Kategorie: Themen in der Diksussion

Apropos Sanktionen: Ein Blick auf Russlands Ressourcen

Nach vorübergehender Annäherung zwischen Russland und dem Westen, speziell der EU, lautet die herrschende Frage des Westens heute wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse.

Wer glaubte, Russland fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder auf die Knie zwingen und zu einer Erdöl liefernden Regionalmacht, gar Kolonie herabstufen zu können, sieht sich getäuscht. Wieder einmal, muss hinzugefügt werden. Schon Napoleon, später Hitler unterlagen dieser Täuschung. Jetzt hat Russland den Erweiterungs-Offensiven der EU und der NATO ein klares Njet entgegengesetzt, verwandelt die vom Westen gegen das Land verhängten Sanktionen und Isolierunsversuche in neue eigene Entwicklungsschübe und festigt sein Bündnissystems mit den aus der US-Hegemonie heraustretenden Neuen Welt.

Woher nimmt Russland die Kraft der „Weltgemeinschaft“ auf diese Weise zu trotzen? Wie erklärt sich die Russland-Phobie der USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte?
Doppelt gestaffelte Autarkie

Die Antwort ist umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Die russische Autarkie ist doppelt begründet. Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen der eurasischen Weite: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Dazu gehört als besonderes Element auch noch die Vielfalt der in Russland lebenden Völker, die zusammen einen Organismus bilden, in dem Zentrum und Autonomie sich noch einmal unterhalb der staatlichen Verwaltungsstrukturen in besonderer Weise ergänzen.

Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder.

Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf der neueren Geschichte – wie oben schon angedeutet – bereits in die Lage, europäischen Kolonisierungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939. Heute ist es wieder so: Trotz Krise, trotz technischer Rückständigkeiten, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern auch dieses Mal wieder stärker aus der Krise hervorzugehen.

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte und von ihm abhängige – soziale Befriedungspolitk gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind: Beschluss einer neuen Militärdoktrin seit 2002, Auftritt gegen die USA bei der Münchner NATO-Tagung 2006, dazu eine, so möchte ich es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen, konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Es folgte das erste Njet gegen die NATO-Erweiterung 2008 im sog. Georgischen Krieg, in dem Russland sich gegen die weitere Ausdehnung der NATO in die Ukraine und nach Georgien wandte; gegenwärtig erleben wir die Aktualisierung dieses Njet im verdeckten Ukrainischen Stellvertreterkrieg zwischen EU/USA und Russland.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde Russland zum potentiellen Führer einer aus den ehemaligen Kolonien hervorgehenden neuen Welt, die sich aus der US-Hegemonie lösen will, während die frühere Neue Welt, die USA, sich im Versuch, ihren überhöhten Energiebedarf zu decken und ihre Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, sondern auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen wird.
Basis der Autarkie – extreme Bedingungen

Die russische Autarkie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch, Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden können. Diese Kombination von Reichtum und extremer Härte hat eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen Entwicklung, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch Privateigentum an Produktionsmitteln entstand, waren es lokale Ausnahmen und vorübergehende Erscheinung von kurzer Dauer, wie gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als neben den der staatlich initiierten Industrialisierung aus den dörflichen Strukturen zusätzlich private Industrie entstand, deren private Rechtsformen jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt wurden.

Das heißt, vor Ort, in den Weiten des russischen Landes, im Bewusstsein des Volkes war Eigentum „schon immer“ gemeinschaftlich organisiert. In der westlichen Geschichtswahrnehmung sind diese Verhältnisse als russische Dorfgemeinschaft, als Dorfdemokratie (MIR), russisch Òbschtschina bekannt; in Sibirien und im Süden Russlands waren es Genossenschaften freier Bauern, aber auch diese waren aufeinander angewiesene Gemeinschaften.

Die russischen Dörfer waren in ihrer Mehrheit ihrerseits Gemeineigentum des Zaren, der herrschenden Schicht, das heißt, des Hofes, der Kirche, des dem Zaren hörigen Dienstadels, alles zusammengefasst unter der Führung der zaristischen Selbstherrschaft, zu der Kirche und Staat sich verbunden hatten. Autarkie und Autokratie sind in dieser Geschichte untrennbar miteinander verbunden. Man hat es im Ergebnis im traditionellen Russland mit einer Wirtschafts- und Lebensweise zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit als „asiatische Produktionsweise“ charakterisierten. Damit waren Verhältnisse gemeint, wie sie auch aus dem alten Mesopotamien, aus Ägypten, von den Inkas, aus China, Indien usw. bekannt waren. . In der Industrie setzte sich diese Realität als staatlich initiierter Kapitalismus fort.
Asiatische Produktionsweise

Marx und Engels kategorisierten die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entlang zweier von ihnen angenommener Linien. Auf der Hauptlinie sahen sie, noch ganz einem ungebrochenen eurozentristischen Verständnis verhaftet, die Entstehung der abendländisch-europäischen Produktionsweise: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus – Kommunismus, die sich, basierend auf der Entwicklung des Privateigentums an Produktionsmitteln, dynamisch, unaufhaltsam, eskalierend von Revolution zu Revolution aus einer Formation in die nächst höhere bewege. Für Marx/Engels war Europa das Zentrum dieser Bewegung, heute sind es von Europa ausgehend die USA, allgemeiner der euro-amerikanische Westen. Auf der Nebenlinie verorteten sie die asiatische Produktionsweise, anders von Marx auch als gemeineigentümlicher Despotismus bezeichnet, die aus dem Zusammenwirken von dörflicher Selbstversorgung und einer ihr übergeordneten Bürokratie entstehe und von den Dörfern lebe (Priesterkaste, Gelehrtenhierarchie, Beamtenapparat…).

Prinzipiell formuliert: Die europäische Produktionsweise entwickelte Privateigentum als Motor der Selbstverwertung des Geldes, aus welcher der privatwirtschaftliche Kapitalismus hervorging. In ihr sind Staat, Kirche und Kapital getrennt und müssen sich immer wieder neu verbinden. Ihre Krisen tragen dynamischen Charakter. Die asiatische Produktionsweise entwickelt Gemeineigentum als Basis einer stabilen individuellen und allgemeinen Selbstversorgung unter der Herrschaft einer verwaltenden Klasse. Krisen entstehen periodisch aus der Schwäche der Bürokratie, nicht aus der Dynamik des Kapitals.

Marx bezeichnete diese asiatischen Formen der Wirtschaft im Gegensatz zur griechisch/römischen Sklavenhaltergesellschaft, in welcher einzelne Menschen zum Privatbesitz einzelner Menschen wurden, als eine „allgemeine Sklaverei“, weil in ihnen der Einzelne zwar frei, im Kollektiv aber dem Staat unterworfen oder gar hörig sei. Einen wesentlichen Unterschied der asiatischen Produktionsweise zur europäischen sahen Marx und Engels auch darin, dass die asiatische Produktionsweise keine innere Dynamik aufweise, die zum Kapitalismus dränge, sondern eine im Wesen sich immer gleich bleibende Gesellschaftsordnung sei, die als Krise der herrschenden Bürokratie zwar auch periodisch zusammenbreche, sich aber immer auf demselben Niveau wiederherstelle.

Marx und Engels entwickelten ihre Analyse am Beispiel der indischen Gesellschaft und bezogen auch die alten Hochkulturen mit ein. In Russland erkannten sie eine besondere Form der asiatischen Produktionsweise, die sich aus einer immer wieder erfolgten Mischung mit europäischen Elementen ergeben habe; eine Entwicklung billigten sie Russland jedoch nur im Kontext mit dem Kapitalismus und der Revolution im Westen zu.

Aber Marx und Engels irrten. Ausgelastet mit der Aufarbeitung der Entwicklung des europäischen Kapitalismus konnten sie die Analyse der asiatischen Produktionsweise nicht zu Ende führen. So konnten sie nicht erkennen, dass auch diese Gesellschaftsform, insbesondere in ihrer russischen Variante, periodische Modernisierungskrisen erlebte, die nach Zeiten des Zerfalls regelmäßig in eine Effektivierung des Systems von bürokratischem Zentralismus und Peripherer Autonomie übergingen, nur dass die Ursachen ihrer Krisen nicht in wirtschaftlicher Dynamik, sondern in bürokratischer Stagnation lagen.

Kurz, sie erkannten nicht, dass euro-amerikanische und asiatische Produktionsweise zwei Wege der Entwicklung sind, die nicht aufeinander folgen, sondern in Wechselwirkung neben- und miteinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen, sodass auch immer wieder neue Zwischenformen entstanden. Das gilt für die russische Geschichte, einschließlich ihrer sowjetischen Periode.
Russlands Besonderheiten

Schauen wir deshalb noch ein wenig genauer auf die russische Entwicklung: Russland entstand im offenen Niemandsland zwischen mongolischen Chanaten und westlichen Städten, in reicher Natur, aber der Weite und der Wildnis ausgesetzt. Ergebnis war die Selbstherrschaft der Moskauer Zaren als Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die polare Doppelstruktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau – autonome Versorgung im Lande. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Hinzu kamen die auf sich selbst bezogenen kollektiven Traditionen der in den zaristischen Organismus integrierten Völker, die eine Dynamik der Selbstbestimmung innerhalb des Gesamtorganismus bildeten – wenn auch zweifellos nicht immer ohne Konflikte.

Die Modernisierungswellen gingen über das Land, ohne die Grundstruktur von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen; Veränderungen vollzogen sich letztlich als Revolutionen von oben, als Teilimport westlicher Elemente, aber immer nur mit dem Ergebnis der Auswechslung von Personen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin provozierte als Reformer den bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus.
Modernisierungsetappen: Stolypin, Lenin, Stalin…

In den Umwälzungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts prallten asiatische und europäische Produktionsweise in Gestalt des von Europa ausgehenden Imperialismus und der bäuerlichen Realität Russlands besonders hart aufeinander. Die Revolution von 1905, ebenso wie die von 1917 waren Ausdruck dieser Entwicklung. In seinem Feldzug gegen die Selbstgenügsamkeit der Obschtschina wollte Stolypin im vorrevolutionären Russland die Fortsetzung der von Peter I. begonnenen Industrialisierung erzwingen. Die Dorfgemeinschaften sollten in Wirtschaften privater Großbauern überführt werden, die „überflüssigen“ Mitglieder der Dorfgemeinschaft sollten als Arbeiter in die Städte gehen. Am „Stolypinschen Kragen“, wie der Strick des Galgens von der Bevölkerung damals getauft wurde, endeten tausende von Bauern, die dieser Politik nicht folgen wollten – aber ihr Opfer dokumentierte auch das Scheitern der Stolypinschen Politik.

Lenin wiederholte den Stolypinschen Ansatz zur Industrialisierung der Landwirtschaft – aber nicht durch Auflösung der Dorfgemeinschaften, sondern indem er sie – Sowchosen und Kolchosen (Staatswirtschaft und kollektive Wirtschaft) – zu staatlichen Grundeinheit des neuen Staatswesens erhob. Ihre Struktur wiederholte sich im sowjetischen Aufbau der Verwaltung. Lenins Sieg über den Zarismus lebte einerseits von seinem Versprechen, jedem Bauern ein Stück Land zu geben. Gleichzeitig leitete er die Verstaatlichung der Landwirtschaft ein; Stalin setzte sie gewaltsam fort und verwandelte die kollektive Tradition des Landes zugleich in einen allgemeinen Zwangskollektivismus auf dem Lande wie in der Industrie. Wer sich weigerte oder angeblich im Wege stand, wurde deportiert und liquidiert. Aus dem agrarischen Despotismus des Zarentums wurde so ein planmäßiger industrieller Despotismus. Enteignung der Bevölkerung von ihrer gewachsenen Gemeinschaftstradition könnte man diesen Vorgang nennen.

Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa nur einfach den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde.

Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele. Diese Konstellation, wie schon frühere Konstellationen der russischen Lebensweise, wäre auf langfristige Stabilität, in westlicher Diktion „Stagnation“, angelegt gewesen, wenn sie nicht – dies allerdings stärker als früher – mit dem europäischen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase zusammengestoßen wäre. So ergab sich eine Konfrontation von prinzipiellem Charakter und historischen Ausmaßen: Selbstversorgung, auch auf industriellem Gebiet gegen Selbstverwertung des Kapitals und Selbstgenügsamkeit gegen konsumistische Expansion.

Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: für die Entwicklungszyklen der russischen Produktionsweise gelten offensichtlich andere Regeln als die europäischen. Sie lassen sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: Zusammenbruch nach langer Stabilität, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht, Stagnation. Phase zwei: Eintritt einer „verwirrten Zeit“, russisch: Smuta. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses in der herrschenden Schicht unter Hinzunahme von einzelnen Elementen der europäischen/westlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt jedoch erhalten. So war es nach dem Tod Iwans Iv. , im Westen besser bekannt als Iwan der Schreckliche, so nach den großen Bauernaufständen im 16. und siebzehnten Jahrhundert, so nach Peter I., so nach dem 1. Weltkriegs und danach, so ist es heute.
Heute

Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 – gegliedert in mehrere Etappen, versteht sich, die hier nicht im Detail auszuführen sind – individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“) und „Glasnost“ waren nicht die Ursache für neue Initiativen, sie waren der Ausdruck, das grüne Licht für eine schon lange befahrene Straße, auf der sich der Verkehr bereits gefährlich staute. Nach dem 17. Juli 1953 in der DDR, dem Aufstand in Ungarn 1956, dem Bau der Mauer 1961 war der Prager Frühling 1968 schließlich ein unübersehbares Zeichen; er zeigte aber auch, dass die sowjetische Staatsbürokratie noch nicht reif für die Smuta war. Einen theoretischen Reflex auf diese Entwicklung konnte man 1977 in Rudolf Bahros „Alternative“ nachlesen; einen zweiten in der Sowjetunion selbst am Ende der 70er in den Untersuchungen der Nowosibirsker Schule unter ihrer Leiterin Tatjana Saslawskaja.

Das Auftreten Michail Gorbatschows Anfang der 80er Jahre signalisierte die Bereitschaft der Führung der KPdSU zu einer der in der russisch-sowjetischen Geschichte üblichen Reformen von oben: Perestroika zielte auf eine gelenkte Befreiung der herangewachsenen Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese insgesamt aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung dieser Ordnung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung, nicht um die Einführung einer privatwirtschaftlichen Ordnung, auch nicht um die Verwandlung des asiatischen Typs der Produktion in den europäisch-westlichen.

Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung und Privatisierung des Denkens und Wollens, sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem sich beschleunigenden allgemeinen Zerfall führte. Der Druck der Anpassung an die umgebende Welt war einfach zu groß, um ihn kanalisieren zu können, die technische Revolution der neu entstehenden globalen Kommunikationsstruktur als Einwirkung von außen nicht – von heute aus gesehen: noch nicht – wieder beherrschbar. Mittel der Abschottung und Kontrolle der neuen Medien waren noch nicht zur Hand. Man könnte sagen, die Moskauer Bürokratie wurde von der Computerisierung überrannt. Boris Jelzin und seine ganz an den äußeren Einflüssen orientierten Reformer waren der Ausdruck dieser Dynamik – die sich dann im Schockprogramm Luft machte, das die Umwälzung innerhalb von zwei Jahren schaffen wollte.
Putin

Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand und besteht, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Nicht Nachvollzug, nicht Übernahme der europäisch-westlichen Produktions- und Lebensweise ist der Inhalt der nach-sowjetischen und heutigen russischen Transformation, sondern die Effektivierung des bürokratischen Kapitalismus auf privatwirtschaftlicher Basis.

Was dabei bisher herausgekommen ist, ist keine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus mit der ihm immanenten Selbstverwertungslogik des Kapitals, auf keinen Fall nur ein Nachvollzug westlicher Muster, sondern die Entstehung eines bürokratischen Zentralismus, der westliche und die russische Gemeinschaftstradition zusammenführt, eine Entwicklung also, die Elemente der zentralistisch gelenkten gemeineigentümlichen Ordnung mit privateigentümlichen Freiheiten zu verbinden sucht – das, was man im Westen ohne viel Verständnis für die innere Struktur des Landes „gelenkte Demokratie“ nennt.

Ihre widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Angleichung an die Standards der WTO sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite; dem auf der anderen Seite steht die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht, Subventionen für die eigene Landwirtschaft beizubehalten und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung gegenüber. Klar gesprochen: Russland wird sich auch in Zukunft nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, weil es aus seiner Geschichte die doppelt begründete Autarkie mitbringt: die Unabhängigkeit in den natürlichen Ressourcen und die Tradition der Eigen- und Selbstversorgung in der Bevölkerung, und autonomer Völker in einem übergreifenden zentralisierten Organismus.

 

Internationale Kraftlinien
Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen. Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Eine direkte militärische Zerstörung Russlands, die mehr bewirken sollte als nur eine vorübergehende Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Videovortrag: Globaler Maidan – Kampf um globale Menschenrechte

Liebe Besucherinnen, liebe Besucher dieser Seite.

Der oben genannte Vortrag zum „Globalen Maidan“ wurde von mir am 28.05.2015 auf Einladung der Initiative „artikel20gg“ in Berlin gehalten. Wegen seiner Aktualität, die man geradezu beängstigend nachhaltig nennen könnte, stelle ich ihn hier als ersten Beitrag nach meiner Rückkehr von meiner Sommerreise durch Russland noch einmal auf die Eingangsseite meiner WEB: Dialogverweigerung in der Ukraine, Druck auf Griechenland, „Überflüssige“, die nach Europa strömen… Suche nach Alternativen – als wäre das alles erst gestern gesprochen worden.

Zwei Teile: Vortrag und für Menschen mit Geduld Antworten in der anschließenden Diskussion. Über Rückmeldungen würde ich mich freuen.

http://artikel20gg.de/video/05-Ehlers.htm

 

Jefim Berschin, Kai Ehlers – Gespräch zur Lage in der Dnesterrepublik

Im Juli erklärte der ukrainische Präsident Poroschenko den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnesterrepublik „lösen“ zu wollen. Seitdem ist „Prednestrowien“ (so im Russischen) als neuer Krisenherd, der den ukrainischen Konlikt um eine gefährliche Dimension erweitert, ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Bei seinem Aufenthalt in Russland führte Kai Ehlers ein Gespräch mit Jefim Berschin über die Lage in der „Dnjesterrepublik“. Jefim Berschin wurde dort geboren, hat als Journalist der „Literaturnaja Gasjeta“ an den Kämpfen teilgenommen, die 1991/2 zur Abspaltung dieses Gebietes von Moldawien geführt haben. Er lebt heute als Journalist, Schriftsteller und Poet in Moskau. Das Gespräch wurde in Tarussa (kleine Stadt 200 Kilometer südlich von Moskau, im Sommergarten des dort wohnenden Herausgebers der Internetueitung „russland.ru“ Gunnar Jütte, geführt.

Das Gespräch kann russisch und deutsch gehört werden, es findet in simultaner Übersetzung statt.

http://www.russland.ru/sommergespraech-ueber-moldawien-video/

 

Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen

Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.

Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen. Continue reading “Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen” »

Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?

Das Aktuelle ist schnell benannt: der ukrainische Präsident Poroschenko möchte zusammen mit dem rumänischen Präsidenten Johannis den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnjesterrepublik (Transnistrien) auftauen, „damit ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität wiedererlangen und Transnistrien re-integrieren kann.“ Er will damit zugleich die von ihm immer wieder beschworene territoriale Einheit der Ukraine wiederherstellen, versteht sich.

Wenige Tage vor dieser Ankündigung hatte Poroschenko den ehemaligen Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, bekannt für seinen provokativen Kriegskurs gegen Russland 2008, als dessen Ergebnis die Enklaven Südossetien und Abchasien zurückblieben, zum Gouverneur des Bezirks Odessa ernannt. „Ich kam nach Odessa, um Krieg zu verhindern“, erklärte Saakaschwili in einem Interview der Deutschen Tagesschau vor wenigen Tagen, konnte sich aber nicht bremsen, sofort dazu zu setzen: „Es gibt den klaren Plan Russlands, die Region zu zerstören.“ ‚Krieg verhindern‘, das heißt für Saakaschwili also unmissverständlich, Russlands ‚klaren Plan‘ zu verhindern. Continue reading “Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?” »

Flammarion

Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas – Forumsdiskussion

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden
Bericht vom 47. „Forum integrierte Gesellschaft“ am Sonntag, 21. Juni 2015

Hallo allerseits,
liebe Freundinnen und Freunde des Forums integrierte Gesellschaft.

Die zurückliegende Runde des Forums konnte dem Thema, das sie sich gestellt hatte, sehr viel intensiver zu Leibe rücken als das beim vorigen Mal der Fall war. Hatte sich das Gespräch letztes Mal in einer Polarisierung zwischen allgemeinen Ohnmachtsgefühlen gegenüber den Machinationen „des“ Kapitals einerseits und subjektivem Aktivismus des Gutseins im eigenen Lebenskreis verloren, so trat dieses Mal die im Kern des Themas liegende Fragestellung umso deutlicher hervor: Was, bitte sehr, sind die Werte, für die Europa steht, stehen könnte, stehen sollte? Wird Europa dem von ihm selbst gestellten Anspruch gerecht? Und von welchem Europa ist schließlich die Rede? Continue reading “Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas – Forumsdiskussion” »

Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas – die andere Sicht. (Pressetext)

Zwei Botschaften der deutschen Kanzlerin begleiten zurzeit die Politik der Europäischen Union in Bezug auf Griechenland und die Ukraine. Die eine lautet: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die andere verspricht: In der Ukraine werden die europäischen Werte verteidigt. ... Wer tiefer gräbt, stößt auf genauere Beschreibungen der Werte, die die deutsche Kanzlerin schützen, verteidigen und erweitern möchte.

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Wladimir Putins Botschaft an den Westen: Ein Zeitfenster für Alternativen (so aktuell wie nie)

Wladimir Putins Rede auf dem Waldai-Forum in Sotchi am 24. Oktober 2014 war wohl der bisherige Höhepunkt verbalen Kräftemessens im Angesicht der gegenwärtigen globalen Krise. (1) Es war ein beachtlicher Auftritt mit dem Anspruch, eine globale Waldai Forum Putin RedeAlternative zu präsentieren.

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Ukraine – Nationalismus – Russischer maidan – Alternativen – Kriegsgefahr: Kai Ehlers spricht mit dem russischen Dichter-Schritsteller Jefim Berschin

Kai Ehlers: Die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist sehr gespannt. Wo siehst du die Gründe für diese Entwicklung?

 

Jefim Berschin: Ich denke, dass die Entwicklung schon seit langem läuft. Sie steuert jetzt auf den Höhepunkt zu. Es ist die Wirtschaft, die heute herrschende Konsumethik, die auf den Höhepunkt zutreibt. Nichts kann ewig wachsen.

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Poroschenkos blutige Märchenstunde

Zeitgleich mit der Wiederaufnahme des Artilleriebeschusses der Städte Donezk und Lugansk,  das heißt der faktischen Kündigung des Minsker Abkommens durch eine erneute Offensive Kiews gegen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk, veröffentlichte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 19.01.2015 einen Aufruf an Europa.

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Minsker Vexierbild – Einladung zu genauerer Betrachtung

Am Anfang des Jahres 2015 steht ein Vexierbild. Auf den ersten Blick zeigt es den ukrainischen Präsidenten Poroschenko, der zur Fortsetzung der Minsker Gespräche nach Astana, in die Hauptstadt Kasachstans einlud. Im „Normandie-Format“, also ohne die USA, sollten dort Wladimir Putin, Angela Merkel, François Hollande und Poroschenko selbst am 15. Januar Gespräche zu Lösung der ukrainischen Krise führen.

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Die soziale Revolte in der Ukraine – was ist ihr Kern und wofür steht sie?

Nun ist morgen Weihnachtsabend und demnächst Sylvester, überhaupt kommt, einfach gesagt, die Jahreswende auf uns zu und sowohl hier bei uns als auch anderswo denkt manch eine/r über einen Neubeginn nach. Zumindest sind solche Versuche nicht auszuschließen.

Wir wollen unseren Bericht deshalb heute extrem kurz halten, indem wir uns auf das beschränken, was unbedingt ins nächste Jahr mitgenommen werden muss.

 

Das ist zum einen, ungeachtet aller später aufgesattelten Verzerrungen,  die Grundbotschaft des Ukrainischen  Maidan: Revolte für ein menschenwürdiges Leben, die Suche nach Selbstbestimmung und Souveränität sind gerechtfertigt.

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Hamburger Friedensdemo am 13.12.2014: Stichworte zur Ukraine

Auf  Wunsch einiger TeilnehmerInnen gebe ich hier eine nachträgliche stichwortartige Zusammenfassung der Rede, die ich bei der Abschlußkundgebung der Hamburger Friedensdemo unter dem Motto: "Gemeinsam  für den Frieden. Friedenslogik statts Kriegsrethorik" gehalten habe. Die Rede konzentriert sich darauf, die Hintergründe des Ukrainekonfliktes zu beleuchten. Sie tritt dem Mythos entgegen, der die neue Ost-West-Spannung mit der Eingliederung der Krim in die russische Föderation beginnen lässt.

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Regierungsbildung in Kiew – Aufbruch in die Revolte?

Eine Groteske wird soeben vor den Augen der Welt aufgeführt. Das Stück trägt den einfachen Titel: Die Verwandlung einer Umsturzregierung in ein modernes Protektorat. Inhalt: die  Übernahme der Ukraine in die Vormundschaft der USA, der Europäischen Union, des IWF und sonstiger internationaler Geldinstitute.

„Die Regierung steht“, titelte „Die Welt“ und andere Leitmedien fielen in diesen Tenor ein. Zwar sei das, was sich im Zuge der Regierungsbildung jetzt in Kiew abgespielt habe, ein „bisschen unorthodox“. Das Wochenblatt „Die Zeit“, nicht gerade hervorgetreten durch kritische Berichterstattung zum ukrainischen Bürgerkrieg, fand zur Beschreibung der Vorgänge sogar zu der Überschrift: „Jazenjuks schräge Kabinettsbildung.“ Aber schnell beruhigte man sich mit der Versicherung des ukrainischen Präsidenten, dass ungewöhnliche Zeiten auch ungewöhnliche Methoden erforderten. Ähnlich berichteten auch andere etablierte Medien.

Was ist geschehen? Betrachten wir die Aufführung aus der Nähe:

Am 2. Dezember 2014  bestätigte die am 26. Oktober des Jahres neu gewählte, in Kiew tagende Werchowna Rada mit 288 von 399 Stimmen das vom Gespann Poroschenko/Jazenjuk vorgeschlagene neue Kabinett (bei einer Enthaltung eines ins regierungsfreundliche Lager  gewählten Maidan-Journalisten). Mit diesem Beschluss wurde die seit dem Umsturz vom 21. Februar 2014 provisorisch tätige Regierung abgelöst. Die Abstimmung wurde im „Paket“ durchgeführt. Die Kandidaten wurden nicht einzeln besprochen. Der Vorschlag Poroschenkos/Jazenjuks wurde en bloc und ohne vorherige Debatte durchgewinkt. Von Demokratie keine Spur.

Im Amt bestätigt wurden auf diese Weise erwartungsgemäß der bis dahin provisorische Premier Arsenij Jazenjuk, ebenso wie Außenminister Pawlo Klimkin, Verteidigungsminister Stephan Poltarak und Innenminister Arsen Awakow sowie einige andere Mitglieder des alten Kabinetts.  Soweit nichts Besonderes. Das könnte man als Alltag zur Kenntnis nehmen.

Was die Welt jedoch aufhorchen ließ, ist die Tatsache, dass und die Art, wie drei ausländische Politmanager westlicher Herkunft, konkret Experten mit amerikanischem Hintergrund, in Schlüsselstellungen der neuen Regierung gehievt wurden, unter ihnen eine Frau. Um ihre Ernennung zu Ministern einer Ukrainischen Regierung zu ermöglichen, waren sie nur wenige Stunden vor der Abstimmung durch Erlass Poroschenko`s im Eilverfahren eingebürgert worden.

Die drei ukrainischen Neubürger und ihre Funktionen sind:

Natalie Jaresko, gebürtige US-Amerikanerin – für das Finanzministerium: Jaresko studierte in Harvard, betreute für den IWF Programme der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS); nach der „bunten Revolution“ von 2004 holte der damalige Präsident Juschtschenko sie nach Kiew. Unter anderem leitet sie einen „Private-Eqiuty-Fonds“, also Management von privatem Risikokapital in  der Ukraine. Sie soll die Korruption bekämpfen und das Steuersystem reformieren. Von ihr wird der Spruch überliefert: „Die Wettbewerbsfähigkeit ist die erste, zweite, dritte, vierte, fünfte und zehnte Priorität.“ (Die Zeit, 3.12.2014)

Aivaras Abromavicius, gebürtiger Litauer – für das Wirtschaftsministerium: Auch Abromavicius studierte in den USA, danach war er tätig bei der Stockholmer Investfirma „East Capital Group“, später bei der „Hansabank“ in Estland. Er lebt seit 2000 als Ausländer in Kiew.

Alexander Kwitaschwili, gebürtiger Georgier – für das Gesundheitsministerium: Auch Kwitaschwili wurde in den USA ausgebildet, war dort als Gesundheits-Manager tätig. Als Gesundheitsminister unter dem Georgischen Präsidenten Saakaschwili unterzog er das georgische Gesundheitswesen einer radikalen Sparkur. Er will jetzt auch in der Ukraine ein Gesundheitssystem nach westlichen Maßstäben einführen.

Washington wies eine Beteiligung an dem Coup der Kabinettsbildung von sich, versteht sich. Das Arrangement hat sich zweifellos von selber ergeben.

Die von Poroschenko vor der Abstimmung angekündigte Einrichtung eines Krim-Ministeriums, sowie eines Ministeriums für Fragen der Integration mit der Europäischen Union, die der Präsident ebenfalls mit Ausländern besetzt haben wollte, unterblieb bis auf weiteres. „Die Zeit“ weist jedoch noch darauf hin, dass über die drei neuen aus dem Ausland geholten Minister hinaus auch viele gebürtige Ukrainer im neuen Kabinett „sich durch Ausbildung im Ausland und Erfahrung in der Privatwirtschaft“ auszeichneten: „Igor Schewtschenko, Minister für Ökologie und Naturressourcen, hat in Italien Europarecht studiert und ist Rechtsanwalt und Gründer von Shevchenko Asset Management. Andrej Piwowarski hat die Fletcher School of Law and Dipolmacy in Boston absolviert und war bis zu seiner Ernennung zum Infrastrukturminister Generaldirektor der Kontinuum Group, einer industriellen Holding. Der neue Landwirtschaftsminister hat in den Niederlanden studiert und ist Partner bei Pharus Assets Management.“

Bei diesem kurzen Blick durchs Schlüsselloch des transnationalen Kapitals mag es hier bleiben. Später wird man mehr vom Wirken dieser Reformer hören.

Übertroffen wurde diese Art der Kabinettsbildung nur noch durch den Beschluss der Rada, ein zentrales „Ministerium für Informationspolitik“ einrichten zu wollen. Es soll russischer Propaganda eine eigene ukrainische entgegensetzen.  Verantwortlich soll Juri Stets sein, bisher Chef für „Informationssicherheit“ der Nationalgarde, davor Chef des privaten Fernsehsenders „5. Kanal“, dessen Eigentümer Poroschenko auch als Präsident immer noch ist. Sets äußerte die Ansicht, dass die „unkontrollierte“ ukrainische Informationspolitik einer einheitlichen Führung bedürfe.

Angesichts der Existenz eines „Ukrainian Crisis Media Center“, das seit März 2014 eine eigene Website unterhält, das neben sonstigen Tätigkeiten täglich Briefings an mehr als 900 Adressen in der ganzen Welt versendet; angesichts solcher Konferenzen wie „Ukraine: Thinking together“ vom Mai 2014, zu der sich eine „internationale Gruppe von Intellektuellen“ traf, um von dort die Botschaft in die Welt zu schicken, dass der Westen den Kulturkampf gegen Russland aufnehmen müsse und angesichts der Tatsache, dass Poroschenko in der Ukraine immer noch den „5. Kanal“ kommandiert, lässt die Forderung von Sets nach mehr Kontrolle vermuten, dass man mehr will als nur „Informationen“ zu verbreiten.

Zumindest hat Stets harte Kritik von Maidan-Bürgerrechtlern hervorgerufen. Rund vierzig Journalisten protestierten vor der Rada mit Schildern, auf denen das geplante „Informationszentrum“ als „Wahrheitsministerium“ kritisiert wird, wie es George Orwell seinerzeit in seinem Roman 1984 beschrieben habe. Auch „Reporter ohne Grenzen“ protestierten. Es sei „nicht Aufgabe der Regierung, Informationen zu kontrollieren“, so der Geschäftsführer der Organisation. Weitere Proteste sind zu erwarten.

An den Beschlüssen der Rada ändert das vermutlich wenig. Die neue Regierung soll jetzt die Vorgaben des Assoziierungsabkommens umsetzen. Jazenjuk kündigte „harte Zeiten“ an. Die Regierung sei bereit für radikale Veränderungen. „Die Mission wird zu Ende geführt“, versicherte er. Um 300.000 Millionen Dollar seien die Sozialausgaben in diesem Jahr schon gesenkt worden, weitere Absenkungen würden folgen; steigen sollen nach Jazenjuks Willen dagegen die Ausgaben für das Militär – wenn es der Haushalt, der jetzt von den aus dem Westen eingeführten Managern saniert werden soll, denn hergibt.

 

Hinter der Bühne

Die ganze Brisanz des Arrangements dieser Kabinettsbildung wird deutlich, wenn man sich erinnert, dass kurz vor den Parlamentswahlen vom 26. Oktober 2014 das zu der Zeit provisorische Übergangs-Parlament mit einer knappen Mehrheit von 231 Stimmen (von offiziell 450 laut Verfassung für die gesamte Ukraine) schnell noch das sog. Lustrations-Gesetz beschloss. Die genaue Bezeichnung des Beschlusses lautete: „Gesetz über die Säuberung des Regierungsapparates“. (siehe dazu die  Analyse der Böllstiftung vom 21. Oktober 2014)

Nach diesem Gesetz sollen alle diejenigen Beamten und Angestellten entlassen werden, die in der Zeit vom 25. Februar 2010 bis zum 22. Februar 2014 unter dem gestürzten Präsidenten Janukowytsch in leitender staatlicher Stellung tätig waren. „Das betrifft Regierungsmitglieder, Angehörige der Staatsanwaltschaft und der Sicherheitsorgane, des Zolls, der Steuer, geht aber hinunter  zu den Leitern von Kreisverwaltungen und Leitern von Staatsunternehmen, die ‚administrative Dienstleistungen‘ gewähren.“ (Böllstiftung) Betroffen sind auch die Menschen, die in der Verlaufszeit des Euromaidan vom 21. November 2013 bis 22. Februar 2014 nicht freiwillig ihre Arbeitsstellen gekündigt haben.

Ausgenommen von dem Gesetz sind alle Stellen, die durch Wahl besetzt werden, also alle Abgeordneten, aber auch Regierungsmitglieder – und dies auch dann, wenn sie wie zum Beispiel Poroschenko, in mehrfachen Funktionen unter Janukowytsch gedient haben.

Damit entlarvt sich das Gesetz in doppelter Weise, einmal als opportunistisches Zugeständnis an die unzufriedenen Maidaner, die nach wie vor eine Reinigung des Landes von oligarchischen Korruptionären fordern. Rechte „Aktivisten“ des Maidan waren vor der Parlamentswahl schon selbst zur sog. „Müll-Lustration“ übergegangen, in deren Verlauf missliebige Staatsangestellte gewaltsam, nicht selten auch brutal, öffentlich in Müllcontainer „entsorgt“ wurden.

Zum anderen zeigt das Gesetzt sich als Instrument einer geradezu „klassischen“ Säuberung des Herrschaftsapparates, wie sie schlimmer, aber auch dümmer nicht angelegt sein könnte. Es öffnet zudem, da alle „Lustrationen“ öffentlich bekannt gegeben werden, der Denunziation und der weiteren Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas Tür und Tor und stellt die Verwaltung des neuen Staates zudem auf äußerst opportunistische und zugleich unerfahrene Füße.

Hinzu kommt schließlich noch, dass sich auch von der Lustration befreien kann, wer aktiv an der von der Regierung so genannten Anti-Terror-Operation, also dem Bürgerkrieg gegen die abtrünnigen Gebiete im Osten teilnimmt. Dies kommt einer staatlichen Aufforderung zum Töten aus niederen Beweggründen gleich – Juristen nennen so etwas Anstiftung zum Mord.

Mit Unterschrift vom 16. Oktober setzte Poroschenko dieses Gesetz in Kraft. Nach Schätzungen sind von dem Gesetz, wenn es  konsequent umgesetzt wird, rund eine Million Menschen betroffen.

Dem ist nur noch hinzuzufügen, was selbst die Böllstiftung, die sich im Verlauf der Maidan-Revolte nicht gerade in der Aufdeckung faschistischer Tendenzen hervorgetan hat, in ihrer Analyse jetzt zustimmend zitiert: „Vernichtend ist die Kritik an dem Gesetz von Seiten von Bürgerrechtlern. In einem inzwischen versteckten Beitrag für die einflussreiche Internetzeitung Ukrajinska Prawda konstatiert Jewhen Sacharow von der Charkower Menschenrechtsgruppe: ‚In der Ukraine wird das Recht des Stärkeren  zur Hauptsache und die Stärke des Rechts ist auf den Nullpunkt gesunken‘. Gleichzeitig bezeichnet er die Welle der ‚Müll-Lustrationen‘ als ‚faschistische Handlung‘. Der ehemalige Dissident Semjon Glusman konstatiert enttäuscht: ‚Das Lustrationsgesetz, das die Werchowna Rada unter dem Druck der Straße verabschiedet hat, ist kein Rechtsdokument. Es widerspricht sogar dem recht‘.“ (Böllstiftung, 21.11.2014)

Passend zu der Einführung von Ausländern als oberste Sanierer und Korruptionsjäger des Landes und zu der Einrichtung eines „Informationszentrums“ als Kontrollorgan richtigen Ukrainischen Denkens bekräftigte Jazenjuk am Tage der Kabinettsbildung den bevorstehenden Vollzug des Lustrations-Gesetzes, der zunächst etwa 500.000 Menschen betreffen werde. Deutlicher kann ein Statthalter des Westens seine Verachtung für die Menschen seines Geburtslandes wohl kaum noch demonstrieren. Das ist auch durch noch so radikale nationalistische Sprechblasen auf Dauer nicht zu übertönen. Die Antwort der so Verachteten, ins Abseits Gedrängten und Getäuschten wird nicht auf sich warten lassen – ganz zu schweigen von der aus der puren Not wieder aufsteigenden sozialen Revolte, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen des Landes. Einheimische Kritiker geben der Regierung 100 Tage. Die Frage ist allein, wie die Antwort dann aussieht.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                     Freitag, 5. Dezember 2014

Putin ist kein Sozialist – Anmerkungen zum Lärm um Front National

Putin ist kein Sozialist – Anmerkungen zum Lärm um Front National

Die Gewährung eines Kredites über neun Millionen Euro an den Front National durch eine tschechisch-russische Bank (FCRB) hat einen Sturm der Entrüstung in der deutschen Öffentlichkeit hervorgerufen. Für viele Menschen ist Wladimir Putins Gefährlichkeit damit endgültig  bewiesen. „Der Deal mit Moskau“, war in „Spiegel-online“ zu lesen, „schürt Befürchtungen, Putins Russland  finanziere  gezielt populistische  Parteien und Gruppierungen, um die Europäische Union  als außenpolitischen Konkurrenten zu schwächen. Denn nicht nur nach Frankreich zum Front national streckt der Kreml seine Fühler aus. In Großbritannien umwirbt der Kreml die radikalen Europa-Gegner von Ukip. In Ungarn unterhält er gute Beziehungen  zur rechtsextremen  Jobbik-Partei. In Deutschland ist Putin auf der Suche nach einem politischen Partner fündig geworden: bei der Alternative für Deutschland. Die AfD wies einen entsprechenden Bericht jedoch als ‚falsch‘ zurück.“

Zugegeben, der Vorgang irritiert – dabei könnte er eigentlich weniger irritierend sein als die die Tatsache, dass die NPD in Deutschland Staatsgelder über die Parteienfinanzierung erhält. Solche bekommt der Front National nicht; in den etablierten politischen Etagen der EU geächtet, konnte er sich nicht einmal einen Bankkredit besorgen. Jetzt fließt ausländisches Geld, zudem ausgerechnet aus Russland, mit dem die EU sich im Sanktionskrieg befindet. Das sieht aus, als müsste man bei der ganzen Angelegenheit ein bisschen tiefer stechen.

Zunächst dies: Nicht Putin gibt einen Kredit, sondern eine Bank, zudem noch eine tschechisch-russische, also eine grenzüberschreitend arbeitende Bank. Zwar werden den Bankchefs vertraute Beziehungen zum russischen Präsidenten nachgesagt, aber dies kann man mit der gleichen Bestimmtheit von hunderten weiterer Personen sagen, die sich im Dunstkreis des Kreml aufhalten. Daraus folgt noch nicht, dass Putin der Auftraggeber dieses konkreten Handels ist, selbst wenn, wie der „Spiegel“ und andere berichten, Marie le Pen im Anschluss an das Krim-Referendum nach Moskau reiste, selbst wenn sie „eine gewisse Bewunderung“ für Putin zum Ausdruck gebracht hat und selbst wenn der Front National zu den „stärksten Kritikern“ der Sanktionspolitik der Europäischen Union gehört. In Russland ist, manche mögen es noch nicht bemerkt haben, seit ein paar Jahren das Wirtschaften nach den Regeln des neo-liberalen Kapitalismus eingezogen. Geld fließt dorthin, wo dessen Verfüger sich Rendite versprechen.

Für Kritiker des Kapitalismus reicht eine solche Erklärung nicht aus. Der Vorgang bleibt politisch und auch moralisch anrüchig. Die heutige Realität des Geldes beschreibt diese Feststellung  jedoch genau. Das gilt umso mehr in einer Situation, in der ein Sanktionskrieg geführt wird, in dem politische Fragen über wirtschaftlichen Druck entschieden werden sollen – mit Sanktionen gegen Russland, mit Verweigerung von Krediten gegen eine politisch unbequeme Partei. Da stellen sich dann Allianzen her, die den mangelnden politischen Dialog auf ihre krude, materielle Weise ersetzen.

Diese Feststellungen beantworten selbstverständlich nicht die weitergehende, sehr komplizierte Frage, ob und wenn, dann warum sich hinter der Kreditierung des Front National mehr als geschäftliche Interessen verbergen könnten, was dran ist an den Befürchtungen, dass sich eine EU-weite populistische Blockbildung herausbilde, in der linke, sozialistische und rechte nationalistische Kritiken an der gegenwärtigen Entwicklung der EU, aktuell an ihrer sinnlosen Sanktionspolitik zu einer europakritischen konservativen Bewegung zusammenfließen, die in Putin angeblich ihren Heilsbringer sieht.

Genannt werden müssen hier die aktuellen Phänomene der sog. „Querfront“ –einer Bewegung, die links und rechts verbinden will, wie auch durchaus, die schon im obigen Zitat des „Spiegel“ genannten populistischen Parteien mit nationalistischen Programmen wie die deutsche AfD, die englische UKIP, die ungarische Jobbik-Partei,  die „Wahren Finnen“, die niederländische „Partei für die Freiheit“ und andere. Die Zuneigung dieser Parteien gegenüber Russland, selbst in den östlichen Teilen der EU, und die Offenheit Russlands ihnen gegenüber ist selbstverständlich keine Frage, die man übergehen könnte, sondern vor dem Hintergrund der historischen Abläufe wie auch denen der konkreten Entwicklung der heutigen Europäischen Union ein ernst zu nehmendes Phänomen – auch wenn der Hinweis darauf von Putin-Feinden als Totschlagargument in der politischen Auseinandersetzung benutzt wird und selbst politisch unbelastete Menschen mit Unverständnis darauf reagieren.

Die einfachste Antwort auf das Phänomen liegt in der generellen Wahrheit des Satzes: Dein Feind ist auch mein Feind.  Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Frontbildung zwischen Russland und dem Westen  gewinnt dieser Satz eine beängstigende Realität. Da ist dem „Spiegel“ leider wieder zuzustimmen, allerdings nur halb, denn diese Realität ist sehr fadenscheinig: Was die EU schwächt, scheint Russland zu nutzen und umgekehrt. In Wirklichkeit schadet es beiden. Auch dem lachenden Dritten, den USA, könnte das Lachen auf Dauer vergehen. Diese Konstellation wird sich weiter verschärfen, solange die EU-Spitze – auf Kosten ihrer Mitgliedsländer, die nicht einverstanden sind, sondern unter den Folgen der Sanktionen stöhnen, wie auch auf Kosten ihrer Bevölkerung, welche die mit der Sanktions-Politik verbundenen „Opfer“ als Steuerzahler ausbaden soll, diese Politik fortsetzt.

Das Ergebnis kann nur der Protest gegen den so praktizierten Brüsseler Einheitsanspruch sein, der sich vor dem Hintergrund einer ohnehin prekären Entwicklung der sozialen Lage einer wachsenden Zahl von Menschen in den Mitgliedsländern der EU mit der Kritik an den konkreten wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Sanktionspolitik verbindet.

Das Phänomen der „Querfront“-Proteste, die rechts und links, nationale Frage und soziale Proteste miteinander verbinden wollen, ebenso wie die populistischen Parteien, die denselben Anspruch stellen, sind Ausdruck dieser Unzufriedenheit. Ihr durchgehendes Thema ist, bei allen nationalen Unterschieden, die Verteidigung der eigenen, politisch der nationalen, Interessen gegen eine „Überfremdung“ durch das internationale Kapital – und dessen Hauptvertreter die USA, vertretungsweise die Europäische Union als deren Juniorpartner. Darin treffen sie sich unter dem Druck des Sanktionskrieges, der von eben diesen Kräften gegenwärtig gegen Russland geführt wird, voll und ganz mit der einfachen russischen Propaganda.

Ich sage  ‚einfache russische Propaganda‘, weil auf etwas weniger einfacher Ebene zwischen westlichen und russischen Vertretern des Big Business, traditionell gesprochen, des großen Kapitals zu gleicher Zeit, aber hinter verschlossenen Türen Verhandlungen über die Ausweitung von  Geschäftsbeziehungen geführt werden. So zu lesen in der neuesten Ausgabe von „German Foreign Policy“ vom 28.11.2014. Der Sanktionskrieg wird, wie es in dem Bericht wohl zutreffend eingeschätzt wird, zwar fortgesetzt, aber nur um die Fixierung der Rangverhältnisse geführt. Dies mildert die politische Situation allerdings nicht, sondern verstärkt noch die Reflexe einer großen Mehrheit von Menschen, sich vor den Machenschaften dieses internationalen Kapitals in ihre jeweiligen nationalen und sozialen  Nischen zu flüchten.

Wo ist bei dieser Entwicklung noch Platz für Menschen, die sich von diesen Strömungen nicht in ein national-sozialistisches Revival auf neuem historischem Niveau mitreißen lassen wollen? Diese Frage erhebt sich nicht nur in Deutschland, nicht nur in der EU; sie erhebt sich ebenso im ehemaligen sowjetischen Raum, dort, wie  zurzeit in der Ukraine zu sehen, noch um einige Grade unvermittelter, weil im Transformationsprozess zusammengedrängter.

Insgesamt gilt: Nicht einverstanden mit dem Siegeszug  der globalen Kapitalisierung nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Sozialismus, nicht willens zurückzukehren in überlebte Formen des Sowjetsozialismus, auch nicht bereit zu einem Einschwenken auf nationale Verkürzungen der globalen Krise, schon gar nicht in der extremen Form wie zur Zeit in der Ukraine oder im „islamischen Staat“, wird der Korridor, der aus der jetzigen Krise in eine Gesellschaft hinüber führt, in der wir wirklich leben wollen, spürbar enger.

Um es ganz anders zu sagen: Zweifellos ist es notwendig dem sinnlosen Putin-Bashing entgegenzutreten und sich für ein Ende des Sanktionskrieges stark zu machen. Eine kooperative Ordnung verschiedener Weltmächte auf Augenhöhe, statt einer konfrontativen unter dem Diktat einer Hegemonialmacht USA, ist das Mindeste, was die Menschheit heute braucht. Dafür ist Russlands Rote Karte gegen die weitere US/EU-Expansion ein Segen. Ebenso sinnlos ist es aber auch, von Putin, ebenso wie von anderen Gestalten auf der gegenwärtigen globalpolitischen Bühne, etwas anderes als Realpolitik zu erwarten. Putin ist, um auf die Überschrift zurückzugreifen, kein Sozialist. Putin ist ein neo-liberaler Traditionalist, der gewachsene soziale Strukturen modernisieren, das heißt, für kapitalistische Produktionsweise  öffnen will. Darin trifft er sich durchaus mit den EU-Bürokraten. Sofern dies auf friedlichem Plateau geschähe, wäre schon etwas gewonnen. Die Debatte um die andere, die zu entwickelnde Zukunft jedoch muss aus der Mitte der Gesellschaft, nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzung mit  neuen nationalistischen Strömungen geführt werden, und sie muss radikal geführt werden, in Russland nicht anders als in Europa und anderswo auf dem Globus; selbst die USA sollten man nicht vergessen.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                   Freitag, 28. November 2014

Lesen Sie hierzu:

Kai Ehlers, Die Kraft der ‚Überflüssigen‘, Pahl-Rugenstein, 2013

Kai Ehlers, Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte, 2. Auflage, 2007

 

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