Schlagwort: Nationalismus

Russland ohne Europa? Auf der Suche nach der „russischen Idee“ – oder ist Russland nationalistisch?

 

Mit der vierten Amtszeit Wladimir Putins tritt Russland in eine neue Phase seiner nachsowjetischen Entwicklung ein. Zweifellos ist Putins Wiederwahl ein Ausdruck davon, dass die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nach wie vor Stabilität sucht. Und nicht zu Unrecht muss das Votum für ihn auch als Votum für eine stärkere Besinnung Russlands auf einen vom Westen unabhängigen eigenen Weg verstanden werden.

Putin wird sich alle Mühe geben, seinem Image als Stabilisator gerecht zu werden, innen- wie auch außenpolitisch. Ebenso klar ist aber auch, dass bloße Stabilität auf Dauer die Identitätslücke nicht füllen kann, in die Russland mit dem doppelten Bruch seiner Geschichte gefallen ist, einmal durch den Sturz des Zarismus in den  Revolutionen von 1905 und 1917, das zweite Mal siebzig Jahre später durch die Implosion der Sowjetunion 1991. 

Die Frage ist also: Was geschieht unter dem „westlichen Hut“, den Russland sich aufgesetzt hat? Was für ein Bewusstsein von der Rolle Russlands in der Welt wächst hinter den Fassaden der Modernisierung im Lande, in den Herzen und Köpfen der Menschen heran?

Anders gefragt, in welchen Verwandlungen erscheint heute das, was früher die „russische Idee“, danach siebzig Jahre lang die sowjetische Idee genannt wurde?

Noch anders: Was ist von westlichen Anwürfen zu halten, in Russland entwickle sich ein aggressiver Nationalismus?

Erlauben Sie mir zu diesen Fragen einen persönlichen Einstieg.

 

Ein Buch erscheint  

Passend zu der erneuten westlichen Medienkampagne gegen Russland nach den Wahlen zur russischen Präsidentschaft und wie gerufen zu meinem Text „Europa ohne Russland?“[1], der soeben erschienen war, wurde mir über meine Website ein Buch avisiert mit dem Hinweis, dass mich die in diesem Buch entwickelten Perspektiven eines eigenen russischen Weges vielleicht interessieren könnten.

Absender der Mail: Verlag Hagia Sophia mit dem Namenszusatz: „Philosophia Eurasia“;  Titel des Buches: „Das Zivilita-Gestirn“, Autor W.S. Milowatskij.[2]

Die Umstände, unter denen das Buch bei mir auftauchte, reichten aus, mich neugierig darauf werden zu lassen, ob aus ihm Hinweise für die zukünftigen Beziehungen Russlands zu sich und zu Europa und der Welt zu gewinnen sein könnten.

Das Buch, als es bei mir eintraf, erwies sich als Übersetzung aus dem Russischen mit einem extrem globalisierungskritischen Vor- und Nachwort des in Deutschland lebenden orthodoxen Erzpriesters André Sikojew, vor dem sich die hierzulande gewohnte Links-rechts-Radikalität fast pausbäckig ausnimmt. Das Buch erschien ursprünglich 2015 bei der „Gesellschaft zum Gedenken der Äbtissin  Taissija“, St. Petersburg, also bei einem kirchlichen russischen Herausgeber. Der Verlag „Hagia Sophia“, der das Buch jetzt in Deutschland herausbrachte, bezeichnet sich selbst als Nischenverlag, dessen Anliegen es sei, russische Philosophie, Tradition und die Ansätze zur Erneuerung russischer Identität aus orthodoxer Sicht deutschen Lesern bekannt zu machen und neue Wege der Krisenbewältigung aufzuzeigen.

Autor Milowatskij, von Haus aus Biologe, Philosoph und Historiker steht fest in der Denktradition des bekannten sowjetischen, international anerkannten  Naturwissenschaftlers und Ökologen Wladimir Wernadskij (1863 bis 1945), aus dessen Forschungen zur Biosphäre und der sich durch die geistige Tätigkeit des Menschen daraus erhebenden Noossphäre als sich selbst steuernder planetarischer Gesamtheit die in den sechziger Jahren im Westen entwickelte Gaia-Theorie des „New Age“ hervorging.[3] Ausführlich zitiert Milowatskij aus Wernadskijs Arbeit „Biossphäre und Noossphäre“ [4]:

„Der Mensch verstand zum ersten Mal  real“, schrieb Wernadskij, „dass er Bewohner eines Planeten ist, und unter einem neuen Aspekt denken und wirken kann – ja muss – nicht nur unter dem Aspekt einer Einzelpersönlichkeit, einer Familie oder eines Stammes, eines Staates oder seiner Bündnisse, sondern auch unter planetarischem Aspekt gerade im Lebensbereich, in der Biossphäre, in einer bestimmten irdischen Hülle, mit welcher er untrennbar, gesetzmäßig verbunden ist, und aus welcher er nicht heraustreten kann. Ihre Funktion ist seine Existenz. Er trägt sie überall mit sich.“ (Hervorhebungen von Milowatskij) (S. 70, siehe Anm. 2)

Weitere Bezugsgrößen Milowatskijs sind die Klassiker der “Russischen Idee“ von Fjodor Dostojewskij bis Leo Tolstoij. Das Buch stützt sich im Übrigen demonstrativ auf wissenschaftliche, historische und auch geistliche Quellen aus Ost und West. Leider geht gleich zu Beginn des Buches, wenn auch nur aus einer Fußnote in der Einführung durch den Erzpriester Sikojev auch hervor, dass die „eurasische Schule“ Alexander Dugins[5], die Sikojev  als „wichtigsten Gegenentwurf“ zu den „Exklusivgedanken“ Zbigniew Brzezinskis und Henry Kissingers benennt, ebenfalls zu Milowatskijs Bezugsgrößen gehört. ‚Leider‘ sage ich, weil dieser Einstieg mit einem im Westen als Putins Rasputin verschrienen Ideologen, sei dies berechtigt oder nicht, den Ausführungen Milowatskijs von vornherein einen Akzent mitgibt, der es schwer macht, die in dem Buch vorgestellten Inhalte unbelastet wahrzunehmen.  

 

Kritik der Globalisierung

Nichtsdestoweniger fordert das Buch fraglos zur Wahrnehmung und Auseinandersetzung heraus, wenn man verstehen will, was sich zur Frage der russischen Identität und der Rolle Russlands in der Welt heute in Russland, sagen wir, in traditionell orientierten Sphären des Landes entwickelt: Vorgestellt werden soll, auf Wernadskijs Forschungen aufbauend, eine zukünftige, ökologisch orientierte  „planetarische“ Welt, welche die gegenwärtig herrschende  Globalisierung und dadurch ausgelöste Nivellierung der traditionellen russischen Kultur durch neue Impulse ablösen könne.

Unter dem Ausdruck „Zivilita-Gestirn“, den Milowatskij an Stelle des von ihm als zu vieldeutig empfundenen Begriffes der Zivilisation einführt, wird Wernadskijs naturwissenschaftlich begründete Vision der Einbindung des Menschen in Biossphäre und Noossphäre zu einer Ordnung verschiedener Kulturräume auf Basis festen Glaubens an die sich selbst steuernde Göttlichkeit von Natur und Welt ausgeweitet. Dabei soll das „Gestirn“ für die Gesamtheit miteinander verbundener „Zivilitae“ stehen.

Unter „Zivilita‘ versteht der Autor eine kommunitäre Großgemeinschaft, in welcher der Einzelne unter der Voraussetzung eines gemeinsamen kulturellen Codes zum Bestandteil eines kollektiven Selbstbewusstseins werde, wo er sozusagen zu seiner ‚Volkheit‘ kommt; ausdrücklich lehnt Milowatskij dabei  eine Einengung der „Zivilita“ auf nur ethnische Kriterien ab. Die „Zivilita“ ist für ihn ein nicht ethnisch und nicht durch Staatsgrenzen definiertes Subjekt der Geschichte, in welchem der einzelne Mensch seinen Platz findet.

Bei all dem bewegt sich das ganze Traktat in Begriffen der Moderne, wie Geozivilisation, Globalisierung, Multipolarität, Modernisierung, Selbstorganisation und dergleichen mehr und macht seine Argumentation immer wieder auch an aktuellen politischen Ereignissen fest.  Soweit gekommen durfte man gespannt sein, ob sich da neue, zukunftsweisende Verbindungen auftun.

 

Das Wesen der „Zivilita“

Lassen wir den Autor selbst zu Wort kommen. Unter der Überschrift „Über das Wesen der Zivilita“ definiert er in einer langen Passage:

„Jeder lebendige Organismus ist notwendig  mit diesem oder jenem Öko-System, mit einer ökologischen Gemeinschaft ‚verbunden‘. Ebenso kann kein sozialer Organismus existieren, ohne zu diesem oder jenem sozialhistorischen oder kulturellen Supersystem zu gehören.

Das Hauptmerkmal der Zivilitae besteht darin, dass es sie gibt!

Das Menschengeschlecht kann nicht einfach ein Aggregat von einfachen Individuen sein; nicht eine triviale Masse oder irgendeine Herde, gesichtslos und amorph. Es (so im Buch! – ke) verfügt über viele Gesichter und hat seine besonderen Formen der Existenz. Die Zivilitae sind die größte und komplizierteste Form seiner Selbstorganisation. Etwas ausführlicher: Die Zivilita ist eine planetare kulturhistorische Gesamtheit, welche (oft informell) eine größere Gruppe von Ländern umfasst, die nach einem Paradigma leben. Diese Gesamtheit hat gewöhnlich keine exakten Grenzen, keine gemeinsame Verfassung und überhaupt keinerlei einheitliche Sammlung von Gesetzen. Sie ist eingefügt in eine bestimmte geographische Zone und in der Regel gebunden an diesen oder jenen Kontinent! Die ganze Menschheit ist organisiert in Gestalt von etwa fünf bis sieben Haupt-Zivilitae: In die Russische, Westeuropäische, Chinesische, Indische, Lateinamerikanische und die Afrikanische. Es existieren abgesondert einige Zivilisationen, welche nur ein Land darstellen: Die Japanische und Israelische. Wir rechnen sie nicht den Zivilitae zu: Sie haben keinen planetaren Charakter. Es gibt auch Länder, welche weder zu den Zivilitae noch zu den Zivilisationen gehören:  Sie sind dafür noch nicht reif.

Die Zivilitae werden durch ein persönliches Prinzip charakterisiert, man könnte sie auch katholische (griech. Gemäß dem Ganzen – allumfassende) Persönlichkeiten (Hervorhebung durch W.S. Milowatskij ) nennen, die in sich Millionen Personen bergen, die nur im Rahmen dieser Einheiten sich voll realisieren, darin schöpferisch fruchtbringend, geistig unbeirrt und wahrhaftig existieren können.

Diese allumfassenden Persönlichkeiten lassen sich nicht künstlich konstruieren – sie entstehen und entwickeln sich im Gang der Geschichte auf natürliche Weise, organisch wachsend, wie ein lebendiger Organismus. Wie jede Persönlichkeit haben sie ihr eigenes Gesicht, ihren eigenen Charakter und ihr Selbstbewusstsein.

Die Zivilitae sind untereinander unvermischt (Hervorhebung durch den Autor). Wie auch die Tierarten – das ist eine ihrer fundamentalen Eigenschaften. Sie müssen auch unvermischt bleiben, andernfalls verlöre  ihre Existenz den Sinn – der Kernpunkt liegt gerade darin, das sie abgesondert und unterschieden sind.“ (S. 35/36, siehe Anm. 2)

 

 Eingängige Worte…

Die Welt sei heute auf dem Weg, so Milowatskij weiter, sich zu einem Konzert der unterschiedlichen ‚Zivilitae‘ zu entwickeln, eben das „Gestirn“. Bei aller Verschiedenartigkeit seien die einzelnen Kultureinheiten doch nach gleichen Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die sich aus ihrem „planetarischen“ Wesen ergäben. Das sind nach Milowatskij, ohne hier ins Detail gehen zu wollen: „Verschiedenartigkeit“, „Selbstbewusstsein“ als besondere kulturelle Einheit, „Kontinentalität“, „gemeinsames Paradigma“ aller in einer „Zivilita“ lebenden Individuen, Vorrang des geistigen Kernbestandes vor der Ökonomie, dauernde „Entwicklungsdynamik“, Austausch und Kooperation über spezielle „Brücken“ bei bewusster Bewahrung des eigenen Charakters.

Jede „Zivilita“, so Milowatskij, verfüge über eine eigene Struktur: „Kern, Thesaurus, Korpus, Peripherie und Grenze.“: Im Kern werde „das Kulturelle, Religiöse, Politische und Industrielle zentriert“. Im Thesaurus seien „die sakralen Schriften enthalten, die das zivilitane Selbstbewusstsein formieren“. Der Korpus erstrecke sich „weit über die Grenzen des Kerns, wird aber durch den Thesaurus definiert. Die Peripherie stehe Wache „für die Ganzheit der Zivilita“. Ihre Grenzen, so Milowatskij schließlich, „fallen nicht mit  den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch  das Anziehungsvermögen des Kerns (Hervorhebung durch Milowatskij), durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

Für den russischen Thesaurus zählt Milowatskij auf: „Das Evangelium, die Heldensagen, das ‚Wort‘ des Ilarion, die Nestor-Chronik, die Stadt Kitesch, Sergij von Radonesch, das Kulokowo-Feld, die Entschlafungs-Kathedrale des Kreml, die Stadt des heiligen Apostels  Peter (Sankt Petersburg), Puschkin, ‚Krieg und Frieden‘ von L. Tolstoij, Stalingrad.“ Vieles mehr gehöre noch dazu, aber man müsse ja Maß halten. Der Korpus erstrecke sich vom Ladogasee, über Kiew, Dnjepr, Groß-Nowgorod, , Don und Wolga, Pskow,  Kasan und Ural, und Sibirien selbstverständlich – dies alles sind Namen unseres  heiligen russischen Korpus…Kamtschatka, Tundra, Asiatische Steppen usw. – das ist die Peripherie.“  Aber auch der Kaukasus, das Altai-Gebirge, Wladiwostok stünden Wache für die Ganzheit  der „Zivilita“. Schwierig sei es, Grenzen zwischen dieser und jener Zivilita zu ziehen. „Aber es gibt sie. Bei weitem fallen sie nicht mit den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch das Anziehungsvermögen des Kerns, durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

In gleicher Weise, wenn auch nicht so ausführlich werden die nichtrussischen „Zivilitae“ charakterisiert, die westeuropäische etwa durch die King-James-Bibel, die „Principia“ von Newton, die Werke von John Locke und Adam Smith, die Texte von Lincoln und Darwin, die chinesische Zivilita durch Konfuzius, die islamische durch den Koran usw.

Man könnte versucht sein, in diesem Ansatz – bereinigt von religiösen Überhöhungen und einseitigen Zuweisungen – eine Perspektive zu suchen, die über eine bloße Wiedergeburt russisch-orthodoxer, selbst eurasischer Traditionslinien hinaus tatsächlich in einen Raum des Miteinanders kultureller Großräume zielt – wenn, ja, wenn die berechtigte Kritik an den Auswüchsen der gegenwärtigen ökonomisch dominierten Globalisierung am Ende nicht unter Überschriften wie „Die sich überhebende Zivilita“ (gemeint ist Europa – mit Nordamerika und Australien) oder „Planetarität statt Globalismus“ als „Konfrontation zweier Strategien“ auf eine prinzipielle Ebene gehoben würde (Gemeint ist Eurasien ohne Westeuropa contra USA/‘Westen‘). Auf dieser Ebene reduzieren sich am Ende all die schönen Worte von gegenseitiger Anregung der Kulturen auf eine grobe Kampfansage gegen „den“ westlichen „Kulturimperialismus“, gegen „den“ Liberalismus, gegen ein von den USA geführtes „aggressives“ und „hedonistisches“ Europa und schließlich gegen „die Pest der Homoehen usw.“

Im „planetarischen“ Kampf gegen „den“ Liberalismus, wie er gegen Ende des Buches immer deutlicher hervortritt, mutiert der Mensch unversehens wieder zum Gefangenen eines dogmatischen Kollektivismus, von dem er soeben mit modernistischen Vokabeln befreit werden sollte. Vergeblich sucht man Aussagen dazu, wie das planetarische Selbstbewusstsein der „Zivilita“ sich zum Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen verhält. Von Selbstbewusstsein des Einzelnen ist keine Rede. Nicht die Befähigung des Menschen zu  freier Selbstbestimmung, eingebettet, versteht sich, in kooperative Gemeinschaft erweist sich als Ziel der „planetarischen“ Vision, wie man eingangs des Traktates als Lehre aus dem dogmatischen Kollektivismus der Sowjetzeit noch erwarten durfte, sondern die Einordnung des einzelnen Menschen in den Code seiner „Zivilita“, für deren Entwicklung und Erhaltung er eintreten müsse. „Das ist“, so fasst Milowatskij in den letzten Zeilen des Traktates sein „Fazit“ zusammen  „sozusagen unser planetarischer ‚Gehorsam‘.“ (Hervorhebung durch – Milowatskij)

 

Der Duginsche Kontext

Unverkennbar, wenn auch im Text nicht offengelegt, tritt hier nun auch der in der Anmerkung des Erzpriesters Sikojev eingangs nur angedeutete Duginsche Kontext hervor, allerdings weniger in seinen geopolitischen Dimensionen als in den ihnen zugrundeliegenden ideologischen Positionen. Schauen wir ein bisschen genauer, was das bedeutet: „Indem wir verstehen, was der Feind am meisten fürchtet“, schreibt Dugin in seinem ideologischen Hauptwerk „Die vierte politische Theorie“[6], in welchem er dem Liberalismus als der siegreichen Ideologie der Moderne den „eschatologischen“, also endzeitlichen Kampf ansagt, „schlagen wir die Theorie vor, daß jede menschliche Identität akzeptabel und berechtigt ist, außer der des Individuums. Der Mensch ist alles andere als ein Individuum. …Der Liberalismus muss besiegt und vernichtet, das Individuum  von seinem Piedestal  herabgeholt werden.“ (S. 53, siehe Anm. 5)

Und weiter fragt Dugin unter der Prämisse, dass die „Vierte politische Theorie“ das Brauchbare“ (S. 49, siehe Anm. 5) von Kommunismus, Faschismus und Liberalismus nach Eliminierung ihrer Fehler nutzen müsse: „Könnten wir irgendetwas dem Liberalismus entnehmen – eben diesem hypothetisch besiegten  und desorientierten Liberalismus?“ und antwortet: „Ja, es ist die Idee der Freiheit“, setzt aber gleich hinzu: ,Der Unterschied besteht darin, dass diese Freiheit als eine menschliche aufgefasst wird und nicht als Freiheit für das Individuum …  In die Gegenrichtung sich bewegend, kam das europäische Denken, zu einem anderen Schluss: „Der Mensch (als Individuum) ist ein Gefängnis ohne Mauern“ (Jean Paul Sartre); in anderen Worten, die Freiheit eines Individuums ist ein Gefängnis. Um eigentliche Freiheit zu erlangen, müssen wir die Grenzen des Individuums  überschreiten. In diesem Sinn ist die Vierte politische Theorie eine Befreiungstheorie, die jenseits des Gefängnisses in die Außenwelt vordringt, wo die Geltung der individuellen Identität endet.“ (S. 54, siehe Anm. 5)

Menschlich statt individuell – bemerkenswert! Aber es kommt noch deutlicher: Unter der Überschrift „Die neue politische Anthropologie: Der politische Mensch und seine Mutationen“ fügt Dugin hundert Seiten später hinzu: „Was der Mensch wird, wird nicht von ihm als Individuum, sondern von der Politik abgeleitet.  … Wir glauben, wir seien ‚causa sui‘, Selbstursache, und finden uns nur dann in der Sphäre der Politik. Es ist aber die Politik, die uns formt.“ Und weiter:  „Die anthropologische Struktur des Menschen wandelt  sich mit dem politischen Systemwechsel. … Am Pol der Moderne haben wir ja das rationale, autonome Individuum; am anderen Pol ein Teilchen eines bestimmten ganzheitlichen Ensembles.“ (S.185 …)

Hier wird der von Milowatskij zitierte Satz Wernadskijs, wonach die Biosphäre die „bestimmte irdische Hülle“ sei, aus welcher der Mensch nicht heraustreten könne, von Dugin noch weiter überdehnt als schon von Milowatskij und gleich darauf noch einmal weiter, wenn Dugin für die von ihm reklamierte „Post-Anthropologie“ schließlich die Vision einer „Angelopolis“ entwirft, in der „die Sphäre des Politischen beginnt, kontrolliert zu werden durch und begründet zu werden auf der Konfrontation zwischen übermenschlichen Wesen. Das sind Wesen“, so Dugin, „die weder menschlich noch göttlich sind (oder überhaupt nicht göttlich). ‚Angelopolis‘ besitzt ein enormes Potential, politische Rollen zu verteilen, ohne Menschenartige und Post-Menschenartige einzubeziehen. … Es gibt wirklich eine Kommandozentrale in der Post-Politik. Es gibt Akteure, und es gibt Entscheidungen, aber sie sind in der Postmoderne völlig entmenschlicht. Sie sind jenseits aller anthropologischen Rahmen.“ (S. 192)

Vor dem Hintergrund dieser Positionen gewinnt der von Erzpriester Sikojev nur unter dem Stichwort der Geopolitik erwähnte Duginsche Kontext eine nicht mehr zu übersehende ideologische Dominanz, unter deren Druck die Vision des „Zivilita-Gestirns“ endgültig ihre planetarische Unschuld verliert und auf schlichten orthodoxen antiliberalen Kollektivismus zusammenschrumpft, soweit sie nicht in den geopolitischen Feinderklärungen Duginscher Prägung steckenbleibt. Für eine Erneuerung  der russischen Identität in gegenseitiger Befruchtung verschiedener Kulturen, insbesondere der europäischen und russischen, und die gegenseitige Förderung unterschiedlicher Kulturräume wie im Ansatz versprochen war, bleibt da nichts übrig. Eher schon ist sie geeignet, wenn solche Ideen denn aufgegriffen werden sollten, zu einer wachsenden Entfremdung und zu Spannungen zwischen den Kulturen beizutragen.  

 

Der rationale Gegenentwurf

 Hier angekommen wird es Zeit nach rationalen Gegenentwürfen Ausschau zu halten. Auch hier möchte ich zunächst noch einmal persönlich einsteigen, diesmal allerdings mit einem Griff in die Erinnerung.

Zu sprechen ist von Prof. Igor Tschubajs, nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Anatoly Tschubajs, der als radikaler ‚Westler‘, als „Oberprivatisierer“ das absolute Hassobjekt der russischen Bevölkerung wurde.

Igor Tschubajs lernte ich im Jahr 2000 bei Forschungen nach der russischen Re-Orientierung als Professor an der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau kennen, wo er dabei war eine Fakultät für „russische Studien“ aufzubauen.  Er wollte „russische Studien“ als Unterrichtsfach in die neue Bildungspolitik zur Neu-Entwicklung der „russischen Idee“ einführen.

Tschubajs erklärte mir damals, dass die neue Macht, das war der soeben angetretene Wladimir Putin, nicht begriffen habe, worum es eigentlich gehe, nämlich, dass man sich heute mit dem Problem des doppelten Bruches beschäftigen müsse, der in der russischen Geschichte zum einen durch den Eintritt des Sowjetstaates, zum zweiten durch dessen Zusammenbruch vor sich gegangen sei. Er erklärte, dass man die Sowjetunion als Bruch der russischen Geschichte verstehen müsse, weil sie die Kontinuität der russischen Staatlichkeit grundsätzlich zerstört habe, dass man nach dem jetzigen erneuten Bruch also zurückgreifen müsse auf die staatlichen und kulturellen Wurzeln vor der Sowjetunion. Allerdings dürfe man dabei nicht in die Vergangenheit zurückgehen wollen, sondern müsse an den Entwicklungsimpulsen anknüpfen, die damals von den Bolschewiki abgerissen worden seien. Tschubais vertrat diese Theorie unter dem Stichwort der „Wiederherstellung der Kontinuität“ der russischen Entwicklung, die unter scharfer Kritik des durch die Sowjetpolitik verlorenen Jahrhunderts in die heutige Moderne geführt werden müsse.[7]

Nach Dugin befragt, der damals auch von „Wiederherstellung der Kontinuität“ sprach, antwortete Tschubajs: „Wenn Dugin und seine Parteigänger von ‚Kontinuität‘ sprechen, so wollen sie, soweit ich das verstehe, in vielem das alte Russland wiederherstellen, das damals existierte. Aber das zu bewirken ist nicht möglich und nicht nötig, denn Russland war ein Imperium, Russland war mit Eroberungen befasst. Russland betrieb eine expansive Politik bei gleichzeitiger Vereinheitlichung. Das ist heute absolut unnötig und unmöglich“[8]

Inzwischen hat Tschubajs sechs umfangreiche Bücher zu diesen Fragen veröffentlicht, die zum Teil im englischsprachigen Ausland herausgegeben wurden. Er ist auf einer schwer zu verstehenden Zwischenspur zwischen Rückwendung in die vorsowjetische Zeit und Übernahme der westlichen Moderne angekommen – unter Rückgriff auf die Spur der beginnenden kapitalistischen Entwicklung des zaristischen Russlands, die, so seine Sicht,  durch die Sowjets unterbrochen und geschädigt worden sei.

 

Definitionen

Lassen wir auch Igor Tschubaijs selbst zu Wort kommen. Die folgenden drei Statements, sind einem kleinen Traktat für den „Hausgebrauch“ entnommen, in dem er unter dem Titel „Wie wir unser Land verstehen sollen“ [9] versucht Begriffe zu klären und Bewusstsein für russische Kontinuität zu schaffen:

  • Zu den Grundlagen der „russischen Idee“:

„Die Werte, auf denen sich unser Staat im Laufe vieler Jahrhunderte ausformte, sind die Orthodoxie, die Sammlung der russischen Länder, und der dorfgemeindliche Kollektivismus. Bei jeglichem Volk gehört zur nationalen Idee auch seine Sprache, bei uns natürlich die russische.“

  • Zur Krise der „russischen Idee“:

„Wie wir sagten, hat Russland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem es das größte Staatsgebilde der Welt errichtet hatte, einen sehr günstigen entwickelten Zustand erreicht. Und in diesem Moment zeigte sich, dass das Fundament des Gebäudes von Erosion bedroht war. Alle drei Dimensionen der russischen Idee gerieten gleichzeitig in eine Krisenzeit und machten Reformen notwendig. Die Dorfgemeinde störte die Entwicklung des Agrosektors, die Sammlung der russischen Länder hatte sich erschöpft und die Orthodoxie geriet, wie das gesamte europäische Christentum, in Konflikt mit der Herausforderung des Atheismus.“ (Hervorhebung durch Tschubaijs)

  • Zur heutigen Situation:

„Siebzig sowjetische Jahre haben Russland aus der europäischen und Weltgeschichte herausgebrochen, aus dem natürlichen Fluss der Zeit gerissen. Und deshalb kommt der unsinnige Streit, ob wir Europa, ob wir Eurasien, ob wir Asiopa sind, nicht zur Ruhe. Tatsächlich ergänzen die beiden europäischen Traditionen einander, aber die Erben des Westlichen Roms und des Östlichen Roms haben ihre je eigene Besonderheit. Darüber kann man nachdenken.“

Aus dieser Position zwischen den Zeitbrüchen erklärt sich die ganz und gar zwittrige Lage, in die Tschubaijs gekommen ist, einerseits an die russische vorrevolutionäre Tradition anknüpfen, andererseits das heutige Russland an die heutige Westlichkeit anschließen zu wollen. Folgerichtig demonstrierte er anlässlich der Wahlen 2012 zusammen mit der liberalen Opposition gegen die Politik Putins, ging dafür sogar für 24 Stunden in Arrest. Damit steht er auf der Seite der liberalen Putingegner. Andererseits wurden seine Schriften auch von liberaler Seite aus ins Abseits gedrängt. Liberale Gazetten verweigerten Besprechungen zu seinen Büchern, liberale Lehrstühle  verschlossen sich ihm. Im Ergebnis all dessen wurde das von ihm begründete „Zentrum für Russlandforschung“ geschlossen. Ein Lehrbuch zur „Vaterlandskunde“ für den Schulunterricht und entsprechende Praxis blieb ein regionales Ereignis usw. Die Liste seiner immer wieder versuchten Ansätze ist lang.

Mit seinen Vorstellungen einer „Russischen Schule“ oder „Russlandkunde“ sitzt Tschubaijs zwischen allen Stühlen – nicht einverstanden mit der herrschenden Macht, nicht einverstanden mit romantisierenden, klerikalen Traditionalisten, nicht einverstanden mit rückwärtsgewandten neo-sowjetischen Nostalgikern, aber auch nicht mit der pro-westlichen liberalen Opposition. Aber zuversichtlich beschließt sein kleines Traktat für den „Hausgebrauch“ mit den Worten: „Die wiedererstandene und reformierte Russische Idee, das ist Historismus, Umgestaltung, Geistigkeit, Sittlichkeit und Demokratie. Kehren wir doch nach Russland zurück…Alles fängt erst an. Wir werden es schaffen.“

 

Bruchlinien

Betrachtet man die beiden hier skizzierten Ansätze, dann stellt sich die Frage: Wo ist die „russische Idee“ also heute gelandet? Da ist Tschubajs in einem vorbehaltlos zuzustimmen: Russland lebt gegenwärtig in Brüchen, mehrere Etappen der Geschichte existieren gleichzeitigen neben-  und miteinander. Für jeden ist etwas dabei, für die Vertreter eines „Zivilita-Gestirns“ ebenso wie für Sowjetnostalgiker, für Traditionalisten wie für „Westler“, für Machtpragmatiker wie für Anarchisten. Russland ist heute, entgegen dem äußeren Anschein, eine durch und durch uneinheitliche, plurale Gesellschaft, immer noch auf der Suche nach sich selbst – bis hinein in die neue Klassenwirklichkeit, die Spaltung zwischen Stadt und Land, die unterschiedliche Entwicklungen der Regionen und Religionen des Landes.

Insofern ist es vollkommen sinnlos von einem russischen Nationalismus, einer Gleichschaltung, einer Diktatur Putins oder dergleichen reden zu wollen.

Alle Versuche eine neue „russische Idee“, gar eine nationale Idee aus dem Boden stampfen zu wollen, sind bisher gescheitert: Das betrifft den von Jelzin seinerzeit eingerichteten „Wettbewerb“ zur Entwicklung einer „nationalen Idee“ ebenso wie die frühen Versuche Dugins und der mit ihm verbundenen nationalistischen Kreise. Allein Dugins „eurasischer“ Ansatz hat eine gewisse Basis in der Politik gefunden, allerdings von Putin pragmatisch reduziert auf die Reorganisation der russischen Staatlichkeit im eurasischen Raum, ohne die mystischen Ideologisierungen, die Dugin darauf aufgebaut hat.

So wundert es auch nicht, dass Dugin 2014 – nach vorübergehender Nähe zur Macht‘ – angestoßen von Protesten der universitären Öffentlichkeit gegen nationalistische Entgleisungen von ihm im Ukraine-Konflikt, von seiner Professur an der Lomonossow Universität suspendiert wurde

Tatsächlich ist Russlands Politik – nur scheinbar im Widerspruch zur  kollektivistischen Tradition des Landes – durch und durch personalistisch. Es ist eher so: Wenn sich etwas durch die russische Geschichte zieht, dann ist es diese personalistische Struktur, die Spontaneität und Zentralismus immer wieder in Polarität miteinander verbindet. Stichwort: Guter ‚Natschalnik‘, also: Chef, gute Sowchose, guter Zar, gutes Russland. Schlechter ‚Natschalnik‘, schlechte Sowchose, schlechter Zar, schlechtes Russland. Guter Putin, gutes Russland, schlechter Putin, schlechtes Russland. Auf den Westen fixierte Kritiker subsumieren das gern alles unterschiedslos unter Korruption. Die gibt es, zweifellos, und nicht zu knapp, und natürlich liegt hier auch die Gefahr der Willkür, bis hin zu despotischer Selbstherrlichkeit der ‚Macht‘, die sich aus der anarchischen Grundstruktur der Gesellschaft speist. In eben dieser anarchischen Grundstruktur liegen aber auch Russlands Qualitäten – die Priorität des Menschlichen vor dem Rechtlichen.

Wenn dieses Russland nun nach Europa schaut, dann sieht es dort einen Verfassungsstaat, eine Vertragsgesellschaft. Der Rechtsstaat, die deutsche Pünktlichkeit fasziniert die russische Bevölkerung – und schreckt sie zugleich ab. Russlands Stabilität, das Lebensgefühl der in Russland lebenden Menschen steht und fällt mit dem guten (oder schlechten) Natschalnik‘. Anders gesagt, russische Demokratie ist nicht formal; russische Demokratie kommt aus der Person, aus dem Herzen – oder sie kommt nicht.

In dieser Sphäre liegt auch die geradezu instinktive Ablehnung der von der EU oder einzelnen europäischen Staaten ausgehenden Menschenrechtsmahnungen als Menschenrechtelei. Das kann man gut finden oder nicht; es ist einfach ein Ausdruck der unterschiedlichen Paradigmen, in denen die Menschen leben. Darin ist den russischen Kritikern eindeutig zuzustimmen, auch wenn das orthodoxe Motto ‚Moral statt Recht‘ für Menschen mit europäischer Sozialisation schwer zu verstehen ist. Man könnte aber auch voneinander lernen und miteinander Fähigkeiten entwickeln, die über die starre Polarität hinausführen,  statt sich nur voneinander abzugrenzen und sich in feindlicher Frontstellung zu versteifen.

Die gegenwärtige Sanktionspolitik der EU mit Rückenwind der USA, die sich als menschenrechtlich darstellt, wird in Russland jedenfalls nicht als ein Zugewinn an Recht, sondern als das genaue Gegenteil, als die Zunahme von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, als Abbau persönlichen Vertrauens wahrgenommen. Da verkehren sich die Werte, und aus möglicher Kooperation zum gegenseitigen Nutzen wird eine schroffe Abwendung.

Blickt man von Moskau aus nach China, dann ist das entgegen dem, was vom  Westen aus gegenwärtig wahrgenommen wird, für die russische Mentalität, für die Menschen Russlands noch weniger akzeptabel als das, was sie von westeuropäischer Seite erleben. Die steife Ritualisierung und Dogmatisierung chinesischer Politik, chinesischer Kultur – auch in ihrer aktuellen Xi Jinping Variante – ist dem anarchischen, dem personalen Charakter der russischen Mentalität vom tiefsten Wesen her fremd. Insofern ist über ein strategisches Bündnis hinaus kein Zusammenwachsen der chinesischen und der russischen Kultur zu erwarten – wenn nicht über die Vermittlung durch die europäisch-westliche Kultur, die in ihrer Rechtsförmigkeit, aber zugleich doch auch Beweglichkeit das steife Chinesische und das anarchische Russische in einen Ausgleich bringen könnte.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu das Buch:

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

(zu beziehen über den Buchhandel oder den Autor: www.kai-ehlers.de)

 

[1] www.kai-ehlers.de: „Europa ohne Russland?“

[2] W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn. Traktat über die Planetarität der Menschheit und das Projekt Gottes in der Geschichte. Mit einer Einleitung und einem  Nachwort von Erzpriester André Sikojev, Edition Hagia Sophia, Philosophia Eurasia 3, Wachtendonk, 2018

[3] Peter Krüger, W.I. Wernadskij, Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 55, Teubner Verlagsgesellschaft, 1881

Außerdem: Kai Ehlers, Sowjetunion – mit Gewalt zur Demokratie?, Galgenberg, Hamburg 1991, Exkurs S. 39

[4] W.I. Wernadskij, Biossphäre und Noossphäre, Moskau 2013, S. 262 zitiert nach W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn, S. 70

[5] In der Anmerkung  zu Beginn seiner Einführung schreibt Sikojev u.a.:

Brzezinskis geopolitischer Klassiker The grand chessboard – American Primary  and its geostrategic  Imperatives (1977) trägt im deutschen Untertitel Amerikas Strategie der Vorherrschaft (2015) . Henry Kissingers „World Order“  ist demselben monopolaren  imperialistischen Raumdenken geschuldet, auch wenn  Kissinger  sich sehr viel mehr  als sein politischer Vorläufer wissenschaftlich fundiert  und kritisch reflektiert mit den eigenen Ansprüchen auseinandersetzt.  Beide Fundmentalwerke der Geopolitik  sind bis heute aktuell, zumindest  für das Verständnis  der zentralen  Euro-Atlantischen  Machtstrukturen und ihre Handlungsführer.

Den wichtigsten Gegenentwurf zu diesem anglosächsischen auf dem Exklusivgedanken  der Auserwähltheit  der westlichen Zivilisation  aufgrund des finanzökonomischen Erfolgs ihres Wirtschaftsmodells beruhenden – lieferte die Eurasische Schule A.G. Dugins mit den Grundlagen des Eurasiertums (Moskau 2002), Geopolitik (Moskau 2011) und Geopolitik Russlands (Moskau 2012)

[6] Alexander Dugin, Die vierte politische Theorie, ARKTOS, London 2013, S. 53/54

[7] Kai Ehlers, Themenheft 9, Sommer 2000: ‚Priemstwo‘ – Akzeptanz.  Russland auf dem Weg zu sich selbst. Gespräche über die russische Idee.

[8] ebenda

[9] Igor Tschubais, Wie wir  unser Land verstehen sollen, Shaker media, 2016, aus dem Russischen  Arsis Books, 2014. Zitate: S. 17, 29, 70

Kleiner Service zur aktuellen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA vom Dez. 2017

Soeben stellten die US-Behörden ihren diesjährigen 68 Seiten umfassenden Bericht zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vor. Es wird niemanden verwundern, dass die Strategie ganz nach dem von Trump ausgegebenen Motto „Make Amerika great again“ und „America first“ ausgerichtet ist, dem internationale Abkommen ohne Rücksicht auf Folgen in der Praxis der Trump´schen Administration bereits untergeordnet wurden. Im Trumps mündlichem Vortrag gehen die wenigen inhaltlichen Inseln möglicher Kooperation zudem in einer Flut Trump´scher und Amerikanischer Größe unter. Ein paar Kernaussagen sollten jedoch nicht übersehen werden.

Im ersten Kapitel „Frieden erhalten durch Stärke“ heißt es:

„Eine zentrale Kontinuität in der Geschichte ist der Kampf um die Macht. Die gegenwärtige Zeit unterscheidet sich davon nicht. Drei Hauptpunkte der Herausforderung – die revisionistischen Mächte Chinas und Russlands, die Schurkenstaaten  Iran und Nordkorea, und die transnationalen terroristischen Organisationen, besonders die djihadistischen Gruppen – treten aktiv gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten auf.  Obwohl unterschiedlich von Natur und Umfang, konkurrieren diese Rivalen auf politischen, ökonomischen und militärischen Feldern und nutzen Technik und Information, um die Konkurrenz zu verschärfen und damit die Machtbalance zu ihren Gunsten zu verändern.  Darin liegen fundamentale politische Unterschiede zwischen repressiven Systemen und solchen, die freie Gesellschaften bevorzugen.

China und Russland wollen eine zu den US-Werten und Interessen antithetische Welt.  China will die USA in der Indisch-Pazifischen Welt verdrängen, den Einfluss seines staatwirtschaftlichen Modells ausweiten und die Region in seinem Sinne reorganisieren. Russland will seinen Großmachtstatus wiederherstellen und die Einflusssphären an seinen Grenzen reorganisieren.  Die Intentionen der beiden Nationen sind nicht unbedingt festgelegt. Die USA stehen bereit mit beiden Ländern im gegenseitigen Interesse zu kooperieren.

Für Jahrzehnte  war US-Politik darauf begründet, dass Unterstützung für Chinas Entwicklung  und seine Integration in die internationale Nach-Kriegs-Ordnung China liberalisieren werde. Entgegen unseren Hoffnungen weitete China seine Macht auf Kosten der Souveränität von anderen aus.  China sammelt und nutzt Daten in Konkurrenzlosem Maße und weitet sein autoritäres System aus, einschließlich Korruption und Kontrolle. Es baut die fähigste und bestausgerüstete Streitmacht der Welt auf, nach der unsrigen. Sein nukleares Potential wächst und differenziert sich. Ein Teil seiner Modernisierung und ökonomischen Expansion verdankt China seinem Zugang zur innovativen US-Wirtschaft, einschließlich Amerikas Welt-Klasse Universitäten.

Russland zielt darauf den US-Einfluss in der Welt zu schwächen und uns von  unseren Verbündeten und Partnern  zu trennen. Russland betrachtet die NATO  und die EU (im Original engl. ausgeschrieben)  als Bedrohung. Russland investiert in neue militärische  Fähigkeiten, einschließlich  nuklearer Systeme, welche die existenziellste Bedrohung für die Vereinigten Staaten bilden. Durch modernisierte Formen subversiver Taktik greift Russland in die inneren politischen Angelegenheiten von Ländern rund um die Welt ein. Die Kombination von russischen Ambitionen  und wachsenden militärischen Fähigkeiten schafft eine unstabile Front in Eurasien, wo das Risiko zu Konflikten auf Grund  russischer Miss-Kalkulationen wächst.“

(Es folgen zwei Absätze zum Iran, Nord-Korea, IS, sowie Al-Kaida, danach der Satz: )

„Die Vereinigten Staaten werden Kooperationsfelder mit ihren Herausforderern auf der Basis der Stärke suchen.“

Unter der Überschrift „Regionales“ heißt es am Schluss unter dem Stichwort „Europa“:  

„Ein starkes und freies Europa ist von vitalem Interesse für die Vereinigten Staaten.  Wir sind verbunden durch unser Eintreten für die Prinzipien von Demokratie, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Zusammen haben wir Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und die Institutionen geschaffen, die Stabilität und  Reichtum auf beiden Seiten des Atlantiks brachten. Heute ist Europa eine der reichsten Regionen  der Welt und unser hervorstechendster Handelspartner.

Obwohl die Bedrohung des Sowjetischen Kommunismus vorbei ist, wird unser Wille durch neue Bedrohungen getestet. Russland setzt subversive Mittel ein, um die Glaubwürdigkeit  von Amerikas Eintreten für Europa zu schwächen, die transatlantische Einheit zu unterminieren  und europäische Institutionen  und Regierungen zu  schwächen.  Mit seinen Invasionen nach Georgien und in die Ukraine  hat Russland seinen Willen demonstriert die Souveränität der Staaten in der Region zu verletzten.  Russland fährt fort seine Nachbarn  in bedrohlicher Art durch nukleare Positionierung und durch die Aufstellung offensiver  Kapazitäten an den Grenzen einzuschüchtern.“

(Folgt, dass auch China Fuß in Europa fassen wolle, und zudem eine Bedrohung durch islamistischen Terror in Europa zunimmt)

„Die Vereinigten Staaten  sind sicherer, wenn Europa prosperiert und stabil ist und helfen kann unsere gemeinsamen Interessen zu verteidigen.  Die Vereinigten Staaten bleiben fest verbunden mit unseren Europäischen Verbündeten und Partnern.  Das NATO Bündnis freier und souveräner Staaten ist einer unserer großen Vorteile  gegenüber unseren Gegnern und die Vereinigten Staaten treten weiterhin für den Artikel V des Washingtoner Vertrages ein.“

Das gesamte Papier (englisch) gibt es hier: zur Ansicht und ggf. zum Download

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Katalonien – Signal für ein neues Staatsverständnis?

Es ist offensichtlich: Das Credo des nationalen Einheitsstaates ist in der Krise. Der Kampf um Kataloniens Unabhängigkeit ist nur der aktuellste Ausdruck dieser Tatsache. Ähnliche Konflikte gingen dem voran, weitere werden folgen.

 Der Wunsch von gut 50% der Bevölkerung Kataloniens nach Autonomie und Unabhängigkeit steht gegen den Monopolanspruch des spanischen Staates und gegen die ‚schweigende Mehrheit‘, die sich aus unterschiedlichen Gründen an der Abstimmung zum Referendum vom 1. Oktober 2017 nicht beteiligt hat. Dieser Konflikt kann weder zugunsten des spanischen Staates noch einer regionalen Abspaltung Kataloniens lebensförderlich gelöst werden, solange beide Seiten auf dem Boden des heutigen Verständnisses vom einheitlichen Nationalstaat stehen bleiben, das heißt, eines Staates, der, dominiert von der Ökonomie, sämtliche Lebensbereiche überformt und beherrscht. Grundsätzliche Veränderungen des Staatsverständnisses stehen an, die von  der Wirklichkeit des Zusammenlebens in unserer heutigen Welt gefordert werden.

 Diese Wirklichkeit liegt zum Ersten in der Tatsache, dass das globale Wirtschaftsleben schon längst alle nationalen Grenzen gesprengt und sich die Nationalstaaten als bloße Instrumente unterworfen hat.

Sie liegt des Weiteren in der historischen Erfahrung, dass alle Revolutionen, bürgerliche wie sozialistische, bisher nur dazu geführt haben, die Diktatur der Ökonomie mit anderem Namen, aber unverändertem Staatsverständnis auf immer neuem Niveau wiederherzustellen.

Sie liegt schließlich in der wachsenden emotionalen und spirituellen Verlorenheit vieler Menschen angesichts einer Welt, die, von ökonomischen  Kriterien beherrscht, beängstigenden Katastrophen entgegentaumelt.

Dies alles bedeutet nichts anderes, als dass die Menschen heute nach neuem Sinn, nach neuen Formen des Zusammenlebens und – nennen wir es mit einem aus berechtigten Gründen in Deutschland vorsichtig zu benutzenden Begriff – nach  neuer Heimat suchen, wo sie als Einzelne in überschaubaren, pluralen Zusammenhängen ihren Wert und ihre Würde finden können.

 

Autonomie – eine Forderung der Zeit

Vor einem solchen Hintergrund gewinnen die Bestrebungen nach Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit wie jetzt in Katalonien, wie zuvor in Schottland, wie in Norditalien, wie in vielen anderen Regionen Europas, die den Verlust ihrer lokalen oder regionalen Autonomie beklagen, ihre Erklärung und ihre Berechtigung als Ausdruck der Zeit – wenn sie ihre eigene historische Dynamik begreifen, die faktisch aus der überfälligen Übermacht des Staatsmonopols erwächst, die zugleich dessen Ohnmacht offenbart.

Bei wachem Blick wird zudem erkennbar, dass dies nicht nur eine europäische, sondern ein globale Dynamik ist, die den Osten ebenso wie den Westen, den Süden und den Norden betrifft. Die sich vermehrenden ‚eingefrorenen‘ oder auch nur mühsam eingehegten Konflikte am Rande der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan, in Mesopotamien, in Afrika, Südamerika, ebenso wie im asiatischen Teil der Welt sprechen eine unmissverständliche Sprache.

Zum tieferen Verständnis, welche Bedeutung diese Vorgänge für das heutige Leben haben, ist ein kurzer Blick in die neuere Geschichte des einheitlichen Nationalstaates unerlässlich.

 

Nationalstaat als Credo

Schon nach dem ersten Weltkrieg war klar, dass es die Konfrontation der europäischen Nationalstaaten mit ihren imperialen Ansprüchen war, die in die Weltkriegskatastrophe geführt hatte. Das Entsetzen war allgemein. Eine Wiederholung sollte unbedingt vermieden werden. ‚Nationale Selbstbestimmung‘ hieß das Zauberwort, unter dem das geschehen sollte. Unter dieser Parole wurde der auf europäischem Boden gewachsene nationale Einheitsstaat in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum Credo der zukünftigen Völkerordnung erhoben. Ein Völkerbund wurde gegründet, der diese neue Ordnung pflegen sollte.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen.

 

Sonderwege

Einen Sonderweg ging Russland, das, anders als Österreich und das Osmanische Reich, trotz Revolution und trotz massiver Interventionen des Westens auf Seiten der Konterrevolution als Vielvölkerzusammenhang erhalten blieb. Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung auch Lenin als Grundlage für die von ihm initiierte Grundorganisation der Sowjetunion. So entstand die Sowjetunion als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Ideologie. Stalin zerlegte das Land dann in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe des ‚Westens‘ hervorgingen.

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Notwendig sei eine Entflechtung von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben, trug er vor, die sich zukünftig unabhängig voneinander, aber in gegenseitiger Förderung und Kontrolle entwickeln müssten, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung aller Lebensbereiche zu überwinden. Darunter verstand er: Eine Wirtschaft in staatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten, ein Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung sowie eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, in dem die Menschen sich als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbinden.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

 Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Im Aufkommen der Restauration und im Verlauf der einsetzenden Faschisierung der deutschen und europäischen Verhältnisse fielen sie, ebenso wie jene Elemente der Neuordnung Wilsons, die demokratisch genannt werden konnten, sowie auch die revolutionären Hoffnungen im Gefolge der russischen Revolution den wieder wachsenden nationalstaatlichen Konfrontationen zum Opfer

Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat zum nationalen Totalstaat – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis seiner Entwürdigung als Mensch.

Ein entscheidender Fakt ist dabei zu beachten: Während die Wilsonsche wie auch die revolutionäre Variante des Nationalstaates bruchlos in den Totalstaat übergingen, gingen die Ansätze zur Differenzierung, wie sie die Dreigliederung ansatzweise entwickelte, zusammen mit den demokratischen und pluralen Elementen der Nationalstaaten in eben dieser Entwicklung unter.

 

Nie wieder Nationalismus?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsideologie groß: Nie wieder Nationalismus, lautete diese Einsicht, nie wieder Krieg. Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten geprägt. Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Idee des Völkerbundes, die zwischen den Weltkriegen gescheitert war, wurde in der Form der Vereinten Nationen wieder aufgenommen. Mit der EG, später der Europäischen Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und Entnationalisierung der Wirtschaft Rechnung zu tragen. Die Verfassung der Europäischen Union garantiert jedem individuellen und kollektiven Mitglied unveräußerliche Bürgerrechte – nicht zuletzt die freie Wahl seiner staatlichen Vertretung und Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Wenn jetzt das Credo des einheitliche Nationalstaats wieder benutzt werden soll, um Volkseinheiten, die nach einer eigenen autonomen Regierung streben, unter Androhung von Repression zu verpflichten, in dem nationalstaatlichen Zusammenhang zu verbleiben, in den sie im Lauf der Geschichte mehr oder weniger zufällig geraten sind, wenn die Europäische Union sich, obwohl auf Pluralität begründet, als Block hinter dieses Vorgehen des spanischen Nationalstaates stellt, so entspricht das weder der Verfassung der Europäischen Union, noch den Erfordernissen und Bedingungen der heutigen Zeit. Ein Aufbegehren dagegen ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig und weist in die Zukunft – wenn es nicht bei einer bloßen Abspaltung bleibt, die ihrerseits das Credo des einheitlichen Nationalstaats beibehält. Eine bloße Regionalisierung würde auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Multiplizierung des nationalstaatlichen Credos ins Kleine und tendenziell Unendliche. Das wäre eine sinnlose, sogar bedrängende Variante, deren Konsequenz nur die Wiederkehr krassester Spielarten des Nationalismus mit entsprechenden Vereinheitlichungs- und Säuberungs‘tendenzen sein könnte. Beispiele für solche Irrwege hat die neuere Geschichte leider auch zahlreich geliefert. Man denke nur an die Ukraine.

Was heute auf der Tagesordnung steht, ist die überfällige Befreiung des Lebens aus dem Monopol des einheitlichen Nationalstaats. Angesichts der historischen Erfahrungen, die zeigen, wie sich diese Staatsform immer wieder etabliert hat, wenn nur die Machtfrage, aber nicht die grundsätzliche Frage nach einem anderen Verständnis des Staates gestellt wird, kann das jedoch nicht zum widerholten Male als Eroberung der Macht geschehen, in die das herrschende Staatsverständnis mit hinübergenommen wird. Unumgänglich ist der bewusste Abschied vom Verständnis des Staates als einem alles regelnden Monopol und die schrittweise, aktive, kollektive Stärkung der heute bereits entwickelten Tendenzen, welche die Pluralität, die Dezentralisierung, die Kommunalisierung, die  vielfältigen Ansätze neuer Gemeinschaftsbildung usw., ebenso wie die übernationalen wirtschaftlichen und geistigen Strukturen als einen aus dem Leben hervorwachsenden Prozess schrittweise und beharrlich in die Realität bringt. Wenn dies als Impuls in den Wunsch nach Unabhängigkeit eingeht, hat sie ihren Namen verdient.

 

Das Buch zum Thema:

Jefim Berschin, dikoje polje, wildes Feld. Übersetzung aus dem Russischen. – Ein authentischer Bericht über den Sprachenkrieg in Moldawien am Ende der Sowjetunion 1992, der die politischen und ethischen Probleme eines Unabhängigkeitskrieges exemplarisch zeigt.

 

 

Europa verteidigen? – ja, aber gegen wen und wofür? Föderalistisches Pro gegen nationalistisches Contra

In letzter Zeit ist viel davon die Rede, Europa verteidigen zu müssen. Allen voran schlägt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ vor. In ihrem Schlepptau folgt die Verteidigungsministerin Ursula v. d. Leyen mit Aufrüstungsphantasien für die Bundeswehr. Der Kommissionspräsident der Europäischen Union Claude Juncker fordert die Mitglieder der Union zur Diskussion einer „Effektivisierung“ der Gemeinschaft durch deren „Differenzierung“ auf, lässt dabei allerdings ebenfalls seine Präferenz für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchblicken.  

Die Reihe derer, die in diesen Kanon einstimmen, ließe sich mühelos bis in die europäischen Stammtische fortsetzen. Selbst EU-Skeptiker, die eher eine fortschreitende Zentralisierung beklagen, lassen sich von diesen Tönen mitreißen.

Und ja, es gibt viel zu verteidigen. Es gibt sogar etwas zu gewinnen, nämlich ein demokratischeres Europa, eine gerechtere Zukunft, eine Wiederbelebung europäischen Geistes. Die Frage ist allein: Von welchem Europa ist die Rede, von welcher Bedrohung und wie soll diese gerechtere Zukunft aussehen?  Und was, schließlich, ist der europäische Geist? Darüber besteht ganz offensichtlich kein Konsens. 

Für die einen reicht Europa schlicht vom Nordkap bis Gibraltar, einschließlich Britanniens und Russlands bis zum Ural. Die anderen verstehen darunter die Europäische Union in den Grenzen ihrer Osterweiterung mit Optionen auf weitere Ausdehnung auf Kosten Russlands. Dies gilt vor allem für die nach dem Zerfall der Sowjetunion hinzugekommenen Mitglieder der EU. Sie „warnen“, wie die Polen,  vor einem „Kerneuropa“. Der Austritt Britanniens aus der Gemeinschaft dagegen stellt die EU als verbindlichen politischen Vertreter Europas offen in Frage. Andere wie die Griechen, denken über ihren möglichen Austritt nach.

Aus dem ganzen Wirrwarr taucht am Ende die Frage nach der Rolle Mitteleuropas aus der Vergessenheit der Geschichte wieder auf. Aber auch hier steht die Frage: Was wäre heute Mitteleuropa? Etwa Italien, Deutschland, Frankreich? Oder Deutschland, Polen und Frankreich? Oder Österreich, Deutschland und die Schweiz, also der  deutschsprachige Teil Europas? Oder schließlich einfach nur Deutschland als unerklärte Hegemonialmacht, wie man aus Auftritten deutscher Politiker in letzter Zeit schließen könnte?

 

Kurzer Rückblick in die neuere Geschichte

Angesichts dieses Chaos‘ ist ein kurzer Blick zurück in die neuere Geschichte unerlässlich, allerdings nicht etwa nur bis zu den Kinderschuhen der Europäischen Union nach dem zweiten Weltkrieg 1948/49, zu ihrer ersten Gestalt als Montanunion 1950 oder zu allen darauf folgenden Zusammenschlüssen  der EWG,  EG und schließlich der Europäischen Union; auch nicht nur bis zur Gründung des Völkerbundes nach dem ersten Weltkrieg 1920, sondern zurück in die Zeit vor diesen Versuchen gesamteuropäischer Zusammenschlüsse – in die Zeit,  als Europa noch nicht nach Nationalitäten, sondern in der Tradition des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“, also nach Fürstentümern gegliedert war.

Fixpunkt, bei dem ein solcher Rückblick in die neuere europäische Geschichte andocken kann, dürfte der Westfälische Friede von 1648 sein, mit dem der Dreißigjährige Krieg, der die Mitte Europas in eine Wüste verwandelt hatte, in eine erste, das ganze europäische Land umfassende Friedensordnung überging.

Was der Krieg 1648 hinterließ, war dennoch aber nicht etwa ein gesamt-europäischer Zusammenschluss, sondern eine Vielfalt der Fürstentümer und Kleinstaaten. Dynastische, auch religiöse, nicht ethnische Zugehörigkeiten waren die Basis dieser Ordnung.

Anders gesagt, die Entmischung des Vielvölkerraums  Europa nach ethnischen nationalen Kriterien hatte noch nicht stattgefunden,  was – dies sei hinzugefügt, um Kurzschlüssen zu begegnen – Pogrome gegen Andersgläubige, vornehmlich gegen Juden, aber auch andere wie die Hugenotten nicht ausschloss.

Mit Napoleons Eroberungen fand diese Zeit eine erste Wende. Die Reichsordnung des „Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation“ musste dem Code Napoleon weichen. Durch die Auflösung der alten Reichsordnung 1806 und nach der Niederlage Napoleons wurde, wie in Wikipedia richtig angemerkt, die staatliche Gestaltung Mitteleuropas zu einer zentralen Frage des 19. Jahrhunderts.

Die Frage stand: wie?  Würde sich aus dem Erbe des aufgelösten Reichsverbandes unter Aufnahme der Impulse, die aus der Krise der Habsburger Vielvölkertradition zur Lösung anstanden, ein föderales Mitteleuropa herausbilden oder der von Napoleon initiierte Nationalstaatsgedanke die Oberhand gewinnen?

Mit der Entscheidung der Revolutionäre der deutschen Revolution von 1848 für die damals so genannte „kleindeutsche Lösung“ anstelle der möglichen „großdeutschen“ wurden die Weichen auf nationalstaatliche Entwicklung Europas gestellt. Die Versammlung in der Paulskirche, in der über die Ergebnisse der Revolution entschieden wurde, stimmte für eine deutsche Einheit unter preußischer Führung  ohne Einbeziehung Österreichs. Österreich wurde damit aus der deutschen Entwicklung abgekoppelt.  

Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck vollendete diese Teilung Mitteleuropas in Kriegen Preußens gegen Dänemark, Hannover und die verbliebenen Kleinfürstentümer des deutschen Raumes, vor allem aber mit dem Sieg über die Habsburger 1866, also Österreich, und schließlich über die Franzosen. Am Ende dieser Politik, die als Bismarcks Politik von „Blut und Eisen“ in die Geschichte einging, stand die Gründung des deutschen einheitlichen Nationalstaats unter Kaiser Wilhelm in Versailles 1871.

Damit war der historische Moment für die Entstehung eines vielgliedrigen Mitteleuropa verstrichen, das die slawischen, deutschen und weitere Völker der alten Fürstenordnung Mitteleuropas in eine föderale Ordnung hätte überführen können. Sie hätte den Osten und den Westen, die südlichen und nördlichen Teile Europas als ausgleichende Mitte verbinden können. Was jetzt entstand, war ein ethnisch orientierter preußisch-deutscher Nationalstaat, ein expansiver Machtstaat anstelle eines möglichen föderalen und pluralen sich selbst genügenden Mitteleuropa, der seine Hegemonie gegen die revolutionären Forderungen der 48er Bewegung nach liberalen und föderalen Reformen und auf Kosten Österreichs mit Gewalt nach außen und Repression nach innen durchsetzte. Für seine Nachbarn, die mit der Kleinteiligkeit des mitteleuropäischen Vielvölkerraums gut hatten leben können, wuchs dieses wilhelminische Deutschland sehr schnell zu einer beängstigenden Bedrohung heran.

 

Zerstückelung Mitteleuropas

Das Ende dieser Entwicklung ist bekannt. Im ersten Weltkrieg entluden sich die Spannungen zwischen den noch bestehenden Strukturen der herkömmlichen europäischen und mit Europa verbundenen Reichsordnungen, also  zwischen Habsburg, Russland, im weiteren Sinne auch dem mit Europa über den Balkan sowie den Mittelmeerraum verbundenen Ottomanischen Reiches und den neuen Nationalstaaten Frankreich und dem Aufsteiger Deutschland. Besondere Spannungen ergaben sich zwischen Deutschland und Großbritannien, das als führende Kolonialmacht nach dem Niedergang Frankreichs zum unbestrittenen Hegemon Europas geworden war.

Weniger bekannt, genauer weitgehend aus der allgemeinen politischen Erinnerung verdrängt, ist das entscheidende Ergebnis dieses Krieges: Eine neue, über Europa hinausweisende Konstellation war durch den Kriegseintritt der USA an der Seite des Westmächte entstanden. Die Vielvölkerreiche der Habsburger und der Ottomanen verwandelten sich unter dem Diktat der Sieger, konkret durch das Programm der 14 Punkte, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson für eine Nachkriegsordnung vorlegte, in eine Vielzahl von Nationalstaaten. In der Folge ging die gewachsene europäische Völkersymbiose unter dem gutgemeinten Leitwort der Selbstbestimmung der Völker in ethnische Säuberungsansprüche und –kriege zwischen den neu geschaffenen Nationen über. Deutschland und Österreich wurden auf nationale Rumpfstaaten reduziert. Das alte Mitteleuropa war als politische Größe faktisch nicht mehr vorhanden.

Eine Sonderentwicklung nahm Russland ein. Zwar ging das zaristische Russland in den  Fluten der Februar- und dann der Oktoberrevolution von 1917 unter, die den Weltkrieg in Russland begleiteten, büßte auch seinen direkten Einfluss auf die slawischen Volksbewegungen Ost- und Südeuropas ein, der russische Vielvölkerorganismus aber blieb in der Gestalt der Sowjetunion als russisch dominierter Großraum erhalten.

Vom Ergebnis her hieß das alles: Das auf Deutschland  reduzierte Mitteleuropa war, scharf gesprochen, zur geopolitischen Geisel zwischen den  Westmächten und Russland geworden, hier repräsentiert durch die USA,  dort in der Gestalt der Sowjetunion.

Hitlers Versuch, das alte Mitteleuropa mit Gewalt, als groß-deutsches Reich, als deutschen Machtstaat, als deutschen Totalstaat, gestützt auf ethnische Säuberungen, die mit den gewachsenen Strukturen mitteleuropäischen „undeutschen“ Volksgutes endgültig aufräumen sollten, wiederherzustellen, endete mit der weiteren Zerschlagung der europäischen Mitte, mit der Teilung Deutschlands, mit einem geteilten Europa, eingekeilt im beginnenden Kalten Krieg zwischen West und Ost, dem atlantischen und dem sowjetischen Block. Das war eine nochmalige Zuspitzung der bereits nach dem 1. Weltkrieg entstandenen Situation. Die Gründung der Europäischen Union war der politische Ausdruck davon. Mit der Systemteilung der Welt trieb diese Entwicklung auf ihren Höhepunkt.

 

Und heute?

Auf die Öffnung der Mauer folgte die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, auf die Wiedervereinigung Deutschlands die Wiedervereinigung Europas, auf das Ende der Systemteilung der Welt die Globalisierung.

Aber ist damit die europäische Mitte wiederentstanden? Mitnichten. Entstanden ist ein deutscher Nationalstaat in einer Europäischen Union der Nationalstaaten. Miteinander suchen sie ihre Identität in dieser globalisierten Welt.

Die Europäische Union ist heute ohne Charakter – nicht West, nicht Ost, aber auch nicht Mitte.  Hin und her gerissen zwischen dem amerikanischen und dem Eurasischen Kontinent. Aber diese Polarität ist, obwohl noch vorhanden und gegenwärtig propagandistisch äußerst strapaziert, doch schon beinahe Vergangenheit. Die Konstellationen sind komplizierter geworden.

Da sind, über den aktuellen Anschein hinaus, nicht nur die USA und Russland, zwischen denen sich die EU entscheiden müsste. Hochgekommen ist, neben den USA und Russland, inzwischen auch China, für das sein Präsident Xi Ping soeben beansprucht hat, als Führungsmacht steuernd ins Weltgeschehen eingreifen zu wollen. Er möchte eine multipolare Weltordnung entstehen lassen. Da ist weiterhin die Türkei, die unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf eine Wiedergeburt Ottomanischer Größe im Mesopotamischen Raum orientiert. Da sind der Iran, Indien, Südamerika, da ist Afrika, da ist schließlich noch der politisch noch offene pazifische Raum – sie alle sind Größen, die Achtung erfordern.

 

Verteidigen?

Dies alles sind Herausforderungen – ja! Existenzielle Bedrohungen, wie sie in letzter Zeit in EU-Kreisen beschworen werden, gehen von dieser Konstellation für Europa allerdings nur dann aus, wenn nicht Kooperation im Zuge einer entstehenden multipolaren Ordnung, sondern Konkurrenz von Blöcken zur Leitschnur des Handelns gemacht wird, wenn mögliche Partner, seien es die USA, seien es Russland oder China zu Feinden und Un-Kulturen aufgebaut werden.

Auch die Migration aus dem Süden des Globus muss nicht in die Katastrophe führen, weder für die „entwickelten“ Industrieländer des globalen Nordens insgesamt, noch im Besonderen für die Europäische Union, wenn die Staaten der „noch nicht entwickelten“ Länder, zumeist ehemalige Kolonien, zuallererst durch einen allgemeinen Schuldenerlass, sodann durch gleichberechtigte Handelsbeziehungen anstelle der gegenwärtigen Knebelverträge aus den Fesseln der Abhängigkeit tatsächlich, nicht nur formal entlassen und als gleichberechtigte Partner akzeptiert und gefördert werden.

Zu verteidigen ist Europa aber entschieden gegen diejenigen, die von einer Überwindung des Nationalismus sprechen, während sie unter dem Stichwort eines „Kerneuropa“ die kriselnde Europäische Union real unter das Diktat eines Supra-Nationalstaates EU bringen wollen, der in Konkurrenz zu den bestehenden Großmächten Anspruch auf Weltführerschaft erhebt.

Noch klarer gesprochen, zu verteidigen ist Europa gegen eine erneute deutsche Dominanz in einem solchen „Kerneuropa“, die die Fehler eines deutschen Nationalstaates nach Bismarck, Wilhelm II. und dem „Dritten reich“ zum vierten Mal wiederholen könnte.

Wohin gehört unter diesen neuen Bedingungen heute Europa? Im Grunde wäre die Antwort klar, wenn die Europäische Union, allen voran darin Deutschland als deren Mitte, es schaffte, sich auf seine Geschichte vor den großen nationalen Katastrophen im zweiten, im ersten und noch vor den Kriegen Bismarcks zu besinnen: Europa gehört nicht in einen Block mit den USA, aber auch nicht in einen anderen mit Russland, ebenso wenig in einen dritten mit China. Die Entstehung solcher Blöcke wäre ein gefährlicher Brandsatz.

Ein Europa, das sich auf seine Vergangenheit besinnt, könnte die Kräfte entwickeln, die solchen Blockbildungen entgegenwirkt. Die heute entstandene globale Lage fordert geradezu einen Rückgriff auf jene damals nicht zur Entwicklung gekommenen föderalen Kräfte, die durch die Nationalstaatsordnung des 19. Und 20. Jahrhunderts abgewürgt wurden, die durch die gegenwärtige Organisation der EU jetzt noch weiter abgewürgt zu werden drohen. Europa muss sich an seine ur-eigenen Kräfte der Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen erinnern.

Allerdings geht es jetzt nicht mehr nur um Mitteleuropa zwischen dem Osten und dem Westen Europas, generell nicht mehr nur um Grenzgänge zwischen Osten und Westen. Jetzt geht es um ein föderal organisiertes Gesamteuropa, das seinen Platz als Vermittler in einer globalisierten Welt der Vernetzung und Kooperation findet. Dieses neue Europa muss nicht als alternativer Weltpolizist auftreten, der die USA in dieser Rolle ablöst, sondern als Botschafter, der den Geist des Ausgleichs am eigenen Beispiel einer funktionierenden föderalen Demokratie in die Welt zu tragen versucht.  Das wäre eine Antwort auf die Fragen, die am Anfang dieses Artikels gestellt worden sind. Das wäre, was europäischer Geist genannt werden könnte. 

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:

Kai Ehlers, Themenheft 19: Europa wohin? Ausgewählte Texte.

Zu bestellen über: www.kai-ehlers.de

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Neu: Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen. Ethischer Aufschrei aus den Sprachenkriegen am Ende der UdSSR am Beispiel Moldawiens

Geleitwort des  Herausgebers

Geschichte wiederholt sich nicht. Und wenn sie sich doch wiederholt, dann nur als Farce, wie wir heute zu sagen gewohnt sind. Manches Mal offenbaren sich die Ereignisse von gestern allerdings auch als die embryonale Form nachfolgender Kataklysmen. 

So ist es mit dem moldauischen Sprachenkrieg, über den der Moskauer Schriftsteller und Poet, Jefim Berschin, der als Korrespondent der „Literaturnaja Gazeta“ direkt in die Geschehnisse hineingezogen wurde,  in  seiner dokumentarischen Erzählung Zeugnis ablegt.

Mit Gewalt versuchte eine moldauisch sprechende Mehrheit, der nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion soeben in die Unabhängigkeit  taumelnden sozialistischen Sowjetrepublik Moldau, im Sommer 1992 der Bevölkerung des seit Jahrhunderten vielsprachigen Moldauer Raumes im Namen einer nationalen Einigung die moldauische Sprache als einzige aufzuzwingen.

Der Versuch führte zu einem eruptiven Gemetzel, kurz, aber extrem brutal und blutig, das mehr als 1500 Menschen das Leben kostete. Eine Einigung wurde nicht gefunden. Die jenseits des Dnjestr lebenden Teile der Bevölkerung Transnistriens, die die gewaltsame Verengung ihrer Vielvölkerkultur auf das Moldauische nicht akzeptieren wollten, erklärten sich zur unabhängigen Republik. Völkerrechtlich wurde sie bis heute von niemandem anerkannt. Die unentschiedene Beziehung zwischen Moldau und der Dnjester-Republik schwelt, um es paradox zu formulieren, heute als einer der „eingefrorenen Konflikte“ im Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen. Russland, unterhält dort eine Friedenstruppe von ca. 1000 Mann.

Was damals in einer kurzen Eruption geschah, wiederholt sich mehr als 20 Jahre später in einem um Vieles erweiterten Maßstab im ukrainischen Krieg, in dem wieder versucht wird in diesem extrem pluralistischen Raum des süd-östlichen Europa, zudem in unmittelbarer Nachbarschaft zum moldauischen Schauplatz von 1992 eine nationale Einheit, diesmal die ukrainische mit Gewalt gegen sprachliche und kulturelle Minderheiten zu erzwingen.  Mindestens 10.000 Menschen fanden bei diesem gnadenlosen Schlachten bisher den Tod, nicht gerechnet die ungezählten die Opfer von Unterernährung, von Krankheit und die mehr als eine Million Flüchtlinge, die Zerstörung der Potenzen eines von Natur aus reichen Landes, die die Bevölkerung ins Elend gestürzt hat.  

Der ukrainische Krieg erscheint wie ein in überdimensionales aufgeblasenes Déjà vue des Moldauer Sprachenkrieges. Continue reading “Neu: Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen. Ethischer Aufschrei aus den Sprachenkriegen am Ende der UdSSR am Beispiel Moldawiens” »

Brexit, Russland, Noworossija Kritischer Blick aus Russland auf die (europäische) Linke

Kai Ehlers/Boris Kagarlitzki

(Kai Ehlers) Der Brexit bringt es an den Tag: Wer geglaubt hat, das politische Russland nähme keinen Anteil am europäischen Geschehen, weil es zu sehr mit sich selber beschäftigt sei, sieht sich dieser Tage eines Besseren belehrt.

Zwar hält sich das offizielle Russland mit Stellungnahmen weitgehend zurück, um so aufmerksamer  jedoch werden die Vorgänge  von Seiten der radikaldemokratischen Opposition verfolgt, wie dem unten folgenden Text aus dem Moskauer ‚Institut für Fragen der Globalisierung‘ zu entnehmen ist. Das Institut, das von Boris Kagarlitzki geleitet wird, vertritt die radikaldemokratischen Teile der Opposition in Russland. Seine Vertreter sind nicht zu verwechseln mit den Kritikern,  die Putin  bis heute mit Argumenten des gescheiterten Jelzinschen Liberalismus attackieren.

Im radikaldemokratischen Lager fühlt man sich aktuell an die Erfahrungen erinnert, die in den zurückliegenden drei Jahren mit dem Verlauf der ukrainischen ‚Revolution‘ gemacht werden mussten, wo Ansätze zur Entwicklung von Demokratie in Nationalismus und Separatismus stecken geblieben sind und schließlich in  dem ‚eingefrorenen Konflikt’ endeten, den wir heute sehen.

Zur Kritik an der Politik des Westens, der ‚Demokratisierung‘ predigte, aber wirtschaftlichen Niedergang und die faktische Kolonisierung eines „failed state“ für die Ukraine brachte, kommt die ernüchternde Bestandsaufnahme  für den östlichen Teil des Landes hinzu, in dem die Visionen für Autonomie und Selbstbestimmung im Zuge des  inner-ukrainischen Krieges in einer Militärverwaltung untergingen.

Zur Erinnerung: Im Juli 2014, kurz nach dem Übertritt der Krim in russisches Staatsgebiet, fand in Jalta/Krim eine  Konferenz des internationalen Solidaritätsnetzwerkes der Globalisierungsgegner statt, das zur Solidarität mit den von einem Krieg bedrohten Menschen in der Ukraine aufrief.  Von den rund  70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern kamen vier Fünftel aus den autonomen Republiken Donezk, Lugansk und anderen nach Autonomie strebenden Teilen der Ukraine, die übrigen aus Russland, Europa, Kanada und den USA.

Die Konferenz verabschiedete eine „Erklärung von Jalta“, die zur Solidarität mit den vom Bürgerkrieg bedrohten Menschen in der Ukraine aufrief. Darüber hinaus verabschiedeten die Versammelten den Entwurf einer vorläufigen rätedemokratischen Verfassung mit Grundstrukturen wirtschaftlicher und politischer Selbst- und Mitbestimmung in den zu schaffenden zukünftigen autonomen Regionen der Ukraine.

(Details zu der Konferenz vom Juli 2014 und Wortlaut der Jalta-Erklärung in deutscher Übersetzung auf der Website von Kai Ehlers unter dem Stichwort ‚Yalta-Erklrärung“ oder über die LINKS:  https://test.kai-ehlers.de/2014/07/erklaerung-von-jalta/ und: https://test.kai-ehlers.de/2014/07/internationale-konferenz-in-jalta-aufruf-zur-verteidigung-der-menschenrechte-in-der-sued-und-ostukrainekonferenz/

Die Ansätze für eine basisorientierte Demokratisierung, die in der Aufbruchstimmung der sich formierenden Donbas-Republiken formuliert wurden, wurden  aber nicht nur Opfer des Bürgerkrieges, in dem Kiew demonstrierte, dass es nicht bereit war und ist, Strukturen der Selbstverwaltung  und Autonomie zu akzeptieren. Sie wurden auch Opfer der etablierten russischen Politik, die kein Interesse an revolutionären, ja, nicht einmal an radikaldemokratischen Entwicklungen hatte und bis heute  nicht hat – weder im eigenen Lande, noch in dem von ihm unterstützten Donbas.

Die folgende Analyse von Boris Kagarlitzki, der die  Ansätze zur demokratischen Selbstorganisation in den nach Autonomie strebenden Gebieten der Ukraine seinerzeit aktiv zu fördern suchte, beleuchtet die Parallelen zwischen dem Scheitern der ‚Demokratisierung‘ der Ukraine, insonderheit der Niederschlagung der Ansätze zur Selbstverwaltung im Donbas und den europäischen Entwicklungen, die zum Volksentscheid in England führten.

Vor dem Hintergrund der existenziellen nachsowjetischen Brüche und angesichts des harten Kampfes um neue soziale Organisationsformen und die Erhaltung der Einheit der russischen Gesellschaft kommt Kagarlitzkis Text in Kategorien daher, die in der moderaten Protestkultur Europas zurzeit nicht geläufig sind. Man wird sich aber wohl darauf einstellen müssen, solche Töne auch hier wieder öfter zu hören und sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen.

Kai Ehlers,

***

Brexit und Novorossija

(Zwischenüberschriften sind von Kai Ehlers gesetzt)

(Boris Kagarlitzki) Die Abstimmung der Briten, die sich für die Trennung von der Europäischen Union aussprachen, rief nicht nur Panik auf den Finanzmärkten hervor, sondern auch einen weltweiten Ausbruch der Empörung der liberalen Intellektuellen. Verblüffend dabei  ist, dass die Kommentare, die wir in den linksliberalen Publikationen auf dem Kontinent lesen, fast wörtlich mit dem übereinstimmen, was die Rechtsliberalen in der russischen Presse schreiben: Die Wahl der Briten erkläre sich ausschließlich durch Provinzialismus, Rückständigkeit, Xenophobie, Homophobie, durch die „Angst vor der Immigration“ und sogar durch Rassismus.

Die Autoren stören sich nicht einmal daran, dass viele von ihnen selbst noch vor kurzem England als das Musterbeispiel einer modernen, toleranten und demokratischen Gesellschaft präsentierten. Niemand interessiert sich für die Statistik, die mit der Teilung der Stimmen weniger in den Rassen- oder Genderunterschieden übereinstimmt, als in einem wesentlich bedeutenderen Maß den Klassenunterschied widerspiegelt.

Für den Austritt aus der EU stimmten vor allem die Arbeiterklasse und die unteren Schichten der Gesellschaft. Diese sozialen Schichten sind in der Regel tatsächlich nicht besonders gut gebildet, nicht selten auch mit Vorurteilen infiziert und ganz gewiss in den Neuheiten der postmodernistischen Philosophie nicht bewandert. Aber gerade die Bereitschaft der Linken sich selbst in einem Kultur-Ghetto einzuschließen, ihre Vorliebe dafür, sich  mit  ausländischen Kollegen auszutauschen, statt  unter den eigenen „unreifen“ Mitbürgern Aufklärungsarbeit zu leisten, zeichnet in hohem Maße die aktuelle Sachlage vor oder mehr, verschlimmert sie noch. Sehr leicht ist es, eine imaginäre und virtuelle Arbeiterklasse aus  romantischen Büchern oder Filmen zu lieben, wesentlich schwieriger ist es, die Bedürfnisse und Nöte der real existierenden unteren Schichten zu verstehen.

Sinn und Inhalt der Ereignisse zu erörtern ist viel zu gefährlich, es könnte unangenehme Fragen hervorrufen. Genau deshalb möchte niemand darüber diskutieren, wie sich die Systemkrise der Europäischen Union entwickelt, die nichts anderes darstellt, als die institutionelle Verkörperung des Neoliberalismus. Oder die Tatsache, dass die Massenstimmungen in Großbritannien die Oberhand über den Konsens der Eliten gewannen: unter Bedingungen, als alle wichtigen Parteien zur Wahl des Status Quo aufriefen, als die führenden Publikationen und die offiziellen Vertreter der Expertengemeinschaft das Volk einstimmig aufforderten, alles beim Alten zu lassen, und im Fall der falschen Wahl mit allen möglichen Heimsuchungen drohten, entschied sich das Volk. die Veränderung zu wählen.

Die Wahl des Brexit als einen Ausdruck des englischen (oder noch ein wenig – walisischen) Nationalismus zu verstehen, ist für die Eliten sowohl Russlands als auch Westeuropas bequem und nutzbringend, nicht nur weil eine solche Interpretation uns von der Frage des Systemcharakters der Krise wegbringt. Die Diskussion wird auf eine „falsche Fährte“ gelockt, um die Erörterung einer  praktischen Politik zu blockieren, die es erlaubt, die Protestwahl in den Anfang weitreichender Veränderungen zu verwandeln, die potentiell  revolutionären Charakter tragen.

 

‚Rechtsruck‘ der europäischen Linken

 Unter den westlichen Linken zeichneten sich solche Tendenzen schon damals ab, als die radikal antikapitalistische Rhetorik Antonio Negri’s und seiner Anhänger während des französischen Referendums über die Europäische Verfassung zur Grundlage der Agitation für die Übernahme des offiziellen Brüsseler Projekts wurde. Damals führte die gleiche Wahl gegen die EU faktisch nicht nur zum Sieg der Linken, sondern auch der Anhänger der „französischen Eigenart“, jedoch hatten die Linken zu diesem Zeitpunkt die Führung in der „Nein“-Bewegung und konnten diese Tatsache erfolgreich ignorieren.

Im Verlauf der seither vergangenen Jahre änderte sich die Situation nur darin, dass die Linken in ganz Europa nach rechts gerückt sind und den Slogan der europäischen Integration in die Legitimation ihrer eigenen Bereitschaft verwandelten, die gegebene Ordnung zu akzeptieren, praktisch im Austausch für das Privileg diese theoretisch zu kritisieren. Von diesem Moment an, unabhängig von der Radikalität der Worte, nahmen die respektablen linken Intellektuellen in jeder Situation einer praktischen Wahl die Seite der neoliberalen Eliten ein – gegen die „ungebildete“ und „rückständige“ Bevölkerung.

Internationalismus besteht aber nicht darin, die Integrationspolitik, die im Interesse des globalen Kapitals durchgeführt wird, mit Rührseligkeit zu unterstützen, sondern darin, auf der internationalen Ebene einen Widerstand gegen diese Politik solidarisch und koordiniert zu führen. Der Verrat der Intellektuellen wurde zum gesamteuropäischen Phänomen, nachdem die Klassenmerkmale durch kulturelle  Theorie und vielfältige elegante „Diskurse“ ersetzt wurden, deren Reproduktion zu dem Hauptkriterium mutierte, das erlaubte die „Unseren“ von den „Fremden“ zu unterscheiden.

 

‚Verratene Massen‘

 Die von den Linken verratenen und vergessenen Massen wurden nicht nur sich selbst überlassen. Indem sie ihre Vorurteile und den politischen Aberglauben behielten und noch mehr als vorher kultivierten, wurden sie  noch empfänglicher als zuvor für die nationalistische Ideologie. Wenn die Tätigkeit der Banker und der „über alle Grenzen hinweg“ agierenden Korporationen sich praktisch als der Inbegriff des “Internationalismus“ darstellt, und die demokratischen Rechte zugunsten der von niemanden gewählten und niemandem (außer vor den gleichen Bankern) verantwortlichen europäischen Beamten beschnitten werden, verwundert es nicht, dass einfache Menschen ihre Erlösung an Hoffnungen in einen Nationalstaat festzumachen beginnen.

Interessant, dass die europäischen Intellektuellen durchaus bereit waren, die Berechtigung dieser Gefühle unter Einwohnern Lateinamerikas anzuerkennen, in Russland aber schon nicht mehr.  Und je mehr  ähnliche  Proteste sich in den Ländern des „Zentrums“ zu entwickeln begannen, die dort Veränderungen von globaler Bedeutung herbeiführen können, traten die Ideologen der liberalen Linken einträchtig für den Schutz der bestehenden politischen Ordnung und der dominierenden Ideologie ein. Die gesellschaftliche Basis der Länder Europas wurde als „rückständig“, „inadäquat“ und „wild“ deklariert, genauso, wie man vor 150 Jahren die Eingeborenen als rückständig und wild bezeichnete, die der Kolonisation unterworfen werden sollten.

Es ist bezeichnend, dass in diesem Zusammenhang die russische liberale Öffentlichkeit erneut als Wegbereiter der antidemokratischen Reaktion hervortrat. Ihre Philippika an die Adresse ihres eigenen „mit mangelndem Bewusstsein ausgestatteten“ Volkes übertraf in erstaunlichem Maße die Muster, Ideen und Stereotypen, die sich – nur erst später – unter den Intellektuellen im Westen verbreiteten.

Dass die „Eingeborenen“, unabhängig von ihrem Kultur- und Bildungsniveau, gleichwohl Interessen und Rechte besitzen, stellt sich erst dann heraus, wenn die ignorierten und „unzivilisierten“ Massen aufhören zu schweigen. Ja, ihre Sprache erweist sich als stotterig und sogar einfältig. Aber in ihr klingen die Wahrheit und der Wille derer, die man lange Zeit nicht hören wollte.

Indes bedeutet die Bereitschaft der Menschen unangemessene und altmodische Formeln zu wiederholen bei Weitem nicht, dass sie ihre unmittelbaren Interessen vergessen. Sie beginnen zu handeln, ausgehend von  ihren eigenen Nöten, sind jedoch gezwungen ihre Bedürfnisse in unangemessener Form zu formulieren. Dafür muss man zuallererst den Linken – in England und auf dem Kontinent – die Schuld geben, die sich die Führung in der Bewegung der Massenproteste aus der Hand nehmen ließen, beziehungsweise es nicht vermochten, diese zu erlangen. Gerade die berauschende Selbstvergiftung der linken Intellektuellen mit den modernen liberalen Ideen spielte hier eine verhängnisvolle Rolle – nicht nur für den Massenprotest, sondern in erster Linie für die Intellektuellen selbst, die heute aus dem Ohnmachtsschock noch nicht erwacht sind: sie werden von der Bevölkerung in England genauso abgestoßen, wie in Russland.

 

Russische Linke und Novorossija

Kein Wunder, dass die Spaltung der Linken auf dem Kontinent (und ebenso in England) in Bezug auf Brexit sich genauso darstellt wie die in Russland und in der Ukraine in Bezug auf die Ereignisse in Novorossija. Dort und hier sahen wir den Aufstand von unten, der von dem radikalen Teil der linken Bewegung unterstützt wurde,  welcher der Klassenideologie gegenüber loyal blieb. Dort und hier sahen wir, dass die Forderung nach sozialen Rechten, der Protest gegen die neoliberale Politik der Europäischen Union und gegen die eigene Regierung oft einen Ausdruck in „unangemessenen“ Parolen fand – nach einer „russischen Welt“ oder einer „britischen Eigenart“. Dort und hier nahmen die raffinierten liberalen Intellektuellen die Unkorrektheit des völkischen „Diskurses“ zum Anlass, denen Solidarität zu versagen, die wirklich für gesellschaftliche Veränderungen kämpfen.

Die russischen Intellektuellen mit ihrer Verachtung für das eigene Volk und ihrer Bereitschaft, ihm unentwegt sein Unverständnis für die „europäischen Werte“ vorzuwerfen, fand endlich die folgerichtigen Gleichgesinnten auf beiden Seiten des Ärmelkanals.

Und wenn vor drei oder vier Jahren die Ereignisse in der Ukraine und Novorossija dem westlichen Intellektuellen als eine kurzweilige, aber etwas beängstigende Exotik erschienen, so sehen wir jetzt, dass sie lediglich ein besonderes Modell des gesamteuropäischen, vielleicht sogar weltweiten Prozesses demonstrierten.

Unglücklicherweise kann man geschichtliche Veränderungen nicht durch eine einmalige Willensäußerung an den Wahlurnen erreichen. In England beginnt alles erst. Die Regierungskreise der Insel verbergen ihr Streben nicht, den Willen der Bürger zu sabotieren, auch wenn sie diesen verbal anerkennen. Allein die Machtübernahme einer linken Labour-Regierung unter der Leitung von Jeremy Corbyn würde ernsthaft und konsequent erlauben, die Urteile des Referendums zu erfüllen. Der Bewegung für den Austritt aus der EU steht bevor, nicht nur den Widerstand der konservativer Eliten zu überwinden, sondern auch das Schwanken der Labour-Führung  und sogar seines Parteivorsitzenden selbst, der sich im Moment der entscheidenden Wahl nicht entschließen konnte, die eigenen Anhänger öffentlich zu unterstützen.

 

Großbritannien vor dem Zerreißen?

Während der Auseinandersetzung wird man unzweifelhaft versuchen, Großbritannien zu bestrafen, indem man den Staat auseinanderreißt. In diesem Zusammenhang steht den Linken bevor, ihr Verhältnis zu ihren „kleinen Völkern“ zu überdenken, ebenso wie die Bolschewiki nach 1917 dazu gezwungen waren. Wenn sie die territoriale Einheit nicht hätten erhalten können, hätten sie keine Chance gehabt, eine so massive Transformation umzusetzen. Und wenn Lenin und seine Mitstreiter nicht ein Land mit einer mächtigen Verteidigungsindustrie und reichen Kriegstraditionen geerbt hätten, hätten die „Roten“ kaum den Bürgerkrieg gewonnen.

Heute beobachten wir die gleiche geopolitische Logik in Großbritannien. Kaum hat sich die Mehrheit in England für eine Abspaltung von der Europäischen Union ausgesprochen, erklang sogleich die Forderung nach der schottischen Unabhängigkeit, die für ein Bestreben des „europäischen und fortschrittlichen“ Schottlands ausgegeben wird, sich von dem „rückständigen und provinziellen“ England abzuspalten. Aber es genügt, einen Blick auf das Geschehen auf dem Kontinent zu werfen, um zu verstehen – gerade die englischen Wähler drückten die neuen gesamteuropäischen Tendenzen und Bedürfnisse (in ihrer besten und schlimmsten Gestalt) aus. Das britische Referendum weckt nicht nur die nationalen Gefühle der kontinentalen Völker, sondern dient als Mobilisierungssignal für alle, die danach streben, das neoliberale Regime der Wirtschaft zu beenden und einen gesamteuropäischen Marsch auf die Wiederherstellung eines Sozialstaates zu beginnen. Aber die schottischen Nationalisten, ungeachtet ihrer ganzen progressistischen und modernistischen Rhetorik, zeigten sich als das, was sie wirklich sind – die Erben der Reaktionär-Jakobiner, die gegen die englische Revolution kämpften und sich dem gesamteuropäischen Fortschritt bereits im XVII und XVIII Jahrhundert widersetzten.

Genau damals wurde die Frage der schottischen Unabhängigkeit gelöst, die sich als ein Hindernis für die herangereiften Veränderungen nicht nur in England, sondern zu allererst in Schottland selbst erwies.

 

‚Revanche‘ für Thatchers Erbe

1980 verkündete der Machtantritt Margaret Thatcher’s den Beginn der neoliberalen Ära zunächst für Europa und später für die ganze Welt. Diese Ereignisse, zunächst als englische Einzigartigkeit wahrgenommen, nahmen nach und nach ein globales Ausmaß an. Der reaktionäre Angriff auf den „Sozialismus“, von Thatcher ausgerufen, endete in der Zerschlagung des sozialen Staates auf dem gesamten europäischen Kontinent, einschließlich der UdSSR-Republiken.

Fixiert wurde der reaktionäre Sieg durch den Vertrag von Maastricht, der die Europäische Union in ein neues Gefängnis der Völker verwandelte, in dem jeder Versuch den Neoliberalismus zu überwinden, sich als ein Anschlag auf die Verfassungsordnung darstellt. Zu diesem Zeitpunkt bildete sich das Schicksal der Sowjetrepubliken vollständig heraus. Selbst die Teile, die nicht offiziell in den europäischen Integrationsprozess eingebettet waren (wo man nur die „saubereren“ Baltikum-Staaten zuließ), nahmen mehr oder weniger die Logik der Privatisierung und antisozialer Reformen an.

Wie sehr die Veränderungen, die sich in den frühen 1980-ern in England entfalteten, unser eigenes Schicksal beeinflussten, erfasste unsere Gesellschaft (die damals gelähmt und unbeweglich erschien) in vollem Maße erst Jahrzehnte später. Das, was heute in England geschieht, betrifft uns nicht weniger. Wir sehen den Anfang einer neuen historischen Etappe, im Laufe derer die Chance hochkommt, den Neoliberalismus zu besiegen und auszumerzen und die gesellschaftliche Ordnung im eigenen Land genauso wie in ganz Europa zu verändern. Die Massen, denen ihre demokratische Souveränität von den liberalen Eliten gestohlen wurde, erhalten endlich die Gelegenheit für eine Revanche.

Der Kampf europäischer Völker gegen das neoliberale Regime der Europäischen Union bildet den wichtigsten politischen Inhalt der Epoche. Das Ergebnis dieses Kampfes hängt vom Umfang der Solidarität zwischen den Basisbewegungen und ihrer Fähigkeit ab, sich aufgrund der gemeinsamen Ziele und Aufgaben zu einigen, die Vorurteile und Illusionen zu überwinden und zu demontieren, und sich von entwertetem Vokabular und den veralteten Begriffen zu befreien.

Und wenn auch die politische Situation in Russland heute hoffnungslos gelähmt erscheint, wird unser Land auch diesmal nicht nur nicht neben dem sich entfaltenden globalen Prozess stehen, sondern wird sich höchstwahrscheinlich, wie es schon mehrmals in der Geschichte vorkam, als der Platz erweisen, an dem dieser Prozess seinen Höhepunkt erreicht und wo die entscheidende Schlacht stattfinden wird.

 

 

bei Kai Ehlers zu  zu beziehen:

 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg, Hamburg, 2014/5.

Band I: Gorbatschow und Jelzin, ISBN: 978-3-944233-28-4, 19,00 €

Band II: Putin, Medwedew, Putin, ISBN 978-3-944233-28-4 18,00 €

Die beiden Bände geben einen authentischen, chronologisch verfolgbaren Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika

und im heutigen Russland.

Hier Vorschläge aktuell — Stand 12.04.2018

  • Ukraine, Syrien, Korea – Bestandsaufnahme und Analyse des aktuellen Propagandakrieges
  • Kann Deutschland neutral sein? Überlegungen zur Rolle Deutschlandsals Scharnier und Mitte im Ost-West-Konflikt
  • Angst vor Russland, warum?
  • Putin im Fadenkreuz – Warum und wie Russland das durchhalten kann.Eintauchen in die Frage der russischen Autarkie
  • Europa ohne Russland? Kann es Europa ohne Russland geben? Betrachtungen zu paradoxen Verbundenheit und Russland und Europa.
  • Auf der Suche nach der russischen Idee. Skizze aktueller Ansätze. Gibt es einen russischen Nationalismus?
  • Dreigliederung – Traum oder Weg aus der globalen Krise?
  • Was treibt die Menschen in den Krieg? Egoismus, Altruismus, ethischer Individualismus

Zwei Anmerkungen noch:

Ich bin auch zur Übernahme von Themen bereit, die Ihnen das aktuelle Geschehen aufdrängt,

Nach wie vor stehen die Themen in meinem Angebot, die Sie weiter unten finden.

Mit freundlichen Grüßen, Kai Ehlers                                              

Spoiler-Titel
 

Generelles:

  • Was ist das Russische an Russland? Stichwort: Vielvölkerorganismus statt Nationalstaat
  • Mitteleuropas Aufgabe zwischen westlichem Herrschaftsanspruch und östlichem Kulturkeim. Stichwort: Vermittlung von westlichem Individualismus und östlichen Gemeinschaftstraditionen
  • Krise des Nationalstaats. Stichwort: Notwenigkeit und mögliche Formen einer neuen Völkerordnung
  • Was ist am Islam so attraktiv? Stichwort: Islam (bis hin zum Islamismus) als ganzheitliches (verführerisches) Angebot jenseits der „Alternative“  von Kapitalismus ODER Sozialismus
  • 1917 bis 2017 – Aufbruch oder Jahrhundertstau? Stichwort: Rückschau auf die Dynamiken des Jahrhunderts, Ergebnis und Ausschau
  • Revolte der „Überflüssigen“? Stichwort: Ausbau der Festung Europa innen und außen?
  • Wie wir wirklich leben wollen – Elemente einer Vision

 

Prinzipielles:

  • Seminar: Neue Formen des Denkens (kennenlernen und einüben).  Stichwort: Lebendige Dialektik von Stau und Bewegung nach den Gesetzen des  (kretischen) Labyrinthes

Für eine genauere Bestimmung der Themen nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf,
entweder über das nach folgende Kontaktformular oder direkt per Mail: info@kai-ehlers.de

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    Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

    Aus der Befassung mit dem soeben in deutscher Fassung erschienenen Tschuwaschischen Nationalepos: „Ylttanbik – der letzte Zar der Wolgabolgaren – Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts“ sowie dem schon 2011 erschienenen Epos „Attil und Krimkilte – das Tschuwaschische Epos zum Sagenkreis der Nibelungen“ auf dem zurückliegenden Treffen des „Forum integrierte Gesellschaft“, blieb – über den Lesegewinn hinaus – die Frage zurück, welchen Sinn und welche Funktion „nationale Wiedergeburt“ in einem Staat wie Russland heute, welche Rolle genereller Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung in der gegenwärtigen Krise hat.
    Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
    Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
    Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
    Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
    Und weiter: Als Nationalstaaten galten und gelten auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings der EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
    Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
    Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
    Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
    Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
    Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine Gültigkeit mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
    War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Mißachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
    Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
    Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
    Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
    Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
    Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
    Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
    Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
    Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

    Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

    Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

    Über diese Frage soll beim nächsten Treffen des Forums gesprochen werden und zwar ausgehend von der – zugegebener Maßen – provokativ gestellten Frage, die uns direkt ins Herz des Problems hineinführen wird:

    „Islamischer Staat“ – eine Herausforderung zur geistigen Erneuerung?

    Treffen: Sonntag, den 13. 03. 2016, Beginn 16.00 Uhr

    Anmeldung erwünscht unter info@kai-ehlers.de
    Und wie immer mit Kleinigkeiten zum Knabbern.

    Kai Ehlers, Christoph Sträßner

    Link zu den oben genannten Büchern: in www.lai-ehlers.de

    1. Ylttanbik – letzter Zar der Wolgabolgaren…
    2. Attil und Krimkilte …

    Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

    Ukraine, Syrien, Libyen, Irak, Türkei, Afghanistan – unter dem Druck der Flüchtlingsströme von Süden in den Norden des Globus jetzt auch die Europäische Union: das Kampffeld, auf dem nationale Souveränität in Frage gestellt wird und wo sie umso radikaler behauptet wird, weitet sich zusehends aus. Die großen Mächte schieben nationale Souveränität beliebig beiseite, kleine Völker wie die Kurden, wie die Uiguren Chinas, wie Indigene Südamerikas ringen um Autonomie oder „nationale Widergeburt“, arbeiten vergessene Geschichte in eigenen Epen auf. So etwa die Tschuwaschen Russlands, deren neuestes „Nationalepos“ soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist.
    Bei all dieser nationalen Selbstbesinnung und ihrer gleichzeitigen Zerstörung stellt sich die Frage, welche Bedeutung Autonomie, nationale Wiedergeburt, genereller nationale Souveränität, Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung, die heute als Norm gilt, in der gegenwärtigen Krise hat.
    Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
    Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
    Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
    Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
    Und weiter: Als Nationalstaaten galten und werden faktisch auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings die EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien gehandelt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
    Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
    Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
    Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
    Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
    Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine „nationale“ Gültigkeit, genauer, keine nationalen Grenzen mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
    War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Missachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
    Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
    Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
    Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
    Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
    Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
    Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
    Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
    Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

    Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

    Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

    Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

    Epos Ylttanbik noch in der Post. Nächstes Mal – Ylttanbik, Vielvölkerstaat, Nationalstaat

    Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden
    Bericht vom 51. „Forum integrierte Gesellschaft“ am Sonntag, 19.12.2015

    Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis, mit dem Ziel kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt.
    Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,

    Dies wird ein sehr kurzer Bericht. Der Vorweihnachtszeit und dem der damit verbundenen Tatsache geschuldet, dass das Buch „Ylttanpik – der letzte Zar der Bolgaren.“, das Epos über die Verschiebung der Mitte der Welt durch den Sturm der Mongolen, das wir heute besprechen wollten, kam leider nicht rechtzeitig vom Drucker aus Polen…

    Wir haben es daher bei diesem Treffen bei einem allgemeinen Vor-Weihnachts-Check zur Lage belassen und werden uns das nächste Mal mit dem Epos und seiner Geschichte befassen. Dabei wollen wir die Gelegenheit wahrnehmen, die Geschichte und die Gegenwart des Vielvölkerstaates Russland anzuschauen und der Frage nachzugehen, ob man diesen Staat als Nationalstaat bezeichnen kann. Damit werden wir dann mitten in den aktuellen politischen Geschehnissen landen.

    Die Buchanzeige mit Klappentext könnt Ihr auf der Website www.kai-ehlers.de lesen. Das Buch selbst wird beim nächsten Mal vorliegen.

    Thema also:
    Vorstellung des ins deutsche übertragene und historisch kommentierte tschuwaschischen Epos
    „Ylttanpik – der letzte Zar der Bolgaren und Debatte um die Frage, ob der russische Vielvölkerstaat ein Nationalstaat ist oder ob das Zusammenleben in ihm und auch mit ihm anderen Regeln folgt.

    Wir treffen uns am 17. Januar 2016 um 16.00 am üblichen Ort.
    Interessierte können den Ort unter info@kai-ehlers.de erfragen.

    Ich wünsche Euch und uns allen einen guten Übergang ins neue Jahr.

    Im Namen des Forums integrierte Gesellschaft,
    Kai Ehlers, Christoph Sträßner

    Screenshot Syrien – Vom Schachspiel zum Poker

    Die Schärfe der globalen Spannung, die zurzeit über Syrien lastet, fordert über die Tagespolitik hinaus mehr Beachtung der langfristigen Wirkungen der dortigen Vorgänge. In Kurzem:

    „The Grand Chessboard…“ nannte Zbigniew Brzezinski sein bekanntestes Buch, in dem er die Strategie der US-Regierung Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts vor aller Welt offenlegte. Essens der Strategie war: Es dürfe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, durch den die USA zur einzigen Weltmacht geworden seien, kein neuer Rivale auf dem Globus heranwachsen, der die Vorherrschaft der USA in Frage stellen könne.

    An dieser Zielvorgabe ließ sich die US-Politik bis in den Ukrainischen und auch bis in den Syrischen Krieg hinein messen: Unruhe schaffen, um mögliche Rivalen zu schwächen. Hauptadressat dieser Politik war und ist das nachsowjetische Russland als Impulsgeber einer multipolaren Welt.

    CIA-Vorgaben aus den Jahren 90/91 des letzten Jahrhunderts, die empfahlen, dem absehbaren Bevölkerungswachstum der ehemaligen Kolonialgebiete wirksam entgegenzutreten, bildeten den nicht-öffentlichen, aber keineswegs geheim gehaltenen Hintergrund dieser Strategie. In den Vorgaben wurde vorgeschlagen dafür zu sorgen, dass die in den ehemaligen Kolonialländern heranwachsenden „Überflüssigen“ (in der Fachsprache der Dienste „Youth-Bulge“, Jugendüberschuß genannt) sich in lokalen Kriegen und Bürgerkriegen gegenseitig dezimieren.

     

    Die Partie stagniert

    Diese 91er Strategien, sagen wir es vorsichtig, haben sich überlebt. Die Jahrzehnte der einsamen US-Vorherrschaft wie auch der ebenso einsamen multipolaren Opposition Russlands dagegen gehen ihrem Ende entgegen. Eine neue Lage hat sich herausgebildet: Vergangen ist die unipolare Welt der scheinbar unaufhaltsamen neoliberalen Globalisierung, die sich nach Ende des Kalten Krieges unter der Dominanz der USA entwickelte hatte. Auch die der Globalisierung vorangegangene systemgeteilte Welt mit ihren leicht erfassbaren Freund-Feind/Sozialismus-Kapitalismus-Schablonen liegt weit zurück und ist nicht wiederholbar – auch nicht als Krieg der Kulturen.

    Entstanden ist eine globale Gemengelage gegenläufiger, sich auf vielfältigste Weise überschneidender Interessen, die sich in wachsender Rivalität gegenüberstehen. Die langfristigen strategischen Optionen der systemgeteilten, ebenso wie die der unipolaren und auch der multipolaren Welt sind nicht vergessen, aber sie schrumpfen zurzeit auf kurzatmige taktische Manöver zusammen. Im Kampf um Ressourcen, globalen Einfluss und mögliche Vorherrschaft ist das Schachspiel aktuell zum Poker verkommen, in dem sich die ‚Spieler‘ in wechselnden Bündnissen gegenseitig belauern, einander zu übervorteilen und ins Risiko zu ziehen versuchen.

     

    Eine neue Etappe

    Man mag vielleicht einwenden, dass Poker gewissermaßen die natürliche, die ‚normale‘ Form des politischen ‚Spiels‘ sei, dem gegenüber die Regeln der system-geteilten Welt nach 1945 und selbst noch jene der US-Alleinherrschaft nach 1991 die entwickeltere, die rationalere, weil Stabilität bewirkende Form des globalen Konflikt- und Friedensmanagements gewesen seien, dass die heutigen globalen Beziehungen dagegen von der vorübergehenden Ausnahme sozusagen zur historisch Regel zurückkehrten. Mit dieser Sicht ginge man jedoch an der inzwischen erreichten Eskalationsstufe der globalen Beziehungen vorbei, die man, um es paradox aber realistisch zu formulieren, als zunehmende Fragmentierung der Globalisierung charakterisieren kann. Die führt entweder ins Chaos oder auf bisher nicht beschrittene zukunftsoffene, lebensdienlichere Wege der gesellschaftlichen, man darf ruhig sagen, der kulturellen Entwicklung.

    In dem Maße, in dem die Weltbevölkerung technisch-logistisch als globale zusammenwächst, im dem Maße, in dem territoriale Entfernungen an Bedeutung abnehmen, steigt weltweit zugleich der Grad der Individualisierung, der Atomisierung und der Sektoralisierung der Gesellschaften in sich selbst genügende Einheiten, die ihre Beziehungen zu anderen Einheiten neu definieren müssen.

    Der Nationalstaat, wie er im letzten Jahrhundert als Zentralstaat definiert wurde, erst recht der ethnisch dominierte, sowie der mit dem Lineal ohne jede Rücksicht auf historische Gewordenheiten gezogene, verliert in diesem Prozess seine bindende Kraft. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass der Nationalstaat heute nicht mehr als Ausdruck eines Volkes, sondern als bloßer Rahmen für eine in viele Sektoren gegliederte Bevölkerung verstanden wird, deren Teile nicht selten mit der Außenwelt enger verbunden sind als mit den Menschen innerhalb der nationalen Grenzen.

    Zugleich verlieren die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten ihre Verbindlichkeit als grundlegende völkerrechtliche, besser gesagt globalrechtliche Ordnungseinheit. Auch sie sind, real betrachtet, in zunehmendem Maße nur noch Sektoren einer überstaatlichen, aber deshalb nicht etwa definierten und nicht etwa legitimierten allgemeinen Ordnung. Für die internationalen Beziehungen heißt das: Es herrscht das Recht des Stärkeren.

    All dies sind Indikatoren der Krise des Nationalstaats und der mit ihm verbundenen gegenwärtigen Völker-Ordnung in seiner bisherigen Form und Bedeutung. Die Krise kann kurzschlüssige Rückwendungen zu nationalistischen Exzessen wie in der Ukraine und als Gegenstück dazu Weltherrschaftsphantasien wie die des „IS“ hervorbringen. Sie kann aber auch zur Weiterentwicklung des Nationalstaates in Richtung souveräner, miteinander in föderalem Verbund gleichberechtigt kooperierender autonomer Regionen, politischer Großkollektive und länderübergreifender Korporationen führen. In dieser Entwicklung wird auch der Nationalstaat als rechtlicher Rahmen seine neue Bedeutung finden.

    Es stellt sich die Frage, welche Karte im globalen Poker um Syrien als nächste gespielt wird. Wenn Russland darauf besteht die Souveränität des syrischen Nationalstaates zu achten, ist das selbstverständlich noch nicht der endgültige Weg in die Zukunft, aber vermutlich ist es die Karte, die das geringste Risiko nach sich zieht, die ganze Runde zu sprengen und die Raum lässt für weitere Runden.

    Kai Ehlers
    www.kai-ehlers.de

    Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen

    Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.

    Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen. Continue reading “Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen” »

    NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel

    Erinnern wir uns: Die Ukraine wurde von der EU im Herbst 2013 in die Alternative des Entweder-Oder getrieben: entweder mit der eurasischen oder mit der Europäischen Union. Das Ergebnis liegt offen vor aller Augen: Spaltung der Ukraine in drei Teile: Kiew, Osten und die an Russland übergegangene Krim. Ein weiterer Zerfall des Landes droht, wenn nicht endlich der Dialog zwischen den nach Autonomie strebenden östlichen Gebieten Donezk und Lugansk, sowie anderer nach mehr lokaler Selbstverwaltung verlangender Teile der ukrainischen Bevölkerung aufgenommen wird, wie in den Minsker Vereinbarungen beschlossen, wenn stattdessen die Bestrebungen nach Autonomie von Kiew mit dessen „Anti-Terror-Aktion“ beantwortet werden. Continue reading “NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel” »

    NATO, Russland, Ukraine – ein Versuch Rote Linien zu erkennen

    (Überarbeiteter und gekürzter Vortrag von der Konferenz:
    „1955 – 2015: 60 Jahre BRD in der NATO – 60 Jahre Herausforderung für Friedenspolitik und Friedensbewegung“)

    .
    Siebzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, im zweiten Jahr des ukrainischen Krieges findet die Moskauer Parade zum Sieg über den Faschismus in Abwesenheit der damaligen Alliierten und heutigen westlichen Partner, dafür in demonstrativer Gegenwart des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping statt. An der Parade auf dem Roten Platz beteiligen sich anstelle westlicher Abordnungen wie in den Jahren zuvor dieses mal Paradetruppen aus China, Indien, Kasachstan, Weißrussland, Tadschikistan, Kirgisien und der Mongolei. Demonstrativ führt Russland sein modernisiertes Waffenarsenal vor. In seiner die Parade begleitenden Rede fordert Putin allerdings nicht etwa die Weltherrschaft, wie manche Medien ihm andichten, sondern die Schaffung eines weltweiten Sicherheitssystems ohne Blöcke.

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    Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

    Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

    Bericht vom 44. „Forum integrierte Gesellschaft“  am Samstag, 15.03.2015

    Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

    Das Thema ist gut für einen Streit. Und nicht nur für einen. Zunächst geht es darum, zu klären, wovon die Rede sein soll: Vom geographischen Europa – bis zum Ural, wie die traditionelle Einteilung unserer Schulbücher reicht? Vom Kulturraum Europa, der an der russischen Grenze endet – oder reicht er doch bis Wladiwostok? Von der Europäischen Union? Ist dann von der Eurozone zu reden? Oder von Brüssel? Oder von 28 Nationen, die darum ringen unter wachsender deutscher Dominanz ihre Eigenständigkeit zu wahren? Und sind die „europäische Friedensordnung“ der Schlüssel zur eurasischen und die eurasische der Schlüssel zur globalen Friedensordnung? Und braucht es dafür Tribunen, Demagogen, zeitweilige Diktatoren? Bringt der Prozess sie hervor oder behindern sie diesen Prozess? Continue reading “Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?” »

    Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk

    Kai Ehlers: Wie erleben Sie unsere heutige Situation?

    Irina Golgowskaja: Ich denke, dass die westeuropäische Zivilisation zusammenbricht, noch schneller als vor schon fünf Jahren. Das geschieht faktisch dadurch, dass Amerika als schärfster Ausdruck der westlichen Zivilisation, im Niedergang begriffen ist. Amerika versucht Putin zum Krieg zu provozieren und glaubt, dass es dabei davonkommt. Tatsächlich wird das anders ablaufen: Die Amerikaner beginnen, dann treten die Muslime mit in den Krieg ein, danach die Chinesen, Russland wird am Ende übrigbleiben. Continue reading “Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk” »

    Achtung – Mythen um die Ukraine

    Kaum ein Jahr ist seit dem politischen Umsturz in Kiew vergangen und schon verwandeln sich die damaligen Vorgänge und ihre Folgen in Mythen, die das Zeug haben, Geschichte zu erklären, bevor sie stattgefunden hat. Die wichtigsten sollen hier aufgezeigt werden.

     

    Mythos eins: Russland führt Krieg gegen die Ukraine:

    Diese Behauptung führt konsequent dahin, dass Angela Merkel und François  Hollande heute vor aller Welt in der Pose von Schlichtern auftreten können,

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    Putin ist kein Sozialist – Anmerkungen zum Lärm um Front National

    Putin ist kein Sozialist – Anmerkungen zum Lärm um Front National

    Die Gewährung eines Kredites über neun Millionen Euro an den Front National durch eine tschechisch-russische Bank (FCRB) hat einen Sturm der Entrüstung in der deutschen Öffentlichkeit hervorgerufen. Für viele Menschen ist Wladimir Putins Gefährlichkeit damit endgültig  bewiesen. „Der Deal mit Moskau“, war in „Spiegel-online“ zu lesen, „schürt Befürchtungen, Putins Russland  finanziere  gezielt populistische  Parteien und Gruppierungen, um die Europäische Union  als außenpolitischen Konkurrenten zu schwächen. Denn nicht nur nach Frankreich zum Front national streckt der Kreml seine Fühler aus. In Großbritannien umwirbt der Kreml die radikalen Europa-Gegner von Ukip. In Ungarn unterhält er gute Beziehungen  zur rechtsextremen  Jobbik-Partei. In Deutschland ist Putin auf der Suche nach einem politischen Partner fündig geworden: bei der Alternative für Deutschland. Die AfD wies einen entsprechenden Bericht jedoch als ‚falsch‘ zurück.“

    Zugegeben, der Vorgang irritiert – dabei könnte er eigentlich weniger irritierend sein als die die Tatsache, dass die NPD in Deutschland Staatsgelder über die Parteienfinanzierung erhält. Solche bekommt der Front National nicht; in den etablierten politischen Etagen der EU geächtet, konnte er sich nicht einmal einen Bankkredit besorgen. Jetzt fließt ausländisches Geld, zudem ausgerechnet aus Russland, mit dem die EU sich im Sanktionskrieg befindet. Das sieht aus, als müsste man bei der ganzen Angelegenheit ein bisschen tiefer stechen.

    Zunächst dies: Nicht Putin gibt einen Kredit, sondern eine Bank, zudem noch eine tschechisch-russische, also eine grenzüberschreitend arbeitende Bank. Zwar werden den Bankchefs vertraute Beziehungen zum russischen Präsidenten nachgesagt, aber dies kann man mit der gleichen Bestimmtheit von hunderten weiterer Personen sagen, die sich im Dunstkreis des Kreml aufhalten. Daraus folgt noch nicht, dass Putin der Auftraggeber dieses konkreten Handels ist, selbst wenn, wie der „Spiegel“ und andere berichten, Marie le Pen im Anschluss an das Krim-Referendum nach Moskau reiste, selbst wenn sie „eine gewisse Bewunderung“ für Putin zum Ausdruck gebracht hat und selbst wenn der Front National zu den „stärksten Kritikern“ der Sanktionspolitik der Europäischen Union gehört. In Russland ist, manche mögen es noch nicht bemerkt haben, seit ein paar Jahren das Wirtschaften nach den Regeln des neo-liberalen Kapitalismus eingezogen. Geld fließt dorthin, wo dessen Verfüger sich Rendite versprechen.

    Für Kritiker des Kapitalismus reicht eine solche Erklärung nicht aus. Der Vorgang bleibt politisch und auch moralisch anrüchig. Die heutige Realität des Geldes beschreibt diese Feststellung  jedoch genau. Das gilt umso mehr in einer Situation, in der ein Sanktionskrieg geführt wird, in dem politische Fragen über wirtschaftlichen Druck entschieden werden sollen – mit Sanktionen gegen Russland, mit Verweigerung von Krediten gegen eine politisch unbequeme Partei. Da stellen sich dann Allianzen her, die den mangelnden politischen Dialog auf ihre krude, materielle Weise ersetzen.

    Diese Feststellungen beantworten selbstverständlich nicht die weitergehende, sehr komplizierte Frage, ob und wenn, dann warum sich hinter der Kreditierung des Front National mehr als geschäftliche Interessen verbergen könnten, was dran ist an den Befürchtungen, dass sich eine EU-weite populistische Blockbildung herausbilde, in der linke, sozialistische und rechte nationalistische Kritiken an der gegenwärtigen Entwicklung der EU, aktuell an ihrer sinnlosen Sanktionspolitik zu einer europakritischen konservativen Bewegung zusammenfließen, die in Putin angeblich ihren Heilsbringer sieht.

    Genannt werden müssen hier die aktuellen Phänomene der sog. „Querfront“ –einer Bewegung, die links und rechts verbinden will, wie auch durchaus, die schon im obigen Zitat des „Spiegel“ genannten populistischen Parteien mit nationalistischen Programmen wie die deutsche AfD, die englische UKIP, die ungarische Jobbik-Partei,  die „Wahren Finnen“, die niederländische „Partei für die Freiheit“ und andere. Die Zuneigung dieser Parteien gegenüber Russland, selbst in den östlichen Teilen der EU, und die Offenheit Russlands ihnen gegenüber ist selbstverständlich keine Frage, die man übergehen könnte, sondern vor dem Hintergrund der historischen Abläufe wie auch denen der konkreten Entwicklung der heutigen Europäischen Union ein ernst zu nehmendes Phänomen – auch wenn der Hinweis darauf von Putin-Feinden als Totschlagargument in der politischen Auseinandersetzung benutzt wird und selbst politisch unbelastete Menschen mit Unverständnis darauf reagieren.

    Die einfachste Antwort auf das Phänomen liegt in der generellen Wahrheit des Satzes: Dein Feind ist auch mein Feind.  Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Frontbildung zwischen Russland und dem Westen  gewinnt dieser Satz eine beängstigende Realität. Da ist dem „Spiegel“ leider wieder zuzustimmen, allerdings nur halb, denn diese Realität ist sehr fadenscheinig: Was die EU schwächt, scheint Russland zu nutzen und umgekehrt. In Wirklichkeit schadet es beiden. Auch dem lachenden Dritten, den USA, könnte das Lachen auf Dauer vergehen. Diese Konstellation wird sich weiter verschärfen, solange die EU-Spitze – auf Kosten ihrer Mitgliedsländer, die nicht einverstanden sind, sondern unter den Folgen der Sanktionen stöhnen, wie auch auf Kosten ihrer Bevölkerung, welche die mit der Sanktions-Politik verbundenen „Opfer“ als Steuerzahler ausbaden soll, diese Politik fortsetzt.

    Das Ergebnis kann nur der Protest gegen den so praktizierten Brüsseler Einheitsanspruch sein, der sich vor dem Hintergrund einer ohnehin prekären Entwicklung der sozialen Lage einer wachsenden Zahl von Menschen in den Mitgliedsländern der EU mit der Kritik an den konkreten wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Sanktionspolitik verbindet.

    Das Phänomen der „Querfront“-Proteste, die rechts und links, nationale Frage und soziale Proteste miteinander verbinden wollen, ebenso wie die populistischen Parteien, die denselben Anspruch stellen, sind Ausdruck dieser Unzufriedenheit. Ihr durchgehendes Thema ist, bei allen nationalen Unterschieden, die Verteidigung der eigenen, politisch der nationalen, Interessen gegen eine „Überfremdung“ durch das internationale Kapital – und dessen Hauptvertreter die USA, vertretungsweise die Europäische Union als deren Juniorpartner. Darin treffen sie sich unter dem Druck des Sanktionskrieges, der von eben diesen Kräften gegenwärtig gegen Russland geführt wird, voll und ganz mit der einfachen russischen Propaganda.

    Ich sage  ‚einfache russische Propaganda‘, weil auf etwas weniger einfacher Ebene zwischen westlichen und russischen Vertretern des Big Business, traditionell gesprochen, des großen Kapitals zu gleicher Zeit, aber hinter verschlossenen Türen Verhandlungen über die Ausweitung von  Geschäftsbeziehungen geführt werden. So zu lesen in der neuesten Ausgabe von „German Foreign Policy“ vom 28.11.2014. Der Sanktionskrieg wird, wie es in dem Bericht wohl zutreffend eingeschätzt wird, zwar fortgesetzt, aber nur um die Fixierung der Rangverhältnisse geführt. Dies mildert die politische Situation allerdings nicht, sondern verstärkt noch die Reflexe einer großen Mehrheit von Menschen, sich vor den Machenschaften dieses internationalen Kapitals in ihre jeweiligen nationalen und sozialen  Nischen zu flüchten.

    Wo ist bei dieser Entwicklung noch Platz für Menschen, die sich von diesen Strömungen nicht in ein national-sozialistisches Revival auf neuem historischem Niveau mitreißen lassen wollen? Diese Frage erhebt sich nicht nur in Deutschland, nicht nur in der EU; sie erhebt sich ebenso im ehemaligen sowjetischen Raum, dort, wie  zurzeit in der Ukraine zu sehen, noch um einige Grade unvermittelter, weil im Transformationsprozess zusammengedrängter.

    Insgesamt gilt: Nicht einverstanden mit dem Siegeszug  der globalen Kapitalisierung nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Sozialismus, nicht willens zurückzukehren in überlebte Formen des Sowjetsozialismus, auch nicht bereit zu einem Einschwenken auf nationale Verkürzungen der globalen Krise, schon gar nicht in der extremen Form wie zur Zeit in der Ukraine oder im „islamischen Staat“, wird der Korridor, der aus der jetzigen Krise in eine Gesellschaft hinüber führt, in der wir wirklich leben wollen, spürbar enger.

    Um es ganz anders zu sagen: Zweifellos ist es notwendig dem sinnlosen Putin-Bashing entgegenzutreten und sich für ein Ende des Sanktionskrieges stark zu machen. Eine kooperative Ordnung verschiedener Weltmächte auf Augenhöhe, statt einer konfrontativen unter dem Diktat einer Hegemonialmacht USA, ist das Mindeste, was die Menschheit heute braucht. Dafür ist Russlands Rote Karte gegen die weitere US/EU-Expansion ein Segen. Ebenso sinnlos ist es aber auch, von Putin, ebenso wie von anderen Gestalten auf der gegenwärtigen globalpolitischen Bühne, etwas anderes als Realpolitik zu erwarten. Putin ist, um auf die Überschrift zurückzugreifen, kein Sozialist. Putin ist ein neo-liberaler Traditionalist, der gewachsene soziale Strukturen modernisieren, das heißt, für kapitalistische Produktionsweise  öffnen will. Darin trifft er sich durchaus mit den EU-Bürokraten. Sofern dies auf friedlichem Plateau geschähe, wäre schon etwas gewonnen. Die Debatte um die andere, die zu entwickelnde Zukunft jedoch muss aus der Mitte der Gesellschaft, nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzung mit  neuen nationalistischen Strömungen geführt werden, und sie muss radikal geführt werden, in Russland nicht anders als in Europa und anderswo auf dem Globus; selbst die USA sollten man nicht vergessen.

     

    Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                   Freitag, 28. November 2014

    Lesen Sie hierzu:

    Kai Ehlers, Die Kraft der ‚Überflüssigen‘, Pahl-Rugenstein, 2013

    Kai Ehlers, Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte, 2. Auflage, 2007

     

    Ukraine – Bestandsaufnahme im Juni

    Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

     

    Bericht vom 37. „Forum integrierte Gesellschaft“  am 22.06.2014

    Thema: Und immer noch die Ukraine.

    Eine Bestandsaufnahme im Juni

     

    Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums, liebe Interessierte!

    Es hat jetzt einige Monate gebraucht, bis wir uns wieder  im Forum versammelt haben. Noch steht unsere von den Stürmen des Frühlings zerstörte Versammlungsjurte nicht wieder, aber ihre Wiedergeburt in neuer Gestalt ist für September geplant.

    Doch die zerstörte Jurte war nicht der einzige, nicht einmal der wichtigste Grund für die lange Berichtspause – es waren die Ereignisse in und um die Ukraine, die uns so in Anspruch genommen haben, dass für zusätzliche Berichte keine Kraft mehr blieb.

    Allmählich ist nun aber absehbar, dass wir mit weiteren Versammlungen unseres Forums und den inzwischen fast traditionellen Berichten nicht weiter  warten können, bis irgendwann einmal Frieden in der Ukraine und eine entspannte internationale Lage, vor allem ost-west  eingetreten ist – denn auch wenn die Lage sich äußerlich aktuell unter dem Schirm dieses „Friedensplanes“ zu entspannen scheint, ist doch eine tatsächliche Lösung der ukrainischen Problematik und eine Ost-West-Entspannung noch in ziemlicher Ferne.

    Wir haben uns daher bei unserem letzten Treffen am 22.Juli, zwei Tage nach der Vorlage des „Friedensplanes“ zusammengefunden, um eine Bestandsaufnahme zu versuchen und fanden – ich sage das vorweg – weitaus mehr Fragen als Antworten.

    Nur in einem waren wir einig: Der Plan des neuen Präsidenten, so wie er von ihm eingangs vorgelegt wurde, war kein Angebot zu Verhandlungen, sondern ein Katalog, der Unterwerfung  von denen fordert, die bereit sind zu kapitulieren, während er die übrigen mit Ausweisung, bzw. wenn sie weiter Widerstand leisten wollen, mit Liquidation bedroht. Inzwischen sieht es so aus, als ob selbst dieses arge Dokument dazu beigetragen hat, eine gewisse Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten zu fördern.– es sollte aber niemand übersehen,  dass auch nach Vorlage des „Friedensplans“ weiter geschossen wurde und bis zum Abfassen dieses Schreiben noch wird, und zwar von beiden Seiten und dass der Strom ziviler Flüchtlinge, der sich in die russische Föderation nach Norden und in die Krim nach Süden wälzt, in nicht zu kontrollierender Weise in die Hunderttausend geht.

    Dies alles gilt zweifellos auch noch nach der überraschenden Aufforderung Wladimir Putins an den russischen Föderationsrat, die ihm erteilte Vollmacht zur  Intervention in die Ukraine wieder aufzuheben. (Dieser Schritt kam Juni zwei Tage nach unserem Treffen vom 22. Juni)

    Unter dem Eindruck dieser Situation stellen sich jedoch einige grundlegende Fragen, die hier nicht erschöpfend beantwortet, aber doch wenigstens in Kürze aufgezeigt werden sollen.

    Die wichtigste Frage, die unter unterschiedlichen Aspekten immer wieder auftaucht, lautet:   Wird Russland sich dazu provozieren lassen, militärisch in die ukrainischen Konflikte einzugreifen? Wenn nicht, wie der aktuelle Schritt Putins deutlich zu machen scheint, dann warum nicht?

    Scheut Russland vor der Gefahr einer internationalen Isolierung, einem vielleicht gar möglichen militärischen Großkonflikt mit den Westmächten zurück?  Antwort: Sicher, ja. Positiv gesprochen, Russland hat weder Interesse an einer Zerstörung seiner wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen  zu den Ländern des Westens, auch wenn es sich China annähert, noch an einer militärischen Konfrontation. Russland ist nach wie vor damit beschäftigt, sich aus dem Trümmerfeld herauszubewegen, in das es mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion versunken war.  Die russischen Sorgen resultieren dabei aber weniger aus der Angst vor einem dritten oder wie manche meinen vierten Weltkrieg; ein Weltkriegs- Szenario gilt auch für Russland, trotz allen berechtigten Misstrauens gegenüber den Hegemonialdynamiken des Westens, der USA, aber auch der EU als nicht aktuell.

    Aktuell jedoch sind die Sorgen Russlands, sich an der Ukrainischen Krankheit anzustecken. Diese Sorgen haben Russland verleitet, sich auf eine übereilte Einverleibung der Krim einzulassen. Diese Sorgen veranlassen Russland jetzt sich demonstrativ aus den innerukrainischen Konflikten herauszuhalten. Die Ukrainische Krankheit – das ist nicht etwa nur der Separatismus,  nicht etwa nur der russische Nationalismus, der sich im Zuge der Kämpfe, im Gefolge der Flüchtlingsströme in Russland spiegelbildlich zur Ukraine ausbreiten könnte. Es ist vor allem die Dynamik einer sozialen Revolte,  die gegen die Ergebnisse der 25jährigen Oligarchisierung in der Ukraine rebelliert und die sich über die Grenzen der Ukraine auch auf russisches Land ausweiten könnte – denn zwar hat Russland das Stadium des nackten, privaten Oligarchentums, wie es heute noch in der Ukraine herrscht und jetzt unter Poroschenko noch einmal gefestigt werden soll, zugunsten eines  staatlich eingebundenen Oligarchentums hinter sich gelassen,  aber das hat die sozialen Differenzen zwischen arm und reich, zwischen den glitzernden Megastädten und den prekären Lebensverhältnissen auf dem Lande und in den Regionen nicht geringer werden lassen, sondern sie zu neuen sozialen Spannungen verschärft,  die auf Lösung drängen. Ein Partisanenkrieg am Bauch Russlands, ein Flüchtlingsstrom, der die russische Wirtschaft und Gesellschaft belastet, könnte unter diesen Umständen auch für Russland Unruhe bedeuten.

    Aber die Frage hat noch einen tieferen Kern: Was sind die Ziele der Volksrepublik Donbass/Lugans und der mit ihnen sympathisierenden Menschen in anderen Teilen der Ukraine – selbst in Kiew und im Westen des Landes, wenn auch durch die dort zur Zeit herrschenden nationalistischen Kräfte überdeckt? Auf den Punkt gebracht, wenn auch keineswegs von allen „prorussischen“,  „separatistischen“ oder einfach nur anti-oligarchischen Kräften gleichermaßen in klarem Bewusstsein  vertreten: die Forderung nach Selbstbestimmung gegenüber der Fremdbestimmung und Ausbeutung durch das oligarchische und jetzt auch noch vom Westen unterstützte Kapital, die Forderung nach räterepublikanischen Lebens- und Verwaltungsstrukturen, kurz: ein aus der Spontaneität kommender radikaler anti-oligarchischer, anti-kapitalistischer Ansatz mit starken Rückbindungen an sozialistische Traditionen. Nicht von ungefähr zogen kürzlich in Donezk zehntausende Stahlarbeiter mit Forderungen nach Vergesellschaftung  der großen Betriebe durch die Stadt. Solche Demonstrationen sind nur die Spitze eines Eisbergs.

    Wenn Poroschenko gegen diese Bewegung, deren Grundziele Selbstbestimmung, regionale Selbstverwaltung, Föderalisierung des Landes sind, im Namen einer Zentralisierung der Staatsmacht Krieg führen lässt, dann ist das klare Aufstandsbekämpfung, dann geht es darum – unterstützt durch seine westlichen Befürworter und Finanziers, den antikapitalistischen Funken, der in diesen separatistischen Impulsen liegt, niederzukämpfen.

    Und wenn Wladimir Putin den Donezker und Lugansker Separatisten seinerseits die Unterstützung versagt, dann deshalb, weil auch die neue russische herrschenden Klasse  diesen revolutionären Funken, wie schwach auch immer,  nicht im Land haben möchte.

    Ganz prinzipiell verstanden steht im Ukrainischen Konflikt die Forderung  nach Selbstbestimmung des Menschen als grundlegendes Menschenrecht gegen den Willen der herrschenden Eliten dieses Recht den Profitinteressen des Kapitals unterzuordnen.   Diese heute auf der globalen Tagesordnung stehende Auseinandersetzung wird in der Ukraine zur Zeit exemplarisch ausgefochten – wobei die Motive selbstverständlich nicht in ideologischer Reinheit auftreten, nicht allen Beteiligten gleichermaßen bewusst sind, sondern vermischt sind mit unklaren, widersprüchlichen, hier und da sogar einfach abenteuernden, wenn geplündert wird, sogar anti-asozialen Motiven. Aber wann war eine Revolution schon einmal ein Plan, den alle gleichermaßen gefasst hätten?  Auf Seiten der herrschenden Kräfte ist man andererseits nur in einem einig, dass diese Positionen nicht hochkommen dürfen. Diese Haltung gilt selbstverständlich auch für das nach-sozialistische Russland, bzw. seine herrschende Schicht.

    Es gibt hier noch vieles zu erörtern,  vor allem auch zu beobachten, wie der Konflikt jetzt ausgetragen werden wird – wird der revolutionäre Impuls einfach gnadenlos niedergemacht, wird er durch Spaltung teils integriert und neutralisiert, wird er sich in realen Veränderungen der Verhältnisse niederschlagen? So oder so werden die Impulse aus dieser immer noch offenen Situation die gesellschaftliche Wirklichkeit Russlands, Europas und generell l unserer heutigen Ordnung prägen, insofern die Ukraine das Feld ist, wo sich die drei entscheidenden Transformationslinien unserer heutigen Welt treffen und überlagern.

    Das ist die Überwindung des nachsowjetischen Traumas, aus dem heraus neue soziale Formen der Gemeinschaft gesucht werden. Das ist die nachholende Nationalisierung, die diesen sozialen Prozess überlagert. Und das ist der Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt, der sich in dem Integrationskonflikt zwischen Europäischer Union und Eurasischer Union, zwischen atlantischem und asiatischem Bündnisgeschehen ausdrückt. Russland als Teil Europas und zugleich Asiens spielt darin eine entscheidende Rolle.

    ***

    Der Rolle Russland werden wir uns beim nächsten Treffen unter der Fragestellung zuwenden, die durch die den aktuellen Propagandakrieg aufgeworfen wurde:

    Sucht Russland eine Revanche für seine Niederlage im Kalten Krieg 1991?

    Wir treffen uns am 20. Juli um 16.00 Uhr wie gehabt am bekannten Ort.

    Anmeldung bitte unter info@kai-ehlers.de oder Tel. 040 / 64 789 791

     

     

    Herzliche Grüße rundherum

    Im Namen des Forums für eine integrierte Gesellschaft

    Kai Ehlers, Christoph Sträßner

     

    (Für weitere Infos zur Krise der Ukraine – bitte : www.kai-ehlers.de )

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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