Kategorie: Themen in der Diksussion

Solidarität? Achtung: Begriffsvergiftung

Dass zu den Vorfällen in Salisbury bisher keine Beweise vorliegen, weder in die eine, noch in die andere, noch in eine dritte Richtung ist eine Tatsache, die von niemandem bestritten wird – selbst nicht in den sklavischsten Ausgaben der Mainstreamorgane.

Nehmen wir als Beispiel das mediale Sprachrohr der deutschen Bundesregierung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ: In ihrem Kommentar zu den Ausweisungen russischer Diplomaten lässt sie Peter Sturm unter der Überschrift „Aktive Solidarität“ schreiben:  

„Zwar weiß die Öffentlichkeit weiterhin nicht, was genau die britische Premierministerin  beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche  zum Vergiftungsfall Skripal vorgelegt hat. Aber wäre es unplausibel gewesen, hätte zumindest die Bundesregierung  nicht so reagiert, wie sie es getan hat“.

Als Begründung folgt: Als Scharfmacher in der Politik gegenüber Russland habe sich Berlin nie betätigt, trotz Cyberangriff auf deutsche Regierungscomputer, der „mutmaßlich“ ebenso von Russland ausgegangen sei wie der Mordanschlag in Großbritannien, wisse die Bundesregierung vielmehr zu differenzieren.

„Warum auch nicht?“, fragt die FAZ großzügig: „Die russische Führung war bei ihren Versuchen, EU und NATO zu schwächen, in den vergangenen Jahren recht erfolgreich. Diese Erfolge sind einigen  in Moskau offenbar zu Kopfe gestiegen, was zu immer waghalsigeren Manövern  beigetragen haben mag. Die Ausweisungen signalisieren jetzt, dass Moskau die Schraube zu weit gedreht hat. Dies muss Präsident Putin irgendjemand in aller Ruhe und in aller Deutlichkeit klar machen. Angela Merkel und Emmanuel Macron könnten dies. Sie könnten Putin bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass er sich im Sommer  im Glanz  eines Fußballfestes sonnen möchte, dass aber die Frage erlaubt sein muss, ob man sich als Gast in Russland sicher fühlen kann, wenn schon im Ausland  Dinge wie der Anschlag in Salisbury passieren.“

So what? Alles nur eine pädagogische Maßnahme, um  eine weitere West-Erweiterung Russlands abzuwenden, alles nur Sorge um die Sicherheit gefährdeter Fussbalfans?

Man muss fragen, wie lange unsere Gesellschaft das Gift von Salisbury noch  schlucken will.  

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Putins Wahlsieg – Signal für ein Russland nach Putin?

In Russland wurde gewählt. Was zu erwarten war, ist eingetreten: eine überwältigende Mehrheit für Wladimir Putin.

In Zahlen: 76,69 % für Putin, 11,77 % für seinen sozialistischen Herausforderer Pawel Grudinin , 5,65 % für den ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski; die restlichen Kandidaten und Kandidatinnen fielen weit unter die 5% Marke. „Korruptionsjäger“ Alexei Nawalny scheiterte mit seinem Boykottaufruf. 

Die Botschaft der Wahl ist unüberhörbar:  Stabilität, Sicherheit, keine Revolution, nicht einen Weg zurück, keine Abenteuer voran, alles wie gehabt. Ruhe ist der erste Wunsch des nachsowjetischen Menschen. Wär‘s nicht  nachweislich ein russisches – es könnte ein deutsches Wahlergebnis sein.

Und doch, wer glaubt, dass alles so weitergehen werde wie bisher, irrt sich. Der Sieger selbst versprach Veränderungen für den Fall seiner erneuten Präsidentschaft: Entbürokratisierung, Wachstum der Wirtschaft, Reformen im Sozialen. Und er versprach diese Veränderungen nicht nur; mit rigider Umbesetzung von Ämtern traf er schon im Vorfeld der Wahl  Vorsorge dafür, das Notwendige auch durchsetzen zu können, was er jetzt vornehmen muss, denn das ist klar: das Votum des Wahlsieges bekam er zwar für die von ihm verfolgte Politik der Stabilität, aber ewige, zudem noch autoritäre  Stabilität muss letztlich enden – in Stagnation.

Die drohende Stagnation ist wohl die größte Herausforderung  für  den in seinem Amt bestätigten Präsidenten, außenpolitisch wie auch innenpolitisch.

Außenpolitisch sind weitere Erfolge wie die Eingliederung der Krim, die Teilbefriedung Syriens, das Bündnis mit China zurzeit kaum vorstellbar. Die Welt hat sich im Status quo festgefahren. Russlands,  konkret Putins Rolle darin ist die des Krisenmanagers. In dieser Frage kommt zurzeit niemand an ihm vorbei, aber Entwicklungsperspektiven sind darin kaum erkennbar, außer der von Putin in seiner kürzlich gehaltenen Rede an die Nation deutlich demonstrierten Bereitschaft Russland gegen jedwede zukünftige Angriffe zu verteidigen.

Innenpolitisch stehen für Russland lange vernachlässigte Reformen an. Das beginnt mit so banalen, aber drängenden Themen wie der nationalen Müllbeseitigung, geht über das Wohnungsproblem, die  Zweiklassenmedizin, marode Infrastrukturen bis hin zu einer krass auseinander klaffenden Schere zwischen arm und reich.

Mit Blick auf die innere Entwicklung hat Putin vor der  Wahl starke Aussagen gemacht, Kräfte der Selbstorganisation stärken zu wollen. Sein Aufruf an die Kandidaten nach der Wahl, die Kräfte zu bündeln, geht in die gleiche Richtung. Solche Töne in Verbindung mit der Ankündigung sozialer Reformen könnten von der russischen Bevölkerung als Versprechen auf Liberalität und wachsenden Wohlstand verstanden werden. 

Wenn andererseits Wachstum der Motor für Reformen sein soll, bedeutet das mehr sozialen Druck auf die Bevölkerung bis hin zu Vorschlägen aus den Beraterkreisen Putins, um nur ein Problem stellvertretend zu nennen, die Renten zu kürzen, indem das Rentenalter hinaufgesetzt wird.

Kurz gesagt: Putins Programm wird ein Spagat zwischen Modernisierung und sozialen Versprechungen, der auch von einem erfahrenen Kampfsportler, wie er es ist, schwer zu halten sein wird.

Im Land wachsen  zudem die Stimmungen, dass Russland sich nicht weiterhin einfach dem Prozess der kapitalisierenden Globalisierung unterwerfen dürfe, sondern wieder auf einen eigenen Weg finden müsse. Aber unklar ist immer noch, wie dieser aussehen könnte. Alle bisherigen Versuche, einen eigenen Weg zu definieren, sind auf halber Strecke stehen geblieben: So Gorbatschows ökologischer Aufbruch; so Jelzins nationale Idee. Ist Putins Weg nach Eurasien jetzt sinnstiftender?

Nein, es wird keine Ideologie helfen. Entscheidend wird sein, ob Putin es schafft, die Basiskräfte des Landes zu aktivieren – das heißt, Initiativen auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Daran wird er gemessen werden. Daran wird sich zeigen, wohin die russische Gesellschaft geht.

Kai Ehlers, www.kai- ehlers.de

 

Siehe das Buch:

Kai Ehlers, Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

Bezug über: www.kai-ehlers.de

 

(Dieser Artikel erschien am 22.03.2018 unter anderer Überschrift und leicht verändert in „Freitag“)

 

 

Das Lindenblatt auf Putins Schulter – oder warum Putin auf Wahlkampfreisen geht

In Russland wird demnächst  ein neues Staatsoberhaupt gewählt.  Das neue wird das alte sein, Wladimir Putin. Das ist die allgemeine Erwartung, der man wohl zustimmen muss: Putin hat das Land stabilisiert. Er hat den Schuldendrachen besiegt, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seinen Klauen hielt. Er hat die Zinsgier des internationalen Kapitals zurückgewiesen, als er bei seinem Amtsantritt weitere Kredite des IWF und der Weltbank ablehnte und die Altschulden der Sowjetunion gegen den Widerstand der westlichen Banken beglich. Er hat die vielköpfige Schar der Privatisierungsgewinnler gezähmt, die sich aus dem Chaos der Ära Jelzins  erhoben hatten und sie im Konsens um sich zum Nutzen der Stabilisierung Russlands gruppiert. Im Krieg mit den Tschetschenen hat er verhindert, dass der Zerfall der Sowjetunion sich als Zerfall Russlands entlang seiner Vielvölkerstruktur fortsetzte. Er hat einen Stabilitätsfonds geschaffen, mit dem er zwei Krisen und drei Amtszeiten überstand. Alle oppositionellen Angriffe, berechtigt oder nicht berechtigt, sind an ihm abgeprallt, ebenso wie Versuche aus dem Ausland, ihn als neuen Stalin oder Hitler zu diffamieren.  Am Ende wuchs er sogar, wenn auch getrieben von wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, über den innenpolitischen Stabilisierer zum außenpolitischen Krisenmanager[1] empor, der mit China an einer neuen multipolaren Weltordnung baut[2], welche die USA in die Schranken weisen könnte. Die internationale Rating-Agentur Forbes setzte ihn kürzlich zum vierten Mal hintereinander auf Platz eins der einflussreichsten Menschen unserer Zeit.[3]

Kurz, dieser Mann scheint vielen seiner Landsleute und nicht nur diesen und nicht wenigen auch zu ihrem Ärger, unverwundbar wie seinerzeit Siegfried, nachdem er im Blut des von ihm erlegten Drachen gebadet hatte. Herausforderer, die mit ihm jetzt um das Amt des Präsidenten konkurrieren, haben keine Chance, ihn zu  besiegen, es sei denn, sie treffen ihn dort, wo einst Siegfried getroffen werden konnte, als ein Lindenblatt zwischen seinen Schulterblättern die Aushärtung des Drachenblutes verhindert hatte.

 

Die Riege der Konkurrenten

Betrachten wir Putins Konkurrenten. Da ist zunächst der „ewige Zweite“, wie er im Lande genannt wird, der Chef der „Kommunistischen Partei Russlands“ (KPRF) Gennadij Sjuganow. Er ist zwar soeben zugunsten eines neuen unverbrauchten Kandidaten der KP, Pawel Grudinin[4] zurückgetreten. Grudinin ist als erfolgreicher landwirtschaftlicher Unternehmer auch über die traditionellen Kreise der alten Riege der KPRF hinaus eine angesehene politische Figur, die für eine mögliche Erneuerung der KP steht. Aber auch der jüngere und weltoffenere Grudinin wird, mit der sklerotisierten KPRF im Schlepptau, nicht mehr als einen Achtungserfolg einfahren können.

Ähnliches, wenn auch vielleicht nicht gerade von Achtung die Rede  sein kann, kann man von dem Kandidaten der „Liberaldemokratischen Partei“ (LDPR), Wladimir Schirinowski[5] sagen. Er ist als provokativer Rechtsaußen ebenfalls Dauerkandidat bei Wahlen zur Präsidentschaft seit Beginn der nachsowjetischen neuen russischen Staatlichkeit. Meinungsumfragen, wie auch aktuell ‚gefühlte‘ Wahrnehmungen im Lande, die aus der Tatsache resultieren, dass die LDPR ein besseres ‚Händchen‘ für die Nöte der Bevölkerung zeige als die übrigen Parteien, besonders  die ‚Partei der Macht‘, „Einheitliches Russland“, geben ihm die Chance zur KPRF aufzuschließen. Eine ernste Konkurrenz für den Amtsinhaber wird aber auch er nicht werden.

Bleiben neben Grudinin und  Schirinowski noch Kandidaten und Kandidatinnen aus der zweiten Reihe, die nicht dem etablierten Parteiengefüge entstammen, sondern mit persönlichen Unterstützerkreisen antreten. Sie nehmen nach eigenen Aussagen durchweg allein deswegen an der Wahl teil, weil sie Putin nicht allein das Feld überlassen wollen. Keine/r von ihnen kann, sofern sie zur Wahl zugelassen werden, mit mehr als zwei, drei, höchstens fünf Prozent der Stimmen rechnen. Alles andere wären Überraschungen.

Da ist zunächst Grigori Jawlinski, ein aus der Zeit Jelzins übrig gebliebener Veteran der Liberalen, von dem kaum jemand noch etwas anderes erwartet als die Befriedigung von dessen persönlichen politischen Ambitionen. Weiterhin Oligarch Boris Titow, Chef der „Wachstumspartei“, als neo-liberaler Vertrauter Putins ein eher unglaubhafter Konkurrent. Weiter Anton Bakow, Unternehmer, Antikommunist,  Vorsitzender der Monarchistischen Partei der Russischen Föderation, der das Zarentum wieder errichten will. Sodann Maxim Suraikin, Chef der „Kommunisten Russlands“, einer seit 2012 begründeten Konkurrenzorganisation zur KPRF.

Dieses Mal sind auch einige Frauen dabei: Xenia Sobtschak, die Tochter von Putins Ziehvater Anatoly Sobtschak, dem verstorbenen Bürgermeister von St. Petersburg, parteilos, die sich mit ihrer Wahlkampfparole „Gegen alle“  allerdings von vornherein aus dem Rennen geschossen hat. Sodann Katja Gordon, Journalistin, Menschenrechtsaktivistin, die sich für Frauenrechte einsetzt und – unübersehbar im mehrfachen Sinn  des Wortes – Elena Berkowa, ehemalige Pornodarstellerin aus Murmansk, die in high-heels und Dessous posiert.

Als bisher Letzte  meldete Alina Gamzatova, Muslimin aus Dagestan ihre Kandidatur an. Als Ziel gab sie an, ihr gehe es nicht darum mit Putin zu konkurrieren, sondern die radikalen Islamisten in ihrer Republik zu bekämpfen.[6]

Offen ist, ob Michail Prochorow, Unternehmer und Sergej Mironow, Vorsitzender der Partei „Gerechtes Russland“, die 2012 mit zur Wahl standen, auch dieses Mal antreten werden und ob sich noch weitere Kandidaten melden.

Der nach früheren Umfragen und umtriebigen Aktivitäten möglicherweise aussichtsreichste Konkurrent, Alexei Nawalny, der sich in den letzten Jahren als ‚Korruptionsjäger‘ zu einer beachtlichen politischen Figur hinaufgearbeitet hat[7], wurde auf Grund des gegen ihn verhängten Urteils wegen Unterschlagung Ende Dezember von der Wahl ausgeschlossen. Er versucht jetzt eine Wahlboykottkampagne im Land in Gang zu setzen.

So wie die anderen mit ihrer Kandidatur, hat Nawalny allerdings auch mit seinem Boykottaufruf keine Chance Putins Wiederwahl ernsthaft in Frage zu stellen. Erst recht wird er kaum so etwas wie einen russischen Maidan inszenieren können, wie es sich nicht wenige westliche Beobachter erhoffen.[8] Wird doch seine aktuelle Kampagne selbst von Putins Intimfeind Michail Chodorkowski abgelehnt, der die russische Bevölkerung aufruft, für jeden „annehmbaren Kandidaten“ zu stimmen, nur nicht für den „vorherbestimmten Gewinner“.[9]

Werfen wir einen Blick auf die Marge, an der Putins Herausforderinnen und Herausforderer sich messen lassen müssen: Lässt man die vorangegangenen Wahlen beiseite, die abgesehen von Putins Einstieg im Jahr 2000 mit 52,94% der Stimmen, mit ihren hohen Werten von 71,31% für Putin 2004, mit 70,88% für seinen Ersatzmann Dimitri Medwedew 2008 schon außerhalb des politischen Horizontes von heute liegen, dann kann auch die Präsidentenwahl von 2012, an der sich 65 Prozent der russischen Wahlberechtigten beteiligten, schon eine Ahnung davon geben, welchen Abstand Putins Konkurrenten aufzuholen hätten, wenn sie ihn jetzt im Amt des Präsidenten ablösen wollten: Putin kam 2012  auf 64,35 Prozent der Stimmen, Sjuganow auf 17, 38, der liberale Oligarch Prochorow auf 8,00, Schirinowski  auf 6,30, der eher linke Konservative Sergei Mironow auf 3,90 Prozent. Weitere Kandidaten, u.a. Jawlinksi, waren erst gar nicht zur Wahl zugelassen worden.[10]

Bei einer Umfrage vom April 2017, wen die Menschen zu dem Zeitpunkt der Befragung wählen würden, entschieden sich 48% für Putin, je 3% für Sjuganow und Schirinowski; alle anderen blieben bei einem Prozent.[11]

 

Vorsprung mit Einschränkungen

Der Vorsprung Putins ist offensichtlich. Aber etwas, nur eine Kleinigkeit, wie es scheinen mag,  ist dieses Mal anders: Dieses  Mal könnten mehr Kandidaten auf der Liste stehen als 2012. Zwar mindert das nicht den Vorsprung Putins vor allen anderen Bewerbern und Bewerberinnen, aber alle anderen zusammen könnten die Zustimmungsrate zu Putin unter das Niveau senken, das die russische Führung mit der Zielmarke 70/70[12], soll heißen, bei 70 prozentiger Wahlbeteiligung 70 Prozent der Stimmen für Putin, vorgeben möchte.

Und noch etwas ist neu: Erstmals traten in den vorangegangenen Kommunalwahlen vom September  2017 in Moskau jüngere Kräfte auf einer Liste an, die nicht aus der Konkursmasse der Alt-Liberalen à la Jawlinksi oder aus den Reihen der provokativen Parteigänger des ermordeten Boris Nemzow, aber auch nicht aus der Spur Nawalny´s hervorgingen. Sie fanden vielmehr in der praktischen Selbstorganisation auf Bezirksebene zusammen.

Der Initiator der Liste, ein ehemaliger Abgeordneter der Moskauer Duma, Dimitri Gudkow schaffte es, unter dem Motto „unabhängige Kandidaten“ die zerstrittenen oppositionellen Kräfte von unten  her zu bündeln und zu einem beachtlichen Erfolg zu führen, auch wenn Nawalny, wie der ‚Spiegel‘ anmerkt, „es nicht fertig brachte, Gudkow und seinem Team zu gratulieren.“[13]  Bei insgesamt 1502 kommunalen Abgeordneten brachte die Liste 262 Kandidaten in die Moskauer Kommunalvertretungen ein. Sie wurden damit zur zweiten  Kraft neben den kommunalen Vertretern der bisher unangefochten herrschenden Partei „Einheitliches Russland“, welche die  Mehrheit im kommunalen Bereich hält.

Gudkow hält sich bereit, als Kandidat zu der für 2018 anstehenden Bürgermeisterwahl in Moskau anzutreten. Die Vorgänge in Moskau könnten Initiator für eine von unten entstehende, echte Opposition in anderen Großstädten Russlands werden.[14]   

Dies alles, der Andrang von Kandidaten und Kandidatinnen, die Putin nicht besiegen, aber einengen wollen, der Boykottaufruf Nawalny’s, die Botschaft, die von dem Erfolg der Opposition in den Moskauer Wahlen ausgeht, macht erkennbar, warum Putin, obwohl sein Wahlsieg absehbar ist und er sich ruhig zurücklehnen könnte, um die Ergebnisse abzuwarten, dennoch den aktiven Wahlkampf betreibt, bei dem er gegenwärtig zu beobachten ist. Vorzugsweise will er vor jugendlichen Auditorien, in Betrieben, generell mit sozialen Themen und erklärtermaßen als unabhängiger Kandidat auftreten.[15] Bezeichnend dafür ist, wie er die Ankündigung seiner Kandidatur vor 15.000 Jugendlichen des 2015 nach der Übernahme der Krim in den russischen Staatsverband ins Leben gerufenen „Allrussischen Freiwilligenforums“[16], in der Jugendliche sich für Flüchtlingshilfe und Katastrophenschutz einsetzen, und gleich danach vor Veteranen und Arbeitern des Autowerks GAZ in Nischni Nowgorod inszenierte. Zwar lässt er sich von der Partei „Einheitliches Russland“ unterstützen, ist aber sichtlich bemüht, sich von deren schlechtem Image als ‚Partei der Macht‘ abzusetzen, der von der Bevölkerung die Verantwortung für Bürokratismus,  Korruption und sinkendes materielles Lebensniveau angelastet wird.

Einfach gesagt, es geht nicht darum, ob Putin für eine vierte Amtszeit gewählt wird, sondern wie. Mit einem Ergebnis, das deutlich unter seinem bisherigen Ranking und den Zielvorgaben für die kommende Wahl bliebe, bekäme Russland zwar keinen neuen, aber einen geschwächten Präsidenten. Damit tritt das Lindenblatt auf Putins Schultern deutlich hervor: Es heißt Legitimation. Ohne einen eindeutigen neuen Vertrauensbeweis, der erkennbar über den 52, 94 Prozent aus seiner Antrittswahl 2000 liegt, wenn schon nicht über der 70ger Marke der Wahlen von 2004 und 2008, wird er die kommende Legislaturperiode nicht ohne Entstehung innerer Unruhen bewältigen können.

 

Die Last der Stabilität…

Es ist ja eine widersprüchliche, wenn nicht gar eine fatale Situation, in der Putin sich befindet: Die Stimmen, die ihn erneut ins Amt des Präsidenten führen sollen, wenn alles so läuft, wie zur Zeit absehbar, erhält er für seinen siebzehnjährigen Stabilitätskurs, der ihn zum unersetzbaren Kapitän auf dem russischen Schiff hat werden lassen, ohne den nichts läuft. Erhält er den gewünschten Zuspruch, selbst wenn nicht ganz in gewünschter Höhe, kann er ihn durchaus als Aufforderung zur Fortsetzung seines bisherigen Kurses annehmen. Zugleich ist aber  klar, dass er den Kurs angesichts wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die seine dritte Amtszeit seit der Krise 2014/2015 begleiten, nicht zuletzt der Verschuldung, die das Land jetzt wieder eingeholt hat, nach der Wahl nur halten kann, wenn es ihm gelingt, den Impuls der Modernisierung zu erneuern, mit dem er im Jahr 2000 angetreten ist – und wenn er sich zugleich der Lösung der überfälligen sozialen Fragen zuwendet.

Nach Lage der Dinge, die durch seinen autoritären Führungsstil entstanden ist, bedeutet das, eine Stabilität, die auf Basis eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber einem allmächtigen Zentrum, das heißt, Putin, zunehmend in Stagnation überzugehen droht, erneut in Bewegung bringen zu müssen. Es bedeutet privates Unternehmertum wieder von staatlicher Bevormundung zu befreien, private unternehmerische Aktivitäten wie auch generell Initiativen der Selbstorganisation von der Basis der Gesellschaft bis in die Verwaltungsorgane hinein nicht nur wieder zuzulassen, sondern zu fördern, ohne dabei die Autorität des Zentrums, seine eigene Machtbasis zu schwächen.

Zugleich muss Putin aber Korruption und Eigenmächtigkeiten von Gouverneuren, Oligarchen, bürokratischen Korruptionsgemeinschaften, die ihren eigenen Interessen zum Schaden des Landes nachgehen, die Kapital angesichts der Erosion des Modernisierungskurses zunehmend „off shore“ auslagern, aktiv, ggfls. sogar repressiv an die Leine nehmen, dabei aber vermeiden, von einer autoritären Modernisierung in eine Diktatur abzugleiten. Die massiven Umbesetzungen leitender Posten, die in letzter Zeit im russischen Machtapparat vorgenommen wurden, lassen das Ausmaß dieses Problems erkennen.[17]

Paradox formuliert, muss Putin autoritäre Wege einschlagen, um eine autoritäre Erstarrung der politischen Strukturen wieder in Bewegung zu bringen. Das ist eine Aufgabe, die nicht ohne Widerstände durchführbar ist.

Zugleich muss es ihm gelingen, die im Zuge der Konfrontation mit dem Westen seit der Krise 2014/15 gewachsenen, aber vernachlässigten sozialen Probleme mit Blick auf Befriedung einer unruhig werdenden Bevölkerung aufzugreifen. Das Land ist gespalten in eine superreiche Oberschicht, eine kleine konsumorientierte Mittelschicht und eine große Mehrheit von Menschen, die heute nur knapp über der Armutsgrenze leben, heute erkennbar knapper als in den Aufbaujahren nach 2000, als der Öl-Preisboom der Regierung eine lockere Sozialpolitk ermöglichte, welche die vom Zusammenbruch der Union gebeutelte Bevölkerung zu befrieden vermochte.

Zunehmende lokale und überregionale Proteste im Lande sind ein deutlicher Ausdruck dieser veränderten Lage im Lande – das sind Aktivitäten der Transportarbeiter gegen die Einführung eines Mautsystems, das ihre Selbstständigkeit stranguliert. Das sind verzweifelte Bauernproteste gegen Landraub und Korruption durch eine kleptokratische Landoligarchie. Es sind lokale Lohnkämpfe, Mieterproteste gegen korrupte Spekulation mit Immobilien und Bauprojekten zu Lasten der Wohnung suchenden Bevölkerung, es sind Unruhen im Bildungsbereich, Mängel im Gesundheitswesen und in der Justiz usw., von den Zuständen in Sozialhilfestationen oder gar Gefängnissen ganz zu schweigen.[18]

 

… aber kein russischer Maidan

Ein russischer Maidan, wie manche im Westen unken, wird sich daraus allerdings zurzeit kaum entwickeln. Das muss hier noch einmal betont werden: 94 % der Bevölkerung erklärten bei einer entsprechenden Umfrage im März 2017, dass sie eine solche Entwicklung wie in der Ukraine nicht für möglich halten.[19] Auftritte Putins, bei denen er vor ‚Unruhestiftern vom Schlage Saakaschwilis‘ warnt, sind zurzeit eher als Wahlkampfagitation einzuordnen. Vor dem Hintergrund, dass die Ukraine Saakaschwili zum Agenten Moskaus stempeln will, sind sie möglicherweise auch noch als Botschaft an die Ukraine zu verstehen, dass Russland mit Saakaschwili nichts zu schaffen habe.

Dass hinter der aktuellen Wahlkampfagitation Putins selbstverständlich die innenpolitischen Strategien stehen, auf die Putin und sein ’Kommando‘ gegebenen Falles bereit sind zurückzugreifen, wenn sie es für nötig halten möglichen inneren Unruhen zu begegnen, ist ebenso klar. Nach den Vorgängen in der Ukraine 2014 liegt das Schwergewicht russischer Sicherheitsstrategien bis hinauf in die 2017 vorgelegte  neue Version darauf, mögliche Unruhestiftung von außen nach dem Muster des Kiewer Maidan präventiv zu verhindern und gegebenen Falles repressiv zu ersticken. Eine Nationalgarde, die dem Präsidenten direkt unterstellt ist, steht seit ihrer Gründung 2016 für solche Fälle bereit. [20]

Zurzeit aber, um darauf zurück zu kommen, geht es um mögliche Reformen. Beide Aufgaben, ein erneuter Privatisierungsschub zum einen, verbunden mit sozialen Einschnitten, dirigistische Maßnahmen zur Disziplinierung der Wirtschaft zum anderen, verbunden mit einer Sozialpolitik im Interesse der  Mehrheit der Bevölkerung stehen konträr zueinander. Der ungelöste Widerspruch ist geeignet, den bisherigen Konsens Putinscher Politik, in welcher der Präsident als oberster Wächter einer halb liberalen, halb autoritären Politik Balance hielt, platzen zu lassen.

Wenn das bisher noch nicht geschehen ist, ist das der Tatsache zu verdanken, dass diese Schwierigkeiten, angesichts der empfundenen Bedrohung des Landes durch äußere Mächte sowohl in den oberen Etagen, als auch an der Basis der Bevölkerung bisher als notwendig und unvermeidlich für die Verteidigung der Sicherheit des Landes hingenommen wurden. Die Eingliederung der Krim, die erfolgreiche Kriseneindämmungspolitik Putins in Syrien, Russlands neue Rolle als Weltmacht im Verbund mit China haben dem durchlässig gewordenen wirtschaftlichen begründeten Konsens aus den Anfangsjahren der Putinschen Ära noch einmal einen neuen, einen politischen Halt in der gemeinsamen Abwehr der äußeren Feinde verliehen. Zugleich belasten die enormen Kosten, welche die außenpolitischen Einsätze nach sich ziehen, auch diesen Konsens zunehmend. Länger ist deshalb eine Reform, die sich den seit 2014 gewachsenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsproblemen zuwendet, auch durch weitere außenpolitische Erfolge nicht mehr oder nur unter der Gefahr von Illoyalität in den Führungsetagen und zunehmenden sozialen Unruhen in der Bevölkerung aufzuschieben.

 

Polare Programme 

Eine Ahnung von der Zerreißprobe, die Russland bevorsteht, lassen die Programme erkennen, die im Vorfeld der Wahlen, zuletzt auf dem Wirtschaftsforum im Juni 2017, öffentlich diskutiert wurden. Sie sind verbunden, um in aller Kürze nur die Extreme zu nennen, mit den Namen Alexei Kudrin zum einen und Sergei Glasjew zum anderen. Beide sind informelle, aber enge Berater Wladimir Putins.

Kudrin, von 2000 bis 2011 Finanzminister, ist Träger der Modernisierungspolitik Putins aus den ersten beiden Amtsperioden. Nach vorübergehendem Zurücktreten von diesem Amt, wurde er 2016 zum Vorsitzenden des Wirtschaftsrates beim Präsidenten ernannt. Putin beauftragte ihn, ein Programm für eine nach der Wahl 2018 einzuleitende Wirtschafts- und Strukturreform vorzulegen. Kudrin sieht die Lösung der Krise in einer radikalen neo-liberalen Öffnung der russischen Wirtschaft für den Weltmarkt auf vornehmlich privatwirtschaftlicher Grundlage. Sie soll den Modernisierungskurs aus den ersten Amtsjahren Putins wieder aufgreifen. Zur Ankurbelung wirtschaftlicher Gesundung schlägt Kudrin den Verkauf, also die Privatisierung von Staatsfirmen vor, allen voran die großen Öl- und Gaskomplexe. Dies alles soll von Einschränkungen staatlicher Sozialausgaben flankiert werden, allem voran durch Erhöhung des Rentenalters und Kürzung der Renten. Bildung und Gesundheit will Kudrin dagegen fördern; das liegt durchaus in der neo-liberalen Logik des Programms, denn diese Sektoren werden für eine effektive Modernisierung gebraucht.[21]

Dem Programm Kudrins steht das Konzept Sergei Glasjews gegenüber. Nach einem bewegten Lebensgang durch die konservative politische Landschaft Russlands, einschließlich vorübergehender Mitgliedschaft in der KPRF wurde Glasjew 2009 Leiter des Sekretariats des „einheitlichen Wirtschaftsraumes“ von Russland, Weißrussland und Kasachstan. 2012 ernannte Putin ihn zu seinem Berater für die Integration der eurasischen Wirtschaft. Glasjew fordert eine staatliche Regulierung, der Wirtschaft, genauer deren entschlossene Fortsetzung nach Regeln, die eher an sowjetische Strukturen und Methoden anknüpfen.

Schon 2014, gleich nach den Maidan-Ereignissen, hatte Glasjew mit einem Plan von sich reden gemacht, wie Russland auf die westlichen Sanktionen regieren solle: mit klaren dirigistischen Maßnahmen müsse der russische Staat, vertreten durch die russische Zentralbank, russisches Kapital aus dem Ausland zurückholen, statt sich westlichem Kapital weiter zu öffnen, wie Kudrin es vorschlage. Mit einer Politik der „Entdollarisierung“ müssten russische Guthaben auf Banken in neutralen Ländern außerhalb des NATO-Bereiches transferiert werden. Der radikalste Vorschlag Glasjews besteht darin, den russischen Schuldendienst gegenüber  internationalen Gläubigern angesichts der durch die Finanzsanktionen entstandenen, nicht einlösbaren Verschuldung Russlands einzustellen, das heißt, Russland, wenn die Sanktionszange weiter geschlossen gehalten werde, mit der Begründung, dass Zahlungsverkehr unter Sanktionsbedingungen ohnehin nicht möglich sei, praktisch für Bankrott zu erklären, gleichzeitig aber, die Finanzbeziehungen mit China zu stärken. Die Umsetzung dieser Vorschläge käme einer radikalen Abkoppelung Russlands vom Westen gleich.

Innenpolitisch fordert Glasjew eine harte Besteuerung der oligarchischen Superprofite, um damit ein soziales Sicherungssystem in Russland und den Schutz russischer Minderheiten in den ehemaligen sowjetischen Republiken aufzubauen. Das wäre eine Sozialpolitik vom Zuschnitt der KPRF.[22]

Putin hat sich bisher nicht entschieden, welcher Seite er den Zuschlag geben will, außer, dass er im Wahlkampf erklärt, sich in Zukunft den sozialen Fragen zuwenden zu wollen. So oder so stehen jedoch, wenn er das Amt des Präsidenten erneut antritt, Entscheidungen an, die die bisherige politische Konstellation ablösen werden, in der Putin als ‚Zar‘ über den unterschiedlichen Fraktionen der Gesellschaft den überparteilichen, quasi neutralen Konsens halten konnte, in welchem Liberalismus und Traditionalismus, neo-kapitalistisches Laissez faire und rigide Staatskontrolle des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens einander die Waage hielten. Das Wahlergebnis wird den Ausschlag geben, wofür Putin sich entscheidet, wie das neue ‚Kommando` im und um den Kreml herum aussehen, nach welchen Regeln es arbeiten wird – und welche Veränderungen für Russlands Zukunft aus dieser  Entscheidung folgen werden. Vorab verbietet sich jede Spekulation.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zwei Bücher zum Thema:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte Entwürfe, 2005. Knapper Blick auf Russland nach dem Antritt Putins 2000, 85 Seiten.

Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg,  2014/5. Band I: Gorbatschow und Jelzin, Band II: Putin, Medwedew, Putin

Authentischer, chronologisch verfolgbarer Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika und im heutigen Russland.

Weitere Titel unter: www.kai-ehlers.de

Eine interessante Bearbeitung des Textes findet sich unter http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/das-lindenblatt-auf-putins-schulter-oder-warum-putin-auf-wahlkampfreisen-geht

 

[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Globales Zwischenhoch:  Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum? https://test.kai-ehlers.de/2016/06/globales-zwischenhoch-putin-krisenmanager-chande-oder-irrtum/

[2] Siehe dazu:  Kai Ehlers, „Globaler Farbwechsel –Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien.  https://test.kai-ehlers.de/2017/12/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien/

[3] The guardian, 14.12.2016

[4] Sputnik news, 26.12.2017

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wolfowitsch_Schirinowski

[6] rt deutsch, 03.01.2018

[7]Kai Ehlers: „Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki.  https://test.kai-ehlers.de/2017/08/was-kommt-nach-putin-kai-ehlers-im-gespraech-mit-boris-kagarlitzki/

[8] Dazu diverse Internetberichte 25. Und 26.12. 2017

[9] rt deutsch, 25.10.2017

[10] Alle Zahlenangaben nach Wikipedia: Präsidentschaftswahlen in Russland 200,2004,2008, 2012

[11] Dazu Daten in Russland Analysen, 334 vom 12.05. 2017, S. 18

[12] Epoch times, 27.03.2017

[13] Spiegel Online,  11.09.2017

[14] Siehe dazu: Russland Analysen 340 vom 22.09.2017S. 2 ff

[15] Russland news:  http://www.russland.news/putin-gab-seine-kandidatur-fuer-das-amt-des-praesidenten-bekannt/

[16] Siehe dazu :Russland Analysen 291 vom 27.02.2015, S.15

[17] Siehe dazu: Russland Analysen 334 vom 12.05.2017, S. 10 ff, Stichwort: „Elitenwechsel“

[18] Siehe dazu: Russland Analysen 333 vom 31.03.2017

[19] Ebenda, Grafiken S. 18 ff

[20] Siehe dazu: „Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich“ auf der Website von Kai Ehlers: https://test.kai-ehlers.de/2017/12/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

[21] Siehe dazu u.a.: Spiegel Online, 3.06.2017

[22] Siehe dazu: diverse Einzelberichte unter dem Stichwort: der Glasjew-Plan,

    außerdem: Peter W. Schulze, Wohin steuert Russland mit Putin? Campus, 2004, S. 172 ff.

 

Kleiner Service zur aktuellen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA vom Dez. 2017

Soeben stellten die US-Behörden ihren diesjährigen 68 Seiten umfassenden Bericht zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vor. Es wird niemanden verwundern, dass die Strategie ganz nach dem von Trump ausgegebenen Motto „Make Amerika great again“ und „America first“ ausgerichtet ist, dem internationale Abkommen ohne Rücksicht auf Folgen in der Praxis der Trump´schen Administration bereits untergeordnet wurden. Im Trumps mündlichem Vortrag gehen die wenigen inhaltlichen Inseln möglicher Kooperation zudem in einer Flut Trump´scher und Amerikanischer Größe unter. Ein paar Kernaussagen sollten jedoch nicht übersehen werden.

Im ersten Kapitel „Frieden erhalten durch Stärke“ heißt es:

„Eine zentrale Kontinuität in der Geschichte ist der Kampf um die Macht. Die gegenwärtige Zeit unterscheidet sich davon nicht. Drei Hauptpunkte der Herausforderung – die revisionistischen Mächte Chinas und Russlands, die Schurkenstaaten  Iran und Nordkorea, und die transnationalen terroristischen Organisationen, besonders die djihadistischen Gruppen – treten aktiv gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten auf.  Obwohl unterschiedlich von Natur und Umfang, konkurrieren diese Rivalen auf politischen, ökonomischen und militärischen Feldern und nutzen Technik und Information, um die Konkurrenz zu verschärfen und damit die Machtbalance zu ihren Gunsten zu verändern.  Darin liegen fundamentale politische Unterschiede zwischen repressiven Systemen und solchen, die freie Gesellschaften bevorzugen.

China und Russland wollen eine zu den US-Werten und Interessen antithetische Welt.  China will die USA in der Indisch-Pazifischen Welt verdrängen, den Einfluss seines staatwirtschaftlichen Modells ausweiten und die Region in seinem Sinne reorganisieren. Russland will seinen Großmachtstatus wiederherstellen und die Einflusssphären an seinen Grenzen reorganisieren.  Die Intentionen der beiden Nationen sind nicht unbedingt festgelegt. Die USA stehen bereit mit beiden Ländern im gegenseitigen Interesse zu kooperieren.

Für Jahrzehnte  war US-Politik darauf begründet, dass Unterstützung für Chinas Entwicklung  und seine Integration in die internationale Nach-Kriegs-Ordnung China liberalisieren werde. Entgegen unseren Hoffnungen weitete China seine Macht auf Kosten der Souveränität von anderen aus.  China sammelt und nutzt Daten in Konkurrenzlosem Maße und weitet sein autoritäres System aus, einschließlich Korruption und Kontrolle. Es baut die fähigste und bestausgerüstete Streitmacht der Welt auf, nach der unsrigen. Sein nukleares Potential wächst und differenziert sich. Ein Teil seiner Modernisierung und ökonomischen Expansion verdankt China seinem Zugang zur innovativen US-Wirtschaft, einschließlich Amerikas Welt-Klasse Universitäten.

Russland zielt darauf den US-Einfluss in der Welt zu schwächen und uns von  unseren Verbündeten und Partnern  zu trennen. Russland betrachtet die NATO  und die EU (im Original engl. ausgeschrieben)  als Bedrohung. Russland investiert in neue militärische  Fähigkeiten, einschließlich  nuklearer Systeme, welche die existenziellste Bedrohung für die Vereinigten Staaten bilden. Durch modernisierte Formen subversiver Taktik greift Russland in die inneren politischen Angelegenheiten von Ländern rund um die Welt ein. Die Kombination von russischen Ambitionen  und wachsenden militärischen Fähigkeiten schafft eine unstabile Front in Eurasien, wo das Risiko zu Konflikten auf Grund  russischer Miss-Kalkulationen wächst.“

(Es folgen zwei Absätze zum Iran, Nord-Korea, IS, sowie Al-Kaida, danach der Satz: )

„Die Vereinigten Staaten werden Kooperationsfelder mit ihren Herausforderern auf der Basis der Stärke suchen.“

Unter der Überschrift „Regionales“ heißt es am Schluss unter dem Stichwort „Europa“:  

„Ein starkes und freies Europa ist von vitalem Interesse für die Vereinigten Staaten.  Wir sind verbunden durch unser Eintreten für die Prinzipien von Demokratie, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Zusammen haben wir Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und die Institutionen geschaffen, die Stabilität und  Reichtum auf beiden Seiten des Atlantiks brachten. Heute ist Europa eine der reichsten Regionen  der Welt und unser hervorstechendster Handelspartner.

Obwohl die Bedrohung des Sowjetischen Kommunismus vorbei ist, wird unser Wille durch neue Bedrohungen getestet. Russland setzt subversive Mittel ein, um die Glaubwürdigkeit  von Amerikas Eintreten für Europa zu schwächen, die transatlantische Einheit zu unterminieren  und europäische Institutionen  und Regierungen zu  schwächen.  Mit seinen Invasionen nach Georgien und in die Ukraine  hat Russland seinen Willen demonstriert die Souveränität der Staaten in der Region zu verletzten.  Russland fährt fort seine Nachbarn  in bedrohlicher Art durch nukleare Positionierung und durch die Aufstellung offensiver  Kapazitäten an den Grenzen einzuschüchtern.“

(Folgt, dass auch China Fuß in Europa fassen wolle, und zudem eine Bedrohung durch islamistischen Terror in Europa zunimmt)

„Die Vereinigten Staaten  sind sicherer, wenn Europa prosperiert und stabil ist und helfen kann unsere gemeinsamen Interessen zu verteidigen.  Die Vereinigten Staaten bleiben fest verbunden mit unseren Europäischen Verbündeten und Partnern.  Das NATO Bündnis freier und souveräner Staaten ist einer unserer großen Vorteile  gegenüber unseren Gegnern und die Vereinigten Staaten treten weiterhin für den Artikel V des Washingtoner Vertrages ein.“

Das gesamte Papier (englisch) gibt es hier: zur Ansicht und ggf. zum Download

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Globaler Farbwechsel – Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien

Beim GO, dem in Asien beliebten strategischen Brettspiel geht es beim wechselseitigen Besetzen der Spielfläche durch schwarze oder weiße Steinchen um Geländegewinn. Dabei kann ein Steinchen, zur rechten Zeit an die richtige Stelle gesetzt, auf einen Schlag die eben noch dominante Farbe des Feldes umschlagen lassen, wenn die so eingekreisten Steinchen des Gegners aus dem Feld genommen werden. Plötzlich tritt eine vorher gewachsene, aber übersehene Konstellation hervor.[1]

Ein solcher Farbwechsel ist durch den Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Rückzug russischer Truppen aus Syrien, verbunden mit seiner Erklärung, der Terrorismus sei besiegt und die Menschen könnten in ihr Land zurückkehren, um es wieder aufzubauen, soeben auf dem globalen Spielbrett  vor sich gegangen.  Putins Besuche in Ankara und Ägypten, dazu seine öffentliche Kritik an der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ergänzen das Bild. Was wird da erkennbar?  

 

Das „Heartland“ beherrschen?

Wer die Welt beherrschen wolle, hieß es bisher, der müsse Eurasien beherrschen; wer Eurasien beherrschen wolle, müsse das „Herzland“, also Russland, beherrschen – müsse es am Besten in drei Teile teilen, einen östlichen, einen mittleren und einen westlichen, die sich so gegeneinander abgrenzen und manipulieren ließen.

Der so sprach, schrieb und zu handeln versuchte, um damit den Fortbestand  des US-Imperiums nach dem Zusammenbruch  der bipolaren Welt  Ende der 80/Anfang der 90 Jahre  zu sichern, Zbigniew Brzezinski, ist inzwischen verstorben. Seine Thesen, basierend auf den Erfahrungen des britischen Empire, erstmals 1904 bei Halford Mackinder formuliert [2], von Brzezinski in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch „Die einzige Weltmacht“)[3] nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1997 mit Blick auf Russland weiter ausgearbeitet, sind jedoch nach wie vor brandaktuell – allerdings in Umkehrung dessen, was das Ziel Brzezinskis war und nach anderen Regeln, eben denen des asiatischen GO, statt des westlichen Schach.

Es gelang nicht das „Herzland“ zu teilen,  jedenfalls nicht in drei Teile. Zwar wurde es von seinen Rändern her beschnitten – Ost-Europa, Kaukasus, Baltikum, Zentralasien. Zwar wurde es eingekreist durch „bunte Revolutionen“. Zwar wurde es militärisch bedrängt mit der Stationierung von NATO „Battle Groups“ und Raketen-Abschussrampen direkt vor seinen Grenzen. Aber es konnte doch trotz allem vom Westen nicht kolonisiert werden, jedenfalls nicht auf Dauer, sondern hat sich nach dem katastrophalen Zusammenbruch der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts in den Jahren ab 2000 dann unter seinem zu der Zeit neu antretenden Präsidenten Wladimir Putin schrittweise von innen her stabilisiert. Es hat sich zum Integrator  des eurasischen Raumes entwickelt, der daran geht, sich selbst zu organisieren, statt Objekt imperialen Zugriffs aus dem Westen zu sein.

Als Vielvölkerorganismus, der die Stürme des ersten und des zweiten  Weltkrieges, des Kalten Krieges wie auch den Druck der US-geführten unipolaren Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion im Kern, wenn auch immer noch geschwächt, überlebte, wurde Russland, selbst plural organisiert, zusammen mit China zum faktischen Modell und Impulsgeber des multipolaren Gegenentwurfes gegenüber der unipolaren Imperialordnung der USA.

Steinchen für Steinchen hat sich diese neue Ordnung unerkannt unter der Dominanz der amerikanisch-europäischen Weltordnung herausgebildet – nicht zuletzt auch als Ergebnis überheblicher Abschätzigkeit des Westens gegenüber dem „unterentwickelten Osten“, also gegenüber Russland, China, generell Asien.  Man erinnere sich nur daran, mit welcher Häme und Vordergründigkeit die wiederholten, mühsamen, in den Anfängen nicht sehr erfolgreichen Anläufe Russlands kommentiert wurden, den durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen Fliehkräften im eurasischen Raum entgegenzuwirken. Das betrifft Russlands Beteiligung an der “Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), in der die aus der Sowjetunion ausgeschiedenen ehemaligen Republiken, außer den baltischen, zusammenfinden wollten. Das betrifft die Versuche Russlands mit der kleineren „Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung“  (GUAM), bestehend aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien, zu kooperieren. Das betrifft den „Vertrag zur kollektiven Sicherheit“ (OVKS) und schließlich auch die bilateralen Beziehungen Russlands zu einzelnen der neu entstandenen Staaten und halbstaatlichen autonomen Gebiete.

 

Viele kleine Schritte vom Westen nach Osten…

 In der Rückschau treten die in der Vergangenheit unscheinbar gesetzten Steinchen, aus denen das aktuelle Bild auf dem globalen Brett hervorging, dafür jetzt umso deutlicher hervor:

  • 1964 entwickelt China, nach der Spaltung der kommunistischen Welt weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörig, die Strategie einer multipolaren Weltordnung.
  • 1984/5 übernimmt Michail Gorbatschow mit Beginn der Perestroika die Option der Multipolarität auch für Russland, wenngleich noch ganz auf Zusammenwachsen Russlands mit Europa im „Europäischen Haus“ orientiert.  
  • 1996 schließen China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan sich zu den „Shanghai fünf“ zusammen, um die aus dem Zerfall der Sowjetunion resultierenden Grenzprobleme zu klären.
  • 1997 legen Russland und China der UNO ein Papier zur Entwicklung einer multipolaren, anstelle der unipolaren Weltordnung vor.
  • 1998 lenkt der russische Ministerpräsident Jewgeni Primakow, noch unter Boris Jelzins Orientierung auf den Westen, Russlands Außenpolitik aktiv auf Asien. Er sucht eine Allianz mit Indien und China unter Einschluss von Weißrussland. Mit dem Abbruch eines bereits eingeleiteten Staatsbesuches (er gibt dem Flugkapitän Befehl zur Rückkehr!) brüskiert er die USA wegen des von ihr geführten Kosovokrieges.
  • 2000 tritt Wladimir Putin sein Amt als Staatspräsident Russlands mit der Erklärung an, er wolle nicht nur Russlands Staatlichkeit wiederherstellen, sondern das Land in Übereinstimmung mit seiner historischen Rolle wieder zum „Integrationsknoten Eurasiens“ machen, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.
  • 2000 schließen sich Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zur „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ zusammen; 2002 treten Moldawien, die Ukraine und Armenien, 2006 auch Usbekistan dieser Gemeinschaft mit bei.
  • 2001 erweitern sich die „Shanghai fünf“ zur „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Sie versteht sich als Kooperationsorgan zwischen der Volksrepublik China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Die SOZ befasst sich über die bisher von den „Shanghai fünf“ behandelten Fragen der Grenzsicherheit und Stabilität der Region hinaus auch mit Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten. Der Organisation gehören seit 2017 neben den Gründerstaaten auch Indien und Pakistan an. Damit repräsentiert die SOZ heute die Hälfte der Weltbevölkerung; Weißrussland und die Türkei sind als „Dialogpartner“ angeschlossen.
  • 2001 schließen sich die Länder Brasilien, Russland, Indien und China (Kürzel: BRIC-Staaten, nach den Anfangsbuchstaben der beteiligten Länder) zu einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft zusammen,  die sich als Entwicklungsgemeinschaft gegen die Vormacht der USA wendet.  Seit 2011 nimmt Südafrika an den jährlichen Gipfeln der BRIC-Staaten teil, die seitdem unter dem erweiterten Kürzel  BRICS firmieren und turnusmäßig zu jährlichen Gipfeln zusammenkommen.
  • 2009 schließen sich 29 Staaten Süd-Ost-Asiens zu einem Wirtschaftsraum zusammen, nachdem sie seit 1967 bereits locker im Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (von englisch: Association of Southeast Asian Nations)  verbunden waren.  Die Gründung weiterer Unter-Organisationen für regionale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, zur Förderung des Handels uam. folgen. Die ursprüngliche Orientierung gegen die Sowjetunion und gegen China beginnt in eine Kooperation mit der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und den BRICS-Treffen überzugehen.  
  • 2013 stellt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Kasachstan das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ vor, das den gesamten eurasischen Raum von Osten bis Westen, von China über Zentralasien und Russland bis nach Europa in dem Entwurf einer Länder übergreifenden Kooperation miteinander verbinden soll. Das Projekt versteht sich ausdrücklich als ziviler Gegenentwurf zu der militärisch gestützten Globalisierungs- und aggressiven Fraktionierungspolitik der USA.
  • 2014 geht die „Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft“ in die verbindlichere „Eurasische Wirtschaftsunion“ (EAWU) über. Mitglieder sind Kasachstan, Russland und Weißrussland, ab 2015 auch Armenien und Kirgisistan.
  • 2014 gründen die BRICS-Staaten die „Neue Entwicklungsbank“ als Gegenkraft zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um der Dollarherrschaft etwas Eigenes von Seiten der Entwicklungsländer entgegensetzen zu können.
  • 2015 kommt eine „Asiatische Infrastrukturinvestmentbank“ (AIIB) als Hauptfinanzier des Seidenstraßenprojektes hinzu, ebenfalls als Gegenkraft zu Weltbank und dem IWF. Den 21 Gründungsmitgliedern aus dem asiatischen Raum schlossen sich 57 Interessenten an, von denen die meisten aus dem östlichen und süd-östlichen eurasischen Raum kommen. Dabei sind aber auch Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – trotz ausdrücklicher Warnungen aus den USA.
  • 2016 wirbt Putin beim turnusmäßigen ASEAN-Gipfel erfolgreich für engere Kooperation der ASEAN-Staaten mit Russland und China im Zuge des Seidenstraßenprojektes und Zusammenwirkens mit der „Eurasischen Wirtschaftsunion“.
  • 2016 unterzeichnen China, Russland und die Mongolei ein Entwicklungsprogramm zur Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftskorridors im Zuge der Seidenstraßen-Initiative.
  • 2016/2107 finden die turnusmäßigen BRICS Gipfel in GOA/Indien (2016), in Xiamen/China (2017) in lockerer Koordination mit Gipfeln der ‚Eurasischen Wirtschaftsunion‘ und dem ASEAN-Netz statt.
  • Seit 2017 werben Vertreter der russischen Politik, konkret Putins Chef-Berater für Ostpolitik, Sergei Karaganow[4], massiv für die Zusammenführung von „Europäischer Wirtschaftsunion“, der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, den ASEAN-Staaten und dem Projekt „Neue Seidenstraße“ zu einem „Projekt Großeurasien“, wobei sie in Aussicht stellen, darin  auch die Türkei, den Iran, Israel und Ägypten einzubeziehen. „Europa“ wird ebenfalls eingeladen – wenn es die Kraft dazu aufbringen könne; die USA werden ausdrücklich außen vor gehalten.
  • Im Mai 2017 treffen sich 29 Staats- und Regierungschefs aus dem eurasischen Raum auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf dem „Seidenstraßen-Forum“ in Peking. Unter den Gästen wird Wladimir Putin als wichtiger Partner und Förderer hervorgehoben.
  • Im November 2017 versammeln sich die ASEAN-Staaten zum 50jährigen Jubiläum ihrer Organisation (und ihrer diversen Vorläufer) in Anwesenheit Chinas und Russlands. China und Russland machen erfolgreich ihren Einfluss geltend, Trumps Drohungen gegen Nord-Korea diplomatisch einzuhegen.

Überschaut man die entstandene Konstellation, dann wird unschwer erkennbar, wie  massiv sich die Gewichte in den letzten Jahren und dies mit zunehmender Intensität in Richtung einer dichter werdenden eurasischen Vernetzung verändert haben.

 

… und ihr politischer Rahmen

Ein weiterer Blick zurück, dieses mal auf die politischen Rahmendaten, die diesen Prozess begleiten, macht diese Entwicklung noch offensichtlicher:

  • 2001: Wladimir Putin hält seine erste Auslandsrede – in deutscher Sprache, im deutschen Bundestag. Trotz bereits vereinbarungswidrig erfolgter erster Schritte zur Erweiterung der NATO nach Osten betont Putin damals, noch ganz im Strom der von Gorbatschow formulierten Idee des „gemeinsamen Europäischen Hauses“, die Einheit der europäischen Wertekultur und die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Das einheitliche und sichere Europa müsse zum „Vorboten“ für eine sichere Welt werden. Eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok könne der Ausdruck davon sein.
  • 2007: Nach weiteren Ost-Erweiterungen der NATO, angesichts der vom Westen offen unterstützten „Bunten Revolutionen“ in Georgien 2003, in der Ukraine 2004, in Kirgisistan 2005, des gescheiterten Ansatzes in Weißrussland, 2006, sowie den parallel dazu 2004 und 2007 folgenden Ost-Erweiterungen der EU, geht Wladimir Putin auf der „Sicherheitskonferenz“ in München erstmals in Distanz zu den westlichen Weltherrschaftsansprüchen. Er macht seine Kritik allerdings hauptsächlich an der Militarisierungspolitik der USA fest, erkennbar bemüht, zwischen USA und EU taktisch zu differenzieren.
  • 2008: Russland weist die provokativen Versuche des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili militärisch zurück, der im Schatten der NATO-Erweiterung einseitige Grenzkorrekturen auf Kosten Russlands vornehmen will. Das war zugleich als gelbe Karte für NATO und EU zu verstehen, von der geplanten Fortsetzung ihrer Erweiterungspläne über den südlichen Kaukasus hinaus nach Zentralasien Abstand zu nehmen.
  • 2014: Als deutlicher Abbruch der West-Integration muss Russlands Aufnahme der KRIM in den Russischen Staatsverband und die halbmilitärische Unterstützung der Kämpfe der Regionen Donezk und Lugansk um ihre Autonomie verstanden werden. Mit ihrer Politik in der Ukraine-Krise zeigte Russland dem Westen, also der Allianz von NATO, EU und den USA, dass es ein weiteres Vordringen des Westens, vor allem westlichen Militärs auf russische Kosten nicht hinnehmen werde. Die daraufhin vom Westen eingeleitete Sanktionspolitik wirkt seitdem als Brandbeschleuniger für die eurasischen Integrationsprozesse.
  • 2016/2017: Das militärische Eingreifen Russlands in Syrien hat nicht nur den Eroberungszug der US-Politik in Mesopotamien beendet und Syrien in eine vorläufige Waffenruhe geführt. Es hat Russlands Südflanke auch vom Druck der westlichen Allianz befreit und es zum zurzeit wichtigsten Akteur im mesopotamischen Raum werden lassen. Der wird über Russlands neue Bündnispartner Iran und Türkei zudem anschlussfähig für den eurasischen Raum, während die USA sich unter Trump aus der aktiven Politik im mesopotamischen Raum vorläufig zurückziehen, um die Hände frei zu haben für Asien. Putin wird von der globalen Öffentlichkeit –  im Westen widerstrebend und widerwillig, versteht sich – als „neuer starker Mann“ in Syrien und Mesopotamien wahrgenommen. Man werde sehen, schränken die westlichen Kommentatoren ein, noch sei Syrien nicht wirklich beruhigt und Putin wolle nur Punkte für seine innenpolitischen Auftritte sammeln. 
  • 2017: Auf der, schon erwähnten, ASEAN-Konferenz vom November trat die neue Konstellation im globalen Kräftefeld klar zutage: Nicht nur traten China und Russland den atomaren Drohungen Trumps gegen Nordkorea entschieden entgegen. US-Präsident Donald Trump, der mit großem Einsatz versuchte, in dem entstandenen asiatischen Netz Fuß zu fassen, hatte den ASEAN-Mitgliedern nach seiner,  zugunsten der von ihm ausgerufenen Politik des „Amerika first“ vorgenommenen Aufkündigung der „Transpazifischen Partnerschaft“ (TTP) nicht viel zu bieten, so dass sie nach neuen regionalen Zusammenschlüssen suchen. Die Vision eines „Großeurasien“ erwachsend aus einem Zusammenwirken der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ und dem „Projekt Seidenstraße“ rückt in den Mittelpunkt auch des ASEAN-Staatenbündnisses. Die USA sind nicht Bestandteil dieses Prozesses, die EU ist als Handelspartner am westlichen Ende der Seidenstraße geduldet.

 

Ermutigende Perspektiven…

Man muss die aus der eurasischen Selbstorganisation zum einen und den politischen Entfremdungen und Zusammenstößen zwischen Russland und dem Westen heute entstandene Konstellation nicht überbewerten. Soviel aber ist offensichtlich: Die USA und in ihrem Schatten Europa, konkret die EU haben ihre historische Definitionsmacht als imperiale Zuchtmeister des Globus verloren. Heute kommt die Ansage zur Entwicklung Eurasiens nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten – aus Russland, aus China, aus Zentral- und Süd-Ost-Asien mit Unterstützung einer zunehmenden Zahl von Ländern, die im Aufkommen eines starken Eurasiens die Möglichkeit  sehen, sich vom Druck der ‚westlichen‘ Weltherrschaft zu befreien.  Anders als zuvor aus dem Westen kommt dieser vom Osten herkommende Impuls zur Entwicklung Eurasiens nicht als militärisch gestützter  Impuls von ‚Teile und Herrsche‘, sondern als Prozess des Sammelns und sich Verbündens, des Länder-, Kultur- und Sprachräume übergreifenden Verlangens nach gegenseitiger tatsächlicher Entwicklungshilfe, statt der Herstellung neo-kolonialer Abhängigkeiten unter dem Etikett einer solchen daher.  In dieser Entwicklung kündigt sich eine Tendenz, bescheidener gesagt, eine Chance, noch bescheidener formuliert, die Möglichkeit  für die Entwicklung einer neuen Phase der Weltpolitik an: die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Kooperation einer multikulturell vernetzten Staaten-Gemeinschaft, in der Staaten sich darauf beschränken können, sich gegenseitig zu stützen.

  

… und mögliche Störungen

Um aber nicht in Wunschträume zu verfallen, muss allerdings daran erinnert werden, dass noch nicht alle Steinchen im Spiel und noch nicht alle Möglichkeiten der Störung ausgereizt sind: Ohne in Spekulationen zu verfallen, darf  davon ausgegangen werden, dass sich die „einzige Weltmacht“ mit der jetzt entstandenen Konstellation nicht zufrieden geben wird. Ansatzpunkte, von denen aus, um im Bild zu bleiben, ein erneuter Farbwechsel im globalen Spiel, klarer gesagt, im Ringen um die kommende Rolle Eurasiens bei der Herausbildung einer neuen Weltordnung, seitens des bisherigen Hegemonen erzwungen werden könnte, sind klar zu erkennen. Sie heißen: Europa, Korea und Mesopotamien, alle drei noch von Brzezinski seinerzeit als „Brückenköpfe“ zur Eroberung des „Herzlandes“ benannt und in den zurückliegenden Jahren auch genutzt. Das wäre: Europa als Stoßkeil vom Westen her, wenn es der US Politik gelingt, die EU, insonderheit Deutschland weiter  in die Konfrontation mit Russland zu treiben und so eine Beteiligung Europas an dem „eurasischen Projekt“ zu hintertreiben; Japan, das sich von Korea bedroht fühlt, als Stoßkeil vom Osten her, wenn es gelingt, den koreanischen Konflikt im Herzen der sich erst konsolidierenden ASEAN-Staaten-Gemeinschaft weiter anzuheizen, und schließlich der mesopotamisch-afrikanische Raum als Störfeld vom Süden her, wenn es gelingt, dieses Gebiet allen aktuellen militärischen und diplomatischen Erfolgen der russischen Einsätze zum Trotz erneut zu destabilisieren.

Nicht zuletzt lebt auf westlicher Seite immer noch die Hoffnung, Wladimir Putin, der sich soeben den Anforderungen stellen muss, die aus seiner Absicht resultieren, in eine neue Phase seiner Präsidentschaft einzutreten, ungeachtet seiner außenpolitischen Erfolge über innenpolitische, vornehmlich soziale Probleme stolpern zu sehen. Genauer gesagt sogar, seine außenpolitischen Erfolge zu relativieren, zu stören, wenn möglich sogar zu zerstören, in dem Wissen, dass er für sein innenpolitisches „Rating“, das heißt, für seine zukünftige innenpolitische Handlungsfähigkeit angesichts wachsender innenpolitischer Widerstände, nicht zuletzt sozialer Art auf außenpolitische Erfolge angewiesen ist. Wenn es gelänge, Putin innenpolitisch zu destabilisieren, würde dem eurasischen Projekt ein wesentlicher Pfeiler entzogen.

Noch unberührt von  all dem ist dabei die Frage, ob das „Eurasische Projekt“, wenn es sich denn ungestört entwickeln könnte, tatsächlich zu einer neuen Ordnung führen würde, welche die nationalstaatliche Konkurrenz hinter sich zu lassen in der Lage wäre oder ob es nur der Herausbildung eines neuen Hegemonen Vorschub leistet, nämlich Chinas. Dies wäre dann ein neues Spiel nach ganz alten Regeln, über dessen Ausgang nur spekuliert werden könnte.  

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema das Buch:

Kai Ehlers, Asiens Sprung in die Gegenwart. Russland – China – Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums „Inneres Asien“., Pforte, 2006

(In dem Buch werden die grundlegenden Entwicklungslinien dieses Raumes als „Treibhaus der Evolution“ skizziert)

Zu beziehen über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel)

[2] In „The geographical pivot of history“ , siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Halford_Mackinder

[3] Deutscher Titel: „Die einzige Weltmacht“, erschienen bei  Fischer tb, 2001

[4] Sergei Karaganow, Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, u.a. in Spiegel 28/2016

 

Für eine Bearbeitung des Textes mit weiterführendem Anschaungsmaterial und Hintergrundlinks siehe:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien

Ausserdem Unzensiertes Aktuelles und Strategisches zu Russland in: http://www.russland.news/

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Zbigniew Brzezinskis Erbe – Der andere Nachruf

De mortuis nihil nisi bene – über Verstorbene nur Gutes!

Diese Regel aus der Zeit des römischen Imperiums mag auch für Zbigniew Brzezinski, eine der Ikonen des US-Imperiums gelten, der jetzt nach lebenslangem Einsatz für die amerikanische „supremacy“ im Alter von 89 Jahren verstarb. Möge er endlich den Frieden finden, den er sein Leben lang nicht finden konnte – der Nachwelt bleibt überlassen, sich mit den keineswegs friedlichen  Wirkungen seines Erbes auseinanderzusetzen, ohne ihn weiter belangen zu können.  

Die Pax  Americana war Brzezinskis Obsession – Russland, davor die Sowjetunion sein lebenslanger Gegner, der diese globale Friedensordnung gefährde. Dem  sei nur zu begegnen, so Brzezinskis Botschaft in dem  bekanntesten seiner Bücher, „Die einzige Weltmacht“, das er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrieb, wenn die USA in die Lage kämen, Eurasien zu beherrschen, d.h., Russland daran zu hindern wieder zur Weltmacht aufzusteigen.

In dieser Sicht folgte Brzezinski den „Herzland“-Schlussfolgerungen, die von den Geopolitikern Halford  Mackinder und Nicholas J. Spykmans als Essenz aus den Erfahrungen des britischen Commonwealth gezogen worden waren: Nur wer das ‚Herzland‘ beherrsche, das Zentrum Eurasiens, könne die Welt beherrschen, war ihr Fazit.

Schon vor der Veröffentlichung des Titels „Einzige Weltmacht“, das der Welt den US-amerikanischen Herrschaftsanspruch schonungslos, man könnte sogar sagen, schamlos offenlegte, schon zu Zeiten des Kalten Krieges, noch als Sicherheitsberater unter Jimmy Carter 1976, arbeitete Brzezinski systematisch auf eine Schwächung der Sowjetunion hin. Die Schwächung der Union war die Leitlinie seines Handelns. Erwähnt seien nur ein paar herausragende Stationen.

So sein Werben um China in den Jahren vor 1978. Dabei ging es ihm nicht etwa darum, China – wie sein Gegenspieler Henry Kissinger vorschlug – in ein globales Dreierbündnis USA, Sowjetunion, China zur Sicherung der globalen Stabilität einzubinden. Ihm ging es darum die Sowjetunion zu isolieren und zu schwächen. Diese Grundposition hat er bis ins seine letzten strategischen Arbeiten beibehalten.

Bekannt und immer wieder notwendig zu zitieren, weil charakteristisch für sein Verständnis von Politik, ist die unverhohlene Genugtuung, die Brzezinski  äußerte, als US-Präsident Jimmy Carter 1979 seinem Rat folgte, die Afghanischen Mudschaheddin in einer verdeckten CIA-Aktion gegen die sowjetische Invasion aufzubauen. 

Auch wenn schon oft zitiert, dürfen diese Passagen in einer Würdigung der politischen Biographie Brzezinskis nicht fehlen: „Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee“, brüstete er sich im Januar 1998 unverhohlen den Redakteuren von „Le nouvel  Observateur“ gegenüber. „Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten […]. Am Tag, an dem die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu liefern. Und tatsächlich sah sich Moskau während der folgenden zehn Jahre gezwungen, einen Krieg zu führen, den sich die Regierung nicht leisten konnte, was wiederum die Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsgebiets zur Folge hatte.“

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah Brzezinski die Zeit gekommen, die Vorstellungen einer Welt unter der Herrschaft einer „einzigen Weltmacht“ tatsächlich zu verwirklichen. Jetzt müsse die amerikanische Politik die Verantwortung übernehmen, die ihr zugefallen sei, in dem sie verhindere, dass Russland sich jemals  wieder zu einem Imperium entwickeln könne. Ihm schwebte eine Dreiteilung des russischen Raumes in einen europäischen, mittelrussischen und fernöstlichen Teil vor, eingefasst von Europa im Westen, Japan im Osten, der Türkei im Süden, die er ungeschminkt „Vasallen“ der USA nannte. Insbesondere müsse die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich nach Westen gezogen werden, weil Russland ohne die Ukraine nicht wieder zum Imperium werden könne.

Im Übrigen müsse die US-Politik weltweit dafür sorgen, dass sich kein neuer Rivale entwickeln könne, der die Herrschaft der USA in Frage stellen könne. Nur so könne ein globales Chaos verhindert und die Entwicklung einer demokratischen Weltordnung möglich werden. Das war die Aufgabenbeschreibung für die USA als Weltpolizist. Grundlage dafür sah Brzezinski im „American Way of Life“ als der in seinen Augen gegenwärtig höchsten Zivilisationsstufe.

Bekanntlich liefen die Dinge nicht ganz so, wie Brzezinski sich das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhofft hatte. Andere Kräfte, als die von ihm favorisierten, bestimmten die US-Politik nach seinem Ausscheiden aus den Diensten Carters. Nicht einverstanden war er mit dem Golfkrieg 1990, mit dem von G.W. Bush vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Terrorismus nach 2001, mit der Invasion in den Irak 2003. Nicht einverstanden war er mit der Politik gegen den Iran wie auch mit der Destabilisierung Syriens unter Barack Obama. Er war der Ansicht, dass mit diesen Aktivitäten, die der Strategie des „new american century“ der Neo-Konservativen folgten, das Ansehen in der Welt verspielt  werde, das die USA nach und durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gewonnen hatten.

Auseinandersetzen musste Brzezinski sich nach 9/11 2001 andererseits mit Kritikern, die ihm vorhielten er habe durch seine Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin den islamistischen Terror in die Welt gerufen. Das ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die USA – seinem Rat folgend – Osama Bin Laden und die Seinen mit Waffen und Logistik in Afghanistan ausrüsteten. Die Bilder, wie er voller Stolz, Osama Bin Laden persönlich Waffen aushändigt, gingen durch die Welt.

Entsprechend dieser Misstöne und katastrophalen Ergebnisse der tatsächlichen US-Politik fielen die Bücher, mit denen Brzezinski nach dem Erscheinen von „Die einzige Weltmacht“ auf die US-Politik einzuwirken versuchte, sehr viel weniger euphorisch aus.

In „Second Chance“ legte er 2006 eine vernichtende Bilanz zur Amtszeit der drei Präsidenten vor, die dem sowjetischen Zusammenbruch gefolgt waren: Der ältere Bush, George Bush, von Brzezinski knapp Bush I benannt,  habe es nicht verstanden, mit dem Pfund zu wuchern, das ihm durch den Zusammenbruch der Sowjetunion zugefallen sei, sein Nachfolger Bill Clinton habe die amerikanischen Möglichkeiten überschätzt, der jüngere George W. Bush, bei Brzezinski Bush II,  habe das Ansehen, dass die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als einzige verbliebene Supermacht und erstes globales normsetzendes Imperium gewonnen hätten und die Ressourcen des Landes auf kriminelle Weise verspielt. 

Zudem sei die Sozial- und Bildungspolitik unter der Präsidentschaft der drei Genannten, speziell der von Bush II auf ein Niveau gefallen, auf dem mit der eigenen Bevölkerung keine Weltpolitik zu machen sei. Nur wenn diese Fehler erkannt würden, warnte Brzezinski, könne es für den Erhalt der US-Weltmacht noch eine zweite Chance geben.

Das nächste und letzte Buch Brzezinskis, 2012 vorgelegt, befasst sich unter dem Titel „Strategic Vision. America and the Crisis of Global power“ dann schon nur noch mit den Fragen, was aus dem Niedergang der amerikanischen Dominanz vor dem Hintergrund heraufkommender neuer Mächte und dem allgemeinen „Erwachen der Völker“, die die amerikanische Vorherrschaft in Frage stellen, folgen könnte. „In der Tat“, warnt Brzezinski im Geleitwort zu diesem Buch gar, „es gibt da  mehrere alarmierende Ähnlichkeiten  zwischen  der Sowjetunion in den Jahren direkt vor  ihrem Zusammenbruch und dem Amerika  im frühen 21 Jahrhundert.“ Das war nicht nur ein Abgesang auf die Allein- sondern überhaupt auf die Vorherrschaft der USA.  

Nichtsdestoweniger zieht sich auch durch diesen letzten strategischen Beitrag sowie durch die letzten Auftritte Brzezinskis der antirussische Faden – aggressiver als je zuvor bis hin zu Brzezinskis offenen Eintreten für den aktiven Regimechange in der Ukraine auf der ‚Sicherheitskonferenz‘ 2014, die den ‚revolutionären‘ Ereignissen auf dem Kiewer Maidan 2014 voranging. Auf dieser Konferenz war Brzezinski noch einmal einer der entscheidenden Stichwortgeber.

Die Intervention folgte nahezu drehbuchartig seinen Vorgaben – lief dann allerdings, wie viele andere US-Interventionen zuvor aus dem Ruder. Zwar fand sich Brzezinski nicht zu dumm, Wladimir Putin wegen dessen positiver Aufnahme des Krim-Referendums und seiner Unterstützung der Autonomiebestrebungen im Osten der Ukraine einen neuen Hitler zu nennen, forderte auch die Ausrüstung der Ukraine mit Waffen seitens der NATO – sprach sich aber gegen eine Mitgliedschaft Kiews in der NATO und der EU aus.

Das Ergebnis der US-Intervention in der Ukraine entsprach und entspricht bis heute nicht dem, was Brzezinski sich von ihr erhofft hatte, nämlich, ein attraktives Zeichen zu setzen, dass auch die russische Bevölkerung dazu anreizen sollte, sich ihres ‚Diktators‘ zu entledigen und den Modernisierungen und der ‚entwickelteren‘ Kultur des Westens zuzuwenden und so den ‚Herzraum‘ Eurasiens für den Westen, konkret die USA zu öffnen.

O-Ton Brzezinski: „Eine Ukraine, die Russland nicht feindlich gegenübersteht, aber ihm in ihrem Zugang zum Westen etwas voraus ist, ist eine tatsächliche Ermutigung für Russland sich nach Westen in Richtung einer möglichen lohnenden europäischen Zukunft zu bewegen.“

Das Gegenteil ist geschehen. Die Ukraine wurde für die russische Bevölkerung zum abschreckenden Beispiel, wohin Westbindung führen kann. Statt „lohnender“ Annäherung an den Westen, wurden die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union nachhaltig beschädigt, schart sich die russische Bevölkerung eng um Wladimir Putin, ungeachtet innenpolitischer Kritiken, als dem Garanten ihrer Stabilität und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Ein Präsident Trump zudem, statt die Attraktivität des „american way of life“ in der Welt zu erneuern, trägt mit jeder seiner Aktivitäten weiter zur Misskreditierung des amerikanischen Traums bei, so dass an eine Eroberung des ‚Herzlandes‘ auf friedlichem, zumindest nicht militärischen Wege weniger zu denken ist als je zuvor.

Ob die US-Hardliner sich damit zufrieden geben werden, ist eine Frage, die nunmehr über Brzezinski hinausgeht.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Weitere Informationen zu Brzezinskis Wirken

Auf der Website: www.kai-ehlers.de unter Stichwort Brzezinski

Erhellend auch die Videos zu Brzezinskis Afghanistan-Einsatz auf Kritisches Netzwerk

Endlich eine Opposition in Russland?

Mehr als sechzigtausend Menschen auf Russlands Straßen gegen Korruption und Bürokratismus, davon die Hälfte unter dreißig Jahre alt – ist das eine neue Opposition?

Wünschenswert wäre es ja, wenn in Russland eine Opposition heranwüchse, die der Staatsführung das Recht auf Selbstbestimmung, basierend auf einer für alle gleichermaßen gesicherten Existenz abfordern könnte, denn das ist, bei allen Erfolgen, auf die Wladimir Putin verweisen kann, unverkennbar die Schattenseite der von ihm eingeführten vertikalen Stabilität.

Aber ist das, was nach den gegenwärtigen Protesten gegen Korruption als Opposition in den westlichen Medien dargestellt wird, dazu angetan, einen solchen Impuls in die Wirklichkeit zu bringen? Darin sind sich selbst diejenigen, die jetzt das Hohelied eines nach Freiheit verlangenden Jugendprotestes singen, keineswegs einig.

 

Kaum soziale Parolen

Auffallend, wie schon bei früheren vergleichbaren Massenprotesten, zuletzt denen anlässlich der Wahlen 2012,  ist auch jetzt wieder, dass neben Forderungen wie  „Nieder mit …“ kaum weiterführende politische oder gar soziale  Forderungen laut wurden. Dieses Mal wurde der Ruf „Nieder mit Putin“ sogar noch durch den quasi stellvertretenden Ruf „Nieder mit Medwedew“ ersetzt. Dies alles geschieht zudem zu einer Zeit, in der Putin von einem Rating zwischen 70 und 80, aktuell sogar 81 Prozent getragen wird.

Auffallend ist in der Tat, dass  überraschend viele Jugendliche an diesen jüngsten Protesten teilnahmen. Aber wie russische Soziologen durchaus richtig bemerkten, könnten die aktuellen Straßenaktionen Strohfeuer sein, die heute aufleuchten und morgen so schnell zurückfallen, wie sie hochgekommen sind, mit einem Wort, sie könnten sich als Facebookproteste erweisen, die keine über den Moment hinaus gehende Basis und über das bloße Treffen hinausgehende Zielvorstellungen haben.

Zudem stehen die Proteste auf dem sehr fragwürdigen Boden einer Kampagne, die mehr Indizienketten als Tatsachen für die Verfehlungen liefert, die Medwedew angelastet werden. Wie fragwürdig die Kampagne letzten Endes ist, muss darüber hinaus jedem deutlich werden, der bedenkt, dass Alexei Nawalny, ihr Initiator – durch ihn selbst mit dem Hinweis bestätigt, dass anders eine solche Kampagne im autoritären Russland nicht möglich sei – wesentlich von den USA unterstützt wird. Das ist Hilfe ausgerechnet von der Seite, die in der Person Donald Trumps als neuem Präsidenten Korruption und Clanwirtschaft öffentlich zum Prinzip erhebt.   

Was sind denn – selbst wenn man der Spur des von Nawalny vorgelegten Materials folgen könnte – ein paar über Mittelsmänner gehaltene Villen Dimitri Medwedews in Sotschi oder Italien, was ist selbst die Putin nachgesagte Begünstigung seiner früheren Petersburger Seilschaft gegen das offen zur Schau getragene globale Beziehungsgeflecht des Trump-Clans, der jetzt die USA regiert? Da könnte die Kampagne, wenn die von ihr Aufgerufenen den Kampf gegen Korruption nicht nur lokal, sondern prinzipiell  angehen, den Aktivisten Nawalnys sehr schnell auf die eigenen Füße fallen.

 

Event oder soziale Bewegung?

Aber wie auch immer – das eigene Land ist nicht Amerika, also äußert sich der Unmut über die heutigen Verhältnisse zunächst einmal in der eigenen Realität.  Das gilt vor allem für die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der aktuellen Proteste. Wenn sich  daraus mehr entwickeln sollte als ein paar spannende Events,  wäre das gut; kaum etwas wäre wichtiger für Russlands weitere Entwicklung als eine politisch erwachende Jugend.

Nach allen Erfahrungen mit bisherigen Protesten in Russland ist es allerdings eher ungewiss, ob aus der gegenwärtigen Anti-Korruptions-Kampagne mehr entsteht als ein kurzfristiges Aufschäumen,  auch wenn es Nawalny, unterstützt vom Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, von dem ehemaligen Schachweltmeister Garry Kasparow und anderen vom Ausland her agierenden, ihrem Verständnis nach liberalen langjährigen Putin-Gegnern gelingen sollte über kurzfristige Mobilisierungen hinaus langfristig eine oppositionelle Bewegung zustande zu bringen –– es sei denn, die Staatsmacht bliese die Funken der gegenwärtigen aktuellen Proteste durch Repression zu einem offenen Brand auf. Hier ist natürlich Raum für Provokationen von allen Seiten.

Basis für einen solchen Brand wäre allerdings durchaus gegeben, wenn sich die eher spielerischen Facebook-Proteste gegen Korruption mit existenziell begründeten sozialen Protesten in verschiedenen Gegenden Russlands verbänden.  Zu nennen ist da genug. Da sind die Bereiche Bildung – zu geringe Bezahlung der Lehrkräfte, schlecht ausgerüstete Schulen; Gesundheit – trotz immer noch garantierter Grundversorgung eine Zweiklassenmedizin; Justiz – Willkürurteile im Interesse der Reichen; Wohnungswesen – mangelnder zu teurer Wohnraum, aktuell die geplante Zwangssanierungen großen Stils in Moskau, die zu Lasten der Bewohner zu gehen drohen;  seit Jahren landesweit streikende Fernfahrer; Kleinbauern, die gegen Landraub protestieren; Rentner, die Renten fordern, von denen sie leben und nicht nur vegetieren; Arbeiter, die immer wieder für die Auszahlung ausstehende Löhne kämpfen müssen.

Kurz, viele Dutzend Einzelaktionen und –proteste finden zur gleichen Zeit im Lande parallel  zu der von Nawalny  und seinen ausländischen Freunden mobilisierten Kampagne statt. Wenn die Nawalny-Kampagne und diese sozialen Proteste sich miteinander verbänden, dann könnte daraus ein Flächenbrand entstehen – wenn, dann.  

 

Verschiedene oppositionelle Wellen

Die so entstandene Situation gibt Anlass darüber nachzudenken, was in Russland Opposition ist, wenn man nicht schematisch für den Westen geltende Verhältnisse und Vorstellungen auf Russland übertragen will. Da kann ein Blick zurück in die neuere russische Geschichte helfen. In deren Verlauf gingen sehr verschiedene Wellen von Opposition durch das Land und es macht Sinn sich diese Wellen in ihrer Unterschiedlichkeit in Erinnerung  zu rufen.

Da haben wir – noch im Übergang von der Sowjetunion  in das nachsowjetische Russland – die Opposition Michail Gorbatschows, das heißt, der unteren Parteiebene gegen die konservativen Kräfte des Politbüros. Das war der Versuch, jene Kräfte im Lande an die Schalthebel kommen zu lassen, die unzufrieden waren mit der Knebelung der Initiative, und diese Unzufriedenheit in Politik umzusetzen. Diese Opposition hatte eine breite, historisch gewachsene Basis in der Bevölkerung und sie wurde unterstützt von Kräften an der Spitze der Partei, die die Krise des Landes erkannt hatten. Es ging um die Befreiung  der persönlichen Handlungsfreiheit vom Joch der kollektivistischen Bevormundung. Von interessierter Seite wurde diese Opposition sogar Revolution genannt. Ihr Ergebnis ist bekannt. Sie führte die Sowjetunion zuerst in die Euphorie, dann ins Chaos.

Die nächste oppositionelle Bewegung war die von Boris Jelzin geschürte im Jahr 1991, die zur Ablösung Gorbatschows durch Jelzin führte. Als die erste Welle der Reformen aus dem Ruder zu laufen begann und Gorbatschow sich zum Bremser wandelte, trat Jelzin auf das Gaspedal. Unter den Parolen „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“ mobilisierte er die Unzufriedenheit der Bergarbeiter, die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Republiken, die Ungeduld der Städter, denen die Umwandlung nicht schnell genug gehen konnte.  Das „Programm der 500 Tage“ mobilisierte eine breite Opposition, vor allem in den größeren Städten,  gegen die Mächte der Beharrung. Ergebnis war der Zerfall des Landes, des Imperiums als Ganzem wie auch der inneren staatlichen und sozialen Strukturen der gesamten Gesellschaft.

Dagegen erhob sich 1993 eine dritte Welle der Opposition, diesmal ganz anderer, konservativer Art:  Eine stark motivierte, allerdings äußerst heterogene Bewegung verschiedenster Kräfte wandte sich gegen die Zwangs-Privatisierung der Jelzin-Administration, forderte zumindest eine langsamere Gangart, vermischt mit national-patriotischen Tönen, die sich gegen eine Okkupation des Landes durch den Westen wandten. Der Widerstand war aber kein allgemeiner mehr wie in den Jahren zuvor; die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf den Kongress der Volksdeputierten, das halbdemokratische, noch aus der sowjetischen Parteistruktur entstandene Volks-Vertretungs-Organ, das Gorbatschow eingeführt hatte. Jelzin ließ diesen Widerstand im Haus des Deputiertenkongresses, heute ‚Weißes Haus‘ genannt, von Panzern zusammenschießen. Mindestens 120 Menschen fanden dabei den Tod.

 

Präsidialverfassung statt Opposition

Nach diesen Ereignissen war der Widerstand gegen die Auflösung der Sowjetunion, insbesondere gegen die Privatisierung im Lande gebrochen, die Bevölkerung müde. Die von Jelzin eingeführte Präsidialverfassung fixierte die neu entstandene Lage. Er regierte  von da an über Verordnungen. Weder auf alltäglicher, im weitesten Sinne gewerkschaftlicher Ebene noch in der von Jelzin entmachteten kommunistischen Linken konnte sich eine nennenswerte Gegenkraft bilden. Opposition  reduzierte sich auf kommentierende Parteiauftritte in dem neugebildeten Parlament, der Duma, die an die Stelle des Deputiertenkongresses getreten war. Neu-Sozialistische und radikaldemokratische Reformansätze blieben Splittergruppen außerhalb der Duma. 

Eine Opposition, wenn man es so nennen möchte, fand Jelzin allein in den strukturellen Machtkonstellationen des Landes, den eigenmächtig agierenden Oligarchen, die zu Ende seiner Amtszeit mit dem einflussreichsten von ihnen, Wladimir Beresowski, als Sicherheitsberater an der Spitze faktisch eine Schattenregierung bildeten, mit den von Moskau aus kaum zu kontrollierenden Gebietsfürsten in den Republiken, mit den Tendenzen der Sezession, in denen sich  der Zerfall der Sowjetunion auf dem Gebiet des neuen Russland fortzusetzen drohte. In den zwei Tschetschenienkriegen (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) fand dieser Konflikt seinen exemplarischen und für das neue Russland existenziellen Ausdruck.

 

Putins Einstieg: Tschetschenien

Die Tschetschenienkriege kennzeichnen aber zugleich auch den Übergang aus der Phase des Zerfalls in die der Konsolidierung. Der zweite Tschetschenienkrieg ist mit dem Namen Wladimir Putins untrennbar verbunden. Die Beendigung der tschetschenischen Sezession gab ihm die stabile Machtposition, von der aus er die Kräfte des Landes neu zusammenzuführen konnte. Das war die Disziplinierung der Oligarchen, die Einführung vertikaler Verwaltungsstrukturen in den in Republiken auseinanderstrebenden Organismus des Landes und nicht zu vergessen die Unterwerfung der Gewerkschaften unter ein rigides Arbeitsgesetz. Damit war die strukturelle Opposition aus der Zeit Jelzins in einen Konsens eingebunden, der Modernisierung und Wiederaufbau zusammenführte. Putin war und ist der Manager dieses Konsenses.

Ergebnis war, allgemein gesprochen, eine Differenzierung der nach-sowjetischen russländischen Gesellschaft, in welche die raue Klassenwirklichkeit wieder einzog. Die Schroffheit dieser Entwicklung wurde dadurch gemildert, dass es Putin gelang die Oligarchen dazu zu veranlassen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen und in bescheidenem Maße wieder in die sozialen Verpflichtung einzutreten, die sie zuvor im gewerkschaftlichen, kommunalen und regionalen Bereich wahrgenommen hatten, als das gesellschaftliche Leben noch von den Betrieben her organisiert war.

 

Jelzins alte Garde in der Opposition

Solange diese Entwicklung zu einem allgemeinen Ansteigen des Lebensniveaus führte, verhielt die Bevölkerung sich ruhig,  weil sie – wenn auch auf niedrigem Niveau – einen gewissen Anstieg der sozialen Sicherung gegenüber der Zeit Jelzins erlebte.

Als neue Opposition entwickelte sich jetzt aber die aus den Ämtern verdrängte liberale Schicht der Jelzinzeit, allen voran mit Vertretern wie Boris Nemzow, groß geworden als Privatisierungsspezialist in Nischni Nowgorod, daraufhin Minister unter Jelzin, Gary Kasparow und anderen Liberalen. Finanziert wurden ihre Kampagnen anfangs von Beresowski, der sich nach London abgesetzt hatte, später von Chodorkowski im Lande selbst. Chdorkowski steht erklärtermaßen jetzt auch wieder hinter den aktuellen Protesten, inzwischen vom Ausland her wie seinerzeit Beresowski.

Die Liberalen entwickelten eine Daueropposition gegen Putin, fanden aber in der Bevölkerung keinen Rückhalt,  bis dahin, dass sie selbst in der Duma nicht mehr vertreten waren. Sie gingen stattdessen zu einer außerparlamentarischen Provokationsstrategie über, in der sie sich bemühten, den ‚Putin-Staat‘ mit Gesetzesübertretungen, vor allem mit Durchführung nicht genehmigter Demonstrationen zum Eingreifen zu veranlassen und so als autoritär vorzuführen.  

So dümpelten die Kräfte während der ersten Amtszeit Putins vor sich hin, auf der einen Seite eine mit dem sozialen Gesunden, teils auch nur Überleben beschäftigte Bevölkerung, auf der anderen die kleine liberale Minderheit, die sich mit einer nicht abreißenden Serie von provokativen Straßenaktionen den Rücktritt Putins forderten – ohne ihrerseits ein anderes Programm als den Ruf nach dem Wiedereintritt der Jelzinschen Verhältnisse, ohne irgendein Programm zur Lösung der sozialen Probleme anzubieten.   

Eine Zäsur brachte das Jahr 2005/2006, als die Regierung Putin einen entscheidenden Schritt in der Monetarisierung von Sozialleistungen vorangehen wollte. Rentner, Schüler und Lehrer gingen dagegen auf die Straße, sodass die Regierung es vorzog, diese Maßnahmen als ganzes Paket zurückzunehmen und in ein Programm der schrittweisen Umsetzung umzugießen. Eine Bewegung konnte so nicht entstehen.

Eine weitere Zäsur wurde das Jahr 2011/12. Mit ihren Protesten gegen Wahlfälschungen trat erstmalig die neu entstandene Mittelklasse Russlands aktiv in Erscheinung. Auch zu der Zeit jedoch nicht mit sozialen Forderungen, sondern über die Kritik an Wahlfälschungen hinaus vor allem mit Forderungen nach mehr persönlicher Freiheit auf unterschiedlichsten Gebieten. Russische Analytiker – wie der Reformsozialist Boris Kagarlitzki – erklärten damals, dass man die Ursache für  diese Orientierung darin sehen könne, dass diese Mittelklasse, vor allem die städtische, zu der Zeit zu einem gewissen Wohlstand gekommen, nunmehr nach mehr politischer Bewegungsfreiheit, Reisefreiheit etc., verlangte, aber die soziale Lage im Lande überhaupt nicht im Blick hatte.

Putin trat dem seinerzeit mit einem Programm entgegen, das einen „Zukunftsdialog“ zwischen Regierung und Bevölkerung vorschlug. Endlich aufgegriffen würden jetzt, ließ er verlauten, die schon nach den Protesten von 2005 verkündeten, aber nicht durchgeführten, „nationalen Programme“, also Maßnahmen zur Förderung „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie  der Landwirtschaft. Darüber hinaus sollte die Verwirklichung der ausstehenden Rentenreformen endlich eingeleitet werden. Dies alles müsse zugleich mit einer Stärkung Russlands gegen die äußeren Bedrohungen durch die aus dem Gleichgewicht geratende Weltordnung verwirklicht werden.

Das außenpolitische Ziel Russland wieder stark zu machen und als Krisenmanager in die Weltpolitik einzubringen, konnte Putin weitgehend verwirklichen. Innenpolitisch sind die meisten Dinge, die er damals versprach bis heute offen. Ja mehr noch, nach dem Fall des Ölpreises ist die innenpolitische Situation merklich schwieriger geworden, besonders auf dem Lande. Die Übernahme der Krim, die Unterstützung des ukrainischen Ostens, die Einsätze in Syrien sowie die Sanktionen, mit denen Russland vom Westen belegt wurde, sind weitere Faktoren, die das Land unter Druck gebracht haben und weiter bringen.

Zwar zeigt das Rating von 81 Prozent für Putin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung dem Präsidenten noch immer, mehr sogar als nach den Wahlen 2012 vertraut, auf Dauer lassen sich die bisher  nicht eingehaltenen Versprechungen auf innenpolitische Reformen jedoch nicht durch äußere Erfolge kompensieren.

Wenn nach der relativen innenpolitischen Ruhe der letzten Jahre jetzt die Perspektive aufscheint, auch wenn darin nur eine blasse Möglichkeit liegt, dass die aktuellen Proteste der Navalny-Kampagne sich mit den sozialen Unruhen zu einer Bewegung verbinden könnten, sieht Putin sich vor die Herausforderung gestellt, sich den vernachlässigten innenpolitischen Problemen jetzt  erkennbar zuzuwenden. Jetzt muss er definitiv ein Programm vorlegen, das sich der so lange offen gebliebenen Fragen annimmt, wenn er soziale Verwerfungen in der nächsten Amtsperiode, für die er sich inzwischen  erneut zur Wahl gestellt hat, überstehen will.

Es scheint, dass er sich dessen bewusst ist, denn er hat bereits die Erarbeitung eines umfassenden Reformprogramms für die Zeit nach der Wahl 2018 in Auftrag gegeben. Wohin dabei sein Würfel rollt, in Richtung des ehemaligen Finanzministers Alexei Kudrin, eines erklärten Liberalen mit entsprechenden neo-liberalen Perspektiven oder zu Sergei Glasjew, der eher konservative Vorstellungen vertritt, oder zu einem Mittelweg zwischen beidem, und wie das konkret aussehen kann, ist dabei allerdings noch ganz offen. Die letzte Entscheidung liegt möglichweise entgegen allen öffentlich zurzeit vorgebrachten Vermutungen nicht bei Putin allein, sondern in der Frage, wie sich die Protestkultur im Lande weiter entwickelt. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die ‚Macht‘, auch hier nicht nur Putin, klug genug und bereit ist, Repressionen zu vermeiden, konkret auch Nawalny als Kandidaten in der Reihe der Prätendenten für die bevorstehende Präsidentenwahl zu akzeptieren und den versprochenen offenen Dialog zu suchen, der nach 2005 und auch nach 2012 noch nicht wirklich stattgefunden hat.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Siehe hierzu die beiden Bände:

  • Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, Laika, 2014/15
  • Kai Ehlers, Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte, 2005

Bezug über den Buchhandel oder direkt über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

Trump und Co – Unberechenbarkeit als Prinzip? Die andere Osterbotschaft

Donald Trumps unberechenbare Wendemanöver beunruhigen die Weltgemeinschaft. Der Kampf um die Erhaltung der US-amerikanischen Vorherrschaft nimmt irrationale und existenzielle Formen an: Raketenangriff auf Syrien, Megabombe in Afghanistan, Interventionsdrohungen gegen Nordkorea. Was demnächst? Eine strategische Linie ist nicht erkennbar außer Demonstrationen von „Entschlossenheit“.

Fragt sich, Entschlossenheit wozu? Sind die USA unter Trump bereit, den von vielen Menschen befürchteten finalen Crash zu riskieren, um ihre Vormacht zu halten? Sind die Europäer und die übrigen Staaten der Welt bereit, das Risiko mit zu tragen? Wofür? Gegen wen? Was gibt es zu retten?

Betrachten wir die entstandene Situation  aus der Sicht der frühen Kritiker des Kapitalismus, dann finden wir vielleicht einen Zugang zur Beantwortung dieser Fragen:

„Der moderne Arbeiter,“ schrieben die Verfasser des Kommunistischen Manifestes, Karl Marx und Friedrich Engels dem entstehenden Kapitalismus 1848 als Schlusswort ihrer Analyse ins Stammbuch, „statt sich mit dem Fortschritt der Industrie  zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus  entwickelt sich  noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.  Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die beherrschende Klasse  der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen  ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen, Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb  seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“

Es folgt das bekannte Schlusswort: „Die Bedingung  des Kapitals ist die Lohnarbeit.  Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz  der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung  der Arbeiter durch die Konkurrenz  ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwickelung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“[1]

 

Absehbare Revolten

Nun vereinigt die heutige industrielle Entwicklung die Arbeiter und die Belegschaften von Betrieben immer weniger in revolutionären Assoziationen, sondern bringt stattdessen in steigendem Maße individualisierte Arbeitsprozesse hervor, die zugleich immer Menschen als nicht mehr benötigte ‚Überflüssige‘ freisetzen, als Subproletariat aussondern. Zugleich wächst die Erdbevölkerung von jetzt bereits acht Milliarden Menschen um rund achtzig Millionen Menschen jährlich.  Daraus erwächst für  die herrschenden Verhältnisse eine noch fundamentalere Gewissheit ihres drohenden Unterganges, wenn anstelle der von Marx prognostizierten „revolutionären Assoziation“ Revolten atomisierter, entwurzelter  Individuen treten, in denen sich die blanke Überlebensnot gewaltsam Bahn bricht – nicht zuletzt in Formen eines hilflosen, ziellosen Terrorismus.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Donald Trumps Poltern als Vertreter der Vormacht des an seine Grenzen stoßenden Kapitalismus seine Bedeutung. Vor diesem Hintergrund werden auch die ‚verständnisvollen‘ Kommentare zu den ‚entschlossenen‘ Maßnahmen seiner Politik wie etwa die der deutschen Kanzlerin, aber auch die zurückhaltenden Reaktionen anderer westlicher Staaten als das transparent, was sie ihrem Wesen nach sind: als Versuch, den absehbaren Untergang der herrschenden kapitalistischen Weltordnung mit allen Mitteln und sei es militärisch aufzuhalten. Zweimal ist dieser Versuch unter ungeheuren Opfern gelungen; erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg. Stehen wir jetzt vor dem nächsten, vielleicht letzten Versuch?

 

Die Offenbarungen Trumps

Die Aktivitäten des neuen US-Präsidenten lassen solche Befürchtungen in die Wahrscheinlichkeit treten. Aber es ist nicht  etwa so, dass Donald  Trump, wie manche Zeitgenossen meinen, durch seine Unberechenbarkeit eine völlig neue Qualität der US-Politik präsentierte, indem er die Kriterien, nach denen diese Politik betrieben wird, undurchschaubar macht. Nein, im Gegenteil, er offenbart nur den tatsächlichen Charakter der US-Politik in ihrer nackten nationalistischen Egozentrik.

Fraktionierung der Weltgemeinschaft nach dem Prinzip ‚teile und herrsche‘, Politik des ‚Regime Changes‘, all dies ist ja nicht neu. Auch die Willkür, mit der die US-Politik ihre Ziele durchsetzt, ist nicht neu. Es ist nur so, dass unter Trump die Rücksichten, die unter Obama noch genommen wurden, jetzt fallen gelassen werden, sei es weil Trump keine Ahnung davon hat, wie Diplomatie funktioniert, ja, nicht einmal als Demagoge geschickt genug ist, sich zu verstellen, sei es, dass es ihm vollkommen gleich ist oder weil er einfach provozieren will.  

Der entscheidende Punkt ist, dass unter Trump Weltpolitik nach dem Prinzip einer US-Unternehmensführung betrieben wird,  ‚hire and fire‘. Wer mir nicht nützt, wird gefeuert. Das war schon das Prinzip unter George W. Bush. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das  war unter Barack Obama im Grunde nicht anders, nur leicht verdeckt, weil die USA durch die Politik, die Bush angelegt hatte, zu stark in die Isolation gekommen waren.

Im Prinzip wurde das Durchstechen, der Alleingang der US-Politik von Obama nur auf eine technische Ebene gehoben, weg von der sichtbaren und demonstrativ vorgeführten plumpen Intervention auf die Ebene des weniger sichtbaren, heimlichen, ‚sauberen‘ Drohnenkrieges. Mit dem Drohnenkrieg ging die amerikanische Politik unter verbindlichem Lächeln ihres Präsidenten zu direkter Liquidation der von ihr zu Gegnern erklärten Personen über, klar gesagt, zu globaler Lynchjustiz unter Missachtung jeglicher völkerrechtlicher Regeln.

 

Neue Formen des Krieges

Lassen wir also die moralische Empörung, die sich an Trumps persönlichen Mängeln als ‚unerhört‘, ‚unverantwortlich‘ und dergl. abarbeitet, beiseite und schauen wir, was konkret passiert.

Konkret passiert nichts anderes, als dass die USA in ihrer Situation der niedergehenden Weltmacht wie ein wildes Tier um sich schlagen, so wie, um ein altes Bild aus der chinesischen Politik zu gebrauchen, der Tiger, der in die Enge getrieben wird, um sich schlägt. 

Aber was bedeutet das? Bedeutet das, dass wir morgen den großen, den dritten Weltkrieg zu erwarten haben? Vermutlich trotz allem nicht, nicht in der Art jedenfalls, die wir von den beiden großen vorangegangenen Weltkriegen kennen. Nur kann dies keine Entwarnung sein. Unsere Vorstellungen vom Krieg müssen neu gedacht werden. Es muss neu wahrgenommen werden, wie Krieg heute geführt wird. Heute geht es nicht mehr um Landnahme, wie noch im zweiten Weltkrieg, wie selbst noch unter Bush, der in den Irak einmarschieren ließ. Alles Gerede, von wegen ‚einmarschieren in Syrien oder nicht einmarschieren‘, kann man getrost als hohle Propaganda beiseitelassen. Darum geht es nicht. Heute geht es darum, die möglichen Gegner zu diffamieren, klein zu machen, einzudämmen, zurück zu drängen, zu schwächen, seine Gesellschaft lahm zulegen und zu spalten, Unfrieden zwischen ihnen zu schüren, damit  sie sich möglichst gegenseitig bekämpfen etc. pp.

Den großen Krieg zu führen, das hieße den Atomkrieg zu riskieren. Das wäre der totale Widersinn auch für die, die einen solchen Krieg beginnen sollten. Widersinnig bleibt es selbst unter der Voraussetzung, dass heute ‚nukes‘ existieren, deren Einsatz örtlich begrenzbar ist. Ein solcher Einsatz müsste in jedem Falle eine Eskalation nach sich ziehen.  

Schauen wir genau hin: Das Gerede um die Modernisierung der NATO:  Was wird da modernisiert? – Modernisiert wird die NATO als Kriseninterventionsinstrument im globalen Maßstab, auf der Ebene des Cyberkrieges, des Internetkrieges, des Weltraumkrieges, des sog. ‚hybriden Krieges‘, das heißt, des  entgrenzten, vielstufigen Krieges. Was sich heute entwickelt, ist der unerklärte Krieg, in dem Krieg oder Frieden fließend ineinander übergehen, in dem nicht mehr klar zu unterscheiden ist, wo Frieden aufhört und wo Krieg schon begonnen hat. Der Krieg beginnt bereits im Kindergarten, in der Schule, in den Medien, in der Propaganda, in der Wirtschaft. Er steigt über all diese Ebenen hinein bis in die sog. „Innere Sicherheit“, bis in die Generalprävention gegenüber einer täglich beschworenen globalen Bedrohung.

 

Irreführende Feinderklärungen

Von wo kommt die Bedrohung? Von Russland? Von China? Vom Islam? Von Korea? Vordergründig mag das so scheinen. Langfristig gesehen kommen die Bedrohungen jedoch nicht von Russland, nicht von China, erst recht nicht von Korea. Jedenfalls nicht primär. Diese Konflikte sind konjunkturell und können geregelt werden, wenn man sich einig ist in der Hauptsache. Die Hauptsache aber heißt: Die eigentliche Bedrohung kommt aus der Masse der Menschen, die heute aus den Industriegesellschaften ausgegrenzt werden. Hier hat denn auch die Kritik ihre tiefere Ursache, die von den wichtigsten der heutigen ‚player‘, also von Russland, ebenso wie von China gegen die US-Politik vorgebracht wird, nämlich, dass die USA nicht bereit seien, gemeinsam gegen ‚den‘ Terrorismus vorzugehen.

‚Gemeinsam gegen den Terrorismus‘ heißt im Kern eben nichts anderes, als gemeinsam gegen die Unterprivilegierten, die Ausgestoßenen, die in ihrer Ohnmacht, Wut  und Verblendung zu Terror greifenden  Minderversorgten und zivilisatorisch Zurückgestauten vorzugehen, um sie niederzuhalten, sie wenn nötig nieder zu bomben. Da liegt das Ziel der NATO, die sich anschickt eine Weltorganisation zur Krisenprävention werden zu wollen. Da liegt die eigentliche Struktur, um die es heute geht – lokal wie global. Hier sei nur an Sbigniew Brzezinskis Warnungen vor dem „awakening of people“, dem Erwachen der Völker und Personen  erinnert.[2] Alles andere sind vordergründige Techtelmechtel, sind Ablenkungen, Ersatzkämpfe, auch wenn sie brutal daherkommen und immer wieder die Schlagzeilen der Presse füllen.

Was heute heranwächst, sind Stellvertreterkriege einer ganz neuen Art, Abwehrkämpfe einer zum Untergang verurteilten Ordnung, die nach dem Gießkannenprinzip weltweit  inszeniert werden. Im Kern geht es um die Millionen, besser wohl sogar zu sagen, die Milliarden der ‚Überflüssigen‘. Milliarden Menschen, die nach Teilhabe verlangen, welche ihnen in zunehmendem Maße verwehrt ist, lassen sich ja nicht einfach mit einem großen Krieg auslöschen, bei dem das Risiko besteht, dass die herrschenden Kreise selbst mit untergehen. Nein, die Ausgegrenzten müssen propagandistisch so eingelullt, so in Angst versetzt, so eingeschüchtert werden, dass sie eine manipulierbare Masse werden, in der sich die ‚Überflüssigen‘ möglichst noch gegenseitig dezimieren. Die dazu langfristig angelegten Präventionsstrategien in ihrer Abstufung von der Indoktrination bis zur Bombe sind die eigentliche Kriegführung von morgen – und schon heute erkennbar. [3]

Der Wunsch nach Grundversorgung, nach Selbstbestimmung, nach Autonomie, nach anderen als den kapitalistischen Beziehungen ist der eigentliche Gegner der gegenwärtigen Großmächte. Diese Bestrebungen unten zu halten, darin sind sich die Führungen der Großmächte, bei aller Unterschiedlichkeit der dazu verfolgten Strategien einig. Die einen, wie Trump, wollen das durch die Dominanz eines bewaffneten großen Nationalstaates erreichen, eben der USA als Weltpolizist, die anderen wie Russland oder China über die Stärkung einer Völkerordnung, wie sie die gegenwärtige UNO darstellen könnte, wenn sie als Vertretungsorgan mehr Macht hätte. Das sind erhebliche Unterschiede, die Stoff für aktuelle Konflikte enthalten. Unter dem Strich aber steht die als gemeinsame Bedrohung ausgemachte Geahr: die Unkontrollierbarkeit möglicher Revolten rund um den Globus gegen die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen.

 

Es ist Zeit aufzustehen

Lassen wir uns also nichts vormachen. Lassen wir uns nicht erfundene Feindbilder aufdrängen, nicht in eine Angstpsychose jagen, die einzig und allein auf Wohlverhalten, auf Stillhalten der Bevölkerung zielt, damit  die Herrschaften, die heute noch das Sagen haben, weiterhin das Sagen haben können.

Es ist Zeit den Ursachen der heutigen Probleme wirklich an die Wurzel zu gehen. An die Wurzel gehen heißt, es ist Zeit, die kapitalistische Produktionsweise, die katastrophentreibende Priorität der Ökonomie zu durchbrechen zugunsten einer Weltordnung, einer Menschenordnung, einer Völkerordnung, die den Menschen, jeden einzelnen, das Individuum und seine Bedürfnisse, wirtschaftliche, geistige und rechtliche in den Vordergrund stellt in einer Welt, die geleitet wird von gegenseitiger Hilfe statt einer Welt, in der Konkurrenz als Leitwert gilt.

Es wird Zeit, sich nicht weiter in die Ohnmacht pressen zulassen, es wird Zeit sich zu wehren, es wird Zeit aufzustehen, es wird Zeit, da, wo wir leben, jede und jeder an seinem und ihrem Ort, die Prinzipien, nach denen diese kapitalistische Gesellschaft heute funktioniert – genau gesagt, eben nicht mehr funktioniert – in Frage zu stellen, dem Krieg da  entgegenzuwirken, wo er im Alltag bereits als Ellbogengesellschaft beginnt. Zäune gegen Armut, Bomben gegen den Terror – das wird die sich abzeichnende Entwicklung nicht aufhalten. Krieg gegen den‘ Terror ist nichts anderes als eine Eskalationsspirale.

Man muss sich dieser Eskalationsspirale entziehen. Wenn es bei Marx heißt, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendig zum Untergang bestimmt ist, dann ist das unter ökonomischen Gesichtspunkten eine unbestreitbare Wahrheit, zumal, wenn sie durch die heutige Entwicklung des Kapitalismus zur roboterisierten Gesellschaft zugespitzt wird, aus der kein rettendes Proletariat mehr herauswächst, sondern die Perspektive weltweiter Revolten von marginalisierten ‚Überflüssigen‘ am Horizont auftaucht. Dennoch, ja, gerade deswegen, muss gesagt werden, dass zwischen die Pole von Krieg oder Nichtkrieg immer noch die Entscheidung des Menschen, einzelner wie die von Staatsführungen gestellt ist, ja, dass mehr noch als je zuvor jeder einzelne Mensch an dem Platz, an dem er oder sie steht, die Möglichkeit hat, ja zu sagen, zu einer anderen als der bloß ökonomischen Priorität. Dieses Recht dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Es ist unsere einzige Chance, aber die gibt es.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema:

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, (erweiterte Neuauflage von „Die Kraft der ‚Überflüssigen‘ – Der Mensch in der globalen Perestroika“ )

Eigenverlag, Erschienen bei „Verein zur Förderung der deutsch-russischen  Medienarbeit e.V.“, Hannover, Dezember 2016, ISBN 9783-7412-98066, 10.99 €

    Das Buch zeigt, wer die „Überflüssigen“ sind und welche Kräfte in ihrem „Überflüssigsein“ liegt, welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien ihr Aufbruch ausgesetzt ist, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte. (Bestellungen über: info@kai-ehlers.de)

 

[1] Manifest der Kommunistischen Partei, Ende von Teil I, Bourgoisie und Proletariat, in Kröner, Frühschriften, S. 538

[2] Zbigniew Brzezinski, Strategic vision, America and the crisis of Global power, basic Books, New York, 2013, S. 30 ff

[3] Siehe dazu: Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell füssli, Zürich, 2003

Ausserdem: Kai Ehlers, die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen“, erweiterte Neuauflage, 2016

 

Vortrag beim Kieler Friedensforum vom 1. April 2017: „Russland und die Logik des neuen kalten Krieges“

 

Votrag Ortsgruppe Ottersberg  der anthroposophischen Gesellschaft vom 7. April 2017:

„Krise des Nationalstaats und Perspektiven der Dreigliederung heute.“

Europa verteidigen? – ja, aber gegen wen und wofür? Föderalistisches Pro gegen nationalistisches Contra

In letzter Zeit ist viel davon die Rede, Europa verteidigen zu müssen. Allen voran schlägt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ vor. In ihrem Schlepptau folgt die Verteidigungsministerin Ursula v. d. Leyen mit Aufrüstungsphantasien für die Bundeswehr. Der Kommissionspräsident der Europäischen Union Claude Juncker fordert die Mitglieder der Union zur Diskussion einer „Effektivisierung“ der Gemeinschaft durch deren „Differenzierung“ auf, lässt dabei allerdings ebenfalls seine Präferenz für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchblicken.  

Die Reihe derer, die in diesen Kanon einstimmen, ließe sich mühelos bis in die europäischen Stammtische fortsetzen. Selbst EU-Skeptiker, die eher eine fortschreitende Zentralisierung beklagen, lassen sich von diesen Tönen mitreißen.

Und ja, es gibt viel zu verteidigen. Es gibt sogar etwas zu gewinnen, nämlich ein demokratischeres Europa, eine gerechtere Zukunft, eine Wiederbelebung europäischen Geistes. Die Frage ist allein: Von welchem Europa ist die Rede, von welcher Bedrohung und wie soll diese gerechtere Zukunft aussehen?  Und was, schließlich, ist der europäische Geist? Darüber besteht ganz offensichtlich kein Konsens. 

Für die einen reicht Europa schlicht vom Nordkap bis Gibraltar, einschließlich Britanniens und Russlands bis zum Ural. Die anderen verstehen darunter die Europäische Union in den Grenzen ihrer Osterweiterung mit Optionen auf weitere Ausdehnung auf Kosten Russlands. Dies gilt vor allem für die nach dem Zerfall der Sowjetunion hinzugekommenen Mitglieder der EU. Sie „warnen“, wie die Polen,  vor einem „Kerneuropa“. Der Austritt Britanniens aus der Gemeinschaft dagegen stellt die EU als verbindlichen politischen Vertreter Europas offen in Frage. Andere wie die Griechen, denken über ihren möglichen Austritt nach.

Aus dem ganzen Wirrwarr taucht am Ende die Frage nach der Rolle Mitteleuropas aus der Vergessenheit der Geschichte wieder auf. Aber auch hier steht die Frage: Was wäre heute Mitteleuropa? Etwa Italien, Deutschland, Frankreich? Oder Deutschland, Polen und Frankreich? Oder Österreich, Deutschland und die Schweiz, also der  deutschsprachige Teil Europas? Oder schließlich einfach nur Deutschland als unerklärte Hegemonialmacht, wie man aus Auftritten deutscher Politiker in letzter Zeit schließen könnte?

 

Kurzer Rückblick in die neuere Geschichte

Angesichts dieses Chaos‘ ist ein kurzer Blick zurück in die neuere Geschichte unerlässlich, allerdings nicht etwa nur bis zu den Kinderschuhen der Europäischen Union nach dem zweiten Weltkrieg 1948/49, zu ihrer ersten Gestalt als Montanunion 1950 oder zu allen darauf folgenden Zusammenschlüssen  der EWG,  EG und schließlich der Europäischen Union; auch nicht nur bis zur Gründung des Völkerbundes nach dem ersten Weltkrieg 1920, sondern zurück in die Zeit vor diesen Versuchen gesamteuropäischer Zusammenschlüsse – in die Zeit,  als Europa noch nicht nach Nationalitäten, sondern in der Tradition des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“, also nach Fürstentümern gegliedert war.

Fixpunkt, bei dem ein solcher Rückblick in die neuere europäische Geschichte andocken kann, dürfte der Westfälische Friede von 1648 sein, mit dem der Dreißigjährige Krieg, der die Mitte Europas in eine Wüste verwandelt hatte, in eine erste, das ganze europäische Land umfassende Friedensordnung überging.

Was der Krieg 1648 hinterließ, war dennoch aber nicht etwa ein gesamt-europäischer Zusammenschluss, sondern eine Vielfalt der Fürstentümer und Kleinstaaten. Dynastische, auch religiöse, nicht ethnische Zugehörigkeiten waren die Basis dieser Ordnung.

Anders gesagt, die Entmischung des Vielvölkerraums  Europa nach ethnischen nationalen Kriterien hatte noch nicht stattgefunden,  was – dies sei hinzugefügt, um Kurzschlüssen zu begegnen – Pogrome gegen Andersgläubige, vornehmlich gegen Juden, aber auch andere wie die Hugenotten nicht ausschloss.

Mit Napoleons Eroberungen fand diese Zeit eine erste Wende. Die Reichsordnung des „Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation“ musste dem Code Napoleon weichen. Durch die Auflösung der alten Reichsordnung 1806 und nach der Niederlage Napoleons wurde, wie in Wikipedia richtig angemerkt, die staatliche Gestaltung Mitteleuropas zu einer zentralen Frage des 19. Jahrhunderts.

Die Frage stand: wie?  Würde sich aus dem Erbe des aufgelösten Reichsverbandes unter Aufnahme der Impulse, die aus der Krise der Habsburger Vielvölkertradition zur Lösung anstanden, ein föderales Mitteleuropa herausbilden oder der von Napoleon initiierte Nationalstaatsgedanke die Oberhand gewinnen?

Mit der Entscheidung der Revolutionäre der deutschen Revolution von 1848 für die damals so genannte „kleindeutsche Lösung“ anstelle der möglichen „großdeutschen“ wurden die Weichen auf nationalstaatliche Entwicklung Europas gestellt. Die Versammlung in der Paulskirche, in der über die Ergebnisse der Revolution entschieden wurde, stimmte für eine deutsche Einheit unter preußischer Führung  ohne Einbeziehung Österreichs. Österreich wurde damit aus der deutschen Entwicklung abgekoppelt.  

Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck vollendete diese Teilung Mitteleuropas in Kriegen Preußens gegen Dänemark, Hannover und die verbliebenen Kleinfürstentümer des deutschen Raumes, vor allem aber mit dem Sieg über die Habsburger 1866, also Österreich, und schließlich über die Franzosen. Am Ende dieser Politik, die als Bismarcks Politik von „Blut und Eisen“ in die Geschichte einging, stand die Gründung des deutschen einheitlichen Nationalstaats unter Kaiser Wilhelm in Versailles 1871.

Damit war der historische Moment für die Entstehung eines vielgliedrigen Mitteleuropa verstrichen, das die slawischen, deutschen und weitere Völker der alten Fürstenordnung Mitteleuropas in eine föderale Ordnung hätte überführen können. Sie hätte den Osten und den Westen, die südlichen und nördlichen Teile Europas als ausgleichende Mitte verbinden können. Was jetzt entstand, war ein ethnisch orientierter preußisch-deutscher Nationalstaat, ein expansiver Machtstaat anstelle eines möglichen föderalen und pluralen sich selbst genügenden Mitteleuropa, der seine Hegemonie gegen die revolutionären Forderungen der 48er Bewegung nach liberalen und föderalen Reformen und auf Kosten Österreichs mit Gewalt nach außen und Repression nach innen durchsetzte. Für seine Nachbarn, die mit der Kleinteiligkeit des mitteleuropäischen Vielvölkerraums gut hatten leben können, wuchs dieses wilhelminische Deutschland sehr schnell zu einer beängstigenden Bedrohung heran.

 

Zerstückelung Mitteleuropas

Das Ende dieser Entwicklung ist bekannt. Im ersten Weltkrieg entluden sich die Spannungen zwischen den noch bestehenden Strukturen der herkömmlichen europäischen und mit Europa verbundenen Reichsordnungen, also  zwischen Habsburg, Russland, im weiteren Sinne auch dem mit Europa über den Balkan sowie den Mittelmeerraum verbundenen Ottomanischen Reiches und den neuen Nationalstaaten Frankreich und dem Aufsteiger Deutschland. Besondere Spannungen ergaben sich zwischen Deutschland und Großbritannien, das als führende Kolonialmacht nach dem Niedergang Frankreichs zum unbestrittenen Hegemon Europas geworden war.

Weniger bekannt, genauer weitgehend aus der allgemeinen politischen Erinnerung verdrängt, ist das entscheidende Ergebnis dieses Krieges: Eine neue, über Europa hinausweisende Konstellation war durch den Kriegseintritt der USA an der Seite des Westmächte entstanden. Die Vielvölkerreiche der Habsburger und der Ottomanen verwandelten sich unter dem Diktat der Sieger, konkret durch das Programm der 14 Punkte, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson für eine Nachkriegsordnung vorlegte, in eine Vielzahl von Nationalstaaten. In der Folge ging die gewachsene europäische Völkersymbiose unter dem gutgemeinten Leitwort der Selbstbestimmung der Völker in ethnische Säuberungsansprüche und –kriege zwischen den neu geschaffenen Nationen über. Deutschland und Österreich wurden auf nationale Rumpfstaaten reduziert. Das alte Mitteleuropa war als politische Größe faktisch nicht mehr vorhanden.

Eine Sonderentwicklung nahm Russland ein. Zwar ging das zaristische Russland in den  Fluten der Februar- und dann der Oktoberrevolution von 1917 unter, die den Weltkrieg in Russland begleiteten, büßte auch seinen direkten Einfluss auf die slawischen Volksbewegungen Ost- und Südeuropas ein, der russische Vielvölkerorganismus aber blieb in der Gestalt der Sowjetunion als russisch dominierter Großraum erhalten.

Vom Ergebnis her hieß das alles: Das auf Deutschland  reduzierte Mitteleuropa war, scharf gesprochen, zur geopolitischen Geisel zwischen den  Westmächten und Russland geworden, hier repräsentiert durch die USA,  dort in der Gestalt der Sowjetunion.

Hitlers Versuch, das alte Mitteleuropa mit Gewalt, als groß-deutsches Reich, als deutschen Machtstaat, als deutschen Totalstaat, gestützt auf ethnische Säuberungen, die mit den gewachsenen Strukturen mitteleuropäischen „undeutschen“ Volksgutes endgültig aufräumen sollten, wiederherzustellen, endete mit der weiteren Zerschlagung der europäischen Mitte, mit der Teilung Deutschlands, mit einem geteilten Europa, eingekeilt im beginnenden Kalten Krieg zwischen West und Ost, dem atlantischen und dem sowjetischen Block. Das war eine nochmalige Zuspitzung der bereits nach dem 1. Weltkrieg entstandenen Situation. Die Gründung der Europäischen Union war der politische Ausdruck davon. Mit der Systemteilung der Welt trieb diese Entwicklung auf ihren Höhepunkt.

 

Und heute?

Auf die Öffnung der Mauer folgte die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, auf die Wiedervereinigung Deutschlands die Wiedervereinigung Europas, auf das Ende der Systemteilung der Welt die Globalisierung.

Aber ist damit die europäische Mitte wiederentstanden? Mitnichten. Entstanden ist ein deutscher Nationalstaat in einer Europäischen Union der Nationalstaaten. Miteinander suchen sie ihre Identität in dieser globalisierten Welt.

Die Europäische Union ist heute ohne Charakter – nicht West, nicht Ost, aber auch nicht Mitte.  Hin und her gerissen zwischen dem amerikanischen und dem Eurasischen Kontinent. Aber diese Polarität ist, obwohl noch vorhanden und gegenwärtig propagandistisch äußerst strapaziert, doch schon beinahe Vergangenheit. Die Konstellationen sind komplizierter geworden.

Da sind, über den aktuellen Anschein hinaus, nicht nur die USA und Russland, zwischen denen sich die EU entscheiden müsste. Hochgekommen ist, neben den USA und Russland, inzwischen auch China, für das sein Präsident Xi Ping soeben beansprucht hat, als Führungsmacht steuernd ins Weltgeschehen eingreifen zu wollen. Er möchte eine multipolare Weltordnung entstehen lassen. Da ist weiterhin die Türkei, die unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf eine Wiedergeburt Ottomanischer Größe im Mesopotamischen Raum orientiert. Da sind der Iran, Indien, Südamerika, da ist Afrika, da ist schließlich noch der politisch noch offene pazifische Raum – sie alle sind Größen, die Achtung erfordern.

 

Verteidigen?

Dies alles sind Herausforderungen – ja! Existenzielle Bedrohungen, wie sie in letzter Zeit in EU-Kreisen beschworen werden, gehen von dieser Konstellation für Europa allerdings nur dann aus, wenn nicht Kooperation im Zuge einer entstehenden multipolaren Ordnung, sondern Konkurrenz von Blöcken zur Leitschnur des Handelns gemacht wird, wenn mögliche Partner, seien es die USA, seien es Russland oder China zu Feinden und Un-Kulturen aufgebaut werden.

Auch die Migration aus dem Süden des Globus muss nicht in die Katastrophe führen, weder für die „entwickelten“ Industrieländer des globalen Nordens insgesamt, noch im Besonderen für die Europäische Union, wenn die Staaten der „noch nicht entwickelten“ Länder, zumeist ehemalige Kolonien, zuallererst durch einen allgemeinen Schuldenerlass, sodann durch gleichberechtigte Handelsbeziehungen anstelle der gegenwärtigen Knebelverträge aus den Fesseln der Abhängigkeit tatsächlich, nicht nur formal entlassen und als gleichberechtigte Partner akzeptiert und gefördert werden.

Zu verteidigen ist Europa aber entschieden gegen diejenigen, die von einer Überwindung des Nationalismus sprechen, während sie unter dem Stichwort eines „Kerneuropa“ die kriselnde Europäische Union real unter das Diktat eines Supra-Nationalstaates EU bringen wollen, der in Konkurrenz zu den bestehenden Großmächten Anspruch auf Weltführerschaft erhebt.

Noch klarer gesprochen, zu verteidigen ist Europa gegen eine erneute deutsche Dominanz in einem solchen „Kerneuropa“, die die Fehler eines deutschen Nationalstaates nach Bismarck, Wilhelm II. und dem „Dritten reich“ zum vierten Mal wiederholen könnte.

Wohin gehört unter diesen neuen Bedingungen heute Europa? Im Grunde wäre die Antwort klar, wenn die Europäische Union, allen voran darin Deutschland als deren Mitte, es schaffte, sich auf seine Geschichte vor den großen nationalen Katastrophen im zweiten, im ersten und noch vor den Kriegen Bismarcks zu besinnen: Europa gehört nicht in einen Block mit den USA, aber auch nicht in einen anderen mit Russland, ebenso wenig in einen dritten mit China. Die Entstehung solcher Blöcke wäre ein gefährlicher Brandsatz.

Ein Europa, das sich auf seine Vergangenheit besinnt, könnte die Kräfte entwickeln, die solchen Blockbildungen entgegenwirkt. Die heute entstandene globale Lage fordert geradezu einen Rückgriff auf jene damals nicht zur Entwicklung gekommenen föderalen Kräfte, die durch die Nationalstaatsordnung des 19. Und 20. Jahrhunderts abgewürgt wurden, die durch die gegenwärtige Organisation der EU jetzt noch weiter abgewürgt zu werden drohen. Europa muss sich an seine ur-eigenen Kräfte der Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen erinnern.

Allerdings geht es jetzt nicht mehr nur um Mitteleuropa zwischen dem Osten und dem Westen Europas, generell nicht mehr nur um Grenzgänge zwischen Osten und Westen. Jetzt geht es um ein föderal organisiertes Gesamteuropa, das seinen Platz als Vermittler in einer globalisierten Welt der Vernetzung und Kooperation findet. Dieses neue Europa muss nicht als alternativer Weltpolizist auftreten, der die USA in dieser Rolle ablöst, sondern als Botschafter, der den Geist des Ausgleichs am eigenen Beispiel einer funktionierenden föderalen Demokratie in die Welt zu tragen versucht.  Das wäre eine Antwort auf die Fragen, die am Anfang dieses Artikels gestellt worden sind. Das wäre, was europäischer Geist genannt werden könnte. 

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:

Kai Ehlers, Themenheft 19: Europa wohin? Ausgewählte Texte.

Zu bestellen über: www.kai-ehlers.de

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Russland: Entwicklungsland neuen Typs

Russland und der Westen stehen heute nicht nur in der politischen, sondern auch in der kulturellen Kontroverse. Die westliche Propaganda  betrachtet Russland wie einen unterentwickelten Paria, mit dem auch nur freundschaftlich zu verkehren schon für eine Stigmatisierung und den Verlust eines hohen Amtes ausreicht.

Der folgende Text mag dazu beitragen,  die russische ‚Unterentwicklung‘ von einer anderen Seite her zu betrachten. Er ist heute so wahr wie 2005, als er geschrieben wurde – angesichts der neueren Konfrontationen möglicherweise noch wahrer als zur Zeit seiner Entstehung.

 

Kai Ehlers

 

Mit Jefim Berschin[1] steige ich in die Fragen ein, die sich aus der Einsicht ergeben, dass Russland heute – zum wiederholten Male – zum globalen Entwicklungsland geworden ist, und das nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern im Sinne des wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs – ein Entwicklungsland neuen Typs. In Russland bleibt kein Stein auf dem anderen, auch im mentalen Bereich; es gibt keine Prioritären, keine eindeutigen, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum ‚Kapitalismus‘ oder (zurück) zum ‚Sozialismus‘, zum Christentum oder zum Islam, überhaupt zur Religion oder zum Atheismus usw. Es wirbelt vielmehr alles durcheinander, auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Wechselwirkung der Vielfalt pur!

    Insofern wird Russland erneut – wie schon mehrere Male in der Geschichte – zum  Entwicklungsland in dem Sinne, dass sich im Russischen Raum als Integrationsraum Euro-Asiens die Einflüsse aus allen Ecken der Welt überschneiden und neu gestalten. Das formuliert ja interessanter Weise auch Wladimir Putin. Die Form, die diese Entwicklung unter seiner Ägide zurzeit annimmt, ist höchst unglücklich – eine Wiederauflage des Paternalismus von der Art der Selbstherrschaft, im Wesen aber ist gar keine andere Politik möglich als die der Erneuerung der Integrationskräfte Russlands.

    Das Ringen um neue Ziele, neue Kräfte, neue Methoden der Integration bestimmt das gesamte russische, genauer gesprochen, russländische Leben, also nicht nur das der slawischen Russen, sondern das der Völker- und Kulturgemeinschaft Russlands – nicht zuletzt und im tiefstgreifenden Maße im Bereich der Ethik, Moral und Religion. Ohne neue Ethik kann dieser Raum, können die Menschen dort nicht überleben. In der Vielgestaltigkeit, ja in der chaotischen Vielfalt des Raumes, der aber doch ein Gesamtraum ist, liegt, wie jedes Mal deutlich wird, wenn man sich mit offenen Augen in Russland aufhält, die tiefe Begründung für den ethischen Extremismus, mit dem und in dem die russische Bevölkerung lebt: Nur extreme Besinnung auf moralische Verbindlichkeiten kann den Menschen in diesem offenen Raum, der allen Zentralisierungs- und Isolierungsbemühungen und –phasen zum Trotz immer wieder durch von außen kommende Einflüsse (wie jetzt die Globalisierung) chaotisiert wird, so etwas wie einen Halt, eine Sicherheit, eine Heimat geben.

    Die Heimat der russischen Menschen ist deshalb auch weniger – wie bei uns – die schöne Landschaft oder dergleichen, sondern die russische Kultur, was immer darunter verstanden wird, sind die Werte des Zusammenlebens, die Sprache, die Lieder usw. – letztlich die Moralität von Gemeinschaft, eben deswegen, weil in dieser Weite die Moral einer Gemeinschaft ein besonderes schützenswertes Gut ist, das nicht einfach existiert, sondern gegen die uferlose, grenzenlose Weite hergestellt und bewahrt werden muss. Einfach gesagt: Der europäische Mensch ist froh, einen Platz zu finden, an dem er allein sein kann; in Russland ist man froh, Gemeinschaft zu finden, die einen vor dem Alleinsein und Ausgesetzt-Sein schützt.

    Jetzt sind eben diese traditionellen moralischen Werte, durch die siebzig Jahre des realen Sozialismus zugleich bewahrt und diskreditiert, wieder einmal fundamental in Frage stellt – ähnlich wie zu Zeiten des Mongolensturms, ähnlich wie zu Zeiten Iwans IV., ähnlich wie zu Zeiten der großen Bauernrevolten im 18. Jahrhundert, ähnlich wie zu Zeiten des einbrechenden Kapitalismus und der Revolutionsjahre Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal bricht die Außenwelt in das mühsam zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd des Kontinents hergestellte Gleichgewicht ein – dieses Mal als ‚Globalisierung‘. Wieder einmal muss Russland von Grund auf seine Moral des Überlebens zwischen den territorialen, ethnischen und geistigen Extremen neu definieren. Insofern Russland das Zentrum des euro-asiatischen Kontinentes bildet, der seinerseits die größte Land- und Bevölkerungsmasse des Globus konzentriert, betrifft diese Definition die gesamte existierende Welt. In Maßen war das auch früher so – mit Auswirkungen auf die europäische wie auf die asiatische Entwicklung; heute im Zuge der Entwicklung, ja einer neuen Stufe der Intensivierung des globalen Marktes und damit sich entwickelnder gegenseitiger Abhängigkeiten betrifft diese Definition den gesamten Globus, ob wir wollen oder nicht. Grob gesprochen: Es kann der Welt nicht gleichgültig sein, welche Seite der russischen Wirklichkeit heute auf sie einwirkt – die Brutalität der russischen Mafia oder die Kultur der russischen Gemeinschaftstraditionen, oder, noch exponierter formuliert, die asozialen oder die sozialen Impulse, die aus der Transformation, sagen wir auch ruhig, aus der Modernisierung der russischen Gemeinschaftsethik heute hervorgehen.

    In Russland treffen heute Individualismus und Kollektivismus am härtesten, am schroffsten, im weitesten Maße und im tiefsten Sinne aufeinander; hier werden Neue Formen des Miteinanders von Einzelinteresse und Kollektivinteresse am extremsten ausprobiert, durchlitten, erfunden – auf allen Ebenen der menschlichen Existenz, vom Kindergarten bis zum Tod und bis zu den Vorstellungen vom Leben nach dem physischen Tode. In diesem Sinne ist Russland heute ein gewaltiges Feld schöpferischer Unruhe von globaler Bedeutung, das neue ethische Räume entstehen lässt.

    Jefim Berschin spricht hier geradewegs von Religion, wobei er sich gleichzeitig von bestehenden Glaubensgemeinschaften distanziert: Sein Credo: Gott im Menschen finden. Vom Judaismus über die historischen Glaubensgemeinschaften des Christentums und des Islam zum Ego des heutigen Menschen – dies, meint er, sei Russlands historische Botschaft. Das ist ein großer Entwurf.

    Ich möchte da vorsichtiger sein: Die Elemente einer Wissenschaft von der Transformation, die für mich aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte russischer Geschichte hervortreten – Krise der Pyramide als Gesellschaftsmodell, Erinnerung an das Labyrinth, Selbstorganisation in der Gemeinschaft – öffnen zwar neue mentale Räume, die ohne Zweifel auch über Russland hinaus gültig sind, aber sie sind doch noch nicht mehr als ein Gerüst, an dem neue Vorstellungen entstehen können. Eine neue Ethik ist das noch nicht.

    Vor allem ist es kein Automatismus: Der gegenwärtige Kurs Putins treibt Russlands Entwicklung auf eine neue Weggabelung zu: In seiner TV-Rede zu Beslan[2], deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Wie die Maßnahmen zeigen, die er vor und nach Beslan einleitete, meint er damit ganz offensichtlich nicht „Demokratie“ nach westlichem Vorbild, sondern etwas sehr Russisches, nämlich die Überwindung der gegenwärtigen Smuta, der Großen Unordnung, durch eine patriarchale Konsensgesellschaft. Die Smuta ist der Zustand des ungeordneten Pluralismus zwischen Asien und Europa, in den Russland im Lauf seiner Geschichte immer wieder versunken ist, wenn die Zentralmacht verfiel. In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin macht den Versuch, diese Polarität zu modernisieren, nachdem Gorbatschow sie gekündigt und Jelzin sie ins pluralistische Chaos überführt hatte. Putins gegenwärtige Stärke ist dabei Voraussetzung und Bremse zugleich: Voraussetzung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft, Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen entgegen handelt. Das lässt den angestrebten Konsens zur leeren Geste verkommen. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus verlangt eine ideologische Aufrüstung, zu der die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht motiviert ist.

     Im Ergebnis vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft in eine herrschende politische Klasse auf der einen, eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten zurückzieht auf der anderen Seite. Putin steht vor der Wahl, diese Verweigerung zu akzeptieren oder sie mit Gewalt zu brechen. Sie akzeptieren heißt, den unabgesicherten Weg der Transformation fortzusetzen, dem Kapital die Symbiose mit einer agrarisch orientierten Selbstversorgung als Dauereinrichtung, ja, als Perspektive zuzumuten und Schritt für Schritt neue Beziehungen zwischen ihnen entstehen zulassen; sie brechen, würde bedeuten, einen Ausweg in neuen Fortschrittsillusionen und expansiven imperialen Abenteuern zu suchen. Welchen Weg Putin in Zukunft wählen wird, ist offen; zur Zeit versucht er sich auf der Mitte zu halten. Solange Putin aber – oder ein Nachfolger Putins – den Weg der Reformen geht, besteht die Chance, dass die Transformation des patriarchalen Fürsorgestaats allen Härten und Krisen zum Trotz nicht in die Katastrophe, sondern in eine Erneuerung der traditionellen Symbiose von Produktion und Selbstversorgung unter heutigen Bedingungen führt. Damit könnte Russland einen Weg der Modernisierung gehen, in dem sich individuelle Initiative westlichen Zuschnitts und traditionelle russische Gemeinschaftsstrukturen zu einem neuen Verständnis der Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gemeinschaft verbinden, das auch für den Westen Impulse enthält. Möglich ist dies aber nur, wenn Russland bei der Entwicklung seines Weges nicht isoliert und angefeindet, sondern in seinen exemplarischen Werten erkannt und gefördert wird.

 

(Entnommen aus:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch?, Pforte  Entwürfe, 2005, zu beziehen über den Verlag oder direkt über den Autor www.kai-ehlers.de

 

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

[1] Jefim Berschin, Journalist, Schriftsteller, Dichterin Moskau

Bücher von und mit ihm:

– Jefim Berschin, Kai Ehlers, Dikoe Pole, wildes Feld, Bod, 2016, 9,99 €

– Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte 2009, 1990 €

(Bezug der Bücher über www.kai-ehlers.de). 

[2] Bei der Geiselnahme von Beslan im September 2004 brachten nordkaukasische ‚Gotteskämpfer‘mehr als 1100 Kinder und Erwachsene in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan in ihre Gewalt. Die Geiselnahme endete nach drei Tagen in einer Tragödie – bei der Erstürmung des Gebäudes durch russische Einsatzkräfte starben nach offiziellen Angaben 331 Geiseln. (Nach Wikipedia)

Siehe auch: https://test.kai-ehlers.de/2004/09/beslan-wer-sind-die-opfer-wer-sind-die-tter/

Putin und Trump – ein Gespann? Ein Versuch hinter die Worte zu blicken

Ja, möchte man sagen – und doch nein. Ungeachtet unterschiedlicher persönlicher und politischer Profile sind Donald Trump und Wladimir Putin ein Gespann, notgedrungen, ob sie es wollen oder nicht. Und sind es doch nicht.

Beide sind vor einen Wagen gespannt, dessen Räder im Sumpf ungelöster globaler Probleme und Aufgaben zu versinken drohen. Sie selbst und die hinter ihnen stehenden „Eliten“ sind ratlos, wie sie mit der aus allen Fugen schießenden globalen Expansionsdynamik und der wachsenden Ungleichheit zwischen den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung und der bedrohlich wachsenden Zahl Benachteiligter, Ausgegrenzter, „Überflüssiger“, Marx würde sagen, überflüssig gemachter Paupers umgehen oder sich ihrer entledigen können. Immer ungeduldiger fordern diese Milliarden ihren Anteil am Reichtum der Welt, global und lokal. Eine Elitendämmerung kündigt sich an, wenn keine Vernunft einkehrt.

Die unipolare Weltordnung, die mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war, ist in wilder Bewegung.  Syrien ist dafür der aktuelle Brennpunkt, wo Kämpfe um lokale Souveränität, regionale Einflusszonen und globale Vorherrschaft sich an der Grenze zum globalen Krieg überschneiden.  

Denkbar wäre natürlich, dass die „Eliten“ in dieser Krisensituation, ungeachtet ihres Herkommens und ungeachtet der persönlichen Profile ihrer Vertreter und Vertreterinnen gemeinsam an einer Lösung dieses Knotens arbeiten, um ihre Ratlosigkeit zu überwinden, ja, sich vielleicht gar bereitfinden Ratschläge und Hilfe von „unten“ zu akzeptieren,  statt Milliarden von Menschen zu ohnmächtigen Zuschauern  oder zu Opfern ihrer Entscheidungen zu machen.

In Einzelfragen, die gegenwärtig in ersten Telefonaten zwischen dem neuen Mann in Washington und seinem schon länger amtierenden Kollegen in Moskau verhandelt werden, könnte tatsächlich Einiges möglich werden. Die Rede ist von der Einrichtung geschützter Zonen für Flüchtlinge in Syrien, von einem Ende der  Sanktionspolitik gegen Russland, von  einer Beilegung der Krim- und Ukrainekonflikte. Schließlich sogar von einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Terror – wobei allerdings schon zu fragen ist, was unter „dem“ Terror jeweils verstanden wird.  

Das alles klingt nach Frontbegradigungen – und wäre auch zu begrüßen, wenn es zu Entspannung auf überfälligen Konfliktfeldern führen, wenn es dazu beitragen könnte, die weitere Ausbreitung des Terrorismus zu verhindern. Allerdings muss hier über die Frage hinaus, was jeweils unter Terror verstanden wird, festgehalten werden, dass Terrorismus nicht mit Waffengewalt, auch mit einer russisch-amerikanisch kombinierten Militäraktion nicht zu beseitigen sein wird, sondern nur mit einer grundlegend anderen Politik der „entwickelten“  gegenüber der sich entwickelnden Welt, die den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben vor Ort zu gestalten.

Im Übrigen sind schon die ersten außenpolitischen Dekrete des neuen US-Präsidenten, die ein willkürliches Einwanderungsverbot aus einer Reihe von muslimischen Ländern in die USA verfügen, eher geeignet, dem Terrorismus weltweit neue Kämpfer und Kämpferinnen aus diesem Feld zuzuführen als ihn zu dämpfen. Auch flackern in der Unsicherheit des neuen Frontverlaufs ungelöste Konflikte wieder auf wie in der Ukraine, andere sind zu erwarten. 

 

Unterschiedliche Perspektiven

Obwohl gleichermaßen eingespannt und trotz möglicher Kompromisse in Einzelfragen streben Putin und Trump doch in entgegengesetzte Richtungen. Der eine, Putin, strebt seit seinem Amtsantritt 1999/2000 in die Richtung einer kooperativen Weltordnung, aus wohlverstandener eigener Schwäche  und aus bitterer historischer Erfahrung, wohin eine Überdehnung der eigenen Kräfte führt.

Der andere, Trump, getrieben von dem Bestreben, von globalen Verpflichtungen nicht länger, wie er sagt,  „ausgebeutet“ zu werden, setzt unter dem Motto „America first“ auf Parzellierung  gewachsener globaler Strukturen – bei gleichzeitiger Überhöhung seines und des US-Machtanspruches. Das setzt autoritäre und nationalistische Impulse frei.

Weit entfernt also davon in eine Richtung zu ziehen, obwohl in einem Gespann, gehen die Dynamiken Russlands und der USA extrem auseinander. Putin  orientiert auf Stabilisierung und Reform der nationalstaatlichen Ordnung, wie sie sich in den Vereinten Nationen herausgebildet hat und in ihrer Charta fixiert ist. Trump forciert bilaterale Beziehungen unter Führung der USA.

Damit setzt sich ins Extrem fort, was schon die Politik der letzten Jahre bestimmt hat. Sollte man die Situation, die so entsteht, in ein Bild bringen, so müsste man das einer Waage wählen, deren eine Seite sich senkt, während die andere sich hebt. Schauen wir im Detail.

 

Schrumpfen mit Trump?

Seit Jahren zielt die US  Strategie darauf die globale Vorherrschaft der USA nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ zu bewahren – und kann doch deren Verfall nicht  aufhalten. Bester Zeuge dafür ist der bekannte US-Stratege Zbigniew Brzezinski, in dessen Büchern die Stufen des Verfalls der US-Vormacht umso deutlicher hervortreten, je stärker er die Vorzüge dieser Macht hervorzuheben bestrebt ist – darin ein unfreiwilliger Vorbote Trumps, der jetzt auf den unteren Sprossen dieser Stufenleiter als Erbe erscheint:

Den Zusammenbruch der Sowjetunion begrüßt Brzezinski mit dem  Fanfarenruf des Siegers in dem Buch: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“[1]. Es erschien erstmals 1997, avancierte danach zum Weltbeststeller. In dem Buch wird das strategische Szenario entworfen, wie die USA die ihr in den Schoß gefallene Weltherrschaft  bewahren könnten, wenn sie dafür sorgten, dass in der Welt, insbesondere in Eurasien in Zukunft kein neuer Rivale sein Haupt erheben könne. Auf dieser Linie entwickelten die USA nach 1990/91 ihre Politik der Einkreisung Russlands.

Zehn Jahre später, 2006, schon wesentlich gedämpfter, folgt Brzezinskis erste Bilanz unter dem Titel: „The second chance“[2]. In diesem Buch schaut er auf die Präsidentschaften von Bush I, Clinton und Busch II zurück (so Brzezinskis Schreibweise).  Bush I – in Brzezinskis Charakteristik ein mittelmäßiger Verwalter, der nichts aus dem Sieg von 1990/91 gemacht habe, Clinton – ein Parvenü, der der Welt zu viel versprochen und dadurch amerikanisches Potential  leichtfertig verschleudert habe, Bush II  – ein politischer Hasardeur, der mit seinem brachialen, alleingängerischen „Krieg gegen den Terrorismus“ amerikanisches Ansehen in der Welt und dessen Vormachtstellung in krimineller Weise geschädigt habe. Zugleich habe er die Bildung der Bevölkerung sträflich vernachlässigt. Mit dem von ihm zurückgelassenen Bildungsniveau der US-Bevölkerung, so Brzezinski, sei keine Weltpolitik zu machen. 

Eine zweite  Chance für die in der Folge dieser drei Präsidenten geschwächte Weltmacht könne es nur geben, so Brzezinski, wenn das Land einen neuen Anlauf nähme, den „American way of life“ durch eine Bildungsoffensive im Innern und eine Bündnisoffensive nach außen zu erneuern. Barack Obamas Politik des „Yes we can“ war ein Kind dieser Kritik, eine Offensive des Lächelns bei gleichzeitiger Eskalation der US-Interventionen im Selbstmandat.

Noch ein Intervall später, 2013, im Vorjahr zum Ukrainischen Maidan, unter dem Titel „Strategic Vision, America and the crisis of global Power“[3]  sieht Brzezinski sich zu der Aussage gezwungen: „Angesichts des neuen dynamischen,  und international komplexen und politisch erwachenden Asien ist die neue Realität die, dass keine Macht versuchen kann – in Mackinders Worten[4] – Eurasien ‚zu beherrschen‘ und so die Welt zu ‚kommandieren‘.  Amerikas Rolle, besonders  nachdem es zwanzig Jahre vergeudet  hat (having wasted), muss jetzt sowohl subtiler als auch verantwortlicher gegenüber Asiens neuen Machtrealitäten sein. Herrschaft durch einen einzigen Staat, wie mächtig auch immer, ist angesichts des Hochkommens neuer regionaler Spieler (player) nicht länger möglich“. Nur unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, wiederholt Brzezinski beschwörend, könne dem  weiteren Niedergang der US-Vormacht entgegengewirkt werden.

Wie die Entwicklung zeigt, hat eine breiter angelegte Bündnispolitik  unter Obama auch nach Brzezinskis zweiter Ermahnung den weiteren Niedergang der US-Vormacht nicht aufhalten können, sondern mit der Politik des Regime Changes und der gezielten Tötung durch Drohnen noch tiefer in die Sackgasse des US-Alleingangs geführt. Darüber konnte auch Obamas aggressive Propaganda gegenüber dem angeblichen Kriegstreiber Russland nicht hinwegtäuschen. Das Ukrainische Abenteuer, wie auch der vorläufige Rückzug der USA aus Syrien haben vielmehr die zunehmende Schwäche der USA klar erkennen lassen.

Trump ist der Erbe  dieses innen- und außenpolitischen Niedergangs. Statt sich in ein erweitertes Bündnis der von Brzezinski beschworenen „Newcomer“ zur Herausbildung einer kooperativen Kraft einzugliedern, sucht er den Weg in die weitere Fraktionierung der internationalen Ordnung, die er, wie gesagt, als Last empfindet – in der irrigen Annahme Amerika auf diese Weise wieder groß machen zu können. Das geschieht ohne erkennbares Programm nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.

Im Gegensatz zu den zurzeit vor allem in Europa grassierenden Klagen, mit Trumps brachialem Motto werde die demokratische Tradition der „Pax Americana“ gebrochen, findet der unter diesem Schild bisher verdeckte Nationalismus der USA mit Trump lediglich seine unverhüllte Zuspitzung und Offenbarung. Die irritierte Empörung der atlantischen Partner der USA angesichts dieser Offenbarung des tatsächlichen Charakters der US-Politik lässt vor allem anderen eine Sorge erkennen, nämlich die, mit der Demaskierung der US-Politik zugleich selbst demaskiert zu werden.

 

… und wachsen mit Putin?

Demgegenüber Putin – ebenfalls Erbe, allerdings einer gegenläufigen Entwicklung. Sie steigt von Michail Gorbatschow, der ins europäische, über Boris Jelzin, der gleich ins amerikanische Haus einziehen wollte bis zu Putins und Medwedews immer aufs Neue wiederholtem Angebot auf, gemeinsam mit der NATO eine „Sicherheitsarchitektur“ von Wladiwostok bis Lissabon schaffen zu wollen . 

Auf dieser Linie ging es darum Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zu Kräften zu bringen. Dafür brauchte das Land eine Stärkung der internationalen Ordnung, wie sie von den Vereinten Nationen repräsentiert und in ihrer Charta beschrieben wird. Wohlverstanden im eigenen Interesse Russlands, aus eigener Schwäche, zum Schutz gegen die übermächtige Dominanz der USA.

Die Stationen dieses spät- und nachsowjetischen Restaurationsprozesses folgten nicht aus einem Programm der Revanche und der Re-Imperialisierung, wie vom Westen unterstellt, sondern aus den Tatsachen des für die Bevölkerung lebensbedrohlichen Zusammenbruchs der Sowjetunion und den blanken Notwendigkeiten einer Restauration der russischen Staatlichkeit, sprich fundamentaler sozialer Strukturen.   

Gorbatschow bat den Westen 1991 um Hilfe für die Verwirklichung seiner Reform des Sozialismus – die er, versteht sich, von den potentiellen Geldgebern nicht erhielt. Man schickte ihn vom Londoner G7-Treffen zum Scheitern nach Haus, während man Jelzin zu gleicher Zeit ermutigte und half, das Land für eine ökonomische und kulturelle Kolonisierung durch den Westen zu öffnen.

Erst mit Wladimir Putin kehrte so etwas wie die Besinnung Russlands auf sich selbst in die russische Gesellschaft zurück. Putin formulierte bei seinem Amtsantritt zwei grundlegende Ziele, die er danach beharrlich verfolgte und bis heute verfolgt: Russlands Staatlichkeit wieder aufzubauen und Russland entsprechend seiner gewachsenen historischen Rolle wieder zum Integrationsknoten Eurasiens zu machen.

Mit diesem Arbeitsprogramm, seinerzeit unprätentiös als einfache Internetmeldung der Öffentlichkeit bekanntgegeben, wandte er sich zunächst der  Stabilisierung der inneren Verhältnisse des Landes zu, verpflichtete die Oligarchen ihren im Zuge der Privatisierung des Volksvermögens gegeneinander geführten Krieg einzustellen und sich dem Wiederaufbau des Landes zuzuwenden. Das bedeutete für die neuen Reichen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, wieder in minimale kommunale und soziale Verpflichtungen einzusteigen, ihre privaten Vermögen in eine korporative Führung zu überführen, die sich staatlichen Regeln zu unterwerfen hatte. 

Kurz, es war ein Aufbauprogramm. Wer nicht wollte, wurde  beiseite gedrängt. Man erinnere sich an die Namen Wladimir Gussinski, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, die unter Jelzin – neben dem IWF – zu den unerklärten Herrschern Russland aufgestiegen waren.

Der eigentliche Befreiungsschlag Putins bestand jedoch in der Aufkündigung der von Jelzin eingegangenen Abhängigkeit von den Milliardenkrediten des IWF, darauf folgend auch noch in der Rückzahlung der sowjetischen Altschulden an die westlichen Gläubiger, die an der Rückzahlung überhaupt kein Interesse hatten, sondern es lieber gesehen hätten, die Schulden wachsen zu lassen.

Nach der inneren Konsolidierung trug Putin den Anspruch seines Krisenmanagements in die Außenpolitik, um dort der Einkreisung zu begegnen. Von da an ging es Zug um Zug entsprechend den allmählich wachsenden Kräften des neuen Russland.

2007: Putins Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“, bei dem er der aggressiven Militarisierung der Weltpolitik durch die USA, sowie der ebenso aggressiven Ost-Erweiterungspolitik der EU und der NATO erstmals weltöffentlich entgegentrat – ohne dass er zu der Zeit ernst genommen worden wäre. Die westlichen Medien ließen ihn vielmehr als Möchtegern Kraftprotz erscheinen.

Dann aber 2008: Nach der Serie „bunter Revolutionen“ und angesichts neuer Ansätze der Ost-Erweiterung von NATO und EU in die Ukraine, über Georgien und darüber hinaus, zieht Russland die gelbe Karte gegen die Provokationen des Georgischen Präsidenten Saakaschwili, der sich Ossetien einverleiben will.

In der Folge der Georgischen Krise, ebenfalls 2008, entstehen erste Ansätze zur Gründung der Eurasischen Union – übrigens nicht von Putin, sondern vom Kasachischen Präsidenten Nasarbajew angestoßen. 2010 folgt die aktive Erneuerung des Angebotes an die NATO zur Bildung einer gemeinsamen „Sicherheitszone“. 2013 schlägt Russland vor, das Problem der Ost-West-Gespaltenheit der Ukraine zwischen europäischer und eurasischer Union einvernehmlich in Gesprächen zu lösen. Keines dieser Angebote erschien dem Westen wert darauf einzugehen.

Mit dem vom Westen betriebenen Regimewechsel in der Ukraine 2014 ging Russland vom passiven Widerstand gegen die westliche Einkreisungspolitik zum aktiven über, indem es das Referendum der Bevölkerung der Krim zur Frage einer Rückkehr der Halbinsel nach Russland aktiv unterstützte und die Krim in den russischen Staatsbestand aufnahm. Zugleich förderte Russland die Bestrebungen im Osten der Ukraine nach Autonomie – lehnte von dort ausgehende Beitrittswünsche allerdings ab, ja, unterband sogar den Aufbau einer eigenen Staatlichkeit des Gebietes als „Novo Rossia“.

Mit dem Eingreifen  russischer Bomber auf Seiten Baschar al Assads in Syrien und gegen den „Islamischen Staat“ , das zum vorläufigen Rückzug der USA aus deren Interventionsreihe in Mesopotamien führte, fand das russische Krisenmanagement seinen vorläufigen Höhepunkt. Ergebnis ist das gegenwärtige Krisenpatt zwischen den USA und Russland, wie es sich in den von der Türkei, Russland und Iran initiierten Waffenstillstandsverhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana niederschlug, an denen die USA nur als Beobachter teilnahmen. Was daraus folgt, ist offen.

 

Patt – aber gemeinsame Interessen?

So stehen sich diese beiden globalen „Partner“ heute gegenüber. Wenn jedoch von gemeinsamen Interessen, wenn gar von gemeinsamer Sprache der Präsidenten die Rede ist, wenn gesagt wird, Trumps  „America first“ bedeute das Gleiche wie Putins seinerzeit erklärte Absicht, Russland wieder aufbauen zu wollen,  wenn gar gesagt wird, beide seien gleich unberechenbar, oder auch, jetzt würden die USA genauso unberechenbar wie vorher Putin, dann ist das nichts weiter als Augenwischerei, im harmlosesten Fall einfach Unkenntnis historischer Tatsachen oder Dummheit. 

Fakt ist die unübersehbare Kontinuität der Putinschen Politik, der seit seinem Amtsantritt vollkommen berechenbar Schritt für Schritt von der Stabilisierung der innenpolitischen Situation Russlands zur Stabilisierung der globalen Beziehungen fortgeschritten ist – während die USA im gleichen Maßstab ihre Berechenbarkeit verloren haben und mit Trump jetzt gänzlich zu verlieren sich anschicken.

Ergebnis ist, dass die beiden großen Mächte, die heute – neben China als bisher stillem Begleiter – die Weltpolitik wesentlich bestimmen, auf polaren Seiten ein und derselben gegenwärtigen Entwicklung stehen, eben als ein Gespann. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, wenn Trump die Weltordnung in nationale Fragmente zerlegen, der andere, Putin,  die Souveränität des Nationalstaates als Voraussetzung für Stabilität erhalten will.

Putin und Trump treffen an ein und demselben kranken Punkt der gegenwärtigen internationalen Weltordnung aufeinander, beide allerdings letztlich, wenn auch auf gegensätzlichen Seiten, auf löcherigem Boden, denn die heutige Form der globalen Nationalstaatsordnung, manifestiert in den vereinten Nationen, die der eine erhalten, der andere noch weiter als bisher beiseiteschieben will, ist angesichts der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technik und Kultur so oder so überlebt. Sie bedarf nicht nur der Reform, sie bedarf einer zeitgemäßen Weiterentwicklung.

Unter nationalstaatlicher Grundorganisation des heutigen Staatenlebens, um das hier in aller Kürze zu verdeutlichen, ist das im 19. Jahrhundert entstandene Credo zu verstehen, nach dem alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens von der Wirtschaft bis zur Kultur durch den nationalen Einheitsstaat unter staatlichem Gewaltmonopol zusammengefasst und verwaltet und gegenüber allen anderen Staaten zur Geltung gebracht werden, mit denen jeder Staat für sich Arbeitskräfte, Ressourcen und Märkte mit anderen teilen muss.

Kurz gesagt: was des einen Staates Gewinn, ist  zwangsläufig des anderen Verlust. Kriege sind bei dieser Ordnung umso unvermeidlicher, je größer die Anzahl der Nationalstaaten wird, die sich in dieser Weise den globalen Kuchen teilen müssen.

Beim Stand der Dinge ist die Politik, die Trump einzuschlagen gedenkt allerdings die gefährlichere, insofern sie die schon von seinen Vorgängern betriebene Fraktionierung dieser Ordnung unter dem Slogan „America first“ ohne Rücksicht auf zukünftige Folgen, nur getrieben vom spontanen Abwärtstrend der US-Supermacht, wie er sich in dem Weckruf „America first“ ausdrückt, ins Extrem zu treiben antritt. Putins Strategie, insofern sie das eigene Überleben nur im Rahmen eines globalen Krisenmanagements begreift, beinhaltet demgegenüber immerhin die Chance, so etwas wie einen vorübergehenden globalen Stabilitätsrahmen herzustellen,  der ein Sprungbrett für eine Ordnung bilden könnte, die über den Nationalstaat als Grundorganisation  des heutigen Staatenlebens hinausweisen – könnte.

 

Vom Zweier- zum Dreierpatt

Dass die Frage der heute anstehenden Neuordnung letztlich nicht allein zwischen den beiden Polen USA und Russland ausgetragen wird, ist dem bisher Gesagten schließlich noch hinzuzufügen. Zwar treten gewisse historische Linien aus der Vergessenheit der Geschichte wieder hervor, so die anglo-amerikanische, die aus der Tradition des Britischen Commonwealth heraus einem eigenen Kurs gegenüber Mitteleuropa und Eurasien folgt. Das ist eine Spur, die sich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über den zweiten bis zu den jetzt wieder hervortretenden Konstellationen  zieht. Sie  zielt auf eine Schwächung Europas, genauer der europäischen Mitte, insbesondere Deutschlands, noch  genauer und aktuell gesagt auf die Verhinderung einer möglichen deutsch-russischen Achse. Der Austritt Britanniens aus der EU und seine neue Nähe zu den USA unter Trump lässt diese Linie nach Brexit und US-Präsidentenwechsel unmissverständlich hervortreten.

Die historischen Parallelen sind allerdings nur noch bedingt gültig, eine einfache Wiederholung historischer Konstellationen wird es nicht geben können, weil inzwischen – wie schon von Brzezinski unter dem Stichwort der tendenziellen West-Ost-Verschiebung der globalen Machtzentren richtig beschrieben  – andere Kräfte in der Welt aufgetreten sind, insbesondere China. Damit ist der historische Impuls des Commonwealth nicht mehr das einzige bestimmende Element in der Weltgeschichte und auch nicht in der Beziehung zwischen den USA und Britannien und kann es, wenn kein Wunder geschieht, auch nicht wieder werden.

Ein Dreiecksverhältnis ist entstanden, bestehend aus Russland plus China, Europa und den USA, in das sich alle anderen Länder der Welt einfügen müssen. Das könnte dem zwischen Russland und USA entstandenen Patt vorübergehend  eine festere Haltbarkeit geben.

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Könnte,  wenn …

Allerdings kann selbst in einer solchen Dreiecksbeziehung nicht mehr entstehen als eben ein vorübergehendes Stillhalteabkommen. Warum? Weil die Grundfragen der gegenwärtigen Entwicklung, durch Krisenmanagement allein nicht zu lösen sind, solange die drei, und nicht nur die drei, sondern alle Mächte der Welt, alle heute herrschenden Kräfte der Welt, an der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Expansion festhalten, die ja ihrerseits letztlich Ursache der Krisenerscheinungen ist, wie wir sie heute haben.

Nicht oft genug kann wiederholt werden: Wir leben in einer Welt, in der alle bisherigen Versuche das Paradies auf Erden herzustellen gescheitert sind. Das betrifft das Glücksversprechen des Kapitalismus ebenso wie das des realen Sozialismus. Die bisherige Form der Globalisierung erweist sich darüber hinaus auch nicht als Lösung, sondern als Verschärfung dieser Ergebnisse. Die Frage stellt sich also, wie wollen wir leben, wenn nicht so, aber auch nicht so?

Solange eine Antwort auf diese Frage nicht über die Reduzierung des Menschen auf einen „Homo Konsumentis“ hinauskommt, der nur in Kategorien beständiger Expansion, wirtschaftlich gesprochen „Wachstum“ denken und leben kann, solange keine andere Weltorientierung, kein anderes Verständnis vom Menschen in der Welt entwickelt worden ist, das ihn wieder als kosmisches Ganzes begreift, solange ist eine weitere Zuspitzung der genannten Widersprüche unumgänglich, in welcher Konstellation auch immer.  

Das betrifft auch die nationale Frage. Zwar könnte die Achtung der internationalen Ordnung, wie sie die Charta  der Vereinten Nationen enthält, einen Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen abgeben, wenn sich alle Länder darauf als zur Zeit noch verbindlichen Rahmen einigen könnten, und niemand total quer schösse, aber – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – angesichts der globalen Verflechtung unserer heutigen Weltwirtschaft, Technik und Kultur ist die nationale Ordnung des Völkerlebens, ist die nationale Organisation, konkreter gesprochen, der nationale Zugriff auf das Feld der Ressourcen etc., ein auslaufendes Modell.

Die heute anstehenden Aufgaben, allen voran die Bewirtschaftung von Ressourcen – als Beispiel seien nur Öl und Internet genannt – können nur dann befriedigend und friedlich gelöst werden, wenn dies in nicht national begrenzter gemeinschaftsdienlicher Verwaltung  geschieht. Das allein kann eine Entwicklung öffnen, die im Rahmen der allgemeinen Nutzung zugleich zu der existenziell notwendigen Wiederbelebung lokaler Räume durch miteinander verbundene größere oder kleinere Bedarfsgemeinschaften führt.

Gebraucht wird eine Differenzierung gesellschaftlicher Aktivitäten, bei welcher der einzelne Mensch zugleich selbstorganisiert und in kooperativer Gemeinschaft leben kann, ohne von einem Staatsmonopol oder gar einem globalen Hegemons auf einen bloßen Konsumenten reduziert und zum Schräubchen fremder Interessen erniedrigt  zu werden.  

Mögliche Ansätze zu Entwicklungen in diese Richtung gibt es viele – globale,  regionale und lokale. Nach dem ersten, ebenso nach dem zweiten Weltkrieg und heute. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und wird viel ausprobiert . Eine Verwirklichung im großen Maßstab steht jedoch noch aus. Ein vorübergehendes Patt der heutigen Großmächte und ihrer politischen wie auch persönlichen „Follower“ könnte eine Chance sein, einen neuen Anlauf zur Förderung solcher Alternativen zu entwickeln. Klar ist jedoch: Die Rückführung der jetzigen globalen in bi-nationale Beziehungen unter der Dominanz eines Hegemons, wie das von der amerikanischen Politik, genauer von ihrem gegenwärtigen Präsidenten zurzeit anvisiert wird, ist nicht dazu geeignet, Alternativen auch nur ansatzweise zu fördern. Sie läuft auf eine Zertrümmerung solcher Ansätze hinaus. Möglicherweise ist das auch ein Weg zur Erkenntnis, aber es ist der schlechtere Weg.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu  das Video:

http://www.russland.news/putin-und-trump-ein-gespann-video

 

 

und das Buch:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Eigenverlag, Bestellung über: www.kai-ehlers.de

 

Außerdem Vortragsangebote, die Sie buchen können:

Siehe dazu auf der Eingangsseite: VORTRÄGE BUCHEN

[1] Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht, 1996 bei Fischer, neu herausgegeben bei Kopp Verlag, 2015

[2] Brzezinski, Zbigniew, Second Chance, 2006, English, Basic books, 2007

[3] Brzezinski, Zbigniew, Strategic vision, America and the crisis of global power, English, S. 131, Basic Books,

[4] Mackinder, Halford, 1861 – 1947, britischer Geopolitiker, Begründer Theorie des „Herzlandes“

Aleppo – apropos Scham

„Das Versagen“, so lautete der Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Niederlage der „Rebellen“ in Aleppo am 17. Dezember.

„Dass wir alle etwas sehen im 21. Jahrhundert“, erklärte die deutsche Bundeskanzlerin auf dem zurückliegenden Gipfel der „Europäischen Union“, „was zum Schämen ist, wo das Herz bricht,  was zeigt, dass wir politisch nicht so handeln konnten, wie wir gerne handeln würden.“ (ebendort)

Ja! kann man dazu nur sagen! Ja! Es ist eine Schande, was dort in Aleppo, was heute noch in Syrien geschieht, was weiterhin dort zu geschehen droht .

Aber worin besteht das Versagen? Und wer sind „wir“, die sich schämen müssten, weil sie nicht so handeln konnten wie sie wollten?

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„Values and deals“ – Anmerkungen zu einem verborgenen Aspekt des syrischen Krieges

Dass es in Syrien nicht um das Wohlergehen der dort lebenden Menschen geht, bedarf keiner Beweise: 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land. Diese Tatsachen sprechen für sich. Dass dem Terrorismus mit Bomben nicht beizukommen ist, gleich, wo sie produziert, von wem sie abgeworfen werden und wie entschlossen sich alle Beteiligten geben, ist ebenso offensichtlich. Dass es um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist auch klar. Das alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden.

Aber etwas Drittes rückt in den aktuellen Absprachen zwischen USA und Russland um einen Waffenstillstand zurzeit in Syrien zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde das durch einen irritierenden Auftritt Bascha al Assads unmittelbar nach Bekanntgabe der zwischen den USA und Russland getroffenen Absichtserklärungen ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen:

„Der syrische Staat“, ließ Assad bei einem, wie die FAZ zu Recht als besonders bemerkenswert hervorhebt, „seltenen öffentlichen Auftritt“ demonstrativ verlauten, „ist entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die Syrischen Streitkräfte, so Assad  weiter,  würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“  fortsetzen. (Zitiert nach FAZ, 13.09.2016)

Was war das? Die Ansage eines unverbesserlichen „Schlächters“? Eine Provokation? Verzweiflung? Eine Dummheit? Ein abgesprochener Auftritt? Wenn abgesprochen, dann mit wem und wofür?

 

Schweigen zu Assad

Bei genauerem Nachforschen fällt auf, dass in den aktuellen Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt wird, welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende spielen soll, nachdem zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten wurde.

Die russische Position war bisher eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen.

Die amerikanische Position war ebenso eindeutig. Sie ist durch das schon unter G.W. Bush entwickelte „Project of a new American century“[1] unmissverständlich und schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden. Auch dies ist sattsam bekannt.

Weniger bekannt ist, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier lohnt ein Blick auf ein von der „Deutschen Welle“ gezeigtes  Interview[2], das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung,  zu der Frage gab, wie er zu dieser Annäherung stehe.

Assads Antwort verblüfft, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf den frappierenden Nenner bringt, den er „value and deal“ nennt – „value“ als Motivation für die russische, „deal“ für die amerikanische Intervention.

In den Worten der „Deutschen Welle“ klingt das so: „Anders als die Politik der USA fuße die russische Politik nicht darauf, Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten.  Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne, so Assad.“

Die Russen, so Assad weiter, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.

 

Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nehmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung  zu betreiben. Syrien war auf dieser Line, wie gesagt, die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war für Russland das Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht,  Russland ist inzwischen auch soweit zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegenzutreten.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was jetzt mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende„ herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder sind die USA auf die Linie Russlands eingeschwenkt, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und des Landes erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt werde.

 

Souveränität für alle?

Hier erhebt sich die weiterführende prinzipielle Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe, eines Volkes die gleiche  Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das die Kurden, die heute drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Roschawa“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Roschawa“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre Verfassung nicht nur zu einem Modell für ganz Syrien werden, es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als internationales,  als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für „Roschawa“ gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, oder gar, wie die Türkei, sie als „Terroristen“ bekämpfen.

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität  und Selbstbestimmungsrecht der Völker in ein neues Verhältnis zueinander bringt. Das könnte geschehen, indem als drittes Element das Selbstbestimmungsrecht des Individuums mit in den Zusammenhang eingeht – eine Aufgabe der Zukunft.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiterführende Frage, WIE das geschieht.  Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation und darauf beruhende Vereinbarungen. In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht unterworfen ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[2] https://www.google.de/?gws_rd=cr&ei=bpvZV-vPLq-W6QSL8KbADw#q=DW+USA+wollen+in+Syrien+mit+Russland+zusammenarbeiten

EU – Brexit – Tür auf für eine Föderalisierung europäischer Regionen? Schlaglicht auf eine historische Tendenz.

Ein demokratisches Europa föderal verbundener Regionen, in dem die Menschen selbstbestimmt in kooperativer Gemeinschaft und Wohlstand miteinander leben können, ist eine wunderbare Vision. Was hat der Austritt der Briten aus der „Europäischen Union“ mit einer solchen Vision zu tun? Fördert er sie, schädigt er sie oder zerstört er sie gar?

Spekulieren über die nächsten konkreten Folgen des britischen Referendums macht wenig Sinn. Sehr viel mehr Sinn macht es, darüber nachzudenken, in welchem historischen Strom die britische Abstimmung steht. Das soll hier  in wenigen ersten Stichworten geschehen. Sie können zugleich ein Licht darauf werfen,  in wessen Interesse diese Entwicklung stattfinden könnte.

 

Zwischen Multipolarität …

Da  ist zunächst die Multipolarität: Mit dem Ende der Sowjetunion  Mitte der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts fand das Stichwort ‚multipolar‘ zugleich mit dem der Globalisierung seinen Eingang in die strategischen Optionen der neu entstehenden Weltordnung.

Es war Michail Gorbatschow, der es aus der Selbstbegründung des chinesischen Aufbruchs Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in die Debatte darum brachte, wie er sich die neue Ordnung vorstellen könnte – ein Wirtschaftsraum  von Lissabon bis Wladiwostok  im Rahmen einer neuen Gruppierung der Weltmächte.

Unter Boris Jelzin versank die Vision des Multipolaren vorübergehend in der uneingeschränkten westlichen Dominanz über Russland, vor allem seitens der USA.  Unter neuen Zielsetzungen tauchte sie erst unter Wladimir Putin wieder auf, fand in den Verbindungen der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in Russlands Forderungen nach Reformen der Vereinten Nationen, um die herum sich die verschiedenen globalen Newcomer scharten, ihre Aktualisierung. Russland wurde zu ihrem Impulsgeber.

 

…und Globalisierung

Die Globalisierung der alten Welt im Stile der US-Hegemonie stand dem als Counterpart entgegen. Diese Art der Globalisierung entwickelte sich aber in einer extrem widersprüchlichen Dynamik: Strategisch setzen die USA seit dem Zerfall der bipolaren Welt auf eine Fraktionierung der globalen Staatenwelt, also auf die Methode „Teile und Herrsche“ und dies mit zunehmender  Gewalt. In Zukunft müsse verhindert werden, dass der Herrschaft der USA irgendwo auf der Welt noch einmal ein Rivale entstehen könne.

Wer dies genauer verstehen will, möge sich das bekannte Buch des US-Strategen Zbigniew Brzezinski „Die einzige Weltmacht“ von 1995 noch einmal vornehmen.[1]

Zugleich bauten die USA und ihre westlichen Verbündeten unter dem  Label der ‚Globalisierung‘ ein von ihnen dominiertes weltumspannendes Finanzimperium auf, das den globalen Flickenteppich abhängiger Nationalstaaten und in zunehmendem Maße auch zerschlagener „failed states“, freundlich gesprochen, nur noch absorbiert und zur Abstützung ihrer Herrschaft benutzt.

Ergebnis dieser Entwicklung ist das Heranwachsen eines krassen  Widerspruchs zwischen einer von der Hegemonialmacht USA betriebenen Fraktionierung der Welt und dem  unter ihrer Dominanz zugleich entwickelten Diktat einer wachsenden globalen Finanzdiktatur – WTO, GATT, GATS, aktuell TTIP, TTP  usw.

Diese widersprüchliche Entwicklung trägt unter dem daraus entstehenden Druck zunehmende katastrophale Züge, die lokale Wirtschaften und Kulturen und deren Staatlichkeit erdrückt. Zugleich jedoch geht aus ihr,  entgegen den Intentionen ihrer Urheber, eine Wiederbelebung, gewissermaßen eine Unterfütterung der multipolaren Tendenzen durch vielfältigste Bewegungen für lokale und regionale Autonomie, für mehr Kompetenzen vor Ort, für unterschiedlichste Formen der Kommunalisierung hervor usw., in denen sich die wachsende Unzufriedenheit der Menschen ausdrückt, die sich ihr Leben vor Ort nicht mehr zerstören lassen wollen, die es auch nicht mehr bei Protesten belassen, sondern es bis hin zu Revolten selbst in die Hand nehmen wollen.

 

Die EU im Strom des Multipolaren

In diesem Strom steht inzwischen auch die EU. Schon mit ihrer Gründung war sie ein neues Element zwischen den USA und der Sowjetunion in der von beiden in der Konkurrenz des ‚Kalten Krieges‘ beherrschten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Das geteilte Deutschland in einem geteilten Europa war bis 1989 Ausdruck dieser Tatsache.

Nach dem Zerfall der Polarität von USA und SU seit Mitte der 1980er/Anfang der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts avancierte Europa in Gestalt der Ost-Erweiterung der EU und der NATO zu einem Bestandteil der sich herausbildenden multipolaren Welt,  die als „Friedensprojekt“ den Anspruch auf  demokratische Überwindung des europäischen Nationalismus stellte. Zugleich war sie aber Objekt des Konfliktes, der nach dem Zerfall der Sowjetunion zwischen dem Anspruch der USA auf Weltherrschaft und Russland als Protagonist einer sich andeutenden multipolaren Ordnung herangewachsen war. Man könnte beinahe versucht sein, von einem Opfer zu sprechen, das der Erhaltung der US-Hegemonie seitens der EU dargebracht wurde.

In diesem Zuge mutierte die EU als Bestandteil des globalen Finanzimperiums zu einem zunehmend bürgerfernen bürokratischen Superstaat, der die nationalen, nicht zuletzt die demokratischen Spielräume seiner Mitglieder  zusehends korsettierte.

 

Europa ist mehr als die EU

Im Effekt tritt in den Bewegungen der zurückliegenden Jahre die Tendenz hervor, dass die von den „Verteidigern“ der herrschenden Hegemonialordnung eingeschlagene Strategie der Fraktionierung der globalen Verhältnisse einerseits Unwillen, Chaos , rückwärts zum Nationalismus gewandte Tendenzen bis hin zu sich ausbreitenden Kriegen hervorbrachte und zunehmend bringt, andererseits aber auch den Keim einer neuen Ordnung erkennen lässt, der in die Richtung einer multipolaren, kooperativ und demokratisch orientierten Beziehung sich selbst bestimmender Völker, Länder, Regionen und Kommunen weist, die sich vom Joch eines lähmenden Zentralismus befreien wollen.

Beide Entwicklungen sind möglich. „Automatisch“ läuft nichts. Die eine ist brandgefährlich mit Tendenzen zur Ausweitung globaler Kriege, die andere vermittelt die Ahnung einer lebensdienlichen Zukunft – wenn der Umbruch, zudem  bekämpft von Gegnern, nicht selber die in ihm angelegten demokratischen Impulse verbraucht.

Kurz gesagt, es geht nicht nur darum die aktuellen Wirkungen des Brexit einzugrenzen, indem wir jetzt „Ruhe und Besonnenheit“ einhalten, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Erklärung zur britischen Entscheidung anmahnt, andererseits aber auch nicht darum, die Abkoppelung weiterer Austrittskandidaten zu beschleunigen, um den Restbestand der EU durch „Demokratisierung“ in ihrer Funktion als funktionierender Gesamtstaat zu retten, wie es der Präsident des europäischen Parlamentes Martin Schulz vorschlägt, oder gar durch Schrumpfung auf eine Kerngemeinschaft zu effektivieren, wie es Wolfgang Schäuble, dem deutschen Finanzminister, schon lange vorschwebt.

Es geht darum, das Europa sich als aktiver Teilnehmer in die Tendenz sich öffnender Föderalisierung europäischer Kommunen und Regionen in einer sich entwickelnden multipolaren Welt eingibt. Dies läge im Interesse der  Mehrheit der Menschen Europas, nicht nur der jetzigen EU – und zweifellos auch der übrigen „westlichen“ Welt.

Dies gilt selbstverständlich auch für Russland, dass seit Jahrzehnten der multipolaren Spur nachgeht – und es gilt nicht nur für seine Außenbeziehungen, sondern auch für seine innere Verfassung, die, anders als die EU, aber nicht minder eine Befreiung der Selbstbestimmungskräfte und regionalen Autonomie von einen strangulierenden Zentralismus braucht.

Man darf sagen, die Welt geht spannenden Veränderungen entgegen.

Kai Ehlers, www.kai-Ehlers.de

 

[1] Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft von Zbigniew Brzeziński.

Kopp Verlag – Unveränderte Neuauflage November 2015;

ISBN: 978-3-86445-249-9; Preis 9,95 €

 

Bildnachweis: Strassenszene IN OUT UK. BREXIT oder BREXIN / BREMAIN? Werden die Briten in der EU bleiben? Foto: Tyler Merbler. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

 

Merkels Minsker Märchenstunde

Parallel zu den NATO- Übungen in Polen, begleitet durch die neue Zielvorgabe von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Militärausgaben über das von der NATO geforderte Maß auf das der  Vereinigten Staaten heben zu wollen,  sollen nach dem Willen der EU, allen voran der deutschen Kanzlerin Merkel nun auch die Sanktionen, welche die EU im Sommer 2014 gegen Russland beschlossen hat, um ein weiteres halbes Jahr bis Ende Januar 2017 verlängert werden. Dies beschlossen die Botschafter der 28 EU-Staaten bei ihrem  letzten Treffen Anfang Juni einstimmig. Ihr Beschluss wurde soeben von Brüssel bestätigt.

Als Begründung für die Notwendigkeit der Verlängerung der Sanktionen wurde von der Botschafterversammlung angegeben, dass es mit der  Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die im Februar 2014 zwischen Angela Merkel, François Hollande , Wladimir Putin und Petro Poroschenko als „Reaktion auf Russlands Unterstützung der Separatisten“ beschlossen wurden, noch ‚gewaltig hapere‘, so der Tenor im Mitteilungsblatt der Regierung, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22.06.2016, dem ein ausführlicher Bericht zu dem Treffen zu entnehmen war. In dem Bericht heißt es:

„Nicht nur wird der damals  zugesagte Waffenstillstand immer wieder gebrochen. Noch längst wurden zudem offenbar nicht alle schweren Waffen  aus der Pufferzone abgezogen. Und nach wie vor  stehen die in Minsk  vereinbarten Kommunalwahlen  in der Ostukraine aus.“ Weitere Begründungen werden nicht gegeben.“

Stimmt. An der Grenze zwischen den Donbas-Republiken und der Kiewer Ukraine wird nach wie vor geschossen. Nicht mitgeteilt wird jedoch, wer schießt, obwohl die Frage eindeutig zu beantworten wäre: beide Seiten schießen. Die Klage darüber konnte man in den letzten Monaten in wachsendem Maße den Berichten der OSZE entnehmen und sogar aus Munde des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeiers hören. (siehe dazu diverse Berichte in russland.ru, jetzt russland.news), wenn er seine Eindrücke über die Erfolge der Demokratisierung in der Ukraine immer unzufriedener kommentierte.

Dass die  Kommunalwahlen der Ostukraine ausgeblieben seien, stimmt allerding s nur noch halb. Tatsache ist, es fanden Wahlen in der Ostukraine statt, allerdings nicht nach den in Minsk  vereinbarten, sondern nach eigenen örtlichen Bedingungen, weil die in den Minsker Beschlüssen vereinbarten Voraussetzungen von Kiew trotz diverser Gesprächsangebote aus dem Ostteil des Landes nicht hergestellt wurden. Eine Erinnerung an diese Vereinbarungen und ein Bestehen auf ihrer Einlösung sucht man in den  Begründungen für die aktuelle Sanktionsverlängerung jedoch vergebens.

Dabei könnte alles so einfach sein, wenn diese Vereinbarungen des Minsker Protokolls, die den Kern des Konfliktes zwischen Kiew und den Ostgebieten betreffen,  genannt, anerkannt und erfüllt würden. Sie lauten: Die Kiewer Regierung führt eine Verfassungsänderung durch, als deren wesentliches Ergebnis sie den Gebieten Donezk und Lugansk eine begrenzte Autonomie zugesteht, auf deren Grundlage dann Wahlen für die gesamte Ukraine durchgeführt werden können. (Siehe die Fakten zu den Vereinbarungen im 2. Teil dieses Artikels)

Tatsache ist, dass die Verfassungsreform bis heute nicht durchgeführt wurde, dass keine direkten Gespräche zwischen Kiew und den Donbas-Vertretern zur Vorbereitung und Einleitung einer solchen Reform zustande kamen – sei es, weil Poroschenko und seine Umgebung es selbst nicht wollen, sei es weil sie durch das nationalistisch dominierte Parlament daran gehindert werden. Mit Terroristen verhandeln wir nicht, hieß die bisher dabei von Kiewer Seite insgesamt verfolgte Linie.

Von  all dem – den ursprünglichen Vereinbarungen, wie deren Missachtung durch Kiew – ist,  wie gesagt, in den Begründungen für die Verlängerung der Sanktionen nicht mehr die Rede. Zwar werden von deutscher Seite, Steinmeier, großzügig „schrittweise Lockerungen“ der Sanktionen angeboten,  allerdings nur, wenn  „substanzielle Fortschritte“ bei der Umsetzung der Verträge erkennbar würden – substanziell von russischer Seite, versteht sich, wobei im Nebel bleibt, worum es hierbei gehen soll, da Russland eh schon seine Unterstützung auf die Aufrechterhaltung der rudimentären Infrastrukturen der Gebiete reduziert hat, die OSZE-Kontrollen in  mitträgt, den beschlossenen Fahrplan, wie oben  benannt, immer wieder zusammen mit den Donbas-Vertretern einklagt.

Dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wäre, wie er öffentlich erklärte, als „Signal aus Moskau“ sogar schon mit einem „Wahlgesetz für die Ostukraine“ Genüge getan. Aber selbst dafür, höhnt die „Frankfurter“, habe es in Minsk nicht gereicht.

Ähnliche  Töne wie die Steinmeiers und Gabriels sind auch von den Franzosen und Italienern,  waren in St. Petersburg vor einer Woche auch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu hören. Ungarn und Griechen schwanken. Gänzlich unnachgiebig sind die Balten und die Polen.

Kurz, es gibt durchaus widersprüchliche Positionen innerhalb der EU zu der Frage  und es fragt sich, wie lange die nach außen demonstrierte Einigkeit aufrechterhalten werden kann.  Nach dem Austritt Englands aus der EU stellt sich diese Frage noch einmal aktueller. In der Beschlussfassung zu den Sanktionen stellten jedoch weder Steinmeier, noch die Franzosen, noch die Italiener, noch sonst irgendjemand die Einstimmigkeit in Frage.

Die Beendigung der Minsker Märchenstunde lag  dann bei der deutschen Kanzlerin, die „klarstellt(e)“, wie die „Frankfurter Allgemeine“ es kernig formulierte, dass sie  eine Lockerung  der Sanktionen für „verfrüht“ halte. Die Zeitung weiß zu diesem Vorgang im Übrigen noch die folgende nette Anekdote zu berichten:

„Ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen war in der vergangenen Woche  mit zwei ranghohen Diplomaten  des Auswärtigen Amtes  nach Minsk gereist.  Nach der Reise  konnte Merkel sowohl Skeptikern in der EU als auch ihrem Koalitionspartner ausrichten: Seht her, wir haben es versucht. Aber es reicht noch nicht. Steinmeier und Gabriel mussten dies akzeptieren.“ So einfach ist das.

Was immer Kanzlerin Merkels Emissäre dort in „Minsk“ und bei wem  gefunden haben mögen – die tatsächlichen Vereinbarungen vom Februar 2015 fanden sie dort offenbar nicht. Angesichts eines solchen kollektiven Misserfolges bei der Suche nach Originalquellen oder auch einfach bedauerlichen Gedächtnisverlustes scheint es sinnvoll noch einmal an daran zu erinnern, was in den ursprünglichen Vereinbarungen zu finden wäre, was auch nicht mit neuen Reisen nach Minsk gesucht werden müsste, wenn man es denn finden wollte:

Dies kann jetzt und hier an Hand eines Textes von mir geschehen, der sich vor nahezu einem Jahr, am 1. Mai 2015, schon einmal die Aufgabe stellte, daran zu erinnern, was in Minsk tatsächlich beschlossen und schon seinerzeit beiseitegeschoben worden ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

***

 

Es folgt jetzt der Originaltext vom 1. Mai 2015, veröffentlicht u.a. in Russland.ru/russland.news

 

Wie alles sein könnte –

Ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen

 

Eigentlich ist alles ganz einfach: Die ukrainische Führung akzeptiert die Vereinbarungen des zweiten Minsker Treffens vom 12. Februar 2015, das heißt, sie geht mit den politischen Vertretungen der inzwischen selbst verwalteten Gebiete Donezk und Lugansk in direkte Verhandlungen über den autonomen Sonderstatus, den diese Gebiete ausgehend vom jetzigen Status quo in einer demokratisch und dezentral organisierten Ukraine erhalten sollen. Die Bereitschaft zu diesen Gesprächen geht von der Einsicht aus, dass eine militärische Lösung der Verfassungsprobleme der Ukraine nicht möglich ist.

Die Gespräche um Ausmaß und Form des autonomen Sonderstatus – Föderalisierung, Autonomie, lokale Sonderrechte oder einfache verwaltungstechnische Dezentralisierung – sind zugleich Bestandteil einer Verfassungsreform, als deren Ergebnis die autoritäre zentralstaatliche Organisation der Ukraine in eine dezentrale Demokratie umgewandelt werden soll.

Soweit, so klar, ein solches Vorgehen entspräche voll und ganz den Vereinbarungen, die in Minsk II getroffen wurden. Zur Erinnerung hier die entsprechenden Passagen der Minsker Vereinbarungen, die das Prozedere für die oben beschriebene Entwicklung unmissverständlich benennen (zitiert nach der „Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Ukrainekrise“, die dort am 19. Februar 2015 in Übernahme der Minsker Vereinbarungen beschlossen wurden):

 

Aufnahme eines Dialogs

Punkt 1 des Minsker Maßnahmenpaketes:

„Aufnahme eines Dialogs am ersten Tag des Abzugs (der schweren Waffen – ke) über die Modalitäten  von lokalen Wahlen  in Übereinstimmung mit ukrainischem Recht und dem Gesetz der Ukraine über  das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk  sowie über die künftigen Regelungen  für diese Regionen auf der Grundlage dieses Gesetzes. Unverzügliche Verabschiedung eines Beschlusses des Parlaments der Ukraine spätestens 30 Tage nach der Unterzeichnung dieses Dokuments, in dem das Gebiet, das einen Sonderstatus genießt, nach dem Gesetz der Ukraine über das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk festgelegt wird, und zwar auf der Grundlage der Linie des Minsker Memorandums vom 19. September 2014.„[i]

Kompliziert formuliert – aber doch klar: Nach Rückzug der schweren Waffen soll der direkte Dialog zwischen der Kiewer Führung und den selbstverwalteten  Gebieten Donezk und Lugansk aufgenommen werden, um den Status dieser Gebiete, auch den territorialen, im Verbund des ukrainischen Staates zu klären. Es werden keine Vorgaben über die Form und den Charakter dieses Status gemacht.

Noch deutlicher wird die Forderung nach einem Dialog in den Punkten 9 und 11 des Abkommens; diese Punkte sollen hier, wiewohl auch etwas mühsam zu lesen, ebenfalls zitiert werden, um Einseitigkeiten, Missverständnissen oder sei es auch nur einer allgemeinen Amnesie entgegenzuwirken:

 

Absprache und Einvernehmen

Punkt  9 und 11 des Maßnahmenpakets:

 „Wiederherstellung der vollen Kontrolle über die Staatsgrenze durch die ukrainische Regierung im gesamten Konfliktgebiet, die am ersten Tag  nach den lokalen Wahlen und nach der umfassenden politischen Regelung (lokale Wahlen in den gesonderten Regionen und Verwaltungsgebieten Donezk und Lugansk auf der Grundlage des Gesetzes der Ukraine und einer Verfassungsreform) endet; diese Regelung soll bis Ende 2015 finalisiert werden, vorausgesetzt, dass Absatz 11 in Absprache und im Einvernehmen mit Vertretern der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe umgesetzt wird.“

 

Punkt 11 lautet, um das gleich anzuschließen:

„Durchführung einer Verfassungsreform  in der Ukraine, wobei die neue Verfassung  bis Ende 2015 in Kraft treten soll und die Dezentralisierung  als Schlüsselelement vorsieht (einschließlich einer Bezugnahme auf die Besonderheiten  in den gesonderten Regionen Donezk und Lugansk, und  zwar in Absprache mit den Vertretern dieser Regionen), und Verabschiedung dauerhafter Rechtsvorschriften über den Sonderstatus der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  bis Ende 2015 in Übereinstimmung mit den in der Fußnote dargelegten Maßnahmen. (Anmerkung)“

Ist schon mit diesen Punkten klar, dass NICHTS gehen kann, ohne die Aufnahme eines direkten Gespräches zwischen Kiew und den „gesonderten Regionen“, so beseitigen die Fußnoten („Anmerkung“) jeden Zweifel, was der Geist von Minsk II, der so oft beschworen wird, eigentlich ist – oder sein könnte.

 

Möglichkeit zu Initiativen

„Anmerkung: Nach dem Gesetz über das Sonderverfahren für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  handelt es sich um folgende Maßnahmen:

– Verzicht auf Bestrafung, strafrechtliche Verfolgung und Diskriminierung von Personen, die in die Ereignisse verwickelt waren, die in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk stattgefunden haben;

– Recht auf sprachliche Selbstbestimmung;

– Beteiligung von Organen der lokalen Selbstverwaltung an der Ernennung der Leiter  der Staatsanwaltschaften und Gerichte in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk;

– Möglichkeit für zentrale Regierungsstellen, Vereinbarungen mit Organen der lokalen  Selbstverwaltung betreffend die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der gesonderten  Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk zu initiieren;

– Staatliche Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk mit Regionen der Russischen Föderation  durch zentrale Regierungsstellen;

– Schaffung von Volkspolizeieinheiten durch Beschlüsse der lokalen Räte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Die Befugnisse der in vorgezogenen Wahlen  und von der Werchowna Rada der Ukraine nach diesem Gesetz ernannten Abgeordneten von lokalen Räten und Amtsträgern können nicht vorzeitig beendet werden.“

 

Im Mittelpunkt der direkte Dialog

Auch wenn hier wieder kompliziert  formuliert wird und ohne an dieser Stelle auf  Einzelheiten eingehen zu können, geht doch auch aus den Anmerkungen eins klar hervor: Im Mittelpunkt der Absprachen steht die Einleitung eines direkten Dialoges zwischen den Konfliktparteien – und in diesem Zuge selbstverständlich auch mit anderen Regionen der Ukraine – um die Frage, welche Form eine Dezentralisierung der Ukraine annehmen kann. Über die konkrete Ausgestaltung soll miteinander gesprochen werden.

Merke: eine bestimmte Form wird in der Vereinbarung nicht vorweggenommen. Zu verhandeln wäre also über unterschiedliche Vorstellungen von der Föderalisierung, über Autonomie, lokale Sonderrechte bis hin zu einfacher Dezentralisierung von Verwaltungsbefugnissen. Die ganze Bandbreite steht zur Debatte.

Als Gesprächspartner werden die „Vertreter dieser Regionen“ zum einen und „zentrale Regierungsstellen“ zum anderen benannt. Den zentralen Regierungsstellen wird in den Anmerkungen (Satz vier) die „Möglichkeit“ eingeräumt, Vereinbarungen mit Organen der lokalen Selbstverwaltung zu „initiieren“, wohlgemerkt, nicht etwa zu verordnen oder zu befehlen, sondern ausdrücklich als Möglichkeit zu initiieren. Auch hier wieder keine Vorgabe einer bestimmten oder gar nur einer Lösung.

 

Politische Grundfrage lösen

Die Erfüllung weiterer Punkte des Minsker Abkommens – wie: Rückzug schwerer Waffen,  Amnestie, Gefangenenaustausch, humanitäre Hilfe, Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Landesteilen der Ukraine, „Entwaffnung illegaler Gruppen“, Rückzug aller „ausländischen bewaffneten Formationen“ wird dann möglich, kann dann einen Sinn machen und dann entspannende und aufbauende Folgen haben, wenn dieser Dialog um die grundsätzlichen politischen Fragen der Beziehung zwischen dem Kiewer Zentrum und als Statthalter des Staates und seiner einzelnen Subjekten effektiv im direkten Gespräch der Konfliktparteien aufgenommen wird.[ii]

Der Bevölkerung der Ukraine täte es zweifellos mehr als gut, wenn diese Gespräche endlich begonnen würden. Das gilt für die westliche Ukraine ebenso wie für die östlichen Teile, insbesondere natürlich für die „gesonderten Gebiete“ von Donezk und Lugansk, deren soziale und technische Infrastruktur durch den inzwischen einjährigen Krieg soweit zerstört ist, dass ein Leben dort auf ein Vegetieren unter dem Existenzminimum heruntergekommen ist.

Gut wäre die Aufnahme des Dialoges zweifellos auch für die Völker Russlands und die der Europäischen Union, denen die, in immer neue Milliarden gehenden, Lasten für den sinnlosen Sanktionskrieg des Westens gegen Russland und für die Kriegswirtschaft der Ukraine aufgebürdet werden.

Kommt noch das Aufatmen dazu, das durch die Welt ginge, wenn nicht Säbelrasseln, sondern Dialog, Verständigung und Kooperation die internationale Agenda bestimmte.

 

Falsches Spiel

Tatsächlich hat die erste Sitzung der ukrainischen Verfassungskommission, die eine Dezentralisierung der Ukraine einleiten soll, inzwischen stattgefunden –  allerdings gerade n i c h t  im Geiste der Minsker Vereinbarungen, sondern in dessen glatter Verkehrung: Föderalisierung sei eine „biologische Waffe“, die man der Ukraine „von außen aufzwingen“ wolle, „um unsere Einheit zu zerstören“, erklärte Präsident Poroschenko gleich zu Beginn der ersten Sitzung der Kommission. Damit schloss er eine offene Aussprache um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Dezentralisierung von vornherein aus. „Die Ukraine ist und bleibt ein Einheitsstaat“, postulierte er.

Zwar setzte Poroschenko, an die Kommission gewendet, noch hinzu: „Für diejenigen, die über Föderalisierung sprechen, schlage ich ein Instrument namens ‚Referendum‘ vor. Ich bin bereit für ein solches Referendum, wenn Sie das für notwendig halten.“ Den eigentlichen Punkt aber setzte Ministerpräsident Jazenjuk mit dem Statement: „Eine neue Verfassung müsse die Interessen des gesamten Landes berücksichtigen – von West nach Ost. Der Dialog mit dem Osten kann erst dann stattfinden, wenn es dort rechtmäßig gewählte Abgeordnete  gibt.  Wir verhandeln nicht mit russischen Kriminellen oder Terroristen.“[iii]

Der ukrainische Parlamentsvorsitzende Wolodymyr Hroisman erklärte im TV-Sender ‚Inter“, die Zentralregierung werde nach Abhaltung freier Lokalwahlen mit den Gewinnern  einen politischen Dialog führen. Anführer von Banditengruppen und Kämpfern  der sog.  „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ an künftigen Wahlen schieden jedoch aus. Und wörtlich: „Es können keine Mörder, keine Bandenführer und alle anderen gewählt werden. Das sind Verbrecher, die bestraft werden müssen.“[iv]

 

Autonomie von Kiews Gnaden

Voraufgegangen war diesen Auftritten die Verabschiedung eines „Gesetzes über die Autonomie in den Separatistengebieten“ in der Werchowna Rada Kiews. Nach diesem Gesetz soll über einen Autonomiestatus der Gebiete Donezk und Lugansk erst nach den gesonderten Kommunalwahlen vom 25. Oktober 2015  entschieden werden. Außerdem legt das Gesetz eine Liste von Ortschaften fest, für die künftig eine Autonomie gelten soll. Diese Territorien werden in dem Gesetz zu „vorübergehend  besetztem Gebiet“ erklärt.

Alle diese Änderungen wurden ohne Beteiligung der Vertreter von Donezk und Lugansk getroffen. Vorschläge, für den Verfassungsprozess, darunter auch solche zu den Kommunalwahlen, die die Vertreter von Donezk und Lugansk nach Kiew geschickt hatten, wurden von dort nicht beantwortet.[v]

Mit dem Gesetz über die Autonomie in den Separatistengebieten und den darauf folgenden Weichenstellungen des Verfassungskongresses ist das Minsker Abkommen faktisch vom Tisch. Die Konsequenz des Gesetzes wäre vielmehr, wenn es umgesetzt  werden könnte, dass die „gesonderten Gebiete“ ihren blutig erkämpften Sonderstatus erst aufgeben müssten, um ihn sich von Kiew dann wieder gewähren zu lassen. Es ist klar, dass die politischen Körperschaften, die durch die Referenden und die unabhängig von Kiew durchgeführten lokale Wahlen n Donezk und Lugansk im Lauf des Jahres 2014 legitimiert worden sind, sich darauf nicht einlassen können. Was jetzt kommt, wenn keine Korrektur erfolgt, kann unter diesen Umständen nur auf eine Fortsetzung der bisherigen „Anti-Terror-Aktion“ hinauslaufen, die sich wahlweise  als Verfassungsreform, Dezentralisierung oder Demokratisierung tarnt. Dass die so ins Visier genommenen „Terroristen“, dies nicht widerstandslos hinnehmen werden, ist ebenso klar. Offen ist allein, wie weit sich die hinter den Konfliktparteien stehenden Schutzmächte in die neue Runde der Konflikte aktiv mit einmischen oder mit in sie hinein ziehen lassen wollen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                             Freitag, 1. Mai 2015

Bücher zum Thema:

Peter Strutynski (Hg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, Papyrossa

 

Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.), Ukraine m Visier, Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, Selbrund Vlg.

 

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte

 

 

 

[i] Wortlaut von Minsk 1: http://www.bpb.de/internationales/europa/ukraine/192488/dokumentation-das-minsker-memorandum-vom-19-september

[ii] Vollständiger Wortlaut der UN-Resolution: http://www.russland.ru/resolution-des-un-sicherheitsrates-zur-ukrainekrise/

[iii] http://de.euronews.com/2015/04/06/poroschenko-ja-zur-dezentralisierung-nein-zum-foederalismus/

 

[iv] http://www.ukrinform.ua/deu/news/hroisman_von_einer_fderalisierung_der_ukraine_kann_keine_rede_sein_14829

[v] http://www.dw.de/keine-chance-auf-frieden-f%C3%BCr-ostukraine/a-18323459

Globales Zwischenhoch: Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum?

Die Augen müsse man sich reiben, alles werde auf den Kopf gestellt, konnte man dieser Tage in dem führenden Blatt der deutschen Konservativen, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.06.2016 lesen.

Empörung breitete sich auf den Bonner und Brüsseler Etagen aus. Einen „ungeheuerlichen Vorwurf“  erkannte der  Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Eckpfeiler der deutschen, der europäischen Außenpolitik, gar der NATO-Strategie sah man bedroht. Man wolle doch nur die Sicherheit an Russlands Grenzen sichern; ein anderes Interesse als Friedenserhaltung verfolge die NATO nicht, schob Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag darauf nach.

 

Putins Angebot: Weg mit den Sanktionen

Was war geschehen? Auf dem 20. Petersburger Wirtschaftsforum vom 17.06.2016, zu dem rund 500  Vertreter und Vertreterinnen von ausländischen Unternehmen aus 60 Ländern, vornehmlich aus dem Nahen Osten und Asien, aber auch aus den USA und der EU angereist waren, unter ihnen auch der Präsident der Europäischen Kommission der EU, Jean-Claude Juncker, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Gäste aus der EU mit dem Angebot überrascht, die von Russland als Reaktion auf die vom Westen nach den Krim-Ereignissen gegenüber Russland verhängten Sanktionen von Russlands Seite her aufzuheben. Gemeinsam könne  man an den Aufbau einer eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft  gehen  – wenn Russland sich darauf verlassen könne, anschließend nicht (man konnte das feine ‚wieder‘ mit heraushören) betrogen zu werden.

Und nicht nur das: Nicht nur lobte UN-Präsident Ban Ki-Moon Gastgeber Putin für seinen mutigen Schritt und dankte für sein Engagement in Syrien, nicht nur kniff sich Juncker eine Zustimmung zu dieser Perspektive ab, vorausgesetzt, dass  Russland sich weiter kooperativ zeige, nein, allen voran nutzte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Gut-Wetter-Lücke zwischen dem Treffen in St. Petersburg und der für den 8. und 9. Juli bevorstehenden NATO-Tagung,  mit Hinweis auf das zur Zeit in Polen durchgeführte  Nato-Groß-Manöver „Anaconda“ in der „Bild am Sonntag“ öffentlich zu mahnen: „Was wir jetzt nicht tun sollten, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeschrei  die Lage weiter anzuheizen.“

 

Aber war denn nicht alles ganz anders …

Aber die  so Ermahnten können es einfach nicht glauben. War denn nicht alles ganz anders? Werden damit nicht alle Tatsachen auf den Kopf gestellt? War es nicht so, wie man es in der FAZ vom 20.Juli lesen konnte ? „Ursache für die Eiszeit  ist der Verstoß Russlands gegen Prinzipien,  die jahrzehntelang für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt hatten. Es war nicht die Nato, sondern der Kreml, der die Krim okkupierte und der in der Ostukraine einen (Sitz-)Krieg führt. Es ist nicht die Nato, sondern Moskau,  vor dem sich  die baltischen Republiken und Polen fürchten,  weswegen sie aus freien Stücken der atlantischen Allianz beitraten. Bis zur Annexion der Krim spielte die Nato militärisch in diesen Ländern keine Rolle. Auch die vier Bataillone, die dort stationiert werden sollen,  stellen keine Bedrohung für Russland dar, das auf seiner Seite der Grenze Divisionen stehen hat.  Steinmeier spricht zu Recht  von ‚symbolischen Panzerparaden‘. Die Nato-Verbände haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, das der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe.  Und dass die NATO einen Angriff  auf eines ihrer Mitglieder  als Angriff auf alle betrachten würde.“

Bemerkenswert! Wirklich bemerkenswert diese Sicht! Man kann die Welt doch von sehr verschiedenen Seiten betrachten. Aber man muss sich hier nicht bei den gröbsten Verdrehungen aufhalten, wie etwa der, Russland habe die Krim „besetzt“, man  muss auch nicht den Versuchen Steinmeiers und seiner Parteigänger erliegen, das Schwanken zwischen Verlängerung der Sanktionen gegen Russland und zögernder Anerkennung für dessen Einsatz in Syrien für eine „neue Entspannungspolitik“ auszugeben, es gar noch „im Geiste Brandts“ verstehen. Zu offensichtlich ist die Hilflosigkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit dieser Politik, wenn man wahrnehmen muss, wie in strategischen Hinterstuben zugleich Pläne für die nächste Phase geplanter Aggression geschmiedet werden:

  • Die Forderung von 51 US-Diplomaten aus dem Mittelbau des außenpolitischen Establishments, die in einem offenen Brief verlangen, die Politik des „Regimechange“ in Syrien durch Bombardierung von Assads Truppen wieder aufzunehmen. Dies würde den Krieg mit Russland zumindest in Kauf nehmen.
  • Das Offenhalten des Ukraine-Konfliktes, indem die ukrainische Regierung sich – trotz verbaler Kritiken seitens der EU, Steinmeiers, und selbst seitens der USA von ihnen dennoch geduldet – weigert, den Donbas-Republiken ihren im Minsker Vertrag vereinbarten Autonomiestatus zuzuerkennen – die Schuld dafür aber der andauernden „Aggressivität“ der Russen zuschiebt.
  • Die nochmalige Verlängerung der Sanktionen seitens der USA und der EU gegen Russland, sogar Forderungen nach weiterer Verschärfung, so dass es Millionen wirklich wehtue, weil nur so an einen Sturz Putins gedacht werden könne.

 

An einem Wendepunkt angekommen

 Man muss auch Russland nicht in Schutz nehmen als wäre es ein Neugeborenes, das den  Härten der US-, EU-, Nato-Welt und überhaupt den imperialen globalen Realitäten, den Verleumdungen Russlands als Reich des Bösen mit einer Widergeburt Hitlers als Präsidenten noch nicht gewachsenen sei, dem also schon einmal Fehler unterlaufen könnten, ohne dass man es dafür kritisieren müsste. Aus der zweiten und dritten Reihe werden auch in Russland durchaus dumpfe Töne laut.

Nein, man muss jetzt vor allem erst einmal die Tatsache erkennen, dass Russland 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder in die Weltpolitik eingetreten, dass sein Präsident Putin ungeachtet aller Anwürfe als Wiedergänger Hitlers zum anerkannten globalen Krisenmanager aufgerückt ist. Und man muss dies nicht nur konstatieren, um sich dann darauf auszuruhen, es ist auch wichtig zu erkennen, wie es dahin kam, welche Elemente in diesem Krisenmanagement wirksam sind und wo seine Grenzen liegen, um zu verstehen in welcher Etappe der Neuordnung wir uns 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der systemgeteilten Welt, die den Kriegen des vorigen Jahrhunderts folgte, heute befinden.

Denn ungelöst sind die aus dem letzten Jahrhundert herüber gewachsenen Grundfragen, die über ein vorübergehendes Krisenmanagement durch eine charismatische Figur wie den gegenwärtigen russischen Präsidenten weit hinausführen.

Wer diesen Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre richtet, erkennt, dass die globale Konstellation mit Putins neuerlichem Angebot an die Europäische Union an einem Wendepunkt angekommen ist.

 

Drei Etappen des  russischen Aufstiegs

Drei Etappen lassen sich bei dem Aufstieg Russlands in seine gegenwärtige Rolle des globalen Krisenmanagers benennen:

Das ist zunächst das  Wegbrechen jeglicher Staatlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und dem Kniefall vor dem Westen unter Boris Jelzin in den Jahren 1985 bis 1998.

Das ist darauf folgend die Wiederherstellung rudimentärer Staatlichkeit und einer mühsamen inneren Stabilisierung unter Putin  im Inneren des Landes seit 1998 bis heute (allerdings schon begonnen unter Primakow 1998, was in der Regel unterschlagen wird).

Das ist, aus dem inneren Krisenmanagement erwachsen, der Übergang in ein Wiedereintreten des Landes in seine Rolle als Integrationsknoten Eurasiens, der für die Newcomer aus den ehemaligen Kolonien zum wichtigsten Partner in ihrem Streben nach einer Ablösung der von den USA allein und militärisch dominierten Weltordnung wurde.

Aber nicht Diktat und Repression, wie westliche Propaganda es immer wieder nahelegt,  hat diesen Weg des inneren und danach äußeren Krisenmanagements getragen, nicht imperiale Stärke,  sondern im Gegenteil eine von Putin aus dem geschwächten eurasischen Zentrum heraus entwickelte Politik des Konsenses.

Aus dem Konsens heraus ist Russlands Wiederherstellung seiner Staatlichkeit im Inneren erfolgt, zweifellos „vertikal“, nicht demokratisch, aber gestützt auf die Struktur realer Vielfalt im Lande. Aus dem inneren Konsens heraus hat Russland seine Rolle als Motor einer internationalen Gegenbewegung der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion Union entwickelt – letztere immer mit Blick auf Kooperation, nicht zuletzt mit der EU, statt auf Konfrontation.

Die Angebote Putins, Medwedews und anderer russischer Politiker zur Kooperation in einer „Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok“ waren die immer wiederkehrende Essenz dieser Politik, bis Russland sich angesichts der zügellosen Ost-Erweiterung von EU, NATO und dem frechen Vordringen der USA auf den eurasischen Kontinent, ihrem schrittweisen, systematischen Einkreisen der russischen Grenzen seit der Auflösung des Warschauer Paktes, gezwungen sah,  aus der Duldung dieser Einkreisung  in die Verteidigung seiner Grenzen zugehen.

 

Übergang zur offensiven Verteidigung

Das geschah erstmalig mit der deutlichen Antwort auf die georgischen Provokationen von 2004, die Russland militärisch zurückwies.

Das wiederholte sich gegenüber den Versuchen, die Ukraine 2008, dann endgültig seit dem Maidan 2013/14 ins westliche Bündnis zu ziehen, indem Russland den Austrittswillen der Krim in einem schnellen Referendum aufgriff und den Osten in seinen Autonomiebestrebungen personell und sachlich unterstützte.

Das steigerte sich schließlich in dem Einsatz von Kampffliegern in Syrien, nachdem alle Versuche, eine friedliche Beilegung des von der US-Allianz betriebenen gewaltsamen „Regimechanges“ auf dem Verhandlungswege mit der US-geführten „westlichen Allianz“ zu erreichen, auch im fünften Jahr dieses unerklärten Krieges noch am Widerstand der USA gescheitert waren. Erst  der Einsatz der russischen Bomber erzwang jetzt den – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.

Ähnliches gilt für die Ukraine, deren „eingefrorener Konflikt“ nur deshalb nicht heiß weiter läuft, weil Russland nach wie vor als Garantiemacht hinter den selbsterklärten Republiken des Donbas steht.

Dies alles sind bekannte Tatsachen, die hier nicht zum hundertsten Male neu im Detail ausgebreitet werden müssen. Dadurch werden sie für die, die sie leugnen, nicht wahrer. Diese Menschen sehen die Dinge schlicht von der anderen Seite. Es dürfte wichtig sein, ihre Motive und Aktivitäten nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen.

 

Erkennbare Grenzen

Aber hier werden selbstverständlich auch schon die Grenzen des russischen Krisenmanagements sichtbar, das nach der Ausdehnung seiner Sicherheitspolitik  in den globalen Raum nunmehr wieder in verstärktem Maße mit der  Sicherung seiner inneren, hauptsächlich der sozialen und „nationalen“ Fragen, d.h., der Entwicklung seiner Republiken konfrontiert ist. Darüber hinaus stellt sich für Russland auf längere Sicht die Frage, ob und wie es unter diesem Druck die Kraft hat, dem Kulturimpuls als „Entwicklungsland neuen Typs“ gerecht zu werden, der in der Überwindung von sowjetischem Sozialismus und heutigem Turbo-Kapitalismus neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen könnte, die sich auf die tausendjährige (zweifellos auch sehr widersprüchliche)  Gemeinschaftskultur Russlands stützen  könnten – ohne dass daran nach dem Niedergang des Zarismus, danach dem des sowjetischen Imperiums, nunmehr auch der als zentralisierte Föderation übriggebliebene  Vielvölkerorganismus des neuen Russland zerbricht.

Dies alles muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass die grundlegenden Konflikte der sich heute entwickelnden globalen Übergangsordnung in keiner Weise gelöst, ja, zum Teil noch nicht einmal richtig erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, dann leichtfertig oder sogar wissentlich – ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen der globalen Bevölkerung – beiseitegeschoben werden.

Es sind dies Fragen, die das ganze globale Feld heute betreffen, aber eben auch Russland in seiner Dynamik als aus der Asche des Sozialismus auftauchendem potentiellen Protagonisten einer möglichen Neuordnung, dem die widersprüchliche Aufgabe zufällt, sich als „Hybrid“ neu zu erfinden, der sich in die „Moderne“ einfügen muss, der sich aber in seiner undefinierten, in Bewegung befindlichen Mischung aus gemeinschaftsorientierten und neo-kapitalistisch orientierten Lebensweisen nicht in die „normalen“, sprich zerstörerischen Krisenzyklen der kapitalistischen Welt einfügen kann – und es auch nicht will.

Die Grundfragen, deren Lösung ansteht, sind nicht zu umgehen – so oder so nicht. Fassen wir sie zusammen, dann lauten sie so:

  • Wie wollen wir leben, wenn nicht sozialistisch nach Art der Sowjetunion, aber auch nicht im nach-sozialistischen Turbo-Kapitalismus? Wie wird die soziale Frage der „Überflüssigen“ gelöst, die aus der ungebremsten Automatisierung bei gleichzeitiger rasanter Vermehrung der Weltbevölkerung erwächst?
  • Wie wird die „Nationale Frage“ in einer Welt gelöst, auf der unter dem Prinzip „Teile und Herrsche“ bei gleichzeitigen globalen Zentralisierungstendenzen immer mehr „eingefrorene Konflikte“ als Minenfelder für zukünftige Politik zurückbleiben?
  • Wie sind die zerstörerischen Folgen des immer noch wachstumsorientierten Expansionismus ohne Krieg zu bewältigen?

Wie lange und wie weit Russland zur friedlichen, kooperativen Lösung dieser Fragen beitragen kann, ist eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende Frage der nächsten Etappe.

 

Kai Ehlers, 21.06.2016

www.kai-ehlers.de

 

 

 

Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

Ukraine, Syrien, Libyen, Irak, Türkei, Afghanistan – unter dem Druck der Flüchtlingsströme von Süden in den Norden des Globus jetzt auch die Europäische Union: das Kampffeld, auf dem nationale Souveränität in Frage gestellt wird und wo sie umso radikaler behauptet wird, weitet sich zusehends aus. Die großen Mächte schieben nationale Souveränität beliebig beiseite, kleine Völker wie die Kurden, wie die Uiguren Chinas, wie Indigene Südamerikas ringen um Autonomie oder „nationale Widergeburt“, arbeiten vergessene Geschichte in eigenen Epen auf. So etwa die Tschuwaschen Russlands, deren neuestes „Nationalepos“ soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Bei all dieser nationalen Selbstbesinnung und ihrer gleichzeitigen Zerstörung stellt sich die Frage, welche Bedeutung Autonomie, nationale Wiedergeburt, genereller nationale Souveränität, Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung, die heute als Norm gilt, in der gegenwärtigen Krise hat.
Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
Und weiter: Als Nationalstaaten galten und werden faktisch auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings die EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien gehandelt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine „nationale“ Gültigkeit, genauer, keine nationalen Grenzen mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Missachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Screenshot Syrien – Vom Schachspiel zum Poker

Die Schärfe der globalen Spannung, die zurzeit über Syrien lastet, fordert über die Tagespolitik hinaus mehr Beachtung der langfristigen Wirkungen der dortigen Vorgänge. In Kurzem:

„The Grand Chessboard…“ nannte Zbigniew Brzezinski sein bekanntestes Buch, in dem er die Strategie der US-Regierung Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts vor aller Welt offenlegte. Essens der Strategie war: Es dürfe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, durch den die USA zur einzigen Weltmacht geworden seien, kein neuer Rivale auf dem Globus heranwachsen, der die Vorherrschaft der USA in Frage stellen könne.

An dieser Zielvorgabe ließ sich die US-Politik bis in den Ukrainischen und auch bis in den Syrischen Krieg hinein messen: Unruhe schaffen, um mögliche Rivalen zu schwächen. Hauptadressat dieser Politik war und ist das nachsowjetische Russland als Impulsgeber einer multipolaren Welt.

CIA-Vorgaben aus den Jahren 90/91 des letzten Jahrhunderts, die empfahlen, dem absehbaren Bevölkerungswachstum der ehemaligen Kolonialgebiete wirksam entgegenzutreten, bildeten den nicht-öffentlichen, aber keineswegs geheim gehaltenen Hintergrund dieser Strategie. In den Vorgaben wurde vorgeschlagen dafür zu sorgen, dass die in den ehemaligen Kolonialländern heranwachsenden „Überflüssigen“ (in der Fachsprache der Dienste „Youth-Bulge“, Jugendüberschuß genannt) sich in lokalen Kriegen und Bürgerkriegen gegenseitig dezimieren.

 

Die Partie stagniert

Diese 91er Strategien, sagen wir es vorsichtig, haben sich überlebt. Die Jahrzehnte der einsamen US-Vorherrschaft wie auch der ebenso einsamen multipolaren Opposition Russlands dagegen gehen ihrem Ende entgegen. Eine neue Lage hat sich herausgebildet: Vergangen ist die unipolare Welt der scheinbar unaufhaltsamen neoliberalen Globalisierung, die sich nach Ende des Kalten Krieges unter der Dominanz der USA entwickelte hatte. Auch die der Globalisierung vorangegangene systemgeteilte Welt mit ihren leicht erfassbaren Freund-Feind/Sozialismus-Kapitalismus-Schablonen liegt weit zurück und ist nicht wiederholbar – auch nicht als Krieg der Kulturen.

Entstanden ist eine globale Gemengelage gegenläufiger, sich auf vielfältigste Weise überschneidender Interessen, die sich in wachsender Rivalität gegenüberstehen. Die langfristigen strategischen Optionen der systemgeteilten, ebenso wie die der unipolaren und auch der multipolaren Welt sind nicht vergessen, aber sie schrumpfen zurzeit auf kurzatmige taktische Manöver zusammen. Im Kampf um Ressourcen, globalen Einfluss und mögliche Vorherrschaft ist das Schachspiel aktuell zum Poker verkommen, in dem sich die ‚Spieler‘ in wechselnden Bündnissen gegenseitig belauern, einander zu übervorteilen und ins Risiko zu ziehen versuchen.

 

Eine neue Etappe

Man mag vielleicht einwenden, dass Poker gewissermaßen die natürliche, die ‚normale‘ Form des politischen ‚Spiels‘ sei, dem gegenüber die Regeln der system-geteilten Welt nach 1945 und selbst noch jene der US-Alleinherrschaft nach 1991 die entwickeltere, die rationalere, weil Stabilität bewirkende Form des globalen Konflikt- und Friedensmanagements gewesen seien, dass die heutigen globalen Beziehungen dagegen von der vorübergehenden Ausnahme sozusagen zur historisch Regel zurückkehrten. Mit dieser Sicht ginge man jedoch an der inzwischen erreichten Eskalationsstufe der globalen Beziehungen vorbei, die man, um es paradox aber realistisch zu formulieren, als zunehmende Fragmentierung der Globalisierung charakterisieren kann. Die führt entweder ins Chaos oder auf bisher nicht beschrittene zukunftsoffene, lebensdienlichere Wege der gesellschaftlichen, man darf ruhig sagen, der kulturellen Entwicklung.

In dem Maße, in dem die Weltbevölkerung technisch-logistisch als globale zusammenwächst, im dem Maße, in dem territoriale Entfernungen an Bedeutung abnehmen, steigt weltweit zugleich der Grad der Individualisierung, der Atomisierung und der Sektoralisierung der Gesellschaften in sich selbst genügende Einheiten, die ihre Beziehungen zu anderen Einheiten neu definieren müssen.

Der Nationalstaat, wie er im letzten Jahrhundert als Zentralstaat definiert wurde, erst recht der ethnisch dominierte, sowie der mit dem Lineal ohne jede Rücksicht auf historische Gewordenheiten gezogene, verliert in diesem Prozess seine bindende Kraft. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass der Nationalstaat heute nicht mehr als Ausdruck eines Volkes, sondern als bloßer Rahmen für eine in viele Sektoren gegliederte Bevölkerung verstanden wird, deren Teile nicht selten mit der Außenwelt enger verbunden sind als mit den Menschen innerhalb der nationalen Grenzen.

Zugleich verlieren die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten ihre Verbindlichkeit als grundlegende völkerrechtliche, besser gesagt globalrechtliche Ordnungseinheit. Auch sie sind, real betrachtet, in zunehmendem Maße nur noch Sektoren einer überstaatlichen, aber deshalb nicht etwa definierten und nicht etwa legitimierten allgemeinen Ordnung. Für die internationalen Beziehungen heißt das: Es herrscht das Recht des Stärkeren.

All dies sind Indikatoren der Krise des Nationalstaats und der mit ihm verbundenen gegenwärtigen Völker-Ordnung in seiner bisherigen Form und Bedeutung. Die Krise kann kurzschlüssige Rückwendungen zu nationalistischen Exzessen wie in der Ukraine und als Gegenstück dazu Weltherrschaftsphantasien wie die des „IS“ hervorbringen. Sie kann aber auch zur Weiterentwicklung des Nationalstaates in Richtung souveräner, miteinander in föderalem Verbund gleichberechtigt kooperierender autonomer Regionen, politischer Großkollektive und länderübergreifender Korporationen führen. In dieser Entwicklung wird auch der Nationalstaat als rechtlicher Rahmen seine neue Bedeutung finden.

Es stellt sich die Frage, welche Karte im globalen Poker um Syrien als nächste gespielt wird. Wenn Russland darauf besteht die Souveränität des syrischen Nationalstaates zu achten, ist das selbstverständlich noch nicht der endgültige Weg in die Zukunft, aber vermutlich ist es die Karte, die das geringste Risiko nach sich zieht, die ganze Runde zu sprengen und die Raum lässt für weitere Runden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Syrien – Gipfel der Souveränität.

So wie es vom Gipfel aus abwärts geht – oder im hohen Flug in ungesicherte Gefilde, so geht es vom Krieg in Syrien aus in die endgültige Beseitigung des Prinzips des souveränen Nationalstaats – oder zu deren grundlegender Neubestimmung.

Schauen wir, was da auf dem syrischen Schlachtfeld zusammenläuft: Continue reading “Syrien – Gipfel der Souveränität.” »

Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?

Wenn die deutsche Bundesregierung der deutschen Bevölkerung erzählen will, es gebe keine Alternative zum Kriegsbeitritt der Bundeswehr in Syrien – was ist das? Dummheit? Lüge? Schamloser Opportunismus?

Man mag es kaum zum x-ten Mal wiederholen, was selbst die Strategen des von George W. Bush 2001 losgetretenen „Krieges gegen den Terrorismus“ inzwischen eingestehen mussten: dass der von den USA geführte „Krieg gegen den Terror“ den Terror erst zur globalen Geißel hat werden lassen, und zwar in doppelter Weise: als staatlichen Terror und in der Entstehung dessen, was sich heute „IS“ nennt sowie anderer verstreuter Milizen. Continue reading “Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?” »

Hamburg, Mittwoch 03.12., 17.00 Uhr: Kundgebung gegen Bundeswehreinsatz in Syrien, Hauptbahnhof

Wir sagen nein zum Bundeswehreinsatz in Syrien.

Krieg gegen den Terrror schafft nur neuen Terror.

Wir fordern Verhandlungen auf Basis des Völkerrechtes.

Kommt zur Kundebung, zeigt, daß ihr gegen diesen Kriegseintritt seid …

Zum Aufruf  ⇒

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Flüchtlinge: … an die Wurzel gehen

Inzwischen mag man es kaum noch aussprechen: Den Ursachen, warum Menschen zu Zehntausenden und in zunehmender Zahl ihre Heimat verlassen ist nicht mit Aufforderungen an die Türkei, die Grenzen zu schließen, ist nicht mit schnellerer „Abfertigung“ an den Grenzübergängen, selbst nicht mit Reduzierung der deutschen „Willkommenskultur“ durch Leistungskürzungen für die Flüchtlinge u.ä. beizukommen, sondern …ja, wo hört man, wo liest man etwas über dieses „Sondern“ ?

Selbstverständlich muss den Menschen, wenn sie einmal hier sind, geholfen werden. Man lässt ein Kind ja schließlich nicht im Bade ertrinken, wenn es einmal hineingefallen ist. Darüber kann es „eigentlich“ keine zwei Meinungen geben. Man kann es sich auch ersparen, den Abgründen nachzugehen, die sich hinter dem Wörtchen „eigentlich“ auftun. Es findet sich bei gutem Willen und warmem Herzen immer ein Plätzchen, um das Kind in Sicherheit zu bringen. Es finden sich, anders gesagt, allen Unkenrufen über die selbstsüchtige Jugend und die selbstzufriedenen Alten in Deutschland zum Trotz immer noch Tausende Menschen, die bereit sind, den nach Hoffnung auf ein ruhigeres Leben lechzenden Flüchtenden zu helfen. Hier liegt, auch wenn das Geschrei über die angebliche Überforderung Deutschlands zurzeit sehr schrill klingt, nicht das Problem. Zu anderen Zeiten hat man noch ganz andere Opfer gebracht und Deutschland hat es überlebt.

Das Problem liegt in der schamlosen Unverfrorenheit, mit der die Regierenden der Bevölkerung das Auffangen der Flüchtenden aufbürden – während sie zur gleichen Zeit fortfahren – und das noch in zunehmendem Maße – ehemalige Kolonien, heute selbstständige Nationalstaaten, über Kredit- und Schuldenpolitik in Abhängigkeit und unter Druck zu halten, deren lokale Wirtschaften mit subventionierten Dumping-Exporten zu strangulieren und letztlich, wenn daraus Revolten hervorgehen, militärisch zu intervenieren – ganz zu schweigen von den Waffenexporten in die so entstandenen Krisengebiete.

Solange diese Politik, an der Deutschland an der Spitze der EU führend beteiligt ist, nicht einem grundsätzlichen Revirement unterworfen wird, wird die Flut derer, die ihr Heil in der Flucht nach Norden oder in andere Teile der „entwickelten“ Welt suchen, nicht abnehmen, sondern weiter anwachsen – sagen wir es unumwunden: wird die Flut der Migrationsbewegungen als neuer Verteilungskampf über die Ufer der gegenwärtigen Weltordnung treten und die heutige Eskalation extremer Ungleichheit mit sich reißen.

Also – was tun? Die Geschichte lehrt uns, wenn wir bereit sind zu lernen, dass solche Situationen, in denen eine gesellschaftliche Minderheit vom Elend einer großen Mehrheit lebt, zwar lange gestreckt werden können. Anders gesagt, die Wellen der Empörung laufen über weite Strecken des Meeres allmählich heran, immer wieder niedergedrückt von kurzfristig aufkommenden Wetterumschwüngen, bis sie aber irgendwann dann doch zu großen Brechern auflaufen. Nehmen wir die letzten großen zurückliegenden Revolutionen:

Die Französische Revolution kündigte sich lange vor dem Sturz Ludwigs XVI. in den Schriften und Polemiken der französischen Aufklärer an. Ihre durchschlagende Wucht, die die Strukturen des Ancien Regime in den Grundfesten erschütterte, bekam sie durch das Massenelend der französischen Bauern, deren sich wiederholende und steigernde Hungerrevolten und damit einhergehenden Brutalisierung der vorrevolutionären Gesellschaft, in der die Bauern nichts mehr zu verlieren hatten als ihr ihr Elend – in der für die Feudalen dagegen alles auf dem Spiel stand.

Im Kern nicht anders die russischen Revolutionen von 1905 bis 1917: Lange kündigte sich der Sturz des Zarismus in den Schriften der russischen Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts an, deren Aktivitäten, ebenso wie die des wankenden Zarentums um die Jahrhundertwende bis zum Terror eskalierten, bevor sie dann durch die Erhebung der Bauern 1905 die gewaltsame und auch brutale Dynamik bekamen, die eine relativ leichte Machtübernahme durch die Bolschewiki 1917 erst ermöglichte.

Macht es Sinn, unsere heutige Situation mit diesen zurückliegenden gesellschaftlichen Erschütterungen zu vergleichen? Nein, wenn man nur die äußeren Umstände vergleicht. Heute ist die Herrschaft der Ausbeuter global und tendenziell total, Kritik und Revolte sind dagegen über den ganzen Globus verteilt; eine Revolution, die diese Verhältnisse gewaltsam stürzen will, kann nur gleichbedeutend mit globalem Chaos sein.

Im Kern allerdings wiederholt sich der Spagat zwischen hoch entwickelter, radikaler Gesellschaftskritik und dem wachsenden Drang der Benachteiligten und der zunehmend „überflüssig“ Gemachten, ihrem Elend ein Ende zu setzen. Was ist der wachsende Terror heute denn anderes als die radikalisierte Reaktion auf die ausbeuterische Herrschaft der übermächtigen Kapitale und ihrer perfektionierten Unterdrückungsapparate?

Wieso begriffen die Adligen des Ancien Regime, die Aristokraten des Zarismus nicht, dass der von ihnen geführte Krieg gegen die Revolten diese nur weiter anheizen konnte? Wieso begreifen die heute herrschenden Kräfte nicht, dass der Krieg gegen den Terrorismus nur neue Terroristen hervorbringen kann? Oder begreifen sie es doch? Oder haben sie ein Interesse daran, die Welt unter dem Druck dieses anti-terroristischen Krieges zu halten? Wer hat mehr Interesse daran, die Bevölkerung in Angst zu halten? Diejenigen, die die vermeintliche Weltsicherheit angreifen oder diejenigen, die sie zu verteidigen vorgeben? Eine offene Frage.

Hier hilft vielleicht die Erkenntnis von Pjotr Kropotkin weiter, der als Ergebnis seiner Analyse der vorrevolutionären Bauernrevolten Frankreichs feststellte, man müsse mit einem allgemeinen Irrtum aufräumen, nämlich dem, dass Revolten – und noch mehr Revolutionen – aus Angst und Verzweiflung erwüchsen, nein, so Kropotkin, sie entzündeten sich über das Elend, die Angst und die Verzweiflung hinaus eher an der Hoffnung, nämlich an der, dass das Leben in Zukunft nur besser, vielleicht sogar glücklicher werden könne.

Könnte es vielleicht sogar sein, dass wir es heute mit Kräften zu tun haben, denen daran gelegen ist, die Mehrheit der Menschen in Angst zu halten, um überhaupt erst keine Hoffnung aufkeimen zu lassen, dass die Verhältnisse, wie sie heute sind, veränderbar sein könnten?

Und wo wären solche Kräfte zu suchen? Anders gefragt, ist der Terror tatsächlich eine Gefahr für die bestehenden Verhältnisse oder stützt er sie eher? „Sicherheit“ ist ja heute, wie es scheint, alles, was noch zählt. Mit nichts lässt sich eine Zementierung der herrschenden Verhältnisse besser begründen als mit drohendem Terror. Führt seine Ausbreitung, genauer die Angst vor seiner Ausbreitung nicht im geraden Gegenteil zu den hysterischen Warnungen zur Festigung, ja, geradewegs in die Eskalation der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in Richtung einer präventiven globalen Sicherheitsdiktatur? Ängste, Opfer des Terrors zu werden, sind heute eher hervorzurufen als jene, an zukünftigen Klimakataklysmen zugrunde zu gehen. Bedenken wir dies, wenn wir heute mit präventiven Sicherheitsstrategien unter der Parole „Krieg dem Terrorismus“ überzogen werden!

Was wir brauchen sind keine Strategien präventiver Sicherheit, sondern Visionen und umsetzbare Strategien zur Verwirklichung der bisher noch nicht verwirklichten Ziele aller, besonders der beiden letzten großen Revolutionen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – unter Einbeziehung der Ebenbürtigkeit von Männern und Frauen erweitert zu „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“. Das ist heute ein schwieriger Balanceakt, der den Mut zur radikalen Kritik des Bestehenden und seiner Veränderung bis hin zu aktivem Widerstand gegen kriegstreiberische Politik, von wem immer betrieben, mit dem scheinbar entgegengesetzten Mut verbindet, der äußeren Eskalation ein Widerlager der Deeskalation im eigenen Inneren und im konkreten Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, sogar dem Feindlichen entgegenzusetzen. Es bedeutet auch, sich keine bequemen Feindbilder aufschwatzen zu lassen, sondern in kritischer Solidarität zu unterscheiden, wann und von wem eskaliert, wann und vom wem Deeskaliert wird. Das heißt, selbst denken, den eigenen Kopf benutzen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:
Kai Ehlers, die Kraft der „Überflüssigen“, Pahl-Rugenstein, 2013
Bezug über den Autor: info@kai-ehlers.de

Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?

Wieder einmal will man uns einnebeln: Dem Demokratisierungsprozess in der Ukraine stehe nur noch Russlands Unterstützung für die nicht anerkannten Republiken Donezk und Lugansk entgegen. Eine Befriedung Syriens und damit ein Ende des Terrors wie auch der Flüchtlingsbewegungen würden nur durch Russlands Festhalten an Präsident Baschar el-Assad verhindert. Continue reading “Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?” »

Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

Schriftliche Fassung eines Vortrags
auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »