Kategorie: Great game

Krise der US-Hegemonie. Übergang von einer unipolaren in eine multipolare Weltordnung. Versuche der USA ihre Vorherrschaft durch Destabilisierung möglicher „Rivalen“ aufrechtzuerhalten . (Zbigniew Brzezinski). Gegenbewegungen der globalen Newcomer. Kriegsrethorik. Globale Kriegsentwicklung. Frage nach möglichen Alternativen.

Kleiner Service zur aktuellen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA vom Dez. 2017

Soeben stellten die US-Behörden ihren diesjährigen 68 Seiten umfassenden Bericht zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vor. Es wird niemanden verwundern, dass die Strategie ganz nach dem von Trump ausgegebenen Motto „Make Amerika great again“ und „America first“ ausgerichtet ist, dem internationale Abkommen ohne Rücksicht auf Folgen in der Praxis der Trump´schen Administration bereits untergeordnet wurden. Im Trumps mündlichem Vortrag gehen die wenigen inhaltlichen Inseln möglicher Kooperation zudem in einer Flut Trump´scher und Amerikanischer Größe unter. Ein paar Kernaussagen sollten jedoch nicht übersehen werden.

Im ersten Kapitel „Frieden erhalten durch Stärke“ heißt es:

„Eine zentrale Kontinuität in der Geschichte ist der Kampf um die Macht. Die gegenwärtige Zeit unterscheidet sich davon nicht. Drei Hauptpunkte der Herausforderung – die revisionistischen Mächte Chinas und Russlands, die Schurkenstaaten  Iran und Nordkorea, und die transnationalen terroristischen Organisationen, besonders die djihadistischen Gruppen – treten aktiv gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten auf.  Obwohl unterschiedlich von Natur und Umfang, konkurrieren diese Rivalen auf politischen, ökonomischen und militärischen Feldern und nutzen Technik und Information, um die Konkurrenz zu verschärfen und damit die Machtbalance zu ihren Gunsten zu verändern.  Darin liegen fundamentale politische Unterschiede zwischen repressiven Systemen und solchen, die freie Gesellschaften bevorzugen.

China und Russland wollen eine zu den US-Werten und Interessen antithetische Welt.  China will die USA in der Indisch-Pazifischen Welt verdrängen, den Einfluss seines staatwirtschaftlichen Modells ausweiten und die Region in seinem Sinne reorganisieren. Russland will seinen Großmachtstatus wiederherstellen und die Einflusssphären an seinen Grenzen reorganisieren.  Die Intentionen der beiden Nationen sind nicht unbedingt festgelegt. Die USA stehen bereit mit beiden Ländern im gegenseitigen Interesse zu kooperieren.

Für Jahrzehnte  war US-Politik darauf begründet, dass Unterstützung für Chinas Entwicklung  und seine Integration in die internationale Nach-Kriegs-Ordnung China liberalisieren werde. Entgegen unseren Hoffnungen weitete China seine Macht auf Kosten der Souveränität von anderen aus.  China sammelt und nutzt Daten in Konkurrenzlosem Maße und weitet sein autoritäres System aus, einschließlich Korruption und Kontrolle. Es baut die fähigste und bestausgerüstete Streitmacht der Welt auf, nach der unsrigen. Sein nukleares Potential wächst und differenziert sich. Ein Teil seiner Modernisierung und ökonomischen Expansion verdankt China seinem Zugang zur innovativen US-Wirtschaft, einschließlich Amerikas Welt-Klasse Universitäten.

Russland zielt darauf den US-Einfluss in der Welt zu schwächen und uns von  unseren Verbündeten und Partnern  zu trennen. Russland betrachtet die NATO  und die EU (im Original engl. ausgeschrieben)  als Bedrohung. Russland investiert in neue militärische  Fähigkeiten, einschließlich  nuklearer Systeme, welche die existenziellste Bedrohung für die Vereinigten Staaten bilden. Durch modernisierte Formen subversiver Taktik greift Russland in die inneren politischen Angelegenheiten von Ländern rund um die Welt ein. Die Kombination von russischen Ambitionen  und wachsenden militärischen Fähigkeiten schafft eine unstabile Front in Eurasien, wo das Risiko zu Konflikten auf Grund  russischer Miss-Kalkulationen wächst.“

(Es folgen zwei Absätze zum Iran, Nord-Korea, IS, sowie Al-Kaida, danach der Satz: )

„Die Vereinigten Staaten werden Kooperationsfelder mit ihren Herausforderern auf der Basis der Stärke suchen.“

Unter der Überschrift „Regionales“ heißt es am Schluss unter dem Stichwort „Europa“:  

„Ein starkes und freies Europa ist von vitalem Interesse für die Vereinigten Staaten.  Wir sind verbunden durch unser Eintreten für die Prinzipien von Demokratie, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Zusammen haben wir Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und die Institutionen geschaffen, die Stabilität und  Reichtum auf beiden Seiten des Atlantiks brachten. Heute ist Europa eine der reichsten Regionen  der Welt und unser hervorstechendster Handelspartner.

Obwohl die Bedrohung des Sowjetischen Kommunismus vorbei ist, wird unser Wille durch neue Bedrohungen getestet. Russland setzt subversive Mittel ein, um die Glaubwürdigkeit  von Amerikas Eintreten für Europa zu schwächen, die transatlantische Einheit zu unterminieren  und europäische Institutionen  und Regierungen zu  schwächen.  Mit seinen Invasionen nach Georgien und in die Ukraine  hat Russland seinen Willen demonstriert die Souveränität der Staaten in der Region zu verletzten.  Russland fährt fort seine Nachbarn  in bedrohlicher Art durch nukleare Positionierung und durch die Aufstellung offensiver  Kapazitäten an den Grenzen einzuschüchtern.“

(Folgt, dass auch China Fuß in Europa fassen wolle, und zudem eine Bedrohung durch islamistischen Terror in Europa zunimmt)

„Die Vereinigten Staaten  sind sicherer, wenn Europa prosperiert und stabil ist und helfen kann unsere gemeinsamen Interessen zu verteidigen.  Die Vereinigten Staaten bleiben fest verbunden mit unseren Europäischen Verbündeten und Partnern.  Das NATO Bündnis freier und souveräner Staaten ist einer unserer großen Vorteile  gegenüber unseren Gegnern und die Vereinigten Staaten treten weiterhin für den Artikel V des Washingtoner Vertrages ein.“

Das gesamte Papier (englisch) gibt es hier: zur Ansicht und ggf. zum Download

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Globaler Farbwechsel – Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien

Beim GO, dem in Asien beliebten strategischen Brettspiel geht es beim wechselseitigen Besetzen der Spielfläche durch schwarze oder weiße Steinchen um Geländegewinn. Dabei kann ein Steinchen, zur rechten Zeit an die richtige Stelle gesetzt, auf einen Schlag die eben noch dominante Farbe des Feldes umschlagen lassen, wenn die so eingekreisten Steinchen des Gegners aus dem Feld genommen werden. Plötzlich tritt eine vorher gewachsene, aber übersehene Konstellation hervor.[1]

Ein solcher Farbwechsel ist durch den Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Rückzug russischer Truppen aus Syrien, verbunden mit seiner Erklärung, der Terrorismus sei besiegt und die Menschen könnten in ihr Land zurückkehren, um es wieder aufzubauen, soeben auf dem globalen Spielbrett  vor sich gegangen.  Putins Besuche in Ankara und Ägypten, dazu seine öffentliche Kritik an der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ergänzen das Bild. Was wird da erkennbar?  

 

Das „Heartland“ beherrschen?

Wer die Welt beherrschen wolle, hieß es bisher, der müsse Eurasien beherrschen; wer Eurasien beherrschen wolle, müsse das „Herzland“, also Russland, beherrschen – müsse es am Besten in drei Teile teilen, einen östlichen, einen mittleren und einen westlichen, die sich so gegeneinander abgrenzen und manipulieren ließen.

Der so sprach, schrieb und zu handeln versuchte, um damit den Fortbestand  des US-Imperiums nach dem Zusammenbruch  der bipolaren Welt  Ende der 80/Anfang der 90 Jahre  zu sichern, Zbigniew Brzezinski, ist inzwischen verstorben. Seine Thesen, basierend auf den Erfahrungen des britischen Empire, erstmals 1904 bei Halford Mackinder formuliert [2], von Brzezinski in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch „Die einzige Weltmacht“)[3] nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1997 mit Blick auf Russland weiter ausgearbeitet, sind jedoch nach wie vor brandaktuell – allerdings in Umkehrung dessen, was das Ziel Brzezinskis war und nach anderen Regeln, eben denen des asiatischen GO, statt des westlichen Schach.

Es gelang nicht das „Herzland“ zu teilen,  jedenfalls nicht in drei Teile. Zwar wurde es von seinen Rändern her beschnitten – Ost-Europa, Kaukasus, Baltikum, Zentralasien. Zwar wurde es eingekreist durch „bunte Revolutionen“. Zwar wurde es militärisch bedrängt mit der Stationierung von NATO „Battle Groups“ und Raketen-Abschussrampen direkt vor seinen Grenzen. Aber es konnte doch trotz allem vom Westen nicht kolonisiert werden, jedenfalls nicht auf Dauer, sondern hat sich nach dem katastrophalen Zusammenbruch der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts in den Jahren ab 2000 dann unter seinem zu der Zeit neu antretenden Präsidenten Wladimir Putin schrittweise von innen her stabilisiert. Es hat sich zum Integrator  des eurasischen Raumes entwickelt, der daran geht, sich selbst zu organisieren, statt Objekt imperialen Zugriffs aus dem Westen zu sein.

Als Vielvölkerorganismus, der die Stürme des ersten und des zweiten  Weltkrieges, des Kalten Krieges wie auch den Druck der US-geführten unipolaren Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion im Kern, wenn auch immer noch geschwächt, überlebte, wurde Russland, selbst plural organisiert, zusammen mit China zum faktischen Modell und Impulsgeber des multipolaren Gegenentwurfes gegenüber der unipolaren Imperialordnung der USA.

Steinchen für Steinchen hat sich diese neue Ordnung unerkannt unter der Dominanz der amerikanisch-europäischen Weltordnung herausgebildet – nicht zuletzt auch als Ergebnis überheblicher Abschätzigkeit des Westens gegenüber dem „unterentwickelten Osten“, also gegenüber Russland, China, generell Asien.  Man erinnere sich nur daran, mit welcher Häme und Vordergründigkeit die wiederholten, mühsamen, in den Anfängen nicht sehr erfolgreichen Anläufe Russlands kommentiert wurden, den durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen Fliehkräften im eurasischen Raum entgegenzuwirken. Das betrifft Russlands Beteiligung an der “Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), in der die aus der Sowjetunion ausgeschiedenen ehemaligen Republiken, außer den baltischen, zusammenfinden wollten. Das betrifft die Versuche Russlands mit der kleineren „Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung“  (GUAM), bestehend aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien, zu kooperieren. Das betrifft den „Vertrag zur kollektiven Sicherheit“ (OVKS) und schließlich auch die bilateralen Beziehungen Russlands zu einzelnen der neu entstandenen Staaten und halbstaatlichen autonomen Gebiete.

 

Viele kleine Schritte vom Westen nach Osten…

 In der Rückschau treten die in der Vergangenheit unscheinbar gesetzten Steinchen, aus denen das aktuelle Bild auf dem globalen Brett hervorging, dafür jetzt umso deutlicher hervor:

  • 1964 entwickelt China, nach der Spaltung der kommunistischen Welt weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörig, die Strategie einer multipolaren Weltordnung.
  • 1984/5 übernimmt Michail Gorbatschow mit Beginn der Perestroika die Option der Multipolarität auch für Russland, wenngleich noch ganz auf Zusammenwachsen Russlands mit Europa im „Europäischen Haus“ orientiert.  
  • 1996 schließen China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan sich zu den „Shanghai fünf“ zusammen, um die aus dem Zerfall der Sowjetunion resultierenden Grenzprobleme zu klären.
  • 1997 legen Russland und China der UNO ein Papier zur Entwicklung einer multipolaren, anstelle der unipolaren Weltordnung vor.
  • 1998 lenkt der russische Ministerpräsident Jewgeni Primakow, noch unter Boris Jelzins Orientierung auf den Westen, Russlands Außenpolitik aktiv auf Asien. Er sucht eine Allianz mit Indien und China unter Einschluss von Weißrussland. Mit dem Abbruch eines bereits eingeleiteten Staatsbesuches (er gibt dem Flugkapitän Befehl zur Rückkehr!) brüskiert er die USA wegen des von ihr geführten Kosovokrieges.
  • 2000 tritt Wladimir Putin sein Amt als Staatspräsident Russlands mit der Erklärung an, er wolle nicht nur Russlands Staatlichkeit wiederherstellen, sondern das Land in Übereinstimmung mit seiner historischen Rolle wieder zum „Integrationsknoten Eurasiens“ machen, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.
  • 2000 schließen sich Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zur „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ zusammen; 2002 treten Moldawien, die Ukraine und Armenien, 2006 auch Usbekistan dieser Gemeinschaft mit bei.
  • 2001 erweitern sich die „Shanghai fünf“ zur „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Sie versteht sich als Kooperationsorgan zwischen der Volksrepublik China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Die SOZ befasst sich über die bisher von den „Shanghai fünf“ behandelten Fragen der Grenzsicherheit und Stabilität der Region hinaus auch mit Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten. Der Organisation gehören seit 2017 neben den Gründerstaaten auch Indien und Pakistan an. Damit repräsentiert die SOZ heute die Hälfte der Weltbevölkerung; Weißrussland und die Türkei sind als „Dialogpartner“ angeschlossen.
  • 2001 schließen sich die Länder Brasilien, Russland, Indien und China (Kürzel: BRIC-Staaten, nach den Anfangsbuchstaben der beteiligten Länder) zu einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft zusammen,  die sich als Entwicklungsgemeinschaft gegen die Vormacht der USA wendet.  Seit 2011 nimmt Südafrika an den jährlichen Gipfeln der BRIC-Staaten teil, die seitdem unter dem erweiterten Kürzel  BRICS firmieren und turnusmäßig zu jährlichen Gipfeln zusammenkommen.
  • 2009 schließen sich 29 Staaten Süd-Ost-Asiens zu einem Wirtschaftsraum zusammen, nachdem sie seit 1967 bereits locker im Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (von englisch: Association of Southeast Asian Nations)  verbunden waren.  Die Gründung weiterer Unter-Organisationen für regionale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, zur Förderung des Handels uam. folgen. Die ursprüngliche Orientierung gegen die Sowjetunion und gegen China beginnt in eine Kooperation mit der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und den BRICS-Treffen überzugehen.  
  • 2013 stellt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Kasachstan das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ vor, das den gesamten eurasischen Raum von Osten bis Westen, von China über Zentralasien und Russland bis nach Europa in dem Entwurf einer Länder übergreifenden Kooperation miteinander verbinden soll. Das Projekt versteht sich ausdrücklich als ziviler Gegenentwurf zu der militärisch gestützten Globalisierungs- und aggressiven Fraktionierungspolitik der USA.
  • 2014 geht die „Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft“ in die verbindlichere „Eurasische Wirtschaftsunion“ (EAWU) über. Mitglieder sind Kasachstan, Russland und Weißrussland, ab 2015 auch Armenien und Kirgisistan.
  • 2014 gründen die BRICS-Staaten die „Neue Entwicklungsbank“ als Gegenkraft zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um der Dollarherrschaft etwas Eigenes von Seiten der Entwicklungsländer entgegensetzen zu können.
  • 2015 kommt eine „Asiatische Infrastrukturinvestmentbank“ (AIIB) als Hauptfinanzier des Seidenstraßenprojektes hinzu, ebenfalls als Gegenkraft zu Weltbank und dem IWF. Den 21 Gründungsmitgliedern aus dem asiatischen Raum schlossen sich 57 Interessenten an, von denen die meisten aus dem östlichen und süd-östlichen eurasischen Raum kommen. Dabei sind aber auch Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – trotz ausdrücklicher Warnungen aus den USA.
  • 2016 wirbt Putin beim turnusmäßigen ASEAN-Gipfel erfolgreich für engere Kooperation der ASEAN-Staaten mit Russland und China im Zuge des Seidenstraßenprojektes und Zusammenwirkens mit der „Eurasischen Wirtschaftsunion“.
  • 2016 unterzeichnen China, Russland und die Mongolei ein Entwicklungsprogramm zur Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftskorridors im Zuge der Seidenstraßen-Initiative.
  • 2016/2107 finden die turnusmäßigen BRICS Gipfel in GOA/Indien (2016), in Xiamen/China (2017) in lockerer Koordination mit Gipfeln der ‚Eurasischen Wirtschaftsunion‘ und dem ASEAN-Netz statt.
  • Seit 2017 werben Vertreter der russischen Politik, konkret Putins Chef-Berater für Ostpolitik, Sergei Karaganow[4], massiv für die Zusammenführung von „Europäischer Wirtschaftsunion“, der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, den ASEAN-Staaten und dem Projekt „Neue Seidenstraße“ zu einem „Projekt Großeurasien“, wobei sie in Aussicht stellen, darin  auch die Türkei, den Iran, Israel und Ägypten einzubeziehen. „Europa“ wird ebenfalls eingeladen – wenn es die Kraft dazu aufbringen könne; die USA werden ausdrücklich außen vor gehalten.
  • Im Mai 2017 treffen sich 29 Staats- und Regierungschefs aus dem eurasischen Raum auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf dem „Seidenstraßen-Forum“ in Peking. Unter den Gästen wird Wladimir Putin als wichtiger Partner und Förderer hervorgehoben.
  • Im November 2017 versammeln sich die ASEAN-Staaten zum 50jährigen Jubiläum ihrer Organisation (und ihrer diversen Vorläufer) in Anwesenheit Chinas und Russlands. China und Russland machen erfolgreich ihren Einfluss geltend, Trumps Drohungen gegen Nord-Korea diplomatisch einzuhegen.

Überschaut man die entstandene Konstellation, dann wird unschwer erkennbar, wie  massiv sich die Gewichte in den letzten Jahren und dies mit zunehmender Intensität in Richtung einer dichter werdenden eurasischen Vernetzung verändert haben.

 

… und ihr politischer Rahmen

Ein weiterer Blick zurück, dieses mal auf die politischen Rahmendaten, die diesen Prozess begleiten, macht diese Entwicklung noch offensichtlicher:

  • 2001: Wladimir Putin hält seine erste Auslandsrede – in deutscher Sprache, im deutschen Bundestag. Trotz bereits vereinbarungswidrig erfolgter erster Schritte zur Erweiterung der NATO nach Osten betont Putin damals, noch ganz im Strom der von Gorbatschow formulierten Idee des „gemeinsamen Europäischen Hauses“, die Einheit der europäischen Wertekultur und die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Das einheitliche und sichere Europa müsse zum „Vorboten“ für eine sichere Welt werden. Eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok könne der Ausdruck davon sein.
  • 2007: Nach weiteren Ost-Erweiterungen der NATO, angesichts der vom Westen offen unterstützten „Bunten Revolutionen“ in Georgien 2003, in der Ukraine 2004, in Kirgisistan 2005, des gescheiterten Ansatzes in Weißrussland, 2006, sowie den parallel dazu 2004 und 2007 folgenden Ost-Erweiterungen der EU, geht Wladimir Putin auf der „Sicherheitskonferenz“ in München erstmals in Distanz zu den westlichen Weltherrschaftsansprüchen. Er macht seine Kritik allerdings hauptsächlich an der Militarisierungspolitik der USA fest, erkennbar bemüht, zwischen USA und EU taktisch zu differenzieren.
  • 2008: Russland weist die provokativen Versuche des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili militärisch zurück, der im Schatten der NATO-Erweiterung einseitige Grenzkorrekturen auf Kosten Russlands vornehmen will. Das war zugleich als gelbe Karte für NATO und EU zu verstehen, von der geplanten Fortsetzung ihrer Erweiterungspläne über den südlichen Kaukasus hinaus nach Zentralasien Abstand zu nehmen.
  • 2014: Als deutlicher Abbruch der West-Integration muss Russlands Aufnahme der KRIM in den Russischen Staatsverband und die halbmilitärische Unterstützung der Kämpfe der Regionen Donezk und Lugansk um ihre Autonomie verstanden werden. Mit ihrer Politik in der Ukraine-Krise zeigte Russland dem Westen, also der Allianz von NATO, EU und den USA, dass es ein weiteres Vordringen des Westens, vor allem westlichen Militärs auf russische Kosten nicht hinnehmen werde. Die daraufhin vom Westen eingeleitete Sanktionspolitik wirkt seitdem als Brandbeschleuniger für die eurasischen Integrationsprozesse.
  • 2016/2017: Das militärische Eingreifen Russlands in Syrien hat nicht nur den Eroberungszug der US-Politik in Mesopotamien beendet und Syrien in eine vorläufige Waffenruhe geführt. Es hat Russlands Südflanke auch vom Druck der westlichen Allianz befreit und es zum zurzeit wichtigsten Akteur im mesopotamischen Raum werden lassen. Der wird über Russlands neue Bündnispartner Iran und Türkei zudem anschlussfähig für den eurasischen Raum, während die USA sich unter Trump aus der aktiven Politik im mesopotamischen Raum vorläufig zurückziehen, um die Hände frei zu haben für Asien. Putin wird von der globalen Öffentlichkeit –  im Westen widerstrebend und widerwillig, versteht sich – als „neuer starker Mann“ in Syrien und Mesopotamien wahrgenommen. Man werde sehen, schränken die westlichen Kommentatoren ein, noch sei Syrien nicht wirklich beruhigt und Putin wolle nur Punkte für seine innenpolitischen Auftritte sammeln. 
  • 2017: Auf der, schon erwähnten, ASEAN-Konferenz vom November trat die neue Konstellation im globalen Kräftefeld klar zutage: Nicht nur traten China und Russland den atomaren Drohungen Trumps gegen Nordkorea entschieden entgegen. US-Präsident Donald Trump, der mit großem Einsatz versuchte, in dem entstandenen asiatischen Netz Fuß zu fassen, hatte den ASEAN-Mitgliedern nach seiner,  zugunsten der von ihm ausgerufenen Politik des „Amerika first“ vorgenommenen Aufkündigung der „Transpazifischen Partnerschaft“ (TTP) nicht viel zu bieten, so dass sie nach neuen regionalen Zusammenschlüssen suchen. Die Vision eines „Großeurasien“ erwachsend aus einem Zusammenwirken der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ und dem „Projekt Seidenstraße“ rückt in den Mittelpunkt auch des ASEAN-Staatenbündnisses. Die USA sind nicht Bestandteil dieses Prozesses, die EU ist als Handelspartner am westlichen Ende der Seidenstraße geduldet.

 

Ermutigende Perspektiven…

Man muss die aus der eurasischen Selbstorganisation zum einen und den politischen Entfremdungen und Zusammenstößen zwischen Russland und dem Westen heute entstandene Konstellation nicht überbewerten. Soviel aber ist offensichtlich: Die USA und in ihrem Schatten Europa, konkret die EU haben ihre historische Definitionsmacht als imperiale Zuchtmeister des Globus verloren. Heute kommt die Ansage zur Entwicklung Eurasiens nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten – aus Russland, aus China, aus Zentral- und Süd-Ost-Asien mit Unterstützung einer zunehmenden Zahl von Ländern, die im Aufkommen eines starken Eurasiens die Möglichkeit  sehen, sich vom Druck der ‚westlichen‘ Weltherrschaft zu befreien.  Anders als zuvor aus dem Westen kommt dieser vom Osten herkommende Impuls zur Entwicklung Eurasiens nicht als militärisch gestützter  Impuls von ‚Teile und Herrsche‘, sondern als Prozess des Sammelns und sich Verbündens, des Länder-, Kultur- und Sprachräume übergreifenden Verlangens nach gegenseitiger tatsächlicher Entwicklungshilfe, statt der Herstellung neo-kolonialer Abhängigkeiten unter dem Etikett einer solchen daher.  In dieser Entwicklung kündigt sich eine Tendenz, bescheidener gesagt, eine Chance, noch bescheidener formuliert, die Möglichkeit  für die Entwicklung einer neuen Phase der Weltpolitik an: die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Kooperation einer multikulturell vernetzten Staaten-Gemeinschaft, in der Staaten sich darauf beschränken können, sich gegenseitig zu stützen.

  

… und mögliche Störungen

Um aber nicht in Wunschträume zu verfallen, muss allerdings daran erinnert werden, dass noch nicht alle Steinchen im Spiel und noch nicht alle Möglichkeiten der Störung ausgereizt sind: Ohne in Spekulationen zu verfallen, darf  davon ausgegangen werden, dass sich die „einzige Weltmacht“ mit der jetzt entstandenen Konstellation nicht zufrieden geben wird. Ansatzpunkte, von denen aus, um im Bild zu bleiben, ein erneuter Farbwechsel im globalen Spiel, klarer gesagt, im Ringen um die kommende Rolle Eurasiens bei der Herausbildung einer neuen Weltordnung, seitens des bisherigen Hegemonen erzwungen werden könnte, sind klar zu erkennen. Sie heißen: Europa, Korea und Mesopotamien, alle drei noch von Brzezinski seinerzeit als „Brückenköpfe“ zur Eroberung des „Herzlandes“ benannt und in den zurückliegenden Jahren auch genutzt. Das wäre: Europa als Stoßkeil vom Westen her, wenn es der US Politik gelingt, die EU, insonderheit Deutschland weiter  in die Konfrontation mit Russland zu treiben und so eine Beteiligung Europas an dem „eurasischen Projekt“ zu hintertreiben; Japan, das sich von Korea bedroht fühlt, als Stoßkeil vom Osten her, wenn es gelingt, den koreanischen Konflikt im Herzen der sich erst konsolidierenden ASEAN-Staaten-Gemeinschaft weiter anzuheizen, und schließlich der mesopotamisch-afrikanische Raum als Störfeld vom Süden her, wenn es gelingt, dieses Gebiet allen aktuellen militärischen und diplomatischen Erfolgen der russischen Einsätze zum Trotz erneut zu destabilisieren.

Nicht zuletzt lebt auf westlicher Seite immer noch die Hoffnung, Wladimir Putin, der sich soeben den Anforderungen stellen muss, die aus seiner Absicht resultieren, in eine neue Phase seiner Präsidentschaft einzutreten, ungeachtet seiner außenpolitischen Erfolge über innenpolitische, vornehmlich soziale Probleme stolpern zu sehen. Genauer gesagt sogar, seine außenpolitischen Erfolge zu relativieren, zu stören, wenn möglich sogar zu zerstören, in dem Wissen, dass er für sein innenpolitisches „Rating“, das heißt, für seine zukünftige innenpolitische Handlungsfähigkeit angesichts wachsender innenpolitischer Widerstände, nicht zuletzt sozialer Art auf außenpolitische Erfolge angewiesen ist. Wenn es gelänge, Putin innenpolitisch zu destabilisieren, würde dem eurasischen Projekt ein wesentlicher Pfeiler entzogen.

Noch unberührt von  all dem ist dabei die Frage, ob das „Eurasische Projekt“, wenn es sich denn ungestört entwickeln könnte, tatsächlich zu einer neuen Ordnung führen würde, welche die nationalstaatliche Konkurrenz hinter sich zu lassen in der Lage wäre oder ob es nur der Herausbildung eines neuen Hegemonen Vorschub leistet, nämlich Chinas. Dies wäre dann ein neues Spiel nach ganz alten Regeln, über dessen Ausgang nur spekuliert werden könnte.  

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema das Buch:

Kai Ehlers, Asiens Sprung in die Gegenwart. Russland – China – Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums „Inneres Asien“., Pforte, 2006

(In dem Buch werden die grundlegenden Entwicklungslinien dieses Raumes als „Treibhaus der Evolution“ skizziert)

Zu beziehen über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel)

[2] In „The geographical pivot of history“ , siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Halford_Mackinder

[3] Deutscher Titel: „Die einzige Weltmacht“, erschienen bei  Fischer tb, 2001

[4] Sergei Karaganow, Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, u.a. in Spiegel 28/2016

 

Für eine Bearbeitung des Textes mit weiterführendem Anschaungsmaterial und Hintergrundlinks siehe:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien

Ausserdem Unzensiertes Aktuelles und Strategisches zu Russland in: http://www.russland.news/

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Zbigniew Brzezinskis Erbe – Der andere Nachruf

De mortuis nihil nisi bene – über Verstorbene nur Gutes!

Diese Regel aus der Zeit des römischen Imperiums mag auch für Zbigniew Brzezinski, eine der Ikonen des US-Imperiums gelten, der jetzt nach lebenslangem Einsatz für die amerikanische „supremacy“ im Alter von 89 Jahren verstarb. Möge er endlich den Frieden finden, den er sein Leben lang nicht finden konnte – der Nachwelt bleibt überlassen, sich mit den keineswegs friedlichen  Wirkungen seines Erbes auseinanderzusetzen, ohne ihn weiter belangen zu können.  

Die Pax  Americana war Brzezinskis Obsession – Russland, davor die Sowjetunion sein lebenslanger Gegner, der diese globale Friedensordnung gefährde. Dem  sei nur zu begegnen, so Brzezinskis Botschaft in dem  bekanntesten seiner Bücher, „Die einzige Weltmacht“, das er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrieb, wenn die USA in die Lage kämen, Eurasien zu beherrschen, d.h., Russland daran zu hindern wieder zur Weltmacht aufzusteigen.

In dieser Sicht folgte Brzezinski den „Herzland“-Schlussfolgerungen, die von den Geopolitikern Halford  Mackinder und Nicholas J. Spykmans als Essenz aus den Erfahrungen des britischen Commonwealth gezogen worden waren: Nur wer das ‚Herzland‘ beherrsche, das Zentrum Eurasiens, könne die Welt beherrschen, war ihr Fazit.

Schon vor der Veröffentlichung des Titels „Einzige Weltmacht“, das der Welt den US-amerikanischen Herrschaftsanspruch schonungslos, man könnte sogar sagen, schamlos offenlegte, schon zu Zeiten des Kalten Krieges, noch als Sicherheitsberater unter Jimmy Carter 1976, arbeitete Brzezinski systematisch auf eine Schwächung der Sowjetunion hin. Die Schwächung der Union war die Leitlinie seines Handelns. Erwähnt seien nur ein paar herausragende Stationen.

So sein Werben um China in den Jahren vor 1978. Dabei ging es ihm nicht etwa darum, China – wie sein Gegenspieler Henry Kissinger vorschlug – in ein globales Dreierbündnis USA, Sowjetunion, China zur Sicherung der globalen Stabilität einzubinden. Ihm ging es darum die Sowjetunion zu isolieren und zu schwächen. Diese Grundposition hat er bis ins seine letzten strategischen Arbeiten beibehalten.

Bekannt und immer wieder notwendig zu zitieren, weil charakteristisch für sein Verständnis von Politik, ist die unverhohlene Genugtuung, die Brzezinski  äußerte, als US-Präsident Jimmy Carter 1979 seinem Rat folgte, die Afghanischen Mudschaheddin in einer verdeckten CIA-Aktion gegen die sowjetische Invasion aufzubauen. 

Auch wenn schon oft zitiert, dürfen diese Passagen in einer Würdigung der politischen Biographie Brzezinskis nicht fehlen: „Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee“, brüstete er sich im Januar 1998 unverhohlen den Redakteuren von „Le nouvel  Observateur“ gegenüber. „Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten […]. Am Tag, an dem die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu liefern. Und tatsächlich sah sich Moskau während der folgenden zehn Jahre gezwungen, einen Krieg zu führen, den sich die Regierung nicht leisten konnte, was wiederum die Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsgebiets zur Folge hatte.“

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah Brzezinski die Zeit gekommen, die Vorstellungen einer Welt unter der Herrschaft einer „einzigen Weltmacht“ tatsächlich zu verwirklichen. Jetzt müsse die amerikanische Politik die Verantwortung übernehmen, die ihr zugefallen sei, in dem sie verhindere, dass Russland sich jemals  wieder zu einem Imperium entwickeln könne. Ihm schwebte eine Dreiteilung des russischen Raumes in einen europäischen, mittelrussischen und fernöstlichen Teil vor, eingefasst von Europa im Westen, Japan im Osten, der Türkei im Süden, die er ungeschminkt „Vasallen“ der USA nannte. Insbesondere müsse die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich nach Westen gezogen werden, weil Russland ohne die Ukraine nicht wieder zum Imperium werden könne.

Im Übrigen müsse die US-Politik weltweit dafür sorgen, dass sich kein neuer Rivale entwickeln könne, der die Herrschaft der USA in Frage stellen könne. Nur so könne ein globales Chaos verhindert und die Entwicklung einer demokratischen Weltordnung möglich werden. Das war die Aufgabenbeschreibung für die USA als Weltpolizist. Grundlage dafür sah Brzezinski im „American Way of Life“ als der in seinen Augen gegenwärtig höchsten Zivilisationsstufe.

Bekanntlich liefen die Dinge nicht ganz so, wie Brzezinski sich das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhofft hatte. Andere Kräfte, als die von ihm favorisierten, bestimmten die US-Politik nach seinem Ausscheiden aus den Diensten Carters. Nicht einverstanden war er mit dem Golfkrieg 1990, mit dem von G.W. Bush vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Terrorismus nach 2001, mit der Invasion in den Irak 2003. Nicht einverstanden war er mit der Politik gegen den Iran wie auch mit der Destabilisierung Syriens unter Barack Obama. Er war der Ansicht, dass mit diesen Aktivitäten, die der Strategie des „new american century“ der Neo-Konservativen folgten, das Ansehen in der Welt verspielt  werde, das die USA nach und durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gewonnen hatten.

Auseinandersetzen musste Brzezinski sich nach 9/11 2001 andererseits mit Kritikern, die ihm vorhielten er habe durch seine Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin den islamistischen Terror in die Welt gerufen. Das ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die USA – seinem Rat folgend – Osama Bin Laden und die Seinen mit Waffen und Logistik in Afghanistan ausrüsteten. Die Bilder, wie er voller Stolz, Osama Bin Laden persönlich Waffen aushändigt, gingen durch die Welt.

Entsprechend dieser Misstöne und katastrophalen Ergebnisse der tatsächlichen US-Politik fielen die Bücher, mit denen Brzezinski nach dem Erscheinen von „Die einzige Weltmacht“ auf die US-Politik einzuwirken versuchte, sehr viel weniger euphorisch aus.

In „Second Chance“ legte er 2006 eine vernichtende Bilanz zur Amtszeit der drei Präsidenten vor, die dem sowjetischen Zusammenbruch gefolgt waren: Der ältere Bush, George Bush, von Brzezinski knapp Bush I benannt,  habe es nicht verstanden, mit dem Pfund zu wuchern, das ihm durch den Zusammenbruch der Sowjetunion zugefallen sei, sein Nachfolger Bill Clinton habe die amerikanischen Möglichkeiten überschätzt, der jüngere George W. Bush, bei Brzezinski Bush II,  habe das Ansehen, dass die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als einzige verbliebene Supermacht und erstes globales normsetzendes Imperium gewonnen hätten und die Ressourcen des Landes auf kriminelle Weise verspielt. 

Zudem sei die Sozial- und Bildungspolitik unter der Präsidentschaft der drei Genannten, speziell der von Bush II auf ein Niveau gefallen, auf dem mit der eigenen Bevölkerung keine Weltpolitik zu machen sei. Nur wenn diese Fehler erkannt würden, warnte Brzezinski, könne es für den Erhalt der US-Weltmacht noch eine zweite Chance geben.

Das nächste und letzte Buch Brzezinskis, 2012 vorgelegt, befasst sich unter dem Titel „Strategic Vision. America and the Crisis of Global power“ dann schon nur noch mit den Fragen, was aus dem Niedergang der amerikanischen Dominanz vor dem Hintergrund heraufkommender neuer Mächte und dem allgemeinen „Erwachen der Völker“, die die amerikanische Vorherrschaft in Frage stellen, folgen könnte. „In der Tat“, warnt Brzezinski im Geleitwort zu diesem Buch gar, „es gibt da  mehrere alarmierende Ähnlichkeiten  zwischen  der Sowjetunion in den Jahren direkt vor  ihrem Zusammenbruch und dem Amerika  im frühen 21 Jahrhundert.“ Das war nicht nur ein Abgesang auf die Allein- sondern überhaupt auf die Vorherrschaft der USA.  

Nichtsdestoweniger zieht sich auch durch diesen letzten strategischen Beitrag sowie durch die letzten Auftritte Brzezinskis der antirussische Faden – aggressiver als je zuvor bis hin zu Brzezinskis offenen Eintreten für den aktiven Regimechange in der Ukraine auf der ‚Sicherheitskonferenz‘ 2014, die den ‚revolutionären‘ Ereignissen auf dem Kiewer Maidan 2014 voranging. Auf dieser Konferenz war Brzezinski noch einmal einer der entscheidenden Stichwortgeber.

Die Intervention folgte nahezu drehbuchartig seinen Vorgaben – lief dann allerdings, wie viele andere US-Interventionen zuvor aus dem Ruder. Zwar fand sich Brzezinski nicht zu dumm, Wladimir Putin wegen dessen positiver Aufnahme des Krim-Referendums und seiner Unterstützung der Autonomiebestrebungen im Osten der Ukraine einen neuen Hitler zu nennen, forderte auch die Ausrüstung der Ukraine mit Waffen seitens der NATO – sprach sich aber gegen eine Mitgliedschaft Kiews in der NATO und der EU aus.

Das Ergebnis der US-Intervention in der Ukraine entsprach und entspricht bis heute nicht dem, was Brzezinski sich von ihr erhofft hatte, nämlich, ein attraktives Zeichen zu setzen, dass auch die russische Bevölkerung dazu anreizen sollte, sich ihres ‚Diktators‘ zu entledigen und den Modernisierungen und der ‚entwickelteren‘ Kultur des Westens zuzuwenden und so den ‚Herzraum‘ Eurasiens für den Westen, konkret die USA zu öffnen.

O-Ton Brzezinski: „Eine Ukraine, die Russland nicht feindlich gegenübersteht, aber ihm in ihrem Zugang zum Westen etwas voraus ist, ist eine tatsächliche Ermutigung für Russland sich nach Westen in Richtung einer möglichen lohnenden europäischen Zukunft zu bewegen.“

Das Gegenteil ist geschehen. Die Ukraine wurde für die russische Bevölkerung zum abschreckenden Beispiel, wohin Westbindung führen kann. Statt „lohnender“ Annäherung an den Westen, wurden die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union nachhaltig beschädigt, schart sich die russische Bevölkerung eng um Wladimir Putin, ungeachtet innenpolitischer Kritiken, als dem Garanten ihrer Stabilität und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Ein Präsident Trump zudem, statt die Attraktivität des „american way of life“ in der Welt zu erneuern, trägt mit jeder seiner Aktivitäten weiter zur Misskreditierung des amerikanischen Traums bei, so dass an eine Eroberung des ‚Herzlandes‘ auf friedlichem, zumindest nicht militärischen Wege weniger zu denken ist als je zuvor.

Ob die US-Hardliner sich damit zufrieden geben werden, ist eine Frage, die nunmehr über Brzezinski hinausgeht.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Weitere Informationen zu Brzezinskis Wirken

Auf der Website: www.kai-ehlers.de unter Stichwort Brzezinski

Erhellend auch die Videos zu Brzezinskis Afghanistan-Einsatz auf Kritisches Netzwerk

Trump und Co – Unberechenbarkeit als Prinzip? Die andere Osterbotschaft

Donald Trumps unberechenbare Wendemanöver beunruhigen die Weltgemeinschaft. Der Kampf um die Erhaltung der US-amerikanischen Vorherrschaft nimmt irrationale und existenzielle Formen an: Raketenangriff auf Syrien, Megabombe in Afghanistan, Interventionsdrohungen gegen Nordkorea. Was demnächst? Eine strategische Linie ist nicht erkennbar außer Demonstrationen von „Entschlossenheit“.

Fragt sich, Entschlossenheit wozu? Sind die USA unter Trump bereit, den von vielen Menschen befürchteten finalen Crash zu riskieren, um ihre Vormacht zu halten? Sind die Europäer und die übrigen Staaten der Welt bereit, das Risiko mit zu tragen? Wofür? Gegen wen? Was gibt es zu retten?

Betrachten wir die entstandene Situation  aus der Sicht der frühen Kritiker des Kapitalismus, dann finden wir vielleicht einen Zugang zur Beantwortung dieser Fragen:

„Der moderne Arbeiter,“ schrieben die Verfasser des Kommunistischen Manifestes, Karl Marx und Friedrich Engels dem entstehenden Kapitalismus 1848 als Schlusswort ihrer Analyse ins Stammbuch, „statt sich mit dem Fortschritt der Industrie  zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus  entwickelt sich  noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.  Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die beherrschende Klasse  der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen  ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen, Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb  seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“

Es folgt das bekannte Schlusswort: „Die Bedingung  des Kapitals ist die Lohnarbeit.  Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz  der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung  der Arbeiter durch die Konkurrenz  ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwickelung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“[1]

 

Absehbare Revolten

Nun vereinigt die heutige industrielle Entwicklung die Arbeiter und die Belegschaften von Betrieben immer weniger in revolutionären Assoziationen, sondern bringt stattdessen in steigendem Maße individualisierte Arbeitsprozesse hervor, die zugleich immer Menschen als nicht mehr benötigte ‚Überflüssige‘ freisetzen, als Subproletariat aussondern. Zugleich wächst die Erdbevölkerung von jetzt bereits acht Milliarden Menschen um rund achtzig Millionen Menschen jährlich.  Daraus erwächst für  die herrschenden Verhältnisse eine noch fundamentalere Gewissheit ihres drohenden Unterganges, wenn anstelle der von Marx prognostizierten „revolutionären Assoziation“ Revolten atomisierter, entwurzelter  Individuen treten, in denen sich die blanke Überlebensnot gewaltsam Bahn bricht – nicht zuletzt in Formen eines hilflosen, ziellosen Terrorismus.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Donald Trumps Poltern als Vertreter der Vormacht des an seine Grenzen stoßenden Kapitalismus seine Bedeutung. Vor diesem Hintergrund werden auch die ‚verständnisvollen‘ Kommentare zu den ‚entschlossenen‘ Maßnahmen seiner Politik wie etwa die der deutschen Kanzlerin, aber auch die zurückhaltenden Reaktionen anderer westlicher Staaten als das transparent, was sie ihrem Wesen nach sind: als Versuch, den absehbaren Untergang der herrschenden kapitalistischen Weltordnung mit allen Mitteln und sei es militärisch aufzuhalten. Zweimal ist dieser Versuch unter ungeheuren Opfern gelungen; erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg. Stehen wir jetzt vor dem nächsten, vielleicht letzten Versuch?

 

Die Offenbarungen Trumps

Die Aktivitäten des neuen US-Präsidenten lassen solche Befürchtungen in die Wahrscheinlichkeit treten. Aber es ist nicht  etwa so, dass Donald  Trump, wie manche Zeitgenossen meinen, durch seine Unberechenbarkeit eine völlig neue Qualität der US-Politik präsentierte, indem er die Kriterien, nach denen diese Politik betrieben wird, undurchschaubar macht. Nein, im Gegenteil, er offenbart nur den tatsächlichen Charakter der US-Politik in ihrer nackten nationalistischen Egozentrik.

Fraktionierung der Weltgemeinschaft nach dem Prinzip ‚teile und herrsche‘, Politik des ‚Regime Changes‘, all dies ist ja nicht neu. Auch die Willkür, mit der die US-Politik ihre Ziele durchsetzt, ist nicht neu. Es ist nur so, dass unter Trump die Rücksichten, die unter Obama noch genommen wurden, jetzt fallen gelassen werden, sei es weil Trump keine Ahnung davon hat, wie Diplomatie funktioniert, ja, nicht einmal als Demagoge geschickt genug ist, sich zu verstellen, sei es, dass es ihm vollkommen gleich ist oder weil er einfach provozieren will.  

Der entscheidende Punkt ist, dass unter Trump Weltpolitik nach dem Prinzip einer US-Unternehmensführung betrieben wird,  ‚hire and fire‘. Wer mir nicht nützt, wird gefeuert. Das war schon das Prinzip unter George W. Bush. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das  war unter Barack Obama im Grunde nicht anders, nur leicht verdeckt, weil die USA durch die Politik, die Bush angelegt hatte, zu stark in die Isolation gekommen waren.

Im Prinzip wurde das Durchstechen, der Alleingang der US-Politik von Obama nur auf eine technische Ebene gehoben, weg von der sichtbaren und demonstrativ vorgeführten plumpen Intervention auf die Ebene des weniger sichtbaren, heimlichen, ‚sauberen‘ Drohnenkrieges. Mit dem Drohnenkrieg ging die amerikanische Politik unter verbindlichem Lächeln ihres Präsidenten zu direkter Liquidation der von ihr zu Gegnern erklärten Personen über, klar gesagt, zu globaler Lynchjustiz unter Missachtung jeglicher völkerrechtlicher Regeln.

 

Neue Formen des Krieges

Lassen wir also die moralische Empörung, die sich an Trumps persönlichen Mängeln als ‚unerhört‘, ‚unverantwortlich‘ und dergl. abarbeitet, beiseite und schauen wir, was konkret passiert.

Konkret passiert nichts anderes, als dass die USA in ihrer Situation der niedergehenden Weltmacht wie ein wildes Tier um sich schlagen, so wie, um ein altes Bild aus der chinesischen Politik zu gebrauchen, der Tiger, der in die Enge getrieben wird, um sich schlägt. 

Aber was bedeutet das? Bedeutet das, dass wir morgen den großen, den dritten Weltkrieg zu erwarten haben? Vermutlich trotz allem nicht, nicht in der Art jedenfalls, die wir von den beiden großen vorangegangenen Weltkriegen kennen. Nur kann dies keine Entwarnung sein. Unsere Vorstellungen vom Krieg müssen neu gedacht werden. Es muss neu wahrgenommen werden, wie Krieg heute geführt wird. Heute geht es nicht mehr um Landnahme, wie noch im zweiten Weltkrieg, wie selbst noch unter Bush, der in den Irak einmarschieren ließ. Alles Gerede, von wegen ‚einmarschieren in Syrien oder nicht einmarschieren‘, kann man getrost als hohle Propaganda beiseitelassen. Darum geht es nicht. Heute geht es darum, die möglichen Gegner zu diffamieren, klein zu machen, einzudämmen, zurück zu drängen, zu schwächen, seine Gesellschaft lahm zulegen und zu spalten, Unfrieden zwischen ihnen zu schüren, damit  sie sich möglichst gegenseitig bekämpfen etc. pp.

Den großen Krieg zu führen, das hieße den Atomkrieg zu riskieren. Das wäre der totale Widersinn auch für die, die einen solchen Krieg beginnen sollten. Widersinnig bleibt es selbst unter der Voraussetzung, dass heute ‚nukes‘ existieren, deren Einsatz örtlich begrenzbar ist. Ein solcher Einsatz müsste in jedem Falle eine Eskalation nach sich ziehen.  

Schauen wir genau hin: Das Gerede um die Modernisierung der NATO:  Was wird da modernisiert? – Modernisiert wird die NATO als Kriseninterventionsinstrument im globalen Maßstab, auf der Ebene des Cyberkrieges, des Internetkrieges, des Weltraumkrieges, des sog. ‚hybriden Krieges‘, das heißt, des  entgrenzten, vielstufigen Krieges. Was sich heute entwickelt, ist der unerklärte Krieg, in dem Krieg oder Frieden fließend ineinander übergehen, in dem nicht mehr klar zu unterscheiden ist, wo Frieden aufhört und wo Krieg schon begonnen hat. Der Krieg beginnt bereits im Kindergarten, in der Schule, in den Medien, in der Propaganda, in der Wirtschaft. Er steigt über all diese Ebenen hinein bis in die sog. „Innere Sicherheit“, bis in die Generalprävention gegenüber einer täglich beschworenen globalen Bedrohung.

 

Irreführende Feinderklärungen

Von wo kommt die Bedrohung? Von Russland? Von China? Vom Islam? Von Korea? Vordergründig mag das so scheinen. Langfristig gesehen kommen die Bedrohungen jedoch nicht von Russland, nicht von China, erst recht nicht von Korea. Jedenfalls nicht primär. Diese Konflikte sind konjunkturell und können geregelt werden, wenn man sich einig ist in der Hauptsache. Die Hauptsache aber heißt: Die eigentliche Bedrohung kommt aus der Masse der Menschen, die heute aus den Industriegesellschaften ausgegrenzt werden. Hier hat denn auch die Kritik ihre tiefere Ursache, die von den wichtigsten der heutigen ‚player‘, also von Russland, ebenso wie von China gegen die US-Politik vorgebracht wird, nämlich, dass die USA nicht bereit seien, gemeinsam gegen ‚den‘ Terrorismus vorzugehen.

‚Gemeinsam gegen den Terrorismus‘ heißt im Kern eben nichts anderes, als gemeinsam gegen die Unterprivilegierten, die Ausgestoßenen, die in ihrer Ohnmacht, Wut  und Verblendung zu Terror greifenden  Minderversorgten und zivilisatorisch Zurückgestauten vorzugehen, um sie niederzuhalten, sie wenn nötig nieder zu bomben. Da liegt das Ziel der NATO, die sich anschickt eine Weltorganisation zur Krisenprävention werden zu wollen. Da liegt die eigentliche Struktur, um die es heute geht – lokal wie global. Hier sei nur an Sbigniew Brzezinskis Warnungen vor dem „awakening of people“, dem Erwachen der Völker und Personen  erinnert.[2] Alles andere sind vordergründige Techtelmechtel, sind Ablenkungen, Ersatzkämpfe, auch wenn sie brutal daherkommen und immer wieder die Schlagzeilen der Presse füllen.

Was heute heranwächst, sind Stellvertreterkriege einer ganz neuen Art, Abwehrkämpfe einer zum Untergang verurteilten Ordnung, die nach dem Gießkannenprinzip weltweit  inszeniert werden. Im Kern geht es um die Millionen, besser wohl sogar zu sagen, die Milliarden der ‚Überflüssigen‘. Milliarden Menschen, die nach Teilhabe verlangen, welche ihnen in zunehmendem Maße verwehrt ist, lassen sich ja nicht einfach mit einem großen Krieg auslöschen, bei dem das Risiko besteht, dass die herrschenden Kreise selbst mit untergehen. Nein, die Ausgegrenzten müssen propagandistisch so eingelullt, so in Angst versetzt, so eingeschüchtert werden, dass sie eine manipulierbare Masse werden, in der sich die ‚Überflüssigen‘ möglichst noch gegenseitig dezimieren. Die dazu langfristig angelegten Präventionsstrategien in ihrer Abstufung von der Indoktrination bis zur Bombe sind die eigentliche Kriegführung von morgen – und schon heute erkennbar. [3]

Der Wunsch nach Grundversorgung, nach Selbstbestimmung, nach Autonomie, nach anderen als den kapitalistischen Beziehungen ist der eigentliche Gegner der gegenwärtigen Großmächte. Diese Bestrebungen unten zu halten, darin sind sich die Führungen der Großmächte, bei aller Unterschiedlichkeit der dazu verfolgten Strategien einig. Die einen, wie Trump, wollen das durch die Dominanz eines bewaffneten großen Nationalstaates erreichen, eben der USA als Weltpolizist, die anderen wie Russland oder China über die Stärkung einer Völkerordnung, wie sie die gegenwärtige UNO darstellen könnte, wenn sie als Vertretungsorgan mehr Macht hätte. Das sind erhebliche Unterschiede, die Stoff für aktuelle Konflikte enthalten. Unter dem Strich aber steht die als gemeinsame Bedrohung ausgemachte Geahr: die Unkontrollierbarkeit möglicher Revolten rund um den Globus gegen die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen.

 

Es ist Zeit aufzustehen

Lassen wir uns also nichts vormachen. Lassen wir uns nicht erfundene Feindbilder aufdrängen, nicht in eine Angstpsychose jagen, die einzig und allein auf Wohlverhalten, auf Stillhalten der Bevölkerung zielt, damit  die Herrschaften, die heute noch das Sagen haben, weiterhin das Sagen haben können.

Es ist Zeit den Ursachen der heutigen Probleme wirklich an die Wurzel zu gehen. An die Wurzel gehen heißt, es ist Zeit, die kapitalistische Produktionsweise, die katastrophentreibende Priorität der Ökonomie zu durchbrechen zugunsten einer Weltordnung, einer Menschenordnung, einer Völkerordnung, die den Menschen, jeden einzelnen, das Individuum und seine Bedürfnisse, wirtschaftliche, geistige und rechtliche in den Vordergrund stellt in einer Welt, die geleitet wird von gegenseitiger Hilfe statt einer Welt, in der Konkurrenz als Leitwert gilt.

Es wird Zeit, sich nicht weiter in die Ohnmacht pressen zulassen, es wird Zeit sich zu wehren, es wird Zeit aufzustehen, es wird Zeit, da, wo wir leben, jede und jeder an seinem und ihrem Ort, die Prinzipien, nach denen diese kapitalistische Gesellschaft heute funktioniert – genau gesagt, eben nicht mehr funktioniert – in Frage zu stellen, dem Krieg da  entgegenzuwirken, wo er im Alltag bereits als Ellbogengesellschaft beginnt. Zäune gegen Armut, Bomben gegen den Terror – das wird die sich abzeichnende Entwicklung nicht aufhalten. Krieg gegen den‘ Terror ist nichts anderes als eine Eskalationsspirale.

Man muss sich dieser Eskalationsspirale entziehen. Wenn es bei Marx heißt, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendig zum Untergang bestimmt ist, dann ist das unter ökonomischen Gesichtspunkten eine unbestreitbare Wahrheit, zumal, wenn sie durch die heutige Entwicklung des Kapitalismus zur roboterisierten Gesellschaft zugespitzt wird, aus der kein rettendes Proletariat mehr herauswächst, sondern die Perspektive weltweiter Revolten von marginalisierten ‚Überflüssigen‘ am Horizont auftaucht. Dennoch, ja, gerade deswegen, muss gesagt werden, dass zwischen die Pole von Krieg oder Nichtkrieg immer noch die Entscheidung des Menschen, einzelner wie die von Staatsführungen gestellt ist, ja, dass mehr noch als je zuvor jeder einzelne Mensch an dem Platz, an dem er oder sie steht, die Möglichkeit hat, ja zu sagen, zu einer anderen als der bloß ökonomischen Priorität. Dieses Recht dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Es ist unsere einzige Chance, aber die gibt es.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema:

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, (erweiterte Neuauflage von „Die Kraft der ‚Überflüssigen‘ – Der Mensch in der globalen Perestroika“ )

Eigenverlag, Erschienen bei „Verein zur Förderung der deutsch-russischen  Medienarbeit e.V.“, Hannover, Dezember 2016, ISBN 9783-7412-98066, 10.99 €

    Das Buch zeigt, wer die „Überflüssigen“ sind und welche Kräfte in ihrem „Überflüssigsein“ liegt, welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien ihr Aufbruch ausgesetzt ist, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte. (Bestellungen über: info@kai-ehlers.de)

 

[1] Manifest der Kommunistischen Partei, Ende von Teil I, Bourgoisie und Proletariat, in Kröner, Frühschriften, S. 538

[2] Zbigniew Brzezinski, Strategic vision, America and the crisis of Global power, basic Books, New York, 2013, S. 30 ff

[3] Siehe dazu: Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell füssli, Zürich, 2003

Ausserdem: Kai Ehlers, die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen“, erweiterte Neuauflage, 2016

 

Vortrag beim Kieler Friedensforum vom 1. April 2017: „Russland und die Logik des neuen kalten Krieges“

 

Votrag Ortsgruppe Ottersberg  der anthroposophischen Gesellschaft vom 7. April 2017:

„Krise des Nationalstaats und Perspektiven der Dreigliederung heute.“

Russland: Entwicklungsland neuen Typs

Russland und der Westen stehen heute nicht nur in der politischen, sondern auch in der kulturellen Kontroverse. Die westliche Propaganda  betrachtet Russland wie einen unterentwickelten Paria, mit dem auch nur freundschaftlich zu verkehren schon für eine Stigmatisierung und den Verlust eines hohen Amtes ausreicht.

Der folgende Text mag dazu beitragen,  die russische ‚Unterentwicklung‘ von einer anderen Seite her zu betrachten. Er ist heute so wahr wie 2005, als er geschrieben wurde – angesichts der neueren Konfrontationen möglicherweise noch wahrer als zur Zeit seiner Entstehung.

 

Kai Ehlers

 

Mit Jefim Berschin[1] steige ich in die Fragen ein, die sich aus der Einsicht ergeben, dass Russland heute – zum wiederholten Male – zum globalen Entwicklungsland geworden ist, und das nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern im Sinne des wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs – ein Entwicklungsland neuen Typs. In Russland bleibt kein Stein auf dem anderen, auch im mentalen Bereich; es gibt keine Prioritären, keine eindeutigen, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum ‚Kapitalismus‘ oder (zurück) zum ‚Sozialismus‘, zum Christentum oder zum Islam, überhaupt zur Religion oder zum Atheismus usw. Es wirbelt vielmehr alles durcheinander, auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Wechselwirkung der Vielfalt pur!

    Insofern wird Russland erneut – wie schon mehrere Male in der Geschichte – zum  Entwicklungsland in dem Sinne, dass sich im Russischen Raum als Integrationsraum Euro-Asiens die Einflüsse aus allen Ecken der Welt überschneiden und neu gestalten. Das formuliert ja interessanter Weise auch Wladimir Putin. Die Form, die diese Entwicklung unter seiner Ägide zurzeit annimmt, ist höchst unglücklich – eine Wiederauflage des Paternalismus von der Art der Selbstherrschaft, im Wesen aber ist gar keine andere Politik möglich als die der Erneuerung der Integrationskräfte Russlands.

    Das Ringen um neue Ziele, neue Kräfte, neue Methoden der Integration bestimmt das gesamte russische, genauer gesprochen, russländische Leben, also nicht nur das der slawischen Russen, sondern das der Völker- und Kulturgemeinschaft Russlands – nicht zuletzt und im tiefstgreifenden Maße im Bereich der Ethik, Moral und Religion. Ohne neue Ethik kann dieser Raum, können die Menschen dort nicht überleben. In der Vielgestaltigkeit, ja in der chaotischen Vielfalt des Raumes, der aber doch ein Gesamtraum ist, liegt, wie jedes Mal deutlich wird, wenn man sich mit offenen Augen in Russland aufhält, die tiefe Begründung für den ethischen Extremismus, mit dem und in dem die russische Bevölkerung lebt: Nur extreme Besinnung auf moralische Verbindlichkeiten kann den Menschen in diesem offenen Raum, der allen Zentralisierungs- und Isolierungsbemühungen und –phasen zum Trotz immer wieder durch von außen kommende Einflüsse (wie jetzt die Globalisierung) chaotisiert wird, so etwas wie einen Halt, eine Sicherheit, eine Heimat geben.

    Die Heimat der russischen Menschen ist deshalb auch weniger – wie bei uns – die schöne Landschaft oder dergleichen, sondern die russische Kultur, was immer darunter verstanden wird, sind die Werte des Zusammenlebens, die Sprache, die Lieder usw. – letztlich die Moralität von Gemeinschaft, eben deswegen, weil in dieser Weite die Moral einer Gemeinschaft ein besonderes schützenswertes Gut ist, das nicht einfach existiert, sondern gegen die uferlose, grenzenlose Weite hergestellt und bewahrt werden muss. Einfach gesagt: Der europäische Mensch ist froh, einen Platz zu finden, an dem er allein sein kann; in Russland ist man froh, Gemeinschaft zu finden, die einen vor dem Alleinsein und Ausgesetzt-Sein schützt.

    Jetzt sind eben diese traditionellen moralischen Werte, durch die siebzig Jahre des realen Sozialismus zugleich bewahrt und diskreditiert, wieder einmal fundamental in Frage stellt – ähnlich wie zu Zeiten des Mongolensturms, ähnlich wie zu Zeiten Iwans IV., ähnlich wie zu Zeiten der großen Bauernrevolten im 18. Jahrhundert, ähnlich wie zu Zeiten des einbrechenden Kapitalismus und der Revolutionsjahre Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal bricht die Außenwelt in das mühsam zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd des Kontinents hergestellte Gleichgewicht ein – dieses Mal als ‚Globalisierung‘. Wieder einmal muss Russland von Grund auf seine Moral des Überlebens zwischen den territorialen, ethnischen und geistigen Extremen neu definieren. Insofern Russland das Zentrum des euro-asiatischen Kontinentes bildet, der seinerseits die größte Land- und Bevölkerungsmasse des Globus konzentriert, betrifft diese Definition die gesamte existierende Welt. In Maßen war das auch früher so – mit Auswirkungen auf die europäische wie auf die asiatische Entwicklung; heute im Zuge der Entwicklung, ja einer neuen Stufe der Intensivierung des globalen Marktes und damit sich entwickelnder gegenseitiger Abhängigkeiten betrifft diese Definition den gesamten Globus, ob wir wollen oder nicht. Grob gesprochen: Es kann der Welt nicht gleichgültig sein, welche Seite der russischen Wirklichkeit heute auf sie einwirkt – die Brutalität der russischen Mafia oder die Kultur der russischen Gemeinschaftstraditionen, oder, noch exponierter formuliert, die asozialen oder die sozialen Impulse, die aus der Transformation, sagen wir auch ruhig, aus der Modernisierung der russischen Gemeinschaftsethik heute hervorgehen.

    In Russland treffen heute Individualismus und Kollektivismus am härtesten, am schroffsten, im weitesten Maße und im tiefsten Sinne aufeinander; hier werden Neue Formen des Miteinanders von Einzelinteresse und Kollektivinteresse am extremsten ausprobiert, durchlitten, erfunden – auf allen Ebenen der menschlichen Existenz, vom Kindergarten bis zum Tod und bis zu den Vorstellungen vom Leben nach dem physischen Tode. In diesem Sinne ist Russland heute ein gewaltiges Feld schöpferischer Unruhe von globaler Bedeutung, das neue ethische Räume entstehen lässt.

    Jefim Berschin spricht hier geradewegs von Religion, wobei er sich gleichzeitig von bestehenden Glaubensgemeinschaften distanziert: Sein Credo: Gott im Menschen finden. Vom Judaismus über die historischen Glaubensgemeinschaften des Christentums und des Islam zum Ego des heutigen Menschen – dies, meint er, sei Russlands historische Botschaft. Das ist ein großer Entwurf.

    Ich möchte da vorsichtiger sein: Die Elemente einer Wissenschaft von der Transformation, die für mich aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte russischer Geschichte hervortreten – Krise der Pyramide als Gesellschaftsmodell, Erinnerung an das Labyrinth, Selbstorganisation in der Gemeinschaft – öffnen zwar neue mentale Räume, die ohne Zweifel auch über Russland hinaus gültig sind, aber sie sind doch noch nicht mehr als ein Gerüst, an dem neue Vorstellungen entstehen können. Eine neue Ethik ist das noch nicht.

    Vor allem ist es kein Automatismus: Der gegenwärtige Kurs Putins treibt Russlands Entwicklung auf eine neue Weggabelung zu: In seiner TV-Rede zu Beslan[2], deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Wie die Maßnahmen zeigen, die er vor und nach Beslan einleitete, meint er damit ganz offensichtlich nicht „Demokratie“ nach westlichem Vorbild, sondern etwas sehr Russisches, nämlich die Überwindung der gegenwärtigen Smuta, der Großen Unordnung, durch eine patriarchale Konsensgesellschaft. Die Smuta ist der Zustand des ungeordneten Pluralismus zwischen Asien und Europa, in den Russland im Lauf seiner Geschichte immer wieder versunken ist, wenn die Zentralmacht verfiel. In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin macht den Versuch, diese Polarität zu modernisieren, nachdem Gorbatschow sie gekündigt und Jelzin sie ins pluralistische Chaos überführt hatte. Putins gegenwärtige Stärke ist dabei Voraussetzung und Bremse zugleich: Voraussetzung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft, Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen entgegen handelt. Das lässt den angestrebten Konsens zur leeren Geste verkommen. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus verlangt eine ideologische Aufrüstung, zu der die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht motiviert ist.

     Im Ergebnis vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft in eine herrschende politische Klasse auf der einen, eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten zurückzieht auf der anderen Seite. Putin steht vor der Wahl, diese Verweigerung zu akzeptieren oder sie mit Gewalt zu brechen. Sie akzeptieren heißt, den unabgesicherten Weg der Transformation fortzusetzen, dem Kapital die Symbiose mit einer agrarisch orientierten Selbstversorgung als Dauereinrichtung, ja, als Perspektive zuzumuten und Schritt für Schritt neue Beziehungen zwischen ihnen entstehen zulassen; sie brechen, würde bedeuten, einen Ausweg in neuen Fortschrittsillusionen und expansiven imperialen Abenteuern zu suchen. Welchen Weg Putin in Zukunft wählen wird, ist offen; zur Zeit versucht er sich auf der Mitte zu halten. Solange Putin aber – oder ein Nachfolger Putins – den Weg der Reformen geht, besteht die Chance, dass die Transformation des patriarchalen Fürsorgestaats allen Härten und Krisen zum Trotz nicht in die Katastrophe, sondern in eine Erneuerung der traditionellen Symbiose von Produktion und Selbstversorgung unter heutigen Bedingungen führt. Damit könnte Russland einen Weg der Modernisierung gehen, in dem sich individuelle Initiative westlichen Zuschnitts und traditionelle russische Gemeinschaftsstrukturen zu einem neuen Verständnis der Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gemeinschaft verbinden, das auch für den Westen Impulse enthält. Möglich ist dies aber nur, wenn Russland bei der Entwicklung seines Weges nicht isoliert und angefeindet, sondern in seinen exemplarischen Werten erkannt und gefördert wird.

 

(Entnommen aus:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch?, Pforte  Entwürfe, 2005, zu beziehen über den Verlag oder direkt über den Autor www.kai-ehlers.de

 

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

[1] Jefim Berschin, Journalist, Schriftsteller, Dichterin Moskau

Bücher von und mit ihm:

– Jefim Berschin, Kai Ehlers, Dikoe Pole, wildes Feld, Bod, 2016, 9,99 €

– Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte 2009, 1990 €

(Bezug der Bücher über www.kai-ehlers.de). 

[2] Bei der Geiselnahme von Beslan im September 2004 brachten nordkaukasische ‚Gotteskämpfer‘mehr als 1100 Kinder und Erwachsene in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan in ihre Gewalt. Die Geiselnahme endete nach drei Tagen in einer Tragödie – bei der Erstürmung des Gebäudes durch russische Einsatzkräfte starben nach offiziellen Angaben 331 Geiseln. (Nach Wikipedia)

Siehe auch: https://test.kai-ehlers.de/2004/09/beslan-wer-sind-die-opfer-wer-sind-die-tter/

Putin und Trump – ein Gespann? Ein Versuch hinter die Worte zu blicken

Ja, möchte man sagen – und doch nein. Ungeachtet unterschiedlicher persönlicher und politischer Profile sind Donald Trump und Wladimir Putin ein Gespann, notgedrungen, ob sie es wollen oder nicht. Und sind es doch nicht.

Beide sind vor einen Wagen gespannt, dessen Räder im Sumpf ungelöster globaler Probleme und Aufgaben zu versinken drohen. Sie selbst und die hinter ihnen stehenden „Eliten“ sind ratlos, wie sie mit der aus allen Fugen schießenden globalen Expansionsdynamik und der wachsenden Ungleichheit zwischen den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung und der bedrohlich wachsenden Zahl Benachteiligter, Ausgegrenzter, „Überflüssiger“, Marx würde sagen, überflüssig gemachter Paupers umgehen oder sich ihrer entledigen können. Immer ungeduldiger fordern diese Milliarden ihren Anteil am Reichtum der Welt, global und lokal. Eine Elitendämmerung kündigt sich an, wenn keine Vernunft einkehrt.

Die unipolare Weltordnung, die mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war, ist in wilder Bewegung.  Syrien ist dafür der aktuelle Brennpunkt, wo Kämpfe um lokale Souveränität, regionale Einflusszonen und globale Vorherrschaft sich an der Grenze zum globalen Krieg überschneiden.  

Denkbar wäre natürlich, dass die „Eliten“ in dieser Krisensituation, ungeachtet ihres Herkommens und ungeachtet der persönlichen Profile ihrer Vertreter und Vertreterinnen gemeinsam an einer Lösung dieses Knotens arbeiten, um ihre Ratlosigkeit zu überwinden, ja, sich vielleicht gar bereitfinden Ratschläge und Hilfe von „unten“ zu akzeptieren,  statt Milliarden von Menschen zu ohnmächtigen Zuschauern  oder zu Opfern ihrer Entscheidungen zu machen.

In Einzelfragen, die gegenwärtig in ersten Telefonaten zwischen dem neuen Mann in Washington und seinem schon länger amtierenden Kollegen in Moskau verhandelt werden, könnte tatsächlich Einiges möglich werden. Die Rede ist von der Einrichtung geschützter Zonen für Flüchtlinge in Syrien, von einem Ende der  Sanktionspolitik gegen Russland, von  einer Beilegung der Krim- und Ukrainekonflikte. Schließlich sogar von einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Terror – wobei allerdings schon zu fragen ist, was unter „dem“ Terror jeweils verstanden wird.  

Das alles klingt nach Frontbegradigungen – und wäre auch zu begrüßen, wenn es zu Entspannung auf überfälligen Konfliktfeldern führen, wenn es dazu beitragen könnte, die weitere Ausbreitung des Terrorismus zu verhindern. Allerdings muss hier über die Frage hinaus, was jeweils unter Terror verstanden wird, festgehalten werden, dass Terrorismus nicht mit Waffengewalt, auch mit einer russisch-amerikanisch kombinierten Militäraktion nicht zu beseitigen sein wird, sondern nur mit einer grundlegend anderen Politik der „entwickelten“  gegenüber der sich entwickelnden Welt, die den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben vor Ort zu gestalten.

Im Übrigen sind schon die ersten außenpolitischen Dekrete des neuen US-Präsidenten, die ein willkürliches Einwanderungsverbot aus einer Reihe von muslimischen Ländern in die USA verfügen, eher geeignet, dem Terrorismus weltweit neue Kämpfer und Kämpferinnen aus diesem Feld zuzuführen als ihn zu dämpfen. Auch flackern in der Unsicherheit des neuen Frontverlaufs ungelöste Konflikte wieder auf wie in der Ukraine, andere sind zu erwarten. 

 

Unterschiedliche Perspektiven

Obwohl gleichermaßen eingespannt und trotz möglicher Kompromisse in Einzelfragen streben Putin und Trump doch in entgegengesetzte Richtungen. Der eine, Putin, strebt seit seinem Amtsantritt 1999/2000 in die Richtung einer kooperativen Weltordnung, aus wohlverstandener eigener Schwäche  und aus bitterer historischer Erfahrung, wohin eine Überdehnung der eigenen Kräfte führt.

Der andere, Trump, getrieben von dem Bestreben, von globalen Verpflichtungen nicht länger, wie er sagt,  „ausgebeutet“ zu werden, setzt unter dem Motto „America first“ auf Parzellierung  gewachsener globaler Strukturen – bei gleichzeitiger Überhöhung seines und des US-Machtanspruches. Das setzt autoritäre und nationalistische Impulse frei.

Weit entfernt also davon in eine Richtung zu ziehen, obwohl in einem Gespann, gehen die Dynamiken Russlands und der USA extrem auseinander. Putin  orientiert auf Stabilisierung und Reform der nationalstaatlichen Ordnung, wie sie sich in den Vereinten Nationen herausgebildet hat und in ihrer Charta fixiert ist. Trump forciert bilaterale Beziehungen unter Führung der USA.

Damit setzt sich ins Extrem fort, was schon die Politik der letzten Jahre bestimmt hat. Sollte man die Situation, die so entsteht, in ein Bild bringen, so müsste man das einer Waage wählen, deren eine Seite sich senkt, während die andere sich hebt. Schauen wir im Detail.

 

Schrumpfen mit Trump?

Seit Jahren zielt die US  Strategie darauf die globale Vorherrschaft der USA nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ zu bewahren – und kann doch deren Verfall nicht  aufhalten. Bester Zeuge dafür ist der bekannte US-Stratege Zbigniew Brzezinski, in dessen Büchern die Stufen des Verfalls der US-Vormacht umso deutlicher hervortreten, je stärker er die Vorzüge dieser Macht hervorzuheben bestrebt ist – darin ein unfreiwilliger Vorbote Trumps, der jetzt auf den unteren Sprossen dieser Stufenleiter als Erbe erscheint:

Den Zusammenbruch der Sowjetunion begrüßt Brzezinski mit dem  Fanfarenruf des Siegers in dem Buch: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“[1]. Es erschien erstmals 1997, avancierte danach zum Weltbeststeller. In dem Buch wird das strategische Szenario entworfen, wie die USA die ihr in den Schoß gefallene Weltherrschaft  bewahren könnten, wenn sie dafür sorgten, dass in der Welt, insbesondere in Eurasien in Zukunft kein neuer Rivale sein Haupt erheben könne. Auf dieser Linie entwickelten die USA nach 1990/91 ihre Politik der Einkreisung Russlands.

Zehn Jahre später, 2006, schon wesentlich gedämpfter, folgt Brzezinskis erste Bilanz unter dem Titel: „The second chance“[2]. In diesem Buch schaut er auf die Präsidentschaften von Bush I, Clinton und Busch II zurück (so Brzezinskis Schreibweise).  Bush I – in Brzezinskis Charakteristik ein mittelmäßiger Verwalter, der nichts aus dem Sieg von 1990/91 gemacht habe, Clinton – ein Parvenü, der der Welt zu viel versprochen und dadurch amerikanisches Potential  leichtfertig verschleudert habe, Bush II  – ein politischer Hasardeur, der mit seinem brachialen, alleingängerischen „Krieg gegen den Terrorismus“ amerikanisches Ansehen in der Welt und dessen Vormachtstellung in krimineller Weise geschädigt habe. Zugleich habe er die Bildung der Bevölkerung sträflich vernachlässigt. Mit dem von ihm zurückgelassenen Bildungsniveau der US-Bevölkerung, so Brzezinski, sei keine Weltpolitik zu machen. 

Eine zweite  Chance für die in der Folge dieser drei Präsidenten geschwächte Weltmacht könne es nur geben, so Brzezinski, wenn das Land einen neuen Anlauf nähme, den „American way of life“ durch eine Bildungsoffensive im Innern und eine Bündnisoffensive nach außen zu erneuern. Barack Obamas Politik des „Yes we can“ war ein Kind dieser Kritik, eine Offensive des Lächelns bei gleichzeitiger Eskalation der US-Interventionen im Selbstmandat.

Noch ein Intervall später, 2013, im Vorjahr zum Ukrainischen Maidan, unter dem Titel „Strategic Vision, America and the crisis of global Power“[3]  sieht Brzezinski sich zu der Aussage gezwungen: „Angesichts des neuen dynamischen,  und international komplexen und politisch erwachenden Asien ist die neue Realität die, dass keine Macht versuchen kann – in Mackinders Worten[4] – Eurasien ‚zu beherrschen‘ und so die Welt zu ‚kommandieren‘.  Amerikas Rolle, besonders  nachdem es zwanzig Jahre vergeudet  hat (having wasted), muss jetzt sowohl subtiler als auch verantwortlicher gegenüber Asiens neuen Machtrealitäten sein. Herrschaft durch einen einzigen Staat, wie mächtig auch immer, ist angesichts des Hochkommens neuer regionaler Spieler (player) nicht länger möglich“. Nur unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, wiederholt Brzezinski beschwörend, könne dem  weiteren Niedergang der US-Vormacht entgegengewirkt werden.

Wie die Entwicklung zeigt, hat eine breiter angelegte Bündnispolitik  unter Obama auch nach Brzezinskis zweiter Ermahnung den weiteren Niedergang der US-Vormacht nicht aufhalten können, sondern mit der Politik des Regime Changes und der gezielten Tötung durch Drohnen noch tiefer in die Sackgasse des US-Alleingangs geführt. Darüber konnte auch Obamas aggressive Propaganda gegenüber dem angeblichen Kriegstreiber Russland nicht hinwegtäuschen. Das Ukrainische Abenteuer, wie auch der vorläufige Rückzug der USA aus Syrien haben vielmehr die zunehmende Schwäche der USA klar erkennen lassen.

Trump ist der Erbe  dieses innen- und außenpolitischen Niedergangs. Statt sich in ein erweitertes Bündnis der von Brzezinski beschworenen „Newcomer“ zur Herausbildung einer kooperativen Kraft einzugliedern, sucht er den Weg in die weitere Fraktionierung der internationalen Ordnung, die er, wie gesagt, als Last empfindet – in der irrigen Annahme Amerika auf diese Weise wieder groß machen zu können. Das geschieht ohne erkennbares Programm nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.

Im Gegensatz zu den zurzeit vor allem in Europa grassierenden Klagen, mit Trumps brachialem Motto werde die demokratische Tradition der „Pax Americana“ gebrochen, findet der unter diesem Schild bisher verdeckte Nationalismus der USA mit Trump lediglich seine unverhüllte Zuspitzung und Offenbarung. Die irritierte Empörung der atlantischen Partner der USA angesichts dieser Offenbarung des tatsächlichen Charakters der US-Politik lässt vor allem anderen eine Sorge erkennen, nämlich die, mit der Demaskierung der US-Politik zugleich selbst demaskiert zu werden.

 

… und wachsen mit Putin?

Demgegenüber Putin – ebenfalls Erbe, allerdings einer gegenläufigen Entwicklung. Sie steigt von Michail Gorbatschow, der ins europäische, über Boris Jelzin, der gleich ins amerikanische Haus einziehen wollte bis zu Putins und Medwedews immer aufs Neue wiederholtem Angebot auf, gemeinsam mit der NATO eine „Sicherheitsarchitektur“ von Wladiwostok bis Lissabon schaffen zu wollen . 

Auf dieser Linie ging es darum Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zu Kräften zu bringen. Dafür brauchte das Land eine Stärkung der internationalen Ordnung, wie sie von den Vereinten Nationen repräsentiert und in ihrer Charta beschrieben wird. Wohlverstanden im eigenen Interesse Russlands, aus eigener Schwäche, zum Schutz gegen die übermächtige Dominanz der USA.

Die Stationen dieses spät- und nachsowjetischen Restaurationsprozesses folgten nicht aus einem Programm der Revanche und der Re-Imperialisierung, wie vom Westen unterstellt, sondern aus den Tatsachen des für die Bevölkerung lebensbedrohlichen Zusammenbruchs der Sowjetunion und den blanken Notwendigkeiten einer Restauration der russischen Staatlichkeit, sprich fundamentaler sozialer Strukturen.   

Gorbatschow bat den Westen 1991 um Hilfe für die Verwirklichung seiner Reform des Sozialismus – die er, versteht sich, von den potentiellen Geldgebern nicht erhielt. Man schickte ihn vom Londoner G7-Treffen zum Scheitern nach Haus, während man Jelzin zu gleicher Zeit ermutigte und half, das Land für eine ökonomische und kulturelle Kolonisierung durch den Westen zu öffnen.

Erst mit Wladimir Putin kehrte so etwas wie die Besinnung Russlands auf sich selbst in die russische Gesellschaft zurück. Putin formulierte bei seinem Amtsantritt zwei grundlegende Ziele, die er danach beharrlich verfolgte und bis heute verfolgt: Russlands Staatlichkeit wieder aufzubauen und Russland entsprechend seiner gewachsenen historischen Rolle wieder zum Integrationsknoten Eurasiens zu machen.

Mit diesem Arbeitsprogramm, seinerzeit unprätentiös als einfache Internetmeldung der Öffentlichkeit bekanntgegeben, wandte er sich zunächst der  Stabilisierung der inneren Verhältnisse des Landes zu, verpflichtete die Oligarchen ihren im Zuge der Privatisierung des Volksvermögens gegeneinander geführten Krieg einzustellen und sich dem Wiederaufbau des Landes zuzuwenden. Das bedeutete für die neuen Reichen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, wieder in minimale kommunale und soziale Verpflichtungen einzusteigen, ihre privaten Vermögen in eine korporative Führung zu überführen, die sich staatlichen Regeln zu unterwerfen hatte. 

Kurz, es war ein Aufbauprogramm. Wer nicht wollte, wurde  beiseite gedrängt. Man erinnere sich an die Namen Wladimir Gussinski, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, die unter Jelzin – neben dem IWF – zu den unerklärten Herrschern Russland aufgestiegen waren.

Der eigentliche Befreiungsschlag Putins bestand jedoch in der Aufkündigung der von Jelzin eingegangenen Abhängigkeit von den Milliardenkrediten des IWF, darauf folgend auch noch in der Rückzahlung der sowjetischen Altschulden an die westlichen Gläubiger, die an der Rückzahlung überhaupt kein Interesse hatten, sondern es lieber gesehen hätten, die Schulden wachsen zu lassen.

Nach der inneren Konsolidierung trug Putin den Anspruch seines Krisenmanagements in die Außenpolitik, um dort der Einkreisung zu begegnen. Von da an ging es Zug um Zug entsprechend den allmählich wachsenden Kräften des neuen Russland.

2007: Putins Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“, bei dem er der aggressiven Militarisierung der Weltpolitik durch die USA, sowie der ebenso aggressiven Ost-Erweiterungspolitik der EU und der NATO erstmals weltöffentlich entgegentrat – ohne dass er zu der Zeit ernst genommen worden wäre. Die westlichen Medien ließen ihn vielmehr als Möchtegern Kraftprotz erscheinen.

Dann aber 2008: Nach der Serie „bunter Revolutionen“ und angesichts neuer Ansätze der Ost-Erweiterung von NATO und EU in die Ukraine, über Georgien und darüber hinaus, zieht Russland die gelbe Karte gegen die Provokationen des Georgischen Präsidenten Saakaschwili, der sich Ossetien einverleiben will.

In der Folge der Georgischen Krise, ebenfalls 2008, entstehen erste Ansätze zur Gründung der Eurasischen Union – übrigens nicht von Putin, sondern vom Kasachischen Präsidenten Nasarbajew angestoßen. 2010 folgt die aktive Erneuerung des Angebotes an die NATO zur Bildung einer gemeinsamen „Sicherheitszone“. 2013 schlägt Russland vor, das Problem der Ost-West-Gespaltenheit der Ukraine zwischen europäischer und eurasischer Union einvernehmlich in Gesprächen zu lösen. Keines dieser Angebote erschien dem Westen wert darauf einzugehen.

Mit dem vom Westen betriebenen Regimewechsel in der Ukraine 2014 ging Russland vom passiven Widerstand gegen die westliche Einkreisungspolitik zum aktiven über, indem es das Referendum der Bevölkerung der Krim zur Frage einer Rückkehr der Halbinsel nach Russland aktiv unterstützte und die Krim in den russischen Staatsbestand aufnahm. Zugleich förderte Russland die Bestrebungen im Osten der Ukraine nach Autonomie – lehnte von dort ausgehende Beitrittswünsche allerdings ab, ja, unterband sogar den Aufbau einer eigenen Staatlichkeit des Gebietes als „Novo Rossia“.

Mit dem Eingreifen  russischer Bomber auf Seiten Baschar al Assads in Syrien und gegen den „Islamischen Staat“ , das zum vorläufigen Rückzug der USA aus deren Interventionsreihe in Mesopotamien führte, fand das russische Krisenmanagement seinen vorläufigen Höhepunkt. Ergebnis ist das gegenwärtige Krisenpatt zwischen den USA und Russland, wie es sich in den von der Türkei, Russland und Iran initiierten Waffenstillstandsverhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana niederschlug, an denen die USA nur als Beobachter teilnahmen. Was daraus folgt, ist offen.

 

Patt – aber gemeinsame Interessen?

So stehen sich diese beiden globalen „Partner“ heute gegenüber. Wenn jedoch von gemeinsamen Interessen, wenn gar von gemeinsamer Sprache der Präsidenten die Rede ist, wenn gesagt wird, Trumps  „America first“ bedeute das Gleiche wie Putins seinerzeit erklärte Absicht, Russland wieder aufbauen zu wollen,  wenn gar gesagt wird, beide seien gleich unberechenbar, oder auch, jetzt würden die USA genauso unberechenbar wie vorher Putin, dann ist das nichts weiter als Augenwischerei, im harmlosesten Fall einfach Unkenntnis historischer Tatsachen oder Dummheit. 

Fakt ist die unübersehbare Kontinuität der Putinschen Politik, der seit seinem Amtsantritt vollkommen berechenbar Schritt für Schritt von der Stabilisierung der innenpolitischen Situation Russlands zur Stabilisierung der globalen Beziehungen fortgeschritten ist – während die USA im gleichen Maßstab ihre Berechenbarkeit verloren haben und mit Trump jetzt gänzlich zu verlieren sich anschicken.

Ergebnis ist, dass die beiden großen Mächte, die heute – neben China als bisher stillem Begleiter – die Weltpolitik wesentlich bestimmen, auf polaren Seiten ein und derselben gegenwärtigen Entwicklung stehen, eben als ein Gespann. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, wenn Trump die Weltordnung in nationale Fragmente zerlegen, der andere, Putin,  die Souveränität des Nationalstaates als Voraussetzung für Stabilität erhalten will.

Putin und Trump treffen an ein und demselben kranken Punkt der gegenwärtigen internationalen Weltordnung aufeinander, beide allerdings letztlich, wenn auch auf gegensätzlichen Seiten, auf löcherigem Boden, denn die heutige Form der globalen Nationalstaatsordnung, manifestiert in den vereinten Nationen, die der eine erhalten, der andere noch weiter als bisher beiseiteschieben will, ist angesichts der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technik und Kultur so oder so überlebt. Sie bedarf nicht nur der Reform, sie bedarf einer zeitgemäßen Weiterentwicklung.

Unter nationalstaatlicher Grundorganisation des heutigen Staatenlebens, um das hier in aller Kürze zu verdeutlichen, ist das im 19. Jahrhundert entstandene Credo zu verstehen, nach dem alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens von der Wirtschaft bis zur Kultur durch den nationalen Einheitsstaat unter staatlichem Gewaltmonopol zusammengefasst und verwaltet und gegenüber allen anderen Staaten zur Geltung gebracht werden, mit denen jeder Staat für sich Arbeitskräfte, Ressourcen und Märkte mit anderen teilen muss.

Kurz gesagt: was des einen Staates Gewinn, ist  zwangsläufig des anderen Verlust. Kriege sind bei dieser Ordnung umso unvermeidlicher, je größer die Anzahl der Nationalstaaten wird, die sich in dieser Weise den globalen Kuchen teilen müssen.

Beim Stand der Dinge ist die Politik, die Trump einzuschlagen gedenkt allerdings die gefährlichere, insofern sie die schon von seinen Vorgängern betriebene Fraktionierung dieser Ordnung unter dem Slogan „America first“ ohne Rücksicht auf zukünftige Folgen, nur getrieben vom spontanen Abwärtstrend der US-Supermacht, wie er sich in dem Weckruf „America first“ ausdrückt, ins Extrem zu treiben antritt. Putins Strategie, insofern sie das eigene Überleben nur im Rahmen eines globalen Krisenmanagements begreift, beinhaltet demgegenüber immerhin die Chance, so etwas wie einen vorübergehenden globalen Stabilitätsrahmen herzustellen,  der ein Sprungbrett für eine Ordnung bilden könnte, die über den Nationalstaat als Grundorganisation  des heutigen Staatenlebens hinausweisen – könnte.

 

Vom Zweier- zum Dreierpatt

Dass die Frage der heute anstehenden Neuordnung letztlich nicht allein zwischen den beiden Polen USA und Russland ausgetragen wird, ist dem bisher Gesagten schließlich noch hinzuzufügen. Zwar treten gewisse historische Linien aus der Vergessenheit der Geschichte wieder hervor, so die anglo-amerikanische, die aus der Tradition des Britischen Commonwealth heraus einem eigenen Kurs gegenüber Mitteleuropa und Eurasien folgt. Das ist eine Spur, die sich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über den zweiten bis zu den jetzt wieder hervortretenden Konstellationen  zieht. Sie  zielt auf eine Schwächung Europas, genauer der europäischen Mitte, insbesondere Deutschlands, noch  genauer und aktuell gesagt auf die Verhinderung einer möglichen deutsch-russischen Achse. Der Austritt Britanniens aus der EU und seine neue Nähe zu den USA unter Trump lässt diese Linie nach Brexit und US-Präsidentenwechsel unmissverständlich hervortreten.

Die historischen Parallelen sind allerdings nur noch bedingt gültig, eine einfache Wiederholung historischer Konstellationen wird es nicht geben können, weil inzwischen – wie schon von Brzezinski unter dem Stichwort der tendenziellen West-Ost-Verschiebung der globalen Machtzentren richtig beschrieben  – andere Kräfte in der Welt aufgetreten sind, insbesondere China. Damit ist der historische Impuls des Commonwealth nicht mehr das einzige bestimmende Element in der Weltgeschichte und auch nicht in der Beziehung zwischen den USA und Britannien und kann es, wenn kein Wunder geschieht, auch nicht wieder werden.

Ein Dreiecksverhältnis ist entstanden, bestehend aus Russland plus China, Europa und den USA, in das sich alle anderen Länder der Welt einfügen müssen. Das könnte dem zwischen Russland und USA entstandenen Patt vorübergehend  eine festere Haltbarkeit geben.

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Könnte,  wenn …

Allerdings kann selbst in einer solchen Dreiecksbeziehung nicht mehr entstehen als eben ein vorübergehendes Stillhalteabkommen. Warum? Weil die Grundfragen der gegenwärtigen Entwicklung, durch Krisenmanagement allein nicht zu lösen sind, solange die drei, und nicht nur die drei, sondern alle Mächte der Welt, alle heute herrschenden Kräfte der Welt, an der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Expansion festhalten, die ja ihrerseits letztlich Ursache der Krisenerscheinungen ist, wie wir sie heute haben.

Nicht oft genug kann wiederholt werden: Wir leben in einer Welt, in der alle bisherigen Versuche das Paradies auf Erden herzustellen gescheitert sind. Das betrifft das Glücksversprechen des Kapitalismus ebenso wie das des realen Sozialismus. Die bisherige Form der Globalisierung erweist sich darüber hinaus auch nicht als Lösung, sondern als Verschärfung dieser Ergebnisse. Die Frage stellt sich also, wie wollen wir leben, wenn nicht so, aber auch nicht so?

Solange eine Antwort auf diese Frage nicht über die Reduzierung des Menschen auf einen „Homo Konsumentis“ hinauskommt, der nur in Kategorien beständiger Expansion, wirtschaftlich gesprochen „Wachstum“ denken und leben kann, solange keine andere Weltorientierung, kein anderes Verständnis vom Menschen in der Welt entwickelt worden ist, das ihn wieder als kosmisches Ganzes begreift, solange ist eine weitere Zuspitzung der genannten Widersprüche unumgänglich, in welcher Konstellation auch immer.  

Das betrifft auch die nationale Frage. Zwar könnte die Achtung der internationalen Ordnung, wie sie die Charta  der Vereinten Nationen enthält, einen Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen abgeben, wenn sich alle Länder darauf als zur Zeit noch verbindlichen Rahmen einigen könnten, und niemand total quer schösse, aber – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – angesichts der globalen Verflechtung unserer heutigen Weltwirtschaft, Technik und Kultur ist die nationale Ordnung des Völkerlebens, ist die nationale Organisation, konkreter gesprochen, der nationale Zugriff auf das Feld der Ressourcen etc., ein auslaufendes Modell.

Die heute anstehenden Aufgaben, allen voran die Bewirtschaftung von Ressourcen – als Beispiel seien nur Öl und Internet genannt – können nur dann befriedigend und friedlich gelöst werden, wenn dies in nicht national begrenzter gemeinschaftsdienlicher Verwaltung  geschieht. Das allein kann eine Entwicklung öffnen, die im Rahmen der allgemeinen Nutzung zugleich zu der existenziell notwendigen Wiederbelebung lokaler Räume durch miteinander verbundene größere oder kleinere Bedarfsgemeinschaften führt.

Gebraucht wird eine Differenzierung gesellschaftlicher Aktivitäten, bei welcher der einzelne Mensch zugleich selbstorganisiert und in kooperativer Gemeinschaft leben kann, ohne von einem Staatsmonopol oder gar einem globalen Hegemons auf einen bloßen Konsumenten reduziert und zum Schräubchen fremder Interessen erniedrigt  zu werden.  

Mögliche Ansätze zu Entwicklungen in diese Richtung gibt es viele – globale,  regionale und lokale. Nach dem ersten, ebenso nach dem zweiten Weltkrieg und heute. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und wird viel ausprobiert . Eine Verwirklichung im großen Maßstab steht jedoch noch aus. Ein vorübergehendes Patt der heutigen Großmächte und ihrer politischen wie auch persönlichen „Follower“ könnte eine Chance sein, einen neuen Anlauf zur Förderung solcher Alternativen zu entwickeln. Klar ist jedoch: Die Rückführung der jetzigen globalen in bi-nationale Beziehungen unter der Dominanz eines Hegemons, wie das von der amerikanischen Politik, genauer von ihrem gegenwärtigen Präsidenten zurzeit anvisiert wird, ist nicht dazu geeignet, Alternativen auch nur ansatzweise zu fördern. Sie läuft auf eine Zertrümmerung solcher Ansätze hinaus. Möglicherweise ist das auch ein Weg zur Erkenntnis, aber es ist der schlechtere Weg.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu  das Video:

http://www.russland.news/putin-und-trump-ein-gespann-video

 

 

und das Buch:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Eigenverlag, Bestellung über: www.kai-ehlers.de

 

Außerdem Vortragsangebote, die Sie buchen können:

Siehe dazu auf der Eingangsseite: VORTRÄGE BUCHEN

[1] Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht, 1996 bei Fischer, neu herausgegeben bei Kopp Verlag, 2015

[2] Brzezinski, Zbigniew, Second Chance, 2006, English, Basic books, 2007

[3] Brzezinski, Zbigniew, Strategic vision, America and the crisis of global power, English, S. 131, Basic Books,

[4] Mackinder, Halford, 1861 – 1947, britischer Geopolitiker, Begründer Theorie des „Herzlandes“

„Values and deals“ – Anmerkungen zu einem verborgenen Aspekt des syrischen Krieges

Dass es in Syrien nicht um das Wohlergehen der dort lebenden Menschen geht, bedarf keiner Beweise: 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land. Diese Tatsachen sprechen für sich. Dass dem Terrorismus mit Bomben nicht beizukommen ist, gleich, wo sie produziert, von wem sie abgeworfen werden und wie entschlossen sich alle Beteiligten geben, ist ebenso offensichtlich. Dass es um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist auch klar. Das alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden.

Aber etwas Drittes rückt in den aktuellen Absprachen zwischen USA und Russland um einen Waffenstillstand zurzeit in Syrien zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde das durch einen irritierenden Auftritt Bascha al Assads unmittelbar nach Bekanntgabe der zwischen den USA und Russland getroffenen Absichtserklärungen ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen:

„Der syrische Staat“, ließ Assad bei einem, wie die FAZ zu Recht als besonders bemerkenswert hervorhebt, „seltenen öffentlichen Auftritt“ demonstrativ verlauten, „ist entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die Syrischen Streitkräfte, so Assad  weiter,  würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“  fortsetzen. (Zitiert nach FAZ, 13.09.2016)

Was war das? Die Ansage eines unverbesserlichen „Schlächters“? Eine Provokation? Verzweiflung? Eine Dummheit? Ein abgesprochener Auftritt? Wenn abgesprochen, dann mit wem und wofür?

 

Schweigen zu Assad

Bei genauerem Nachforschen fällt auf, dass in den aktuellen Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt wird, welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende spielen soll, nachdem zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten wurde.

Die russische Position war bisher eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen.

Die amerikanische Position war ebenso eindeutig. Sie ist durch das schon unter G.W. Bush entwickelte „Project of a new American century“[1] unmissverständlich und schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden. Auch dies ist sattsam bekannt.

Weniger bekannt ist, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier lohnt ein Blick auf ein von der „Deutschen Welle“ gezeigtes  Interview[2], das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung,  zu der Frage gab, wie er zu dieser Annäherung stehe.

Assads Antwort verblüfft, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf den frappierenden Nenner bringt, den er „value and deal“ nennt – „value“ als Motivation für die russische, „deal“ für die amerikanische Intervention.

In den Worten der „Deutschen Welle“ klingt das so: „Anders als die Politik der USA fuße die russische Politik nicht darauf, Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten.  Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne, so Assad.“

Die Russen, so Assad weiter, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.

 

Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nehmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung  zu betreiben. Syrien war auf dieser Line, wie gesagt, die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war für Russland das Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht,  Russland ist inzwischen auch soweit zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegenzutreten.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was jetzt mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende„ herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder sind die USA auf die Linie Russlands eingeschwenkt, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und des Landes erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt werde.

 

Souveränität für alle?

Hier erhebt sich die weiterführende prinzipielle Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe, eines Volkes die gleiche  Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das die Kurden, die heute drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Roschawa“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Roschawa“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre Verfassung nicht nur zu einem Modell für ganz Syrien werden, es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als internationales,  als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für „Roschawa“ gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, oder gar, wie die Türkei, sie als „Terroristen“ bekämpfen.

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität  und Selbstbestimmungsrecht der Völker in ein neues Verhältnis zueinander bringt. Das könnte geschehen, indem als drittes Element das Selbstbestimmungsrecht des Individuums mit in den Zusammenhang eingeht – eine Aufgabe der Zukunft.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiterführende Frage, WIE das geschieht.  Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation und darauf beruhende Vereinbarungen. In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht unterworfen ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[2] https://www.google.de/?gws_rd=cr&ei=bpvZV-vPLq-W6QSL8KbADw#q=DW+USA+wollen+in+Syrien+mit+Russland+zusammenarbeiten

Globales Zwischenhoch: Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum?

Die Augen müsse man sich reiben, alles werde auf den Kopf gestellt, konnte man dieser Tage in dem führenden Blatt der deutschen Konservativen, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.06.2016 lesen.

Empörung breitete sich auf den Bonner und Brüsseler Etagen aus. Einen „ungeheuerlichen Vorwurf“  erkannte der  Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Eckpfeiler der deutschen, der europäischen Außenpolitik, gar der NATO-Strategie sah man bedroht. Man wolle doch nur die Sicherheit an Russlands Grenzen sichern; ein anderes Interesse als Friedenserhaltung verfolge die NATO nicht, schob Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag darauf nach.

 

Putins Angebot: Weg mit den Sanktionen

Was war geschehen? Auf dem 20. Petersburger Wirtschaftsforum vom 17.06.2016, zu dem rund 500  Vertreter und Vertreterinnen von ausländischen Unternehmen aus 60 Ländern, vornehmlich aus dem Nahen Osten und Asien, aber auch aus den USA und der EU angereist waren, unter ihnen auch der Präsident der Europäischen Kommission der EU, Jean-Claude Juncker, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Gäste aus der EU mit dem Angebot überrascht, die von Russland als Reaktion auf die vom Westen nach den Krim-Ereignissen gegenüber Russland verhängten Sanktionen von Russlands Seite her aufzuheben. Gemeinsam könne  man an den Aufbau einer eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft  gehen  – wenn Russland sich darauf verlassen könne, anschließend nicht (man konnte das feine ‚wieder‘ mit heraushören) betrogen zu werden.

Und nicht nur das: Nicht nur lobte UN-Präsident Ban Ki-Moon Gastgeber Putin für seinen mutigen Schritt und dankte für sein Engagement in Syrien, nicht nur kniff sich Juncker eine Zustimmung zu dieser Perspektive ab, vorausgesetzt, dass  Russland sich weiter kooperativ zeige, nein, allen voran nutzte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Gut-Wetter-Lücke zwischen dem Treffen in St. Petersburg und der für den 8. und 9. Juli bevorstehenden NATO-Tagung,  mit Hinweis auf das zur Zeit in Polen durchgeführte  Nato-Groß-Manöver „Anaconda“ in der „Bild am Sonntag“ öffentlich zu mahnen: „Was wir jetzt nicht tun sollten, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeschrei  die Lage weiter anzuheizen.“

 

Aber war denn nicht alles ganz anders …

Aber die  so Ermahnten können es einfach nicht glauben. War denn nicht alles ganz anders? Werden damit nicht alle Tatsachen auf den Kopf gestellt? War es nicht so, wie man es in der FAZ vom 20.Juli lesen konnte ? „Ursache für die Eiszeit  ist der Verstoß Russlands gegen Prinzipien,  die jahrzehntelang für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt hatten. Es war nicht die Nato, sondern der Kreml, der die Krim okkupierte und der in der Ostukraine einen (Sitz-)Krieg führt. Es ist nicht die Nato, sondern Moskau,  vor dem sich  die baltischen Republiken und Polen fürchten,  weswegen sie aus freien Stücken der atlantischen Allianz beitraten. Bis zur Annexion der Krim spielte die Nato militärisch in diesen Ländern keine Rolle. Auch die vier Bataillone, die dort stationiert werden sollen,  stellen keine Bedrohung für Russland dar, das auf seiner Seite der Grenze Divisionen stehen hat.  Steinmeier spricht zu Recht  von ‚symbolischen Panzerparaden‘. Die Nato-Verbände haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, das der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe.  Und dass die NATO einen Angriff  auf eines ihrer Mitglieder  als Angriff auf alle betrachten würde.“

Bemerkenswert! Wirklich bemerkenswert diese Sicht! Man kann die Welt doch von sehr verschiedenen Seiten betrachten. Aber man muss sich hier nicht bei den gröbsten Verdrehungen aufhalten, wie etwa der, Russland habe die Krim „besetzt“, man  muss auch nicht den Versuchen Steinmeiers und seiner Parteigänger erliegen, das Schwanken zwischen Verlängerung der Sanktionen gegen Russland und zögernder Anerkennung für dessen Einsatz in Syrien für eine „neue Entspannungspolitik“ auszugeben, es gar noch „im Geiste Brandts“ verstehen. Zu offensichtlich ist die Hilflosigkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit dieser Politik, wenn man wahrnehmen muss, wie in strategischen Hinterstuben zugleich Pläne für die nächste Phase geplanter Aggression geschmiedet werden:

  • Die Forderung von 51 US-Diplomaten aus dem Mittelbau des außenpolitischen Establishments, die in einem offenen Brief verlangen, die Politik des „Regimechange“ in Syrien durch Bombardierung von Assads Truppen wieder aufzunehmen. Dies würde den Krieg mit Russland zumindest in Kauf nehmen.
  • Das Offenhalten des Ukraine-Konfliktes, indem die ukrainische Regierung sich – trotz verbaler Kritiken seitens der EU, Steinmeiers, und selbst seitens der USA von ihnen dennoch geduldet – weigert, den Donbas-Republiken ihren im Minsker Vertrag vereinbarten Autonomiestatus zuzuerkennen – die Schuld dafür aber der andauernden „Aggressivität“ der Russen zuschiebt.
  • Die nochmalige Verlängerung der Sanktionen seitens der USA und der EU gegen Russland, sogar Forderungen nach weiterer Verschärfung, so dass es Millionen wirklich wehtue, weil nur so an einen Sturz Putins gedacht werden könne.

 

An einem Wendepunkt angekommen

 Man muss auch Russland nicht in Schutz nehmen als wäre es ein Neugeborenes, das den  Härten der US-, EU-, Nato-Welt und überhaupt den imperialen globalen Realitäten, den Verleumdungen Russlands als Reich des Bösen mit einer Widergeburt Hitlers als Präsidenten noch nicht gewachsenen sei, dem also schon einmal Fehler unterlaufen könnten, ohne dass man es dafür kritisieren müsste. Aus der zweiten und dritten Reihe werden auch in Russland durchaus dumpfe Töne laut.

Nein, man muss jetzt vor allem erst einmal die Tatsache erkennen, dass Russland 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder in die Weltpolitik eingetreten, dass sein Präsident Putin ungeachtet aller Anwürfe als Wiedergänger Hitlers zum anerkannten globalen Krisenmanager aufgerückt ist. Und man muss dies nicht nur konstatieren, um sich dann darauf auszuruhen, es ist auch wichtig zu erkennen, wie es dahin kam, welche Elemente in diesem Krisenmanagement wirksam sind und wo seine Grenzen liegen, um zu verstehen in welcher Etappe der Neuordnung wir uns 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der systemgeteilten Welt, die den Kriegen des vorigen Jahrhunderts folgte, heute befinden.

Denn ungelöst sind die aus dem letzten Jahrhundert herüber gewachsenen Grundfragen, die über ein vorübergehendes Krisenmanagement durch eine charismatische Figur wie den gegenwärtigen russischen Präsidenten weit hinausführen.

Wer diesen Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre richtet, erkennt, dass die globale Konstellation mit Putins neuerlichem Angebot an die Europäische Union an einem Wendepunkt angekommen ist.

 

Drei Etappen des  russischen Aufstiegs

Drei Etappen lassen sich bei dem Aufstieg Russlands in seine gegenwärtige Rolle des globalen Krisenmanagers benennen:

Das ist zunächst das  Wegbrechen jeglicher Staatlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und dem Kniefall vor dem Westen unter Boris Jelzin in den Jahren 1985 bis 1998.

Das ist darauf folgend die Wiederherstellung rudimentärer Staatlichkeit und einer mühsamen inneren Stabilisierung unter Putin  im Inneren des Landes seit 1998 bis heute (allerdings schon begonnen unter Primakow 1998, was in der Regel unterschlagen wird).

Das ist, aus dem inneren Krisenmanagement erwachsen, der Übergang in ein Wiedereintreten des Landes in seine Rolle als Integrationsknoten Eurasiens, der für die Newcomer aus den ehemaligen Kolonien zum wichtigsten Partner in ihrem Streben nach einer Ablösung der von den USA allein und militärisch dominierten Weltordnung wurde.

Aber nicht Diktat und Repression, wie westliche Propaganda es immer wieder nahelegt,  hat diesen Weg des inneren und danach äußeren Krisenmanagements getragen, nicht imperiale Stärke,  sondern im Gegenteil eine von Putin aus dem geschwächten eurasischen Zentrum heraus entwickelte Politik des Konsenses.

Aus dem Konsens heraus ist Russlands Wiederherstellung seiner Staatlichkeit im Inneren erfolgt, zweifellos „vertikal“, nicht demokratisch, aber gestützt auf die Struktur realer Vielfalt im Lande. Aus dem inneren Konsens heraus hat Russland seine Rolle als Motor einer internationalen Gegenbewegung der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion Union entwickelt – letztere immer mit Blick auf Kooperation, nicht zuletzt mit der EU, statt auf Konfrontation.

Die Angebote Putins, Medwedews und anderer russischer Politiker zur Kooperation in einer „Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok“ waren die immer wiederkehrende Essenz dieser Politik, bis Russland sich angesichts der zügellosen Ost-Erweiterung von EU, NATO und dem frechen Vordringen der USA auf den eurasischen Kontinent, ihrem schrittweisen, systematischen Einkreisen der russischen Grenzen seit der Auflösung des Warschauer Paktes, gezwungen sah,  aus der Duldung dieser Einkreisung  in die Verteidigung seiner Grenzen zugehen.

 

Übergang zur offensiven Verteidigung

Das geschah erstmalig mit der deutlichen Antwort auf die georgischen Provokationen von 2004, die Russland militärisch zurückwies.

Das wiederholte sich gegenüber den Versuchen, die Ukraine 2008, dann endgültig seit dem Maidan 2013/14 ins westliche Bündnis zu ziehen, indem Russland den Austrittswillen der Krim in einem schnellen Referendum aufgriff und den Osten in seinen Autonomiebestrebungen personell und sachlich unterstützte.

Das steigerte sich schließlich in dem Einsatz von Kampffliegern in Syrien, nachdem alle Versuche, eine friedliche Beilegung des von der US-Allianz betriebenen gewaltsamen „Regimechanges“ auf dem Verhandlungswege mit der US-geführten „westlichen Allianz“ zu erreichen, auch im fünften Jahr dieses unerklärten Krieges noch am Widerstand der USA gescheitert waren. Erst  der Einsatz der russischen Bomber erzwang jetzt den – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.

Ähnliches gilt für die Ukraine, deren „eingefrorener Konflikt“ nur deshalb nicht heiß weiter läuft, weil Russland nach wie vor als Garantiemacht hinter den selbsterklärten Republiken des Donbas steht.

Dies alles sind bekannte Tatsachen, die hier nicht zum hundertsten Male neu im Detail ausgebreitet werden müssen. Dadurch werden sie für die, die sie leugnen, nicht wahrer. Diese Menschen sehen die Dinge schlicht von der anderen Seite. Es dürfte wichtig sein, ihre Motive und Aktivitäten nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen.

 

Erkennbare Grenzen

Aber hier werden selbstverständlich auch schon die Grenzen des russischen Krisenmanagements sichtbar, das nach der Ausdehnung seiner Sicherheitspolitik  in den globalen Raum nunmehr wieder in verstärktem Maße mit der  Sicherung seiner inneren, hauptsächlich der sozialen und „nationalen“ Fragen, d.h., der Entwicklung seiner Republiken konfrontiert ist. Darüber hinaus stellt sich für Russland auf längere Sicht die Frage, ob und wie es unter diesem Druck die Kraft hat, dem Kulturimpuls als „Entwicklungsland neuen Typs“ gerecht zu werden, der in der Überwindung von sowjetischem Sozialismus und heutigem Turbo-Kapitalismus neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen könnte, die sich auf die tausendjährige (zweifellos auch sehr widersprüchliche)  Gemeinschaftskultur Russlands stützen  könnten – ohne dass daran nach dem Niedergang des Zarismus, danach dem des sowjetischen Imperiums, nunmehr auch der als zentralisierte Föderation übriggebliebene  Vielvölkerorganismus des neuen Russland zerbricht.

Dies alles muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass die grundlegenden Konflikte der sich heute entwickelnden globalen Übergangsordnung in keiner Weise gelöst, ja, zum Teil noch nicht einmal richtig erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, dann leichtfertig oder sogar wissentlich – ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen der globalen Bevölkerung – beiseitegeschoben werden.

Es sind dies Fragen, die das ganze globale Feld heute betreffen, aber eben auch Russland in seiner Dynamik als aus der Asche des Sozialismus auftauchendem potentiellen Protagonisten einer möglichen Neuordnung, dem die widersprüchliche Aufgabe zufällt, sich als „Hybrid“ neu zu erfinden, der sich in die „Moderne“ einfügen muss, der sich aber in seiner undefinierten, in Bewegung befindlichen Mischung aus gemeinschaftsorientierten und neo-kapitalistisch orientierten Lebensweisen nicht in die „normalen“, sprich zerstörerischen Krisenzyklen der kapitalistischen Welt einfügen kann – und es auch nicht will.

Die Grundfragen, deren Lösung ansteht, sind nicht zu umgehen – so oder so nicht. Fassen wir sie zusammen, dann lauten sie so:

  • Wie wollen wir leben, wenn nicht sozialistisch nach Art der Sowjetunion, aber auch nicht im nach-sozialistischen Turbo-Kapitalismus? Wie wird die soziale Frage der „Überflüssigen“ gelöst, die aus der ungebremsten Automatisierung bei gleichzeitiger rasanter Vermehrung der Weltbevölkerung erwächst?
  • Wie wird die „Nationale Frage“ in einer Welt gelöst, auf der unter dem Prinzip „Teile und Herrsche“ bei gleichzeitigen globalen Zentralisierungstendenzen immer mehr „eingefrorene Konflikte“ als Minenfelder für zukünftige Politik zurückbleiben?
  • Wie sind die zerstörerischen Folgen des immer noch wachstumsorientierten Expansionismus ohne Krieg zu bewältigen?

Wie lange und wie weit Russland zur friedlichen, kooperativen Lösung dieser Fragen beitragen kann, ist eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende Frage der nächsten Etappe.

 

Kai Ehlers, 21.06.2016

www.kai-ehlers.de

 

 

 

Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

Ukraine, Syrien, Libyen, Irak, Türkei, Afghanistan – unter dem Druck der Flüchtlingsströme von Süden in den Norden des Globus jetzt auch die Europäische Union: das Kampffeld, auf dem nationale Souveränität in Frage gestellt wird und wo sie umso radikaler behauptet wird, weitet sich zusehends aus. Die großen Mächte schieben nationale Souveränität beliebig beiseite, kleine Völker wie die Kurden, wie die Uiguren Chinas, wie Indigene Südamerikas ringen um Autonomie oder „nationale Widergeburt“, arbeiten vergessene Geschichte in eigenen Epen auf. So etwa die Tschuwaschen Russlands, deren neuestes „Nationalepos“ soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Bei all dieser nationalen Selbstbesinnung und ihrer gleichzeitigen Zerstörung stellt sich die Frage, welche Bedeutung Autonomie, nationale Wiedergeburt, genereller nationale Souveränität, Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung, die heute als Norm gilt, in der gegenwärtigen Krise hat.
Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
Und weiter: Als Nationalstaaten galten und werden faktisch auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings die EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien gehandelt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine „nationale“ Gültigkeit, genauer, keine nationalen Grenzen mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Missachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Screenshot Syrien – Vom Schachspiel zum Poker

Die Schärfe der globalen Spannung, die zurzeit über Syrien lastet, fordert über die Tagespolitik hinaus mehr Beachtung der langfristigen Wirkungen der dortigen Vorgänge. In Kurzem:

„The Grand Chessboard…“ nannte Zbigniew Brzezinski sein bekanntestes Buch, in dem er die Strategie der US-Regierung Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts vor aller Welt offenlegte. Essens der Strategie war: Es dürfe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, durch den die USA zur einzigen Weltmacht geworden seien, kein neuer Rivale auf dem Globus heranwachsen, der die Vorherrschaft der USA in Frage stellen könne.

An dieser Zielvorgabe ließ sich die US-Politik bis in den Ukrainischen und auch bis in den Syrischen Krieg hinein messen: Unruhe schaffen, um mögliche Rivalen zu schwächen. Hauptadressat dieser Politik war und ist das nachsowjetische Russland als Impulsgeber einer multipolaren Welt.

CIA-Vorgaben aus den Jahren 90/91 des letzten Jahrhunderts, die empfahlen, dem absehbaren Bevölkerungswachstum der ehemaligen Kolonialgebiete wirksam entgegenzutreten, bildeten den nicht-öffentlichen, aber keineswegs geheim gehaltenen Hintergrund dieser Strategie. In den Vorgaben wurde vorgeschlagen dafür zu sorgen, dass die in den ehemaligen Kolonialländern heranwachsenden „Überflüssigen“ (in der Fachsprache der Dienste „Youth-Bulge“, Jugendüberschuß genannt) sich in lokalen Kriegen und Bürgerkriegen gegenseitig dezimieren.

 

Die Partie stagniert

Diese 91er Strategien, sagen wir es vorsichtig, haben sich überlebt. Die Jahrzehnte der einsamen US-Vorherrschaft wie auch der ebenso einsamen multipolaren Opposition Russlands dagegen gehen ihrem Ende entgegen. Eine neue Lage hat sich herausgebildet: Vergangen ist die unipolare Welt der scheinbar unaufhaltsamen neoliberalen Globalisierung, die sich nach Ende des Kalten Krieges unter der Dominanz der USA entwickelte hatte. Auch die der Globalisierung vorangegangene systemgeteilte Welt mit ihren leicht erfassbaren Freund-Feind/Sozialismus-Kapitalismus-Schablonen liegt weit zurück und ist nicht wiederholbar – auch nicht als Krieg der Kulturen.

Entstanden ist eine globale Gemengelage gegenläufiger, sich auf vielfältigste Weise überschneidender Interessen, die sich in wachsender Rivalität gegenüberstehen. Die langfristigen strategischen Optionen der systemgeteilten, ebenso wie die der unipolaren und auch der multipolaren Welt sind nicht vergessen, aber sie schrumpfen zurzeit auf kurzatmige taktische Manöver zusammen. Im Kampf um Ressourcen, globalen Einfluss und mögliche Vorherrschaft ist das Schachspiel aktuell zum Poker verkommen, in dem sich die ‚Spieler‘ in wechselnden Bündnissen gegenseitig belauern, einander zu übervorteilen und ins Risiko zu ziehen versuchen.

 

Eine neue Etappe

Man mag vielleicht einwenden, dass Poker gewissermaßen die natürliche, die ‚normale‘ Form des politischen ‚Spiels‘ sei, dem gegenüber die Regeln der system-geteilten Welt nach 1945 und selbst noch jene der US-Alleinherrschaft nach 1991 die entwickeltere, die rationalere, weil Stabilität bewirkende Form des globalen Konflikt- und Friedensmanagements gewesen seien, dass die heutigen globalen Beziehungen dagegen von der vorübergehenden Ausnahme sozusagen zur historisch Regel zurückkehrten. Mit dieser Sicht ginge man jedoch an der inzwischen erreichten Eskalationsstufe der globalen Beziehungen vorbei, die man, um es paradox aber realistisch zu formulieren, als zunehmende Fragmentierung der Globalisierung charakterisieren kann. Die führt entweder ins Chaos oder auf bisher nicht beschrittene zukunftsoffene, lebensdienlichere Wege der gesellschaftlichen, man darf ruhig sagen, der kulturellen Entwicklung.

In dem Maße, in dem die Weltbevölkerung technisch-logistisch als globale zusammenwächst, im dem Maße, in dem territoriale Entfernungen an Bedeutung abnehmen, steigt weltweit zugleich der Grad der Individualisierung, der Atomisierung und der Sektoralisierung der Gesellschaften in sich selbst genügende Einheiten, die ihre Beziehungen zu anderen Einheiten neu definieren müssen.

Der Nationalstaat, wie er im letzten Jahrhundert als Zentralstaat definiert wurde, erst recht der ethnisch dominierte, sowie der mit dem Lineal ohne jede Rücksicht auf historische Gewordenheiten gezogene, verliert in diesem Prozess seine bindende Kraft. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass der Nationalstaat heute nicht mehr als Ausdruck eines Volkes, sondern als bloßer Rahmen für eine in viele Sektoren gegliederte Bevölkerung verstanden wird, deren Teile nicht selten mit der Außenwelt enger verbunden sind als mit den Menschen innerhalb der nationalen Grenzen.

Zugleich verlieren die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten ihre Verbindlichkeit als grundlegende völkerrechtliche, besser gesagt globalrechtliche Ordnungseinheit. Auch sie sind, real betrachtet, in zunehmendem Maße nur noch Sektoren einer überstaatlichen, aber deshalb nicht etwa definierten und nicht etwa legitimierten allgemeinen Ordnung. Für die internationalen Beziehungen heißt das: Es herrscht das Recht des Stärkeren.

All dies sind Indikatoren der Krise des Nationalstaats und der mit ihm verbundenen gegenwärtigen Völker-Ordnung in seiner bisherigen Form und Bedeutung. Die Krise kann kurzschlüssige Rückwendungen zu nationalistischen Exzessen wie in der Ukraine und als Gegenstück dazu Weltherrschaftsphantasien wie die des „IS“ hervorbringen. Sie kann aber auch zur Weiterentwicklung des Nationalstaates in Richtung souveräner, miteinander in föderalem Verbund gleichberechtigt kooperierender autonomer Regionen, politischer Großkollektive und länderübergreifender Korporationen führen. In dieser Entwicklung wird auch der Nationalstaat als rechtlicher Rahmen seine neue Bedeutung finden.

Es stellt sich die Frage, welche Karte im globalen Poker um Syrien als nächste gespielt wird. Wenn Russland darauf besteht die Souveränität des syrischen Nationalstaates zu achten, ist das selbstverständlich noch nicht der endgültige Weg in die Zukunft, aber vermutlich ist es die Karte, die das geringste Risiko nach sich zieht, die ganze Runde zu sprengen und die Raum lässt für weitere Runden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Apropos Sanktionen: Ein Blick auf Russlands Ressourcen

Nach vorübergehender Annäherung zwischen Russland und dem Westen, speziell der EU, lautet die herrschende Frage des Westens heute wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse.

Wer glaubte, Russland fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder auf die Knie zwingen und zu einer Erdöl liefernden Regionalmacht, gar Kolonie herabstufen zu können, sieht sich getäuscht. Wieder einmal, muss hinzugefügt werden. Schon Napoleon, später Hitler unterlagen dieser Täuschung. Jetzt hat Russland den Erweiterungs-Offensiven der EU und der NATO ein klares Njet entgegengesetzt, verwandelt die vom Westen gegen das Land verhängten Sanktionen und Isolierunsversuche in neue eigene Entwicklungsschübe und festigt sein Bündnissystems mit den aus der US-Hegemonie heraustretenden Neuen Welt.

Woher nimmt Russland die Kraft der „Weltgemeinschaft“ auf diese Weise zu trotzen? Wie erklärt sich die Russland-Phobie der USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte?
Doppelt gestaffelte Autarkie

Die Antwort ist umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Die russische Autarkie ist doppelt begründet. Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen der eurasischen Weite: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Dazu gehört als besonderes Element auch noch die Vielfalt der in Russland lebenden Völker, die zusammen einen Organismus bilden, in dem Zentrum und Autonomie sich noch einmal unterhalb der staatlichen Verwaltungsstrukturen in besonderer Weise ergänzen.

Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder.

Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf der neueren Geschichte – wie oben schon angedeutet – bereits in die Lage, europäischen Kolonisierungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939. Heute ist es wieder so: Trotz Krise, trotz technischer Rückständigkeiten, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern auch dieses Mal wieder stärker aus der Krise hervorzugehen.

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte und von ihm abhängige – soziale Befriedungspolitk gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind: Beschluss einer neuen Militärdoktrin seit 2002, Auftritt gegen die USA bei der Münchner NATO-Tagung 2006, dazu eine, so möchte ich es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen, konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Es folgte das erste Njet gegen die NATO-Erweiterung 2008 im sog. Georgischen Krieg, in dem Russland sich gegen die weitere Ausdehnung der NATO in die Ukraine und nach Georgien wandte; gegenwärtig erleben wir die Aktualisierung dieses Njet im verdeckten Ukrainischen Stellvertreterkrieg zwischen EU/USA und Russland.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde Russland zum potentiellen Führer einer aus den ehemaligen Kolonien hervorgehenden neuen Welt, die sich aus der US-Hegemonie lösen will, während die frühere Neue Welt, die USA, sich im Versuch, ihren überhöhten Energiebedarf zu decken und ihre Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, sondern auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen wird.
Basis der Autarkie – extreme Bedingungen

Die russische Autarkie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch, Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden können. Diese Kombination von Reichtum und extremer Härte hat eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen Entwicklung, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch Privateigentum an Produktionsmitteln entstand, waren es lokale Ausnahmen und vorübergehende Erscheinung von kurzer Dauer, wie gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als neben den der staatlich initiierten Industrialisierung aus den dörflichen Strukturen zusätzlich private Industrie entstand, deren private Rechtsformen jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt wurden.

Das heißt, vor Ort, in den Weiten des russischen Landes, im Bewusstsein des Volkes war Eigentum „schon immer“ gemeinschaftlich organisiert. In der westlichen Geschichtswahrnehmung sind diese Verhältnisse als russische Dorfgemeinschaft, als Dorfdemokratie (MIR), russisch Òbschtschina bekannt; in Sibirien und im Süden Russlands waren es Genossenschaften freier Bauern, aber auch diese waren aufeinander angewiesene Gemeinschaften.

Die russischen Dörfer waren in ihrer Mehrheit ihrerseits Gemeineigentum des Zaren, der herrschenden Schicht, das heißt, des Hofes, der Kirche, des dem Zaren hörigen Dienstadels, alles zusammengefasst unter der Führung der zaristischen Selbstherrschaft, zu der Kirche und Staat sich verbunden hatten. Autarkie und Autokratie sind in dieser Geschichte untrennbar miteinander verbunden. Man hat es im Ergebnis im traditionellen Russland mit einer Wirtschafts- und Lebensweise zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit als „asiatische Produktionsweise“ charakterisierten. Damit waren Verhältnisse gemeint, wie sie auch aus dem alten Mesopotamien, aus Ägypten, von den Inkas, aus China, Indien usw. bekannt waren. . In der Industrie setzte sich diese Realität als staatlich initiierter Kapitalismus fort.
Asiatische Produktionsweise

Marx und Engels kategorisierten die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entlang zweier von ihnen angenommener Linien. Auf der Hauptlinie sahen sie, noch ganz einem ungebrochenen eurozentristischen Verständnis verhaftet, die Entstehung der abendländisch-europäischen Produktionsweise: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus – Kommunismus, die sich, basierend auf der Entwicklung des Privateigentums an Produktionsmitteln, dynamisch, unaufhaltsam, eskalierend von Revolution zu Revolution aus einer Formation in die nächst höhere bewege. Für Marx/Engels war Europa das Zentrum dieser Bewegung, heute sind es von Europa ausgehend die USA, allgemeiner der euro-amerikanische Westen. Auf der Nebenlinie verorteten sie die asiatische Produktionsweise, anders von Marx auch als gemeineigentümlicher Despotismus bezeichnet, die aus dem Zusammenwirken von dörflicher Selbstversorgung und einer ihr übergeordneten Bürokratie entstehe und von den Dörfern lebe (Priesterkaste, Gelehrtenhierarchie, Beamtenapparat…).

Prinzipiell formuliert: Die europäische Produktionsweise entwickelte Privateigentum als Motor der Selbstverwertung des Geldes, aus welcher der privatwirtschaftliche Kapitalismus hervorging. In ihr sind Staat, Kirche und Kapital getrennt und müssen sich immer wieder neu verbinden. Ihre Krisen tragen dynamischen Charakter. Die asiatische Produktionsweise entwickelt Gemeineigentum als Basis einer stabilen individuellen und allgemeinen Selbstversorgung unter der Herrschaft einer verwaltenden Klasse. Krisen entstehen periodisch aus der Schwäche der Bürokratie, nicht aus der Dynamik des Kapitals.

Marx bezeichnete diese asiatischen Formen der Wirtschaft im Gegensatz zur griechisch/römischen Sklavenhaltergesellschaft, in welcher einzelne Menschen zum Privatbesitz einzelner Menschen wurden, als eine „allgemeine Sklaverei“, weil in ihnen der Einzelne zwar frei, im Kollektiv aber dem Staat unterworfen oder gar hörig sei. Einen wesentlichen Unterschied der asiatischen Produktionsweise zur europäischen sahen Marx und Engels auch darin, dass die asiatische Produktionsweise keine innere Dynamik aufweise, die zum Kapitalismus dränge, sondern eine im Wesen sich immer gleich bleibende Gesellschaftsordnung sei, die als Krise der herrschenden Bürokratie zwar auch periodisch zusammenbreche, sich aber immer auf demselben Niveau wiederherstelle.

Marx und Engels entwickelten ihre Analyse am Beispiel der indischen Gesellschaft und bezogen auch die alten Hochkulturen mit ein. In Russland erkannten sie eine besondere Form der asiatischen Produktionsweise, die sich aus einer immer wieder erfolgten Mischung mit europäischen Elementen ergeben habe; eine Entwicklung billigten sie Russland jedoch nur im Kontext mit dem Kapitalismus und der Revolution im Westen zu.

Aber Marx und Engels irrten. Ausgelastet mit der Aufarbeitung der Entwicklung des europäischen Kapitalismus konnten sie die Analyse der asiatischen Produktionsweise nicht zu Ende führen. So konnten sie nicht erkennen, dass auch diese Gesellschaftsform, insbesondere in ihrer russischen Variante, periodische Modernisierungskrisen erlebte, die nach Zeiten des Zerfalls regelmäßig in eine Effektivierung des Systems von bürokratischem Zentralismus und Peripherer Autonomie übergingen, nur dass die Ursachen ihrer Krisen nicht in wirtschaftlicher Dynamik, sondern in bürokratischer Stagnation lagen.

Kurz, sie erkannten nicht, dass euro-amerikanische und asiatische Produktionsweise zwei Wege der Entwicklung sind, die nicht aufeinander folgen, sondern in Wechselwirkung neben- und miteinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen, sodass auch immer wieder neue Zwischenformen entstanden. Das gilt für die russische Geschichte, einschließlich ihrer sowjetischen Periode.
Russlands Besonderheiten

Schauen wir deshalb noch ein wenig genauer auf die russische Entwicklung: Russland entstand im offenen Niemandsland zwischen mongolischen Chanaten und westlichen Städten, in reicher Natur, aber der Weite und der Wildnis ausgesetzt. Ergebnis war die Selbstherrschaft der Moskauer Zaren als Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die polare Doppelstruktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau – autonome Versorgung im Lande. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Hinzu kamen die auf sich selbst bezogenen kollektiven Traditionen der in den zaristischen Organismus integrierten Völker, die eine Dynamik der Selbstbestimmung innerhalb des Gesamtorganismus bildeten – wenn auch zweifellos nicht immer ohne Konflikte.

Die Modernisierungswellen gingen über das Land, ohne die Grundstruktur von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen; Veränderungen vollzogen sich letztlich als Revolutionen von oben, als Teilimport westlicher Elemente, aber immer nur mit dem Ergebnis der Auswechslung von Personen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin provozierte als Reformer den bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus.
Modernisierungsetappen: Stolypin, Lenin, Stalin…

In den Umwälzungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts prallten asiatische und europäische Produktionsweise in Gestalt des von Europa ausgehenden Imperialismus und der bäuerlichen Realität Russlands besonders hart aufeinander. Die Revolution von 1905, ebenso wie die von 1917 waren Ausdruck dieser Entwicklung. In seinem Feldzug gegen die Selbstgenügsamkeit der Obschtschina wollte Stolypin im vorrevolutionären Russland die Fortsetzung der von Peter I. begonnenen Industrialisierung erzwingen. Die Dorfgemeinschaften sollten in Wirtschaften privater Großbauern überführt werden, die „überflüssigen“ Mitglieder der Dorfgemeinschaft sollten als Arbeiter in die Städte gehen. Am „Stolypinschen Kragen“, wie der Strick des Galgens von der Bevölkerung damals getauft wurde, endeten tausende von Bauern, die dieser Politik nicht folgen wollten – aber ihr Opfer dokumentierte auch das Scheitern der Stolypinschen Politik.

Lenin wiederholte den Stolypinschen Ansatz zur Industrialisierung der Landwirtschaft – aber nicht durch Auflösung der Dorfgemeinschaften, sondern indem er sie – Sowchosen und Kolchosen (Staatswirtschaft und kollektive Wirtschaft) – zu staatlichen Grundeinheit des neuen Staatswesens erhob. Ihre Struktur wiederholte sich im sowjetischen Aufbau der Verwaltung. Lenins Sieg über den Zarismus lebte einerseits von seinem Versprechen, jedem Bauern ein Stück Land zu geben. Gleichzeitig leitete er die Verstaatlichung der Landwirtschaft ein; Stalin setzte sie gewaltsam fort und verwandelte die kollektive Tradition des Landes zugleich in einen allgemeinen Zwangskollektivismus auf dem Lande wie in der Industrie. Wer sich weigerte oder angeblich im Wege stand, wurde deportiert und liquidiert. Aus dem agrarischen Despotismus des Zarentums wurde so ein planmäßiger industrieller Despotismus. Enteignung der Bevölkerung von ihrer gewachsenen Gemeinschaftstradition könnte man diesen Vorgang nennen.

Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa nur einfach den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde.

Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele. Diese Konstellation, wie schon frühere Konstellationen der russischen Lebensweise, wäre auf langfristige Stabilität, in westlicher Diktion „Stagnation“, angelegt gewesen, wenn sie nicht – dies allerdings stärker als früher – mit dem europäischen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase zusammengestoßen wäre. So ergab sich eine Konfrontation von prinzipiellem Charakter und historischen Ausmaßen: Selbstversorgung, auch auf industriellem Gebiet gegen Selbstverwertung des Kapitals und Selbstgenügsamkeit gegen konsumistische Expansion.

Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: für die Entwicklungszyklen der russischen Produktionsweise gelten offensichtlich andere Regeln als die europäischen. Sie lassen sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: Zusammenbruch nach langer Stabilität, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht, Stagnation. Phase zwei: Eintritt einer „verwirrten Zeit“, russisch: Smuta. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses in der herrschenden Schicht unter Hinzunahme von einzelnen Elementen der europäischen/westlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt jedoch erhalten. So war es nach dem Tod Iwans Iv. , im Westen besser bekannt als Iwan der Schreckliche, so nach den großen Bauernaufständen im 16. und siebzehnten Jahrhundert, so nach Peter I., so nach dem 1. Weltkriegs und danach, so ist es heute.
Heute

Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 – gegliedert in mehrere Etappen, versteht sich, die hier nicht im Detail auszuführen sind – individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“) und „Glasnost“ waren nicht die Ursache für neue Initiativen, sie waren der Ausdruck, das grüne Licht für eine schon lange befahrene Straße, auf der sich der Verkehr bereits gefährlich staute. Nach dem 17. Juli 1953 in der DDR, dem Aufstand in Ungarn 1956, dem Bau der Mauer 1961 war der Prager Frühling 1968 schließlich ein unübersehbares Zeichen; er zeigte aber auch, dass die sowjetische Staatsbürokratie noch nicht reif für die Smuta war. Einen theoretischen Reflex auf diese Entwicklung konnte man 1977 in Rudolf Bahros „Alternative“ nachlesen; einen zweiten in der Sowjetunion selbst am Ende der 70er in den Untersuchungen der Nowosibirsker Schule unter ihrer Leiterin Tatjana Saslawskaja.

Das Auftreten Michail Gorbatschows Anfang der 80er Jahre signalisierte die Bereitschaft der Führung der KPdSU zu einer der in der russisch-sowjetischen Geschichte üblichen Reformen von oben: Perestroika zielte auf eine gelenkte Befreiung der herangewachsenen Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese insgesamt aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung dieser Ordnung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung, nicht um die Einführung einer privatwirtschaftlichen Ordnung, auch nicht um die Verwandlung des asiatischen Typs der Produktion in den europäisch-westlichen.

Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung und Privatisierung des Denkens und Wollens, sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem sich beschleunigenden allgemeinen Zerfall führte. Der Druck der Anpassung an die umgebende Welt war einfach zu groß, um ihn kanalisieren zu können, die technische Revolution der neu entstehenden globalen Kommunikationsstruktur als Einwirkung von außen nicht – von heute aus gesehen: noch nicht – wieder beherrschbar. Mittel der Abschottung und Kontrolle der neuen Medien waren noch nicht zur Hand. Man könnte sagen, die Moskauer Bürokratie wurde von der Computerisierung überrannt. Boris Jelzin und seine ganz an den äußeren Einflüssen orientierten Reformer waren der Ausdruck dieser Dynamik – die sich dann im Schockprogramm Luft machte, das die Umwälzung innerhalb von zwei Jahren schaffen wollte.
Putin

Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand und besteht, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Nicht Nachvollzug, nicht Übernahme der europäisch-westlichen Produktions- und Lebensweise ist der Inhalt der nach-sowjetischen und heutigen russischen Transformation, sondern die Effektivierung des bürokratischen Kapitalismus auf privatwirtschaftlicher Basis.

Was dabei bisher herausgekommen ist, ist keine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus mit der ihm immanenten Selbstverwertungslogik des Kapitals, auf keinen Fall nur ein Nachvollzug westlicher Muster, sondern die Entstehung eines bürokratischen Zentralismus, der westliche und die russische Gemeinschaftstradition zusammenführt, eine Entwicklung also, die Elemente der zentralistisch gelenkten gemeineigentümlichen Ordnung mit privateigentümlichen Freiheiten zu verbinden sucht – das, was man im Westen ohne viel Verständnis für die innere Struktur des Landes „gelenkte Demokratie“ nennt.

Ihre widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Angleichung an die Standards der WTO sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite; dem auf der anderen Seite steht die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht, Subventionen für die eigene Landwirtschaft beizubehalten und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung gegenüber. Klar gesprochen: Russland wird sich auch in Zukunft nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, weil es aus seiner Geschichte die doppelt begründete Autarkie mitbringt: die Unabhängigkeit in den natürlichen Ressourcen und die Tradition der Eigen- und Selbstversorgung in der Bevölkerung, und autonomer Völker in einem übergreifenden zentralisierten Organismus.

 

Internationale Kraftlinien
Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen. Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Eine direkte militärische Zerstörung Russlands, die mehr bewirken sollte als nur eine vorübergehende Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Jefim Berschin, Kai Ehlers – Gespräch zur Lage in der Dnesterrepublik

Im Juli erklärte der ukrainische Präsident Poroschenko den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnesterrepublik „lösen“ zu wollen. Seitdem ist „Prednestrowien“ (so im Russischen) als neuer Krisenherd, der den ukrainischen Konlikt um eine gefährliche Dimension erweitert, ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Bei seinem Aufenthalt in Russland führte Kai Ehlers ein Gespräch mit Jefim Berschin über die Lage in der „Dnjesterrepublik“. Jefim Berschin wurde dort geboren, hat als Journalist der „Literaturnaja Gasjeta“ an den Kämpfen teilgenommen, die 1991/2 zur Abspaltung dieses Gebietes von Moldawien geführt haben. Er lebt heute als Journalist, Schriftsteller und Poet in Moskau. Das Gespräch wurde in Tarussa (kleine Stadt 200 Kilometer südlich von Moskau, im Sommergarten des dort wohnenden Herausgebers der Internetueitung „russland.ru“ Gunnar Jütte, geführt.

Das Gespräch kann russisch und deutsch gehört werden, es findet in simultaner Übersetzung statt.

http://www.russland.ru/sommergespraech-ueber-moldawien-video/

 

Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen

Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.

Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen. Continue reading “Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen” »

Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?

Das Aktuelle ist schnell benannt: der ukrainische Präsident Poroschenko möchte zusammen mit dem rumänischen Präsidenten Johannis den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnjesterrepublik (Transnistrien) auftauen, „damit ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität wiedererlangen und Transnistrien re-integrieren kann.“ Er will damit zugleich die von ihm immer wieder beschworene territoriale Einheit der Ukraine wiederherstellen, versteht sich.

Wenige Tage vor dieser Ankündigung hatte Poroschenko den ehemaligen Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, bekannt für seinen provokativen Kriegskurs gegen Russland 2008, als dessen Ergebnis die Enklaven Südossetien und Abchasien zurückblieben, zum Gouverneur des Bezirks Odessa ernannt. „Ich kam nach Odessa, um Krieg zu verhindern“, erklärte Saakaschwili in einem Interview der Deutschen Tagesschau vor wenigen Tagen, konnte sich aber nicht bremsen, sofort dazu zu setzen: „Es gibt den klaren Plan Russlands, die Region zu zerstören.“ ‚Krieg verhindern‘, das heißt für Saakaschwili also unmissverständlich, Russlands ‚klaren Plan‘ zu verhindern. Continue reading “Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?” »

Wladimir Putins Botschaft an den Westen: Ein Zeitfenster für Alternativen (so aktuell wie nie)

Wladimir Putins Rede auf dem Waldai-Forum in Sotchi am 24. Oktober 2014 war wohl der bisherige Höhepunkt verbalen Kräftemessens im Angesicht der gegenwärtigen globalen Krise. (1) Es war ein beachtlicher Auftritt mit dem Anspruch, eine globale Waldai Forum Putin RedeAlternative zu präsentieren.

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Ukraine – Nationalismus – Russischer maidan – Alternativen – Kriegsgefahr: Kai Ehlers spricht mit dem russischen Dichter-Schritsteller Jefim Berschin

Kai Ehlers: Die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist sehr gespannt. Wo siehst du die Gründe für diese Entwicklung?

 

Jefim Berschin: Ich denke, dass die Entwicklung schon seit langem läuft. Sie steuert jetzt auf den Höhepunkt zu. Es ist die Wirtschaft, die heute herrschende Konsumethik, die auf den Höhepunkt zutreibt. Nichts kann ewig wachsen.

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„We are the hub“ – wir sind der Angelpunkt. Obamas Anspruch auf eine globale Vorwärtsverteidigung.

„Von Europa bis Asien sind wir der Angelpunkt der Allianzen, wie sie es ihn in der Geschichte der Nationen noch nicht gab“, erklärte Barak Obama dieser Tage in einer für die Weltöffentlichkeit gedachten Rede vor Kadetten an der Militärakademie von Westpoint. ...

Mit einer „European Reassurance Initiative“, einem Sicherheitsversprechen der USA an Europa unterstrich Obama in einer Reise durch Polen, die Ukraine und Frankreich den so erneuerten US-Führungsanspruch:

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