik zurückbleiben?
  • Wie sind die zerstörerischen Folgen des immer noch wachstumsorientierten Expansionismus ohne Krieg zu bewältigen?

Wie lange und wie weit Russland zur friedlichen, kooperativen Lösung dieser Fragen beitragen kann, ist eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende Frage der nächsten Etappe.

 

Kai Ehlers, 21.06.2016

www.kai-ehlers.de

 

 

 

Hier Vorschläge aktuell — Stand 12.04.2018

  • Ukraine, Syrien, Korea – Bestandsaufnahme und Analyse des aktuellen Propagandakrieges
  • Kann Deutschland neutral sein? Überlegungen zur Rolle Deutschlandsals Scharnier und Mitte im Ost-West-Konflikt
  • Angst vor Russland, warum?
  • Putin im Fadenkreuz – Warum und wie Russland das durchhalten kann.Eintauchen in die Frage der russischen Autarkie
  • Europa ohne Russland? Kann es Europa ohne Russland geben? Betrachtungen zu paradoxen Verbundenheit und Russland und Europa.
  • Auf der Suche nach der russischen Idee. Skizze aktueller Ansätze. Gibt es einen russischen Nationalismus?
  • Dreigliederung – Traum oder Weg aus der globalen Krise?
  • Was treibt die Menschen in den Krieg? Egoismus, Altruismus, ethischer Individualismus

Zwei Anmerkungen noch:

Ich bin auch zur Übernahme von Themen bereit, die Ihnen das aktuelle Geschehen aufdrängt,

Nach wie vor stehen die Themen in meinem Angebot, die Sie weiter unten finden.

Mit freundlichen Grüßen, Kai Ehlers                                              

Spoiler-Titel
 

Generelles:

  • Was ist das Russische an Russland? Stichwort: Vielvölkerorganismus statt Nationalstaat
  • Mitteleuropas Aufgabe zwischen westlichem Herrschaftsanspruch und östlichem Kulturkeim. Stichwort: Vermittlung von westlichem Individualismus und östlichen Gemeinschaftstraditionen
  • Krise des Nationalstaats. Stichwort: Notwenigkeit und mögliche Formen einer neuen Völkerordnung
  • Was ist am Islam so attraktiv? Stichwort: Islam (bis hin zum Islamismus) als ganzheitliches (verführerisches) Angebot jenseits der „Alternative“  von Kapitalismus ODER Sozialismus
  • 1917 bis 2017 – Aufbruch oder Jahrhundertstau? Stichwort: Rückschau auf die Dynamiken des Jahrhunderts, Ergebnis und Ausschau
  • Revolte der „Überflüssigen“? Stichwort: Ausbau der Festung Europa innen und außen?
  • Wie wir wirklich leben wollen – Elemente einer Vision

 

Prinzipielles:

  • Seminar: Neue Formen des Denkens (kennenlernen und einüben).  Stichwort: Lebendige Dialektik von Stau und Bewegung nach den Gesetzen des  (kretischen) Labyrinthes

Für eine genauere Bestimmung der Themen nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf,
entweder über das nach folgende Kontaktformular oder direkt per Mail: info@kai-ehlers.de

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    Frühere, bereits gehaltene Vorträge dokumentiert:

    Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?

    Wenn die deutsche Bundesregierung der deutschen Bevölkerung erzählen will, es gebe keine Alternative zum Kriegsbeitritt der Bundeswehr in Syrien – was ist das? Dummheit? Lüge? Schamloser Opportunismus?

    Man mag es kaum zum x-ten Mal wiederholen, was selbst die Strategen des von George W. Bush 2001 losgetretenen „Krieges gegen den Terrorismus“ inzwischen eingestehen mussten: dass der von den USA geführte „Krieg gegen den Terror“ den Terror erst zur globalen Geißel hat werden lassen, und zwar in doppelter Weise: als staatlichen Terror und in der Entstehung dessen, was sich heute „IS“ nennt sowie anderer verstreuter Milizen. Continue reading “Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?” »

    Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?

    Wieder einmal will man uns einnebeln: Dem Demokratisierungsprozess in der Ukraine stehe nur noch Russlands Unterstützung für die nicht anerkannten Republiken Donezk und Lugansk entgegen. Eine Befriedung Syriens und damit ein Ende des Terrors wie auch der Flüchtlingsbewegungen würden nur durch Russlands Festhalten an Präsident Baschar el-Assad verhindert. Continue reading “Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?” »

    Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

    Schriftliche Fassung eines Vortrags
    auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

    Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »

    Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki – Innenansichten zur neueren russischen Geschichte

    Vorgestellt durch den Autor selbst.

    .
    Soeben erschien der zweite Band des der zweibändigen Ausgabe „25 Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki. Gesprächspartner Kagarlitzkis und Autor des Buches ist Kai Ehlers. Der erste Band zeigt die Zeit von Gorbatschow bis Jelzin; der zweite nunmehr Jelzins Abgang, Putin, Medwedew und wieder Putin. Verlag, LAIKA

    Im öffentlichen westlichen Bewusstsein wird das Einsetzen der Perestroika vor 25 Jahren heute als Reform eingeordnet, bei einigen ganz verwegenen Zeitgenossen als Revolution, bei manchen sogar als letzte Revolution. Zu schweigen von denen, die nie etwas von Perestroika gehört haben.

    Eine etwas andere Sicht erschließt sich aus den in dem Buch vorliegenden Gesprächen, die aus direkter Betroffenheit heraus Schritt für Schritt am konkreten Geschehen und im Bemühen um analytische Klarheit entstanden im Verlaufe von 25 Jahren sind.

    Die Gespräche beginnen mit einer ersten Kontaktaufnahme zwischen der damaligen westdeutschen Neuen Linken der 80er Jahre (vertreten durch den ‚Kommunistischen Bund’ (KB), gemeinhin mit dem Zusatz ‚Nord’ versehen und einem Sprecher der Perestroikalinken Moskaus. Diese ersten Begegnungen stehen noch unter der Parole der von der Perestroika in den Jahren nach Gorbatschows Antritt als Generalsekretär der KPsSU 1985 hervorgebrachten informellen Bewegung, die von sich sagt: „Wir sind der linke Flügel der Perestroika“.
    Sehr schnell folgen die ersten Ernüchterungen, als deutlich wird, dass Perestroika nicht die Reform des Sozialismus, nicht mehr Selbstbestimmung, nicht einen demokratisch kontrollierten Markt bringt, sondern mehr Leistung bei gleichzeitigem Abbau von sozialen Sicherungen fordert und schließlich zur Einführung eines Notstandsregimes führt, dass aber auch diejenigen, die sich wie Boris Jelzin Reformer nennen, ebenfalls nicht den Sozialismus reformieren, sondern ihn zugunsten einer ‚demokratischen Elite’ abschaffen wollen.
    So geht es Schritt für Schritt. Jedes Gespräch skizziert eine neue Wendung, einen neuen Verlust bisher verbriefter sozialer Garantien. Der Krise Gorbatschows folgt der sog. Putsch. Er wird im Westen im Allgemeinen als Versuch der ‚Ewig Gestrigen’ wahrgenommen, die Entwicklung zurückzudrehen; in Wahrheit ist er eine Machtergreifung, derer, die die Sowjetunion mit größerer Beschleunigung hinter sich lassen wollten.
    Und schon geht es weiter zu nächsten Krise, wenn die neue Führung unter Jelzin und das ‚Volk’, vertreten durch den Kongress der Volksdeputierten, in einen unlösbaren Konflikt über die Geschwindigkeit, die Art und den Umfang der Privatisierung geraten. An seinem Ende steht die Revolte der Deputierten, die Jelzin mit Panzern niederschlagen läßt. Die Berichte zu all diesen Vorgängen klingen in diesen Gesprächen anders als in den weichgespülten Jelzin-Lobeshymnen der damaligen Zeit und auch anders als in seiner nachträglichen Verklärung als ‚erster demokratisch gewählter Präsident Rußlands’.
    Und weiter geht es auf dem mühsamen Weg der Festigung der ‚neuen Macht’ bis hin zur Ankunft Wladimir Putins und den darauf folgenden Tandemmanipulationen Putins und Medwedews, die – Demokratie hin, Demokratie her – in der Manier der alten russischen Selbstherschaft die Ämter unter sich aushandeln. Offen bleibt, wie es heute weitergeht.
    Dies alles wird in den Gesprächen nicht aus der Perspektive der Kremlastrologie erörtert, sondern vom Standpunkt des alltäglichen, des gewerkschaftlichen Lebens, aus der Sicht derer, die an einer theoretischen und praktischen Erneuerung des Sozialismus aus der Kritik des Gewesenen und unter den Bedingungen des Bestehenden interessiert sind. Viele Gespräche werden noch zu dokumentieren sein, wenn wir verstehen wollen, was in den zurückliegenden funfundzwanzig Jahren tatsächlich geschehen ist.
    Der russische Partner der in diesem Buch vorliegenden Gespräche, Boris Kagarlitzkij, ist der heute im Westen bekannteste russische Reformlinke. Seine Stimme hat Perestroika von ihren Anfängen unter Gorbatschow, durch das Chaos bei Jelzin bis in die heutige Putinsche Restauration hinein kontinuierlich begleitet. Er wurde 1958 geboren, schloß sich als Student einerer ‚Marxistischen Gruppe’ an, wurde noch unter Breschnjew verhaftet. Er saß anderthalb Jahre im Gefängnis. Mit einsetzender Perestroika wurde er freigelassen. Seitdem ist er aus sowjetkritischer Position heraus um eine Erneuerung des Sozialismus auf marxistischer Grundlage bemüht. Mit diesen Positionen ist er nicht mehr nur politischer Dissident der UdSSR, sondern unter verdrehten Vorzeichen auch im postsowjetischen Russland. Boris Kagarlitzkij ist heute Direktor des ‚Instituts für Globalisierung und soziale Bewegung’ (IGSO) in Moskau, Initiator und verantwortlicher Herausgeber des in Moskau erscheinenden Monatsbulletins ‚Linke Politik’ und Redakteur an der Internetplatform ‚www.RABKOR.ru’

    Die Einteilung der beiden Bände folgt den wesentlichen Phasen, in denen sich der Verlauf der Perestroika vollzogen hat: Aufkündigung des Alten durch Michail Gorbatschow bis hin zur Auflösung und effektiven Zerstörung der sowjetischen Strukturen durch Jelzin. Das betrifft nicht nur die Auflösung der Union 1991 durch Jelzin, sondern umschließt auch noch die systematische Auflösung, bzw. Zerstörung der sowjetischen Strukturen im Lande selbst nach dem, was man auch den zweiten Putsch nennen kann, also nach der gewaltsamen Auflösung des obersten Sowjet durch Jelzin 1993. Gegen Ende der zweiten Hälfte der Jelzinschen Amtszeit geht die Auflösung nach einer ruhigeren Übergangsphase ´96/97 und der darauf folgenden innerrussischen Bankenkrise von 1998 in eine offene Restauration unter dem Stabilisator Wladimir Putin über. Von daher ist es keineswegs zufällig, daß Boris Kagalitzki und ich unser längstes und am tiefsten in die sozialen Strukturen vordringendes Gespräch im Herbst `97 führen konnten – nach Jelzins Wiederwahl und vor dem Zusammenbruch von 1998. Danach folgen ‚nur noch’ Stadien der Wiederherstellung des Staates unter neuen, nicht mehr sowjetischen, sondern ‚demokratischen’ Vorzeichen der von Putin betriebenen autoritären Modernisierung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

    So bestreiten der Initiator Gorbatschow und der Beschleuniger Jelzin also Band eins, der kränkelnde Jelzin und der Stabilisator Putin (unterstützt durch Medwedew) Band zwei.

    Zur Orientierung ist jedem Gespräch eine knappe Situationsskizze und Kurz-Chronologie beigegeben, unter welchen Umständen und wann es stattgefunden hat. Eine durchlaufende Chronologie im Anhang ermöglicht zudem eine Einordnung in den zeitlichen Gesamtzusammenhang. Zusätzlich gibt es einen INDEX, über den alle im Text erwähnten Personen oder Organisationen aufgesucht werden können. Dieser Aufbau macht die beiden Bände über die einzelnen Gespräche hinaus auch zu einem Nachschlagewerk der neueren russischen Geschichte.

    Beude Bände sind im Buchhandel und direkt beim Autor zubeziehen

     

    Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen

    Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.

    Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen. Continue reading “Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen” »