Schlagwort: Regionalisierung

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Katalonien – Signal für ein neues Staatsverständnis?

Es ist offensichtlich: Das Credo des nationalen Einheitsstaates ist in der Krise. Der Kampf um Kataloniens Unabhängigkeit ist nur der aktuellste Ausdruck dieser Tatsache. Ähnliche Konflikte gingen dem voran, weitere werden folgen.

 Der Wunsch von gut 50% der Bevölkerung Kataloniens nach Autonomie und Unabhängigkeit steht gegen den Monopolanspruch des spanischen Staates und gegen die ‚schweigende Mehrheit‘, die sich aus unterschiedlichen Gründen an der Abstimmung zum Referendum vom 1. Oktober 2017 nicht beteiligt hat. Dieser Konflikt kann weder zugunsten des spanischen Staates noch einer regionalen Abspaltung Kataloniens lebensförderlich gelöst werden, solange beide Seiten auf dem Boden des heutigen Verständnisses vom einheitlichen Nationalstaat stehen bleiben, das heißt, eines Staates, der, dominiert von der Ökonomie, sämtliche Lebensbereiche überformt und beherrscht. Grundsätzliche Veränderungen des Staatsverständnisses stehen an, die von  der Wirklichkeit des Zusammenlebens in unserer heutigen Welt gefordert werden.

 Diese Wirklichkeit liegt zum Ersten in der Tatsache, dass das globale Wirtschaftsleben schon längst alle nationalen Grenzen gesprengt und sich die Nationalstaaten als bloße Instrumente unterworfen hat.

Sie liegt des Weiteren in der historischen Erfahrung, dass alle Revolutionen, bürgerliche wie sozialistische, bisher nur dazu geführt haben, die Diktatur der Ökonomie mit anderem Namen, aber unverändertem Staatsverständnis auf immer neuem Niveau wiederherzustellen.

Sie liegt schließlich in der wachsenden emotionalen und spirituellen Verlorenheit vieler Menschen angesichts einer Welt, die, von ökonomischen  Kriterien beherrscht, beängstigenden Katastrophen entgegentaumelt.

Dies alles bedeutet nichts anderes, als dass die Menschen heute nach neuem Sinn, nach neuen Formen des Zusammenlebens und – nennen wir es mit einem aus berechtigten Gründen in Deutschland vorsichtig zu benutzenden Begriff – nach  neuer Heimat suchen, wo sie als Einzelne in überschaubaren, pluralen Zusammenhängen ihren Wert und ihre Würde finden können.

 

Autonomie – eine Forderung der Zeit

Vor einem solchen Hintergrund gewinnen die Bestrebungen nach Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit wie jetzt in Katalonien, wie zuvor in Schottland, wie in Norditalien, wie in vielen anderen Regionen Europas, die den Verlust ihrer lokalen oder regionalen Autonomie beklagen, ihre Erklärung und ihre Berechtigung als Ausdruck der Zeit – wenn sie ihre eigene historische Dynamik begreifen, die faktisch aus der überfälligen Übermacht des Staatsmonopols erwächst, die zugleich dessen Ohnmacht offenbart.

Bei wachem Blick wird zudem erkennbar, dass dies nicht nur eine europäische, sondern ein globale Dynamik ist, die den Osten ebenso wie den Westen, den Süden und den Norden betrifft. Die sich vermehrenden ‚eingefrorenen‘ oder auch nur mühsam eingehegten Konflikte am Rande der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan, in Mesopotamien, in Afrika, Südamerika, ebenso wie im asiatischen Teil der Welt sprechen eine unmissverständliche Sprache.

Zum tieferen Verständnis, welche Bedeutung diese Vorgänge für das heutige Leben haben, ist ein kurzer Blick in die neuere Geschichte des einheitlichen Nationalstaates unerlässlich.

 

Nationalstaat als Credo

Schon nach dem ersten Weltkrieg war klar, dass es die Konfrontation der europäischen Nationalstaaten mit ihren imperialen Ansprüchen war, die in die Weltkriegskatastrophe geführt hatte. Das Entsetzen war allgemein. Eine Wiederholung sollte unbedingt vermieden werden. ‚Nationale Selbstbestimmung‘ hieß das Zauberwort, unter dem das geschehen sollte. Unter dieser Parole wurde der auf europäischem Boden gewachsene nationale Einheitsstaat in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum Credo der zukünftigen Völkerordnung erhoben. Ein Völkerbund wurde gegründet, der diese neue Ordnung pflegen sollte.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen.

 

Sonderwege

Einen Sonderweg ging Russland, das, anders als Österreich und das Osmanische Reich, trotz Revolution und trotz massiver Interventionen des Westens auf Seiten der Konterrevolution als Vielvölkerzusammenhang erhalten blieb. Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung auch Lenin als Grundlage für die von ihm initiierte Grundorganisation der Sowjetunion. So entstand die Sowjetunion als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Ideologie. Stalin zerlegte das Land dann in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe des ‚Westens‘ hervorgingen.

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Notwendig sei eine Entflechtung von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben, trug er vor, die sich zukünftig unabhängig voneinander, aber in gegenseitiger Förderung und Kontrolle entwickeln müssten, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung aller Lebensbereiche zu überwinden. Darunter verstand er: Eine Wirtschaft in staatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten, ein Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung sowie eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, in dem die Menschen sich als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbinden.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

 Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Im Aufkommen der Restauration und im Verlauf der einsetzenden Faschisierung der deutschen und europäischen Verhältnisse fielen sie, ebenso wie jene Elemente der Neuordnung Wilsons, die demokratisch genannt werden konnten, sowie auch die revolutionären Hoffnungen im Gefolge der russischen Revolution den wieder wachsenden nationalstaatlichen Konfrontationen zum Opfer

Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat zum nationalen Totalstaat – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis seiner Entwürdigung als Mensch.

Ein entscheidender Fakt ist dabei zu beachten: Während die Wilsonsche wie auch die revolutionäre Variante des Nationalstaates bruchlos in den Totalstaat übergingen, gingen die Ansätze zur Differenzierung, wie sie die Dreigliederung ansatzweise entwickelte, zusammen mit den demokratischen und pluralen Elementen der Nationalstaaten in eben dieser Entwicklung unter.

 

Nie wieder Nationalismus?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsideologie groß: Nie wieder Nationalismus, lautete diese Einsicht, nie wieder Krieg. Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten geprägt. Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Idee des Völkerbundes, die zwischen den Weltkriegen gescheitert war, wurde in der Form der Vereinten Nationen wieder aufgenommen. Mit der EG, später der Europäischen Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und Entnationalisierung der Wirtschaft Rechnung zu tragen. Die Verfassung der Europäischen Union garantiert jedem individuellen und kollektiven Mitglied unveräußerliche Bürgerrechte – nicht zuletzt die freie Wahl seiner staatlichen Vertretung und Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Wenn jetzt das Credo des einheitliche Nationalstaats wieder benutzt werden soll, um Volkseinheiten, die nach einer eigenen autonomen Regierung streben, unter Androhung von Repression zu verpflichten, in dem nationalstaatlichen Zusammenhang zu verbleiben, in den sie im Lauf der Geschichte mehr oder weniger zufällig geraten sind, wenn die Europäische Union sich, obwohl auf Pluralität begründet, als Block hinter dieses Vorgehen des spanischen Nationalstaates stellt, so entspricht das weder der Verfassung der Europäischen Union, noch den Erfordernissen und Bedingungen der heutigen Zeit. Ein Aufbegehren dagegen ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig und weist in die Zukunft – wenn es nicht bei einer bloßen Abspaltung bleibt, die ihrerseits das Credo des einheitlichen Nationalstaats beibehält. Eine bloße Regionalisierung würde auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Multiplizierung des nationalstaatlichen Credos ins Kleine und tendenziell Unendliche. Das wäre eine sinnlose, sogar bedrängende Variante, deren Konsequenz nur die Wiederkehr krassester Spielarten des Nationalismus mit entsprechenden Vereinheitlichungs- und Säuberungs‘tendenzen sein könnte. Beispiele für solche Irrwege hat die neuere Geschichte leider auch zahlreich geliefert. Man denke nur an die Ukraine.

Was heute auf der Tagesordnung steht, ist die überfällige Befreiung des Lebens aus dem Monopol des einheitlichen Nationalstaats. Angesichts der historischen Erfahrungen, die zeigen, wie sich diese Staatsform immer wieder etabliert hat, wenn nur die Machtfrage, aber nicht die grundsätzliche Frage nach einem anderen Verständnis des Staates gestellt wird, kann das jedoch nicht zum widerholten Male als Eroberung der Macht geschehen, in die das herrschende Staatsverständnis mit hinübergenommen wird. Unumgänglich ist der bewusste Abschied vom Verständnis des Staates als einem alles regelnden Monopol und die schrittweise, aktive, kollektive Stärkung der heute bereits entwickelten Tendenzen, welche die Pluralität, die Dezentralisierung, die Kommunalisierung, die  vielfältigen Ansätze neuer Gemeinschaftsbildung usw., ebenso wie die übernationalen wirtschaftlichen und geistigen Strukturen als einen aus dem Leben hervorwachsenden Prozess schrittweise und beharrlich in die Realität bringt. Wenn dies als Impuls in den Wunsch nach Unabhängigkeit eingeht, hat sie ihren Namen verdient.

 

Das Buch zum Thema:

Jefim Berschin, dikoje polje, wildes Feld. Übersetzung aus dem Russischen. – Ein authentischer Bericht über den Sprachenkrieg in Moldawien am Ende der Sowjetunion 1992, der die politischen und ethischen Probleme eines Unabhängigkeitskrieges exemplarisch zeigt.

 

 

EU – Brexit – Tür auf für eine Föderalisierung europäischer Regionen? Schlaglicht auf eine historische Tendenz.

Ein demokratisches Europa föderal verbundener Regionen, in dem die Menschen selbstbestimmt in kooperativer Gemeinschaft und Wohlstand miteinander leben können, ist eine wunderbare Vision. Was hat der Austritt der Briten aus der „Europäischen Union“ mit einer solchen Vision zu tun? Fördert er sie, schädigt er sie oder zerstört er sie gar?

Spekulieren über die nächsten konkreten Folgen des britischen Referendums macht wenig Sinn. Sehr viel mehr Sinn macht es, darüber nachzudenken, in welchem historischen Strom die britische Abstimmung steht. Das soll hier  in wenigen ersten Stichworten geschehen. Sie können zugleich ein Licht darauf werfen,  in wessen Interesse diese Entwicklung stattfinden könnte.

 

Zwischen Multipolarität …

Da  ist zunächst die Multipolarität: Mit dem Ende der Sowjetunion  Mitte der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts fand das Stichwort ‚multipolar‘ zugleich mit dem der Globalisierung seinen Eingang in die strategischen Optionen der neu entstehenden Weltordnung.

Es war Michail Gorbatschow, der es aus der Selbstbegründung des chinesischen Aufbruchs Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in die Debatte darum brachte, wie er sich die neue Ordnung vorstellen könnte – ein Wirtschaftsraum  von Lissabon bis Wladiwostok  im Rahmen einer neuen Gruppierung der Weltmächte.

Unter Boris Jelzin versank die Vision des Multipolaren vorübergehend in der uneingeschränkten westlichen Dominanz über Russland, vor allem seitens der USA.  Unter neuen Zielsetzungen tauchte sie erst unter Wladimir Putin wieder auf, fand in den Verbindungen der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in Russlands Forderungen nach Reformen der Vereinten Nationen, um die herum sich die verschiedenen globalen Newcomer scharten, ihre Aktualisierung. Russland wurde zu ihrem Impulsgeber.

 

…und Globalisierung

Die Globalisierung der alten Welt im Stile der US-Hegemonie stand dem als Counterpart entgegen. Diese Art der Globalisierung entwickelte sich aber in einer extrem widersprüchlichen Dynamik: Strategisch setzen die USA seit dem Zerfall der bipolaren Welt auf eine Fraktionierung der globalen Staatenwelt, also auf die Methode „Teile und Herrsche“ und dies mit zunehmender  Gewalt. In Zukunft müsse verhindert werden, dass der Herrschaft der USA irgendwo auf der Welt noch einmal ein Rivale entstehen könne.

Wer dies genauer verstehen will, möge sich das bekannte Buch des US-Strategen Zbigniew Brzezinski „Die einzige Weltmacht“ von 1995 noch einmal vornehmen.[1]

Zugleich bauten die USA und ihre westlichen Verbündeten unter dem  Label der ‚Globalisierung‘ ein von ihnen dominiertes weltumspannendes Finanzimperium auf, das den globalen Flickenteppich abhängiger Nationalstaaten und in zunehmendem Maße auch zerschlagener „failed states“, freundlich gesprochen, nur noch absorbiert und zur Abstützung ihrer Herrschaft benutzt.

Ergebnis dieser Entwicklung ist das Heranwachsen eines krassen  Widerspruchs zwischen einer von der Hegemonialmacht USA betriebenen Fraktionierung der Welt und dem  unter ihrer Dominanz zugleich entwickelten Diktat einer wachsenden globalen Finanzdiktatur – WTO, GATT, GATS, aktuell TTIP, TTP  usw.

Diese widersprüchliche Entwicklung trägt unter dem daraus entstehenden Druck zunehmende katastrophale Züge, die lokale Wirtschaften und Kulturen und deren Staatlichkeit erdrückt. Zugleich jedoch geht aus ihr,  entgegen den Intentionen ihrer Urheber, eine Wiederbelebung, gewissermaßen eine Unterfütterung der multipolaren Tendenzen durch vielfältigste Bewegungen für lokale und regionale Autonomie, für mehr Kompetenzen vor Ort, für unterschiedlichste Formen der Kommunalisierung hervor usw., in denen sich die wachsende Unzufriedenheit der Menschen ausdrückt, die sich ihr Leben vor Ort nicht mehr zerstören lassen wollen, die es auch nicht mehr bei Protesten belassen, sondern es bis hin zu Revolten selbst in die Hand nehmen wollen.

 

Die EU im Strom des Multipolaren

In diesem Strom steht inzwischen auch die EU. Schon mit ihrer Gründung war sie ein neues Element zwischen den USA und der Sowjetunion in der von beiden in der Konkurrenz des ‚Kalten Krieges‘ beherrschten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Das geteilte Deutschland in einem geteilten Europa war bis 1989 Ausdruck dieser Tatsache.

Nach dem Zerfall der Polarität von USA und SU seit Mitte der 1980er/Anfang der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts avancierte Europa in Gestalt der Ost-Erweiterung der EU und der NATO zu einem Bestandteil der sich herausbildenden multipolaren Welt,  die als „Friedensprojekt“ den Anspruch auf  demokratische Überwindung des europäischen Nationalismus stellte. Zugleich war sie aber Objekt des Konfliktes, der nach dem Zerfall der Sowjetunion zwischen dem Anspruch der USA auf Weltherrschaft und Russland als Protagonist einer sich andeutenden multipolaren Ordnung herangewachsen war. Man könnte beinahe versucht sein, von einem Opfer zu sprechen, das der Erhaltung der US-Hegemonie seitens der EU dargebracht wurde.

In diesem Zuge mutierte die EU als Bestandteil des globalen Finanzimperiums zu einem zunehmend bürgerfernen bürokratischen Superstaat, der die nationalen, nicht zuletzt die demokratischen Spielräume seiner Mitglieder  zusehends korsettierte.

 

Europa ist mehr als die EU

Im Effekt tritt in den Bewegungen der zurückliegenden Jahre die Tendenz hervor, dass die von den „Verteidigern“ der herrschenden Hegemonialordnung eingeschlagene Strategie der Fraktionierung der globalen Verhältnisse einerseits Unwillen, Chaos , rückwärts zum Nationalismus gewandte Tendenzen bis hin zu sich ausbreitenden Kriegen hervorbrachte und zunehmend bringt, andererseits aber auch den Keim einer neuen Ordnung erkennen lässt, der in die Richtung einer multipolaren, kooperativ und demokratisch orientierten Beziehung sich selbst bestimmender Völker, Länder, Regionen und Kommunen weist, die sich vom Joch eines lähmenden Zentralismus befreien wollen.

Beide Entwicklungen sind möglich. „Automatisch“ läuft nichts. Die eine ist brandgefährlich mit Tendenzen zur Ausweitung globaler Kriege, die andere vermittelt die Ahnung einer lebensdienlichen Zukunft – wenn der Umbruch, zudem  bekämpft von Gegnern, nicht selber die in ihm angelegten demokratischen Impulse verbraucht.

Kurz gesagt, es geht nicht nur darum die aktuellen Wirkungen des Brexit einzugrenzen, indem wir jetzt „Ruhe und Besonnenheit“ einhalten, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Erklärung zur britischen Entscheidung anmahnt, andererseits aber auch nicht darum, die Abkoppelung weiterer Austrittskandidaten zu beschleunigen, um den Restbestand der EU durch „Demokratisierung“ in ihrer Funktion als funktionierender Gesamtstaat zu retten, wie es der Präsident des europäischen Parlamentes Martin Schulz vorschlägt, oder gar durch Schrumpfung auf eine Kerngemeinschaft zu effektivieren, wie es Wolfgang Schäuble, dem deutschen Finanzminister, schon lange vorschwebt.

Es geht darum, das Europa sich als aktiver Teilnehmer in die Tendenz sich öffnender Föderalisierung europäischer Kommunen und Regionen in einer sich entwickelnden multipolaren Welt eingibt. Dies läge im Interesse der  Mehrheit der Menschen Europas, nicht nur der jetzigen EU – und zweifellos auch der übrigen „westlichen“ Welt.

Dies gilt selbstverständlich auch für Russland, dass seit Jahrzehnten der multipolaren Spur nachgeht – und es gilt nicht nur für seine Außenbeziehungen, sondern auch für seine innere Verfassung, die, anders als die EU, aber nicht minder eine Befreiung der Selbstbestimmungskräfte und regionalen Autonomie von einen strangulierenden Zentralismus braucht.

Man darf sagen, die Welt geht spannenden Veränderungen entgegen.

Kai Ehlers, www.kai-Ehlers.de

 

[1] Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft von Zbigniew Brzeziński.

Kopp Verlag – Unveränderte Neuauflage November 2015;

ISBN: 978-3-86445-249-9; Preis 9,95 €

 

Bildnachweis: Strassenszene IN OUT UK. BREXIT oder BREXIN / BREMAIN? Werden die Briten in der EU bleiben? Foto: Tyler Merbler. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

 

Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

Bericht vom 44. „Forum integrierte Gesellschaft“  am Samstag, 15.03.2015

Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?

Das Thema ist gut für einen Streit. Und nicht nur für einen. Zunächst geht es darum, zu klären, wovon die Rede sein soll: Vom geographischen Europa – bis zum Ural, wie die traditionelle Einteilung unserer Schulbücher reicht? Vom Kulturraum Europa, der an der russischen Grenze endet – oder reicht er doch bis Wladiwostok? Von der Europäischen Union? Ist dann von der Eurozone zu reden? Oder von Brüssel? Oder von 28 Nationen, die darum ringen unter wachsender deutscher Dominanz ihre Eigenständigkeit zu wahren? Und sind die „europäische Friedensordnung“ der Schlüssel zur eurasischen und die eurasische der Schlüssel zur globalen Friedensordnung? Und braucht es dafür Tribunen, Demagogen, zeitweilige Diktatoren? Bringt der Prozess sie hervor oder behindern sie diesen Prozess? Continue reading “Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?” »

Zur Debatte: Europa der Regionen

‚Was ist eine Region?` Wie kann ein Europa aussehen, in dem die Bevölkerung nicht dem Diktat der Banken und Monopole unterworfen wird, aber andererseits auch nicht auf historisch zurückliegende Stufen der Kleinstaaterei, des Nationalismus und Lokalpatriotismus zurückfällt?

Weiterlesen

Stimmabgabe oder Selbstbestimmung?

Schafft zwei, drei viele Allmenden!

                                                                                                                            Bericht vom 31. Treffen am 13.10.2013

.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

das Thema „Stimmabgabe oder Selbstbestimmung?“ mag den einen oder die andere provozieren. Es kann natürlich nicht um ein Entweder-Oder gehen. Die polemische Polarisierung vermag aber vielleicht auf einen Blick deutlich zu machen, wo heute das Problem liegt – eben darin, daß Zusammengehöriges im realen Geschehen unserer heutigen politischen Wirklichkeit auseinandergerissen wird. Tatsache ist ja, daß die Wahlen bei uns heute zunehmend gleichbedeutend damit sind, daß wir Wähler unsere Stimme abgeben – und dann ohne weitere Einflußmöglichkeiten mit ansehen müssen, wie die „politische Klasse“ sich die Wahlergebnisse zu den gerade passenden Koalitionen zurechtschiebt. Wobei für die, ihrer Stimme nicht mehr mächtigen, Wählerinnen und Wähler nicht einmal mehr deutlich wird, nach welchen Kriterien hinter verschlossenen Türen was von wem mit wem verhandelt wird. Was davon an die Öffentlichkeit dringt, ist Filterware pur!

    Mit Selbstbestimmung eines mündigen Bürgers hat dieser Vorgang jedenfalls nicht mehr viel  gemein. Selbstbestimmung, Entwicklung eigener Initiative, Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse in einem für den einzelnen Menschen überschaubaren Raum, liegt offenbar auf einem anderen Feld und den Zusammenhang zur herrschenden repräsentativen Demokratie herzustellen, ist schwierig.

    Aber genau darum geht es. Wir wollen das Kind, das nach so viel Mühen zur Welt gekommen ist, also die heute praktizierten Regularien der repräsentativen Demokratie, auf unserem Weg zur Selbstbestimmung ja nicht mit dem Bade ausschütten. Dafür sind zu viele Menschen für das Wahlrecht gestorben. Und dafür ist allzu deutlich, daß viele Menschen auf unserem Globus, aller Modernität und aller Vernetzung zum Trotz, immer noch nicht das Recht haben, sich ihre VertreterInnen frei zu wählen. Oder sie haben zwar das Recht, aber nicht die materiellen Voraussetzungen ihr Recht praktisch wirklich wahrzunehmen. Was nützen schließlich formale Rechte, um es krass zu formulieren, wenn man z.B. die Wege zum Wahllokal nicht bezahlen kann.

    Also kurz, es geht nicht darum, repräsentative Demokratie gegen Formen direkter Demokratie oder unmittelbarer Selbstbestimmung auszuspielen. Es geht darum, in welchen Formen Selbstbestimmung  als Weiterentwicklung des demokratischen Gedankens gestärkt werden kann, und zwar nicht Selbstbestimmung in individueller Isolation, sondern in kooperativer Gemeinschaft.

Schaut man so in die Fragestellung, dann wird sehr schnell deutlich, worum es im Kern geht, und zwar sowohl in den Formen repräsentativer wie auch direkter Demokratie bis hin zur unmittelbaren Selbstbestimmung des Einzelnen: Es geht um die Motivation, genauer, die Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Diese Tatsache ist so banal, daß sie immer wieder als selbstverständlich vorausgesetzt oder gar vergessen wird.

   Ebenso banal ist jedoch auch die Tatsache, daß die aktivste Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen wie auch ganzer Gemeinschaften nichts fruchtet, wenn der stille, soll heißen, der unhinterfragte gesellschaftliche Konsens darin besteht, daß die Verantwortung für die öffentlichen Belange bis hin zur persönlichen Wohlfahrt der Bürger und Bürgerinnen allein bei „dem Staat“ gesehen wird. Demokratie wächst von unten, heißt das, aber damit sie sich frei entwickeln kann, braucht es einen zwischen den Individuen und gesellschaftlichen Gruppen ausgehandelten Konsens über Wert, Gültigkeit und Funktionsweise einer strikten Subsidiarität, d.h., einer politisch-rechtlichen Struktur, sei sie wie immer im Detail gegliedert, in der die oberen Organe im Interesse der Verwirklichung der Menschenrechte Diener der unteren sind. Motto, zugespitzt formuliert: Willensbildung und konkrete Gestaltung geschieht an der unmittelbaren Lebensbasis entlang tatsächlichen Bedarfs. Nach „oben“ wandern nur die Aufträge, die vor Ort nicht umgesetzt werden können. Exekutivkompetenzen nehmen ab, je weiter die jeweiligen Organe von der Basis entfernt sind und verwandeln sich in demselben Maße in Maßnahmen der Unterstützung und Beratung.

Aber wo gibt es heute einen solchen Konsens? Nicht in Deutschland, nicht in der Europäischen Union.  Nicht in den USA und auch sonst nirgends in der Welt. Ein solcher Konsens ist heute immer noch Utopie. Mehr noch, es sieht zur Zeit sogar so aus, als ob das bereits erreichte Niveau der demokratischen Kultur im Zuge der globalen Krise rückläufig sei – auch  in der Europäischen Union, auch in Deutschland. Die weltweite Migration führt zudem dazu, daß bestehende demokratische Strukturen unter starken Veränderungsdruck kommen. Um so unabweisbarer wächst die Herausforderung sich nicht nur für den Erhalt demokratischer Strukturen, sondern für deren Weiterentwicklung von der Basis her einzusetzen.

Für das nächste Mal haben wir deshalb noch einmal die „Charta für ein Europa der Regionen. Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage“ auf die Tagesordnung gesetzt, die wir schon einmal im Zuge ihrer Erarbeitung 2012 kurz besprochen haben. Inzwischen liegt die Charta öffentlich vor, nachzulesen auf der Website der „Initiative Demokratiekonferenzen“ unter  http://www.demokratiekonferenz.org/charta. Zu empfehlen ist rückgreifend auch der Bericht zum 18. Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“ vom 10.06.2012 unter der Überschrift „Europa der Regionen“ (einzusehen unter: www.kai-ehlers.de / Forum integrierte Gesellschaft).

    In der „Charta“ wird der Versuch unternommen, den Entwurf einer subsidiären Gesellschaft der Selbstbestimmung in kooperativer Gemeinschaft zu entwerfen. Für die Zeit vom 14. – 16.02.2014 lädt die „Initiative Demokratiekonferenzen“ unter dem Thema „Europa der Regionen“ VertreterInnen von Initiativen, Gruppen und auch Parteien, die auf dem Feld der Demokratisierung aktiv sind, zu Beratungen über mögliche gemeinsame Alternativen im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament und darüber hinaus ein.

Termin für das kommende Treffen:

Sonnabend, d. 16.11.2013 um 16.00 Uhr in der Jurte,

(Anmeldung)

 Im Namen des „Forums integrierte Gesellschaft“,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner