Kategorie: Thesen Positionen

Einschätzungen, Thesen

Deutschland – Neutral zwischen Ost und West. Unfertige Gedanken zum Mitdenken

Es wird Zeit, sich darauf zu besinnen, dass Neutralität die einzige sinnvolle Lehre aus den beiden Weltkriegen sein kann, die beide Male von deutschem Boden ausgingen, deren Folgen auch in unserem Land bis zum heutigen Tag noch spürbar sind.

Neutralität muss heute Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen deutscher Politik sein, damit Deutschland nicht ein drittes Mal zum Schauplatz der Konfliktaustragung zwischen  Ost und West im globalisierten Rahmen wird. Denn in Deutschland läuft – historisch gewachsen – die Scheide zwischen Ost und West.

Deutschland ist nicht Ost, Deutschland ist nicht West; Deutschland ist Mitte zwischen Ost und West. Deutschland hat intensivste Bindungen an Russland und den ganzen russischen Raum, den ganzen östlichen Raum, und Deutschland hat intensivste Bindungen an den westlichen Raum, insofern der westliche Raum, der angelsächsisch-amerikanische zu großen Teilen auch aus der mitteleuropäischen, nicht zuletzt auch aus der deutschen Entwicklung hervorgegangen ist.

Das alles gilt, wenngleich sich der amerikanische Raum selbstständig gemacht, die europäische Kultur hinter sich gelassen und sich extrem veräußerlicht hat. Auch der russische Raum hat seine europäischen Wurzeln hinter sich gelassen und sich auf einen eigenen Entwicklungsweg gemacht. Die Gefahr besteht, dass diese beiden polaren Tendenzen wieder einmal aufeinanderprallen, wie eben erst in der jüngsten Geschichte, jetzt noch verstärkt durch das chinesische, das asiatische Element im Osten und – wie es sich in letzter Zeit andeutet – durch das arabische Element auf ‚westlicher‘, genauer, das saudi-arabische auf amerikanischer Seite.

Wenn sich diese Frontlinie weiter entwickelt, wie gegenwärtig zu befürchten, wenn sie sich sogar verfestigt, dann geht die Welt, konkret Europa, Mitteleuropa, noch konkreter Deutschland einer ganz schweren Zeit entgegen. Sehr unwahrscheinlich ist jedenfalls beim Stand des gegenwärtigen Aufmarsches an den russischen Grenzen, speziell der Stationierung von NATO-Schalt- und Kommandostellen in Deutschland, dass die ballistischen Flüge den kurzen Weg über den Pazifik, statt, wie in der ‚Sicherheits‘-Planung der NATO angelegt, über den Atlantik nehmen.

Selbstverständlich ist eine Neutralität Deutschlands, glaubt man der herrschenden Politik, heute ganz und gar unrealistisch, nachdem sie in den Jahren nach 1945 durch die Alliierten erfolgreich verhindert wurde  Die Anbindung Deutschlands an das atlantische Bündnis gilt den atlantischen Planern heute als ‚alternativlos‘, um die ‚Sicherheit‘ Europas und Deutschlands zu garantieren. Tatsächlich erweist sich dieser ‚Realismus‘ aber als ganz und gar unrealistisch, um nicht zu sagen, als gigantische Lüge, wenn es darum geht, eine friedliche Zukunft Europas und darin Deutschlands zu sichern, wenn man sieht, wie eben diese ‚realistischen‘ Verhältnisse auf eine neuerliche Zuspitzung des Ost-West Konfliktes zulaufen, wenn man sieht, wie die Europäische Union, halb als Vasall, halb als Avantgarde der strauchelnden ‚einzigen Weltmacht‘ wieder zur Weltgeltung spurtet, und, mit einem Deutschland als Kern darin, schnurstracks auf die nächste große Konfrontation zusteuert.

So gesehen erweist sich der herrschende ‚Realismus‘ als Wahn, der Deutschland direkt in die nächste Katastrophe zu führen droht.  Eine realistische Perspektive, die diesen Namen  verdient, kann allein in der Entwicklung eines Deutschland liegen, das sich von einseitigen Bündniszwängen löst und stattdessen als neutrale  Mitte seine ganze Kraft in die Auflösung der kriegstreibenden Polaritäten legt.

‚Seine ganze Kraft‘, damit ist selbstverständlich nicht nur Deutschlands ökonomische Potenz als ‚Exportweltmeister‘ und Finanzier der Europäischen Union, schon gar nicht, versteht sich, seine militärische Stärke, gemeint, sondern sein nachimperialer, nachfaschistischer, demokratischer Kulturimpuls, der in der Welt heute, zunehmenden Einschränkungen zum Trotz, immer noch Seinesgleichen sucht. Diesen Impuls gilt es zu schützen, zu fördern und zum Wohl einer sich herausbildenden neuen Völkerordnung wirken zu lassen, in deren Aufgabenbuch die Förderung der Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen in kooperativer Gemeinschaft mit dem Blick auf das Ganze der heutigen Welt steht – unabhängig von ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschieden.  

Also noch einmal: Die Entwicklung der Idee der Neutralität als Raum zur Förderung gegenseitiger Hilfe ist das, was in Deutschland heute zu allererst angegangen werden muss, wenn wir die Chance haben wollen, den Übergang aus der unipolaren in eine multipolare Welt gestärkt zu überleben.

 

Kai Ehlers, 10.04.2018

www.kai-ehlers.de

 

 

Revolution oder Revolte (jetzt auf deutsch)

Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie Du mit Deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semi-kapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie Du ihn nennen würdest bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die ‚Verdammten dieser Erde‘ heute eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland in dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?

Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht Deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun. Dieser Mangel ergibt sich aus objektiven Bedingungen, nicht aus unseren politischen Überzeugungen. Gleichgültig, was wir oder Leute wie wir in den 1980er-Jahren dachten: Sozialismus oder Revolution hatten damals keine Chance. Als wir glaubten, dass eine theoretisch hergeleitete Alternative wesentlich sei, hatten wir Unrecht. Alternativen haben in der Vergangenheit niemals Revolutionen hervorgebracht und werden das auch in der Zukunft niemals tun. Im Gegenteil: Nur andauernde Revolutionen bringen reale (nicht falsche, utopische oder imaginierte) Alternativen hervor.
Es ist seltsam, dass Du Russland »semi-kapitalistisch« nennst. Was ist falsch am russischen Kapitalismus? Warum soll ein russischer Oligarch ganz anders sein als ein amerikanischer, deutscher oder peruanischer? Das Weltsystem integriert alle Länder, und es gibt spezifische Nischen für die deutsche verarbeitende Industrie wie für russische, lateinamerikanische oder saudische Ökonomien, die den globalen Kapitalismus mit Rohstoffen und anderen Ressourcen versorgen. Dies macht die Kapitalismen jeweils besonders. Aber dieses Modell der Arbeitsteilung, das im Neoliberalismus entstand, ist nun in einer Krise, die uns über Kriege und Revolutionen in eine andere, sich radikal von der gegenwärtigen unterscheidenden Gesellschaft führen wird.
Der ökonomische Zerfall ist die Ursache der Krisen, die wir rund um uns herum erleben, einschließlich des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der wenig zu tun hat mit Demokratie oder Nationalismus. Trump, Brexit, Nawalny, der Krieg im Donbas und die Kapitulation von Syriza in Griechenland, die unerwarteten Erfolge von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind nur einige weitere Symptome dafür. Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten? Sowohl als auch. Viel hängt davon ab, wie wir entstehende Möglichkeiten nutzen und die Gefahren meistern, die auf uns zukommen.

Kai Ehlers: Zweifellos stehen wir am Beginn einer globalen Krise des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Form. Ich meine auch, dass Russland Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft ist – allerdings auf eine spezifische Weise, die Du als »peripher« bezeichnest, die ich als »hybrid« beschreibe. Wir sind uns auch einig, dass Erscheinungen wie Trump, Brexit, sogar Syrien etc. Symptome einer Entwicklung sind, die uns zu einer völlig anderen Gesellschaft führen wird.
Aber was meinst Du damit, wenn Du sagst, dass viel von unserem Handeln abhängt? Also was nun: Hängt ein Prozess, der objektiv abläuft, dennoch vom subjektiven Eingreifen ab? Wenn Revolutionen nicht von erdachten Alternativen erzeugt werden, sondern von objektiven Prozessen, mehr noch: wenn Alternativen erst von diesen Prozessen erzeugt werden – dann müssen wir klären, wie dies geschieht, was unsere Rolle dabei ist, wer überhaupt dieses »Wir« ist.
Auch was Deine Einschätzung über Krieg und Revolution anbelangt, liegen wir vielleicht nicht auf einer Linie. Muss die globale Erhebung, die wir erwarten, notwendig mit einem globalen Krieg einhergehen? Sie ist sicherlich nicht mit der Französischen, Russischen oder irgendeiner früheren Revolution vergleichbar, die sich von einem Land aus in der Welt ausgebreitet haben. Und ein globaler Krieg ist heute nicht wie der Erste oder Zweite Weltkrieg als Nebeneffekt radikalen sozialen Wandels oder zu dessen Verhinderung führbar. Er würde beide Seiten – Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus etc. ebenso wie Ansätze sozialer Befreiung – in einem einzigen dreckigen Aufwasch zerstören.
Natürlich haben wir heute eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt: lokale Proteste und Revolten, verschiedene Arten des Terrorismus, die von den Härten der Endphase des Kapitalismus hervorgebracht werden. Das ist der aktuelle Prozess, von dem Du sprichst. Aber bisher führt er nicht zu dem einen großen Knall, der einen globalen Revolution oder dem einen globalen Krieg, sondern radikalisiert sich Stufe um Stufe. Und solange dies so ist, kann es nicht unsere Rolle sein, mit aller Kraft Revolten anzuheizen, wie es gerade ein paar vereinzelte Militante, aus deren Sicht Gewalt eine ausreichende Botschaft darstellt, beim G20 in Hamburg versucht haben. Wir müssen Wege und Bilder zeigen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können und wie diese aussehen könnte.
Und daher ist es wichtig, die Widersprüche und Unterschiede zwischen den kapitalistischen Staaten zu sehen, zwischen entwickeltem und peripherem Kapitalismus, zwischen Kulturen, bis hin zu verschiedenen Formen von Widerstand oder möglichen Alternativen für unterschiedliche Völker mit unterschiedlichen sozialen und historischen Hintergründen. Das gilt auch für die gegenwärtige russische Gesellschaft, die von der besonderen sowjetischen Geschichte und Strukturen der Dorfgemeinschaft geprägt ist, auch wenn diese heute vom Kapitalismus überlagert sind.
Ich bin mit Dir einer Meinung, dass Alternativen immer konkret sind. Doch brauchen sie eine Leitidee; keine geschlossene Ideologie, aber Gedanken und Visionen, wie das Leben sein könnte. Um dies auf unser Thema zu beziehen: Die Revolution der heute Ausgestoßenen wird nicht über Revolten oder schlimmstenfalls faschistische Tendenzen hinauskommen, wenn sie sich nicht statt auf bloßen Aufruhr auf Ideen einer humanen Zukunft stützt, die auf überlieferten Werten beruht.

Boris Kagarlitzki: Anscheinend sind wir immer noch auf eine Vorstellung von Revolution fixiert, wie sie der stalinistische »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)« präsentiert. Als wären die Bolschewiki, sagen wir 1916, bereits eine verankerte Kraft gewesen! Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung aber existierten sie tatsächlich nicht. Alternativen, die naheliegend schienen, hatten wenig mit dem zu tun, was dann tatsächlich geschah. Wenige Wochen, bevor Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ihre Kampagnen begannen, gab es sie politisch nicht. Und genau darin war ihr Erfolg begründet. Gegenwärtig haben nur Bewegungen, Anführer, Ideen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, Aussicht auf Erfolg. Alles, was da ist und sichtbar, ist entweder bereits oder wird schnell diskreditiert. Und das hat keine ideologischen Gründe, sondern liegt daran, dass nichts von dem, was innerhalb des Bestehenden unternommen wird, funktionieren kann. Das ist ein objektiver Vorgang. Für mich ist nicht relevant, ob die Leute den Neoliberalismus mögen oder nicht. Tatsächlich mochten sie ihn nie. Aber Privatisierung und Deregulierung kamen, weil sie funktionierten. Nicht für die Mehrheit, aber für die Eliten. Nun aber führt die neoliberale Hegemonie ins Nichts, weil das System seine Potentiale erschöpft hat. Es kann sich einfach nicht mehr reproduzieren, seine Erträge können nicht einmal mehr die herrschenden Klassen zufriedenstellen – und das ist es, was Leute wie Trump oder Nawalny hervorbringt.
Die Ironie heute liegt darin, dass uns nicht die Möglichkeiten fehlen, sondern die Ziele. Die Linke ist zu einer Gemeinschaft liberaler Intellektueller geschrumpft, die sich für Tierrechte, Schwule und Feminismus interessieren (aber nicht für die real existierenden Tiere, homosexuellen Paare oder Frauen aus der Arbeiterklasse). Die Linke hat sich vollständig von der Klassenpolitik entfernt; auch wenn sie sich der Klassenrhetorik bedient, so bleibt diese inhaltsleer. Ironischerweise sind es heute im Westen einige Teile der radikalen Rechten, die der Arbeiterklasse zuhören und – wenn auch verworren und inadäquat – versuchen, deren Alltagsinteressen zu vertreten.
In Russland ist im Moment die radikale Rechte sehr schwach. Das macht die Sache für die Linke einfacher. Unsere Aufgabe ist: eine neue Linke zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht eher wie die originale alte sein wird. Zurück zu den Vor-60ern, zu den 1920ern. Das klingt etwas nach der hegelianisch-marxistischen Negation der Negation. Aber überlassen wir das den Philosophen, wir müssen praktisch sein.
Wer sind »wir« heute? Als eine politische Kraft existieren wir noch nicht. Wir müssen uns selbst erschaffen. Mit sehr einfachen Gedanken – Gemeinwirtschaft, Regulierung, Wohlfahrtsstaat, demokratische Partizipation. Können wir auf das Erbe der Sowjetunion zurückgreifen? Ja, warum nicht! Nur sollten wir nicht versuchen, die Sowjetunion zurückzubringen. Das wäre unmöglich.
In dem großen Fundus von Ideen und Methoden, den die Linke lange Zeit besessen hat, können wir finden, was wir brauchen. Die aktuelle Ausgestaltung wird von der Situation und den aktuellen Bedürfnissen abhängen. Versuchen wir aber gar nicht erst, etwas Neues zu erfinden. Das hat keinen Sinn. Wir brauchen keine neuen Ideen. Wir haben ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die meisten haben sich als falsch oder nicht praktikabel erwiesen. Wir brauchen Politik. Das heißt nicht, eine Organisation aufzubauen, sondern Leute zu schulen, die in der Lage sind, bei Bedarf sehr schnell Strukturen aus dem Boden zu stampfen. Diese Arbeit wird schon heute und nicht ohne Erfolg geleistet. Die Politik wird kommen, wenn es eine Gelegenheit gibt. In einem Jahr, einem Monat, in einigen Wochen. Oder niemals.

Kai Ehlers: Nichts Neues erfinden: Ja! Schulung: Ja! Aber der Teufel steckt im Detail: was, wie und wann! Zuallererst müssen wir uns vor Augen führen, dass der Glaube an bloße Effizienz und wirtschaftliches Wachstum auf Basis von Konkurrenz die Menschheit in eine Krise geführt hat. Diese kann nur durch Kooperation in selbstgewählten Gemeinschaften überwunden werden, die sich, statt am alltäglichen Krieg aller gegen alle, an der kulturellen Entwicklung jedes menschlichen Wesens und jedes Volkes orientieren. Stichworte: Liebe, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sonst werden künftige Erhebungen nur das wiederholen, was wir heute haben – und zwar in einem schlimmeren Grad. Und was die Frage der sozialen Ertüchtigung anbelangt: lokal wie global, in der Organisation der Arbeit wie des Alltagslebens. Wir müssen Wege suchen, wie wir uns selbst, wie der wachsenden Zahl von Außenseitern körperlich, wie geistig helfen, uns und sich selbst als Individuen zu finden, »ich« sagen zu lernen, und ebenso als Kollektivmacht zu entfalten, die sich selbst in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen organisiert. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach dem Wann: Jetzt natürlich, immer jetzt, weil jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt. ‚Morgen‘ würde niemals bedeuten. Und jede Betätigung in diese Richtung ist, denke ich, eine Art von Vorbereitung. Jeder Revolution ging eine solche Vorbereitung voraus, bei der Bevölkerung, den Minderheiten, mit sozialer Fantasie und der Hoffnung auf etwas Besseres, die dazu beitrugen, die unvermeidliche Gewalt einzugrenzen. Und ich hoffe, dass es dies auch heute gibt.

Boris Kagarlitzki: Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Werte zu verkünden, während die andere Seite Politik gemacht hat. Wir müssen sehr konkret werden. Jeremy Corbyns Kampagne ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr Erfolg beruhte auf praktischen Vorschlägen. So moderat die meisten davon auch sind, wirken sie nach 30 Jahren Neoliberalismus doch radikal oder sogar revolutionär. Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen, den Öffentlichen Dienst wieder in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen, oder staatliche Investitionen, um Wachstum zu erzielen, wenn Marktanreize erschöpft sind: Das ist alles sehr einfach.
In Russland liegen die Dinge noch mehr auf der Hand. Eine große Mehrheit möchte Öl- und Gaskonzerne und andere Firmen, die die Oligarchen der Bevölkerung gestohlen haben, wieder verstaatlichen. Trotzdem kämpft keine politische Kraft für diese populären Forderungen. Warum? Weil das Volk selbst nicht für seine eigenen Interessen und Rechte eintritt. Das Problem liegt nicht bei der Linken – es liegt bei den Massen. Solange sie passiv bleiben, spielt es keine Rolle, welche Werte wir verbreiten. Die Frage ist, ob sie sich bewegen. Wenn nein, verdienen wir alle eine düstere Zukunft. Aber mir scheint ein Wendepunkt sehr nahe zu sein. In diesem Moment müssen wir die praktische Bedeutung unserer Ideen beweisen. Wenn sie hier und jetzt in ein konkretes Programm eingehen und in Handlungen, die zu einer Transformation führen, dann werden sie funktionieren, und unsere Existenz hat einen Sinn.

(Dieser Text erschien zuerst in „Melodie und Rhythmus“, Heft 4/2018)

(Eine ungekürzte englische Version auf der Website: www.kai-ehlers.de unter „Revolution or Revolt“

Siehe dazu auch: Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzky, Band I und II, laika diskurs 2013/14

 

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Revolution or Revolt – Ein Dialog zwischen Boris Kagarlitzki und Kai Ehlers

Dear Boris, now we know each other for roughly 30 years. We got to know each other, when M. Gorbatschow tried to reform Soviet socialism – and when we thought to build up a socialistic Alternative in Germany. You have tried hard to cause with friends a socialist turn of the perestroika. Our common book „25 years of talks with Kagarlitzki“[i] files of it a well-spoken report. We have tried ours here in the FRG. Today we know that there did not come a reform of socialism in Soviet Union, but a semi-capitalistic Russia and some Americanization of the so called social state in Germany and Europe, a neoliberal globalization all over the world. A revolution in Russia is hardly conceivable at the moment. People are fed up with Revolution. At best another neo-liberal pseudo revolution à la A. Nawalny against the ’system Putin could be imagined ‚,against it´s ‘peripheral capitalism’, as you call it, it´s ‘hybrid structures’, as I call it,. And Germany is far from any revolutionary movement. The world is moving towards a final crisis of capitalism in many respects, but revolutionary forces which would be comparable to the forces from the beginning of the previous century are not to be seen in in the centers of capitalism. There is no determined movement beyond capitalism, no alternative floating to revolution. The center of change has moved from greater Europe, let´s say from the ‘West’ into global dimensions. I think, the possible subject of future change is lying in the global Millions of  the worldwide increasing number of ‘Marginalisierten’, of  ’superfluous‘ in earlier 3. Aand 4. world, like I call them, although, of course, the process of precarisation is not restricted to the new world. However, do they have more perspective today than a restless, aimless and permanent revolt? Which could be the role of Europe and Russia in this oncoming worldwide evolution into a post-capitalistic future?

***

Dear Kai, there are all sorts of reasons to be upset about the past failures of the left and many more reasons to worry about the future. However I don’t agree with the way you see current situation in Russia or in Europe. The lack of formulated alternative has nothing to do with the question about possibility or impossibility of a revolution. It is produced by an objective process and conditions not by our political convictions. In 1980s there were no chances for socialism or revolution no matter what you or me or other people like us used to think. We were simply wrong thinking that having an ideologically conceived alternative was essential. Alternatives never produced revolutions in the past and never will produce them in the future. On the contrary, only ONGOING revolutions produce real (not false, utopian or imaginable) alternatives. And now the revolution is becoming a real or maybe even inevitable perspective, even if nobody on the left believes in it.

On the other hand, it is very strange that you call Russia “semi-capitalist”. What is wrong with Russian capitalism? Why do you think that Russian oligarch is so different compared to American, German or Peruvian one? The world-system is quite integrated and there are different niches in it for German economy of manufacturing and Russian, Latin American or Saudi extractionist economies providing global capitalism with raw materials and other resources. This makes these capitalisms quite specific. But this very model of division of labour which was created under neoliberalism is in crisis. And there is no way it can overcome this crisis unless we have wars and revolutions that will somehow lead us to a different society. To which extent this society will be socialist or will bring us close to socialism is another matter. But it will be radically different from the current one.

This economic disintegration is the deep cause of major event we see around us, including the crisis between Russia and the West which has very little to do with issues like democracy or nationalism. Crimea is no more important that the Austrian prince unfortunately assassinated in Sarajevo in 1914. Was First World War about it. Of course not! It was about the crisis of then existing model of imperialism.

Trump, BREXIT, Naval’ny, war in Donbass and the surrender of Siriza in Greece, unexpected successes of Jeremy Corbyn or Bernie Sanders are nothing more than just a few of the INITIAL symptoms of a massive upheaval, which is in its very beginning. Is it good news or bad news? A bit of both. But much will depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers.

***

Dear Boris, let’s first get clear in what we seem to agree. There is no doubt, that, as You call it, a massive upheaval against the current economic system and life order is in its very beginning. And I should add, that we are talking about a global dimension, of course, following out of the fundamental crisis of capitalism in its present neoliberal form. And of course revolutions result out of objective processes. And I agree, that today’s Russia is part of this world wide process, although in a specific way, which you call peripher, which I call semi-capitalistic or hybrid. This is a topic of it´s own, of course. I agree, too, that current political topics like Trump, Brexit, Nawalny, Donbass, even Syria etc. pp. are symptoms  of this upcoming development, and there can be no doubt, that this development, as you say, will lead us to a “somehow different society, but in any case radically different from the current type of society”. Definitely, yes!

But questions, which may be controversial, rise, when you are stating – virtually just by the way –, that this can happen by war or revolution and questions rise further on, when You finish Your statements with the sentence, that much would depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers. So what? Is the objective process, nevertheless, depending on subjective interfering?

These, I think, are just those questions, which should be set clear: If revolution is not roused by alternatives, but by objective processes, moreover, if alternatives are produced by the ongoing process, so how is this proceeding, what is our part in this process, and who are “we”?

Is revolution and war a necessary, provoking asked, a ‘как бы‘ (somehow) natural connection? Couldn’t it be, that revolution under today’s conditions of a strongly linked up world does not necessary mean war, more exactly said, that the global upheaval, which is to be expected, is not necessarily bound to a global war?

It seems to me, that this is the main question, if we won’t understand history and social processes as mere, quasi natural outbreak of spontaneous power, but ask for the historical subject on the historical level of evolution.

I think the outstanding global upraise is not comparable to French or Russian or any other earlier revolution, which spread out of one country into the world in each case. And I think, a global war is not leadable in the kind of the first and second world war today as side effect or maybe even prevention of radical social changes, without destroying both, capitalism, imperialism, neo-liberalism etc. and social freeing impulses in one big dirty washing-up.

Of course we have a growing readiness for violence today, local protest, local revolts, different sorts of terrorism, produced by the cruelty of the final crisis of capitalism. This is the ongoing process, about which You are talking. But as far as this process is not bursting out in one big bang, neither the one global revolution nor the one global war, but amplifying step by step, our part can’t be just heating up revolts by force or too provoke upraises, like tried by some lonely militants just now in Hamburg, to whom violence as violence was already a sufficient message. We have to look for, to find and to show ways and images, how another world could look like – if the power shall not only „blow up“.

And in this sense – to come back to this question here – I think it important, to see the contradictions and differences between the capitalistic states, between  developed and peripheral capitalism, between cultures, as far as different forms of opposition or possible alternatives with different people with a different social and historic background arising from them. This is valid also to the Russian society of today, which I called a hybrid capitalism, as it implies special Russian-Soviet history and structures of communitarism (общинность), even if at the moment in capitalistic covered form. You remember, we have been talking about this often as a specific Russian-Soviet heritage, wondering in what way it will change.

I agree with you again completely – alternatives are always concrete, but they need a leading idea; that does not mean a closed ideology, but ideas, images like life could be. To sharpen it on the title of our dialogue revolt or revolution: the possible revolution of today’s outcasts will stuck in revolts, or even in fascistic tendencies, if it does not rise from the bare clamour to the image of a more human future, based on the esteem of traditional values.

***

Dear Kai! It seems that we are still obsessed by the vision of revolution presented in Stalinist Краткий курс истории партии. (Kurze Geschichte der Partei) As if Bolsheviks were from an already existing popular force, say, in 1916. In fact, from the point of view of public opinion they didn’t exist. And alternatives that were actually visible “on the table” had very little to do with what actually happened. Jeremy Corbyn or Bernie Sanders politically didn’t exist a few weeks before they launched their campaign. And that was exactly the secret of their progress. In the current situation only a movement, a leader, an idea, coming from almost “nowhere” is going to have a chance. Everything that is present and visible is either discredited or going to be discredited. And not because of ideological reasons, but because nothing, that can and will be tried within current system would work. This is an objective process. I don’t care whether people like neoliberalism or not. In fact they never did. And no matter how much people subjectively disliked privatization or de-regulation, it happened because it was working – not for the majority but for the elites. Now it is the other way round. Even if they managed to establish neoliberal hegemony in many ways, that leads nowhere because the system exhausted its potential, it simply can’t reproduce itself, it can’t (in its practical results) satisfy even the ruling classes – and that’s where people like Trump or Naval’ny are coming from.

So what should we do, and who are “we”?

Political success depends on understanding the objective situation, opportunities, provided by it and on adequately using these opportunities to reach your goals. The irony is that we do not lack opportunities, but the left lack goals. The left became no more than a community of liberal intellectuals interested in animal rights, gays and feminism (but not interested in actually existing animals, single-sex couples or working class women). It completely abandoned class politics even if it reproduces class rhetoric without thinking of its content. Ironically, it is now some sectors of the Far Right in the West we really listen to what working class people say and try to represent their daily interests. However their represent these interests in confused and inadequate form.

It is interesting that at this moment Russian Far Right is very weak, so in many ways the task for the left is easier. What do we have to do: we have to create yet another new left. Which will be in many ways more like the original old one. Back to the pre-60th. Back to the 1920th. Seems a bit like Hegelian-Marxist Negation of Negation (Отрицание отрицания – I don’t know the original German term). Anyhow, let philosophers conceptualize this, we have to be very practical.

Who are “WE” now? We don’t exist yet – as a political force. We have to create ourselves politically. With very simple ideas – public sector, regulation, welfare state, democratic participation. Can we use Soviet heritage? Yes, why not. What we should do – we shouldn‘ try to bring back the Soviet Union. For the same reason, for which we can’t sustain a current system. It’s not because we like or dislike it. Simply because it is impossible.

There is a huge store of ideas and methods the left possessed for a long time. We should find there what is necessary. Actual configuration will depend on the situation and public needs.

Don’t even try to invent something new. It makes no sense. We don’t need new ideas. We spent half a century on ideas, most of which proved to be either wrong or dysfunctional. As an intellectual I’m fe up with discussing ideas or abstract alternatives. We need politics. Not just building an organization but rather educating people who will be able to build it very fast when there is an opportunity. This work is being done right now and not without success. Because the generation, that will bring about new politics, is already here. Politics will come when there is an opportunity. In a year, in a month, in a few weeks. Or never.  

***

Dear Boris! Very short, because place is finishing: Not to invent something. Yes! Education. Yes! But here the devil is lying in detail: what, how and when! I think, at first there is to show, as far as to talk about objective facts, that the one very objective fact, which has to be understood today, is this: The credo in mere efficiency and economic growth, based on priority of competition as principle is leading into an evolutionary crisis of mankind, which can only be overcome by a lifeserving (lebensdienlich) way aiming towards cooperation based on self-chosen communities orientated on cultural growth of any human being and any people., instead of every day war. Keyword: love, mutual help and solidarity. This, of course, is a very principle orientation, but this must be understood first of all, otherwise future upraises will be a repetition of what we have now, only on more extreme level. And as to the question how, we ought to find answers in, let’s say, social exercises – local and global, which means, in organization of work and everyday life, by searching and finding ways, how to help oneself and the growing number of outcasts to find themselves, physically and mentally, how to find oneself and themselves as individual person, who knows to say: I, and to find as a collective power, organizing itself in conflict with the existing conditions. No power with claim to future without individual consciousness! And here, dear Boris, I find the answer to the question ‘when’, too: Of course, now – always now, as any journey begins with the first step. Tomorrow would mean, never. Any exercise of this kind is sort of preparation, I think. Any revolution had some preparation of that kind in the people itself, in minorities, in some social fantasy and hope for the better, which helped channeling the inevitable violence – and so today, I hope. And with this extremely short summery I surrender the last round to You.  

***

Dear Kai! Of course we have to insist on the importance of love and solidarity, but we spent too much time on discussing and promoting values while the other side was practicing politics. We have to be very concrete. I think of Jeremy Corbyn’s campaign as an example of success not because he brought about a lot of enthusiasm and achieved a real progress electorally, but first of all because he did so on the basis of very concrete proposals.

In fact, most of these proposals are quite moderate but after 30 years of neoliberalism they seem radical or even revolutionary. Bring back railways into public ownership, relaunch public sector to provide necessary services to people and generate public investment to achieve economic growth in the situation when market incentives are exhausted. This is all very simple. Speaking about Russia, things are even more clear. There is a great majority demanding nationalization of oil, gas and other corporations that were stolen from the people by the oligarchs. At the same time there is no political force fighting for these demands no matter how popular they are. Why? Because the people themselves are passive and they are not fighting for their own interests and rights. The problem is not with the left. It is with the people. As long as masses are passive it doesn’t matter which values and ideas we spread. It all makes no sense except for a tiny group of activists and intellectuals which has to be sustained and reproduced. But he question is whether people will say passive forever? If so, we all deserve the kind of future, which is anything but bright. However I think that there will be a turning point, which seems to be very close. At this moment we must show that our ideas are relevant – not in abstract but in practical terms. Can they be transformed into a practical political program and transformative action HERE AND NOW? Then they will work and our existence makes sense…   

[i] Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, laika diskurs 2013/2014

 

Stichwort: Wie wollen wir leben? ‘Soziales Kapital’ – soziale Arbeitsorganisation – Chance für die ‚Überflüssigen‘ von heute und morgen?

Unter der Frage: Wie wollen wir leben, wenn nicht nach den Vorgaben des traditionellen Sozialismus oder des jetzigen entfesselten globalen neo-liberalen Kapitalismus? geht es heute um die Wiedergeburt des Sozialen jenseits der jetzt herrschenden kapitalistischen Produktionsweise von Lohnarbeit und Kapital.  Dabei geht es nicht um einen ‘dritten Weg’ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern um einen Schritt über die kapitalistische, auch die staats-sozialistische Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialordnung hinaus, bei dem der Mensch nicht nur als Konsument begriffen wird. Gibt es Indikatoren für einen solchen Weg?

Von Elenor Ostrom, Nobelpreisträgerin für Ökonomie 2009[1], inzwischen verstorben, stammt die aktuellste Vision für einen solchen möglichen Weg. Ihre Untersuchungen beschreiben das neue Aufkommen der historischen Allmende auf dem Niveau der heutigen Industriegesellschaften. Als Allmende beschreibt sie Gemeinschaften,  Zusammenschlüsse, selbst Institutionen der verschiedensten Art und Größe bis ins Globale, die ein begrenztes, definiertes Feld von Ressourcen autonom bewirtschaften, dabei im freien Austausch mit privat-wirtschaftlichen Zusammenhängen und staatlichen Strukturen stehen, von deren Bevormundung sie sich tendenziell befreien.  

Die ostromsche Vision stützt sich auf die wachsende Zahl solcher Zusammenschlüsse, die heute unter dem Druck der Automatisierung entstehen, inzwischen ‚Vierte Technische Revolution‘ genannt. In deren Zuge werden immer mehr Menschen als ‚Überflüssige‘ aus der Gesellschaft gedrängt¸ zugleich werden die Ressourcen in katastrophenträchtiger Weise belastet.

Hinter der von Elenor Ostrom konstatierten Entstehung moderner ‚Commons‘ werden zudem Erfahrungen des gemeinschaftlichen Wirtschaftens und Lebens erinnerbar, wie sie sich im alten Russland und darauf aufbauend in der Sowjetunion[2], wie sie sich in anderer Weise in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg infolge der von Rudolf Steiner angeregten Dreigliederung[3], einfach gesagt, der Entstaatlichung eines vom Staat monopolisierten gesellschaftlichen Lebens entwickelten. Bedauerlicher Weise hat Elenor Ostrom diese Erfahrungen, östliche wie hiesige, trotz ihrer ansonsten weltweit angelegten und historisch fundierten Feldforschungen in ihre Untersuchungen nicht mit einbezogen. Auch die aktuelle Commons- und Gemeinschafts-Bewegung tut das bisher nicht.

Machen wir es aber kurz, ohne dieses Manko an dieser Stelle  nachholen zu wollen; das kann an anderer Stelle geschehen: Hauptproblem, mit dem sich nicht nur Frau Ostrom, sondern alle Initiativen oder Bewegungen, die sich für eine Überwindung des herrschenden Konkurrenzkapitalismus und der damit verbundenen Lohnarbeitsordnung einsetzen, zu tun haben, ist die Tatsache, dass es Mitglieder der Gesellschaft gibt, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der gleichen Weise in der Erwerbsarbeit stehen wie die Mehrheit ihrer Zeitgenossen. Unterschiedslos als ‚Trittbrettfahrer‘ klassifiziert, dienen diese Menschen den Gegnern gemeinschaftsorientierter Arbeits- und Lebensentwürfe als Beweis, dass es zum herrschenden System, sei es staats- oder privatkapitalistisch organisiert, keine Alternativen gebe, dass es sie prinzipiell aus der egoistischen Natur des Menschen heraus nicht geben könne – weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft.  Zwang, indirekt oder direkt, sei daher unumgänglich, um die Menschen auf Dauer zur Arbeit zu veranlassen.

  

Worum es nicht geht…

Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Phänomen des ‚Trittbrettfahrers‘ macht aber klar, worum es bei der Entwicklung von Alternativen zu den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen NICHT geht, heute weniger als je zuvor: Es geht nicht darum, ein idealistisches Weltbild zu erfinden, in dem es keine Konflikte zwischen privatem und öffentlichem Interesse, zwischen Privateigentum und kollektivem Eigentum, zwischen Privateigentum und Staatseigentum oder direkt im Arbeitsleben gäbe. Sehr wohl aber geht es darum ein geistiges Klima zu schaffen und dem folgend gesellschaftliche Strukturen, unter denen Arbeit nicht als Zwang, sondern als allseitiger Weg zur Selbstverwirklichung erlebt werden kann. Dies bedeutet selbstverständlich, den Menschen aus seiner heutigen Reduzierung auf einen ‚homo ökonomicus‘ schärfer gesprochen, auf ein ‚animal ökonomice‘ zu befreien, also eine geistige Orientierung zu entwickeln, die über den neoliberalen Öknomismus hinausführt.

Es geht auch nicht darum, eine Situation zu erfinden, in der es kein persönliches Interesse gäbe, das nicht immer wieder zu dem Phänomen des Trittbrettfahrens des Einen auf Kosten anderer ginge. Wir alle sind irgendwann und irgendwo einmal ‚Trittbrettfahrer‘ in dem Sinne, dass wir bei einer von anderen Menschen getragenen Aktivität ‚mitfahren‘, sei es zu Haus in der Familie, sei es im Freundeskreis, sei es in der Kommune oder auf der Ebene des gesamten Gesellschaftskörpers. Oder wir sind vielleicht auch in anderen Bereichen tätig  als denen des unmittelbaren Erwerbslebens. Das kann jede/r an der eigenen Realität überprüfen.

Zum Problem wird das Mitfahren‘ erst, wenn es keinen geistigen, über das  Ökonomische hinausgehenden Entwurf gibt, in dem die Menschen miteinander leben wollen, wenn kein Verständnis für Tätigkeit der Anderen da ist, wenn dann bei Verletzung eingegangener Selbstverpflichtungen und miteinander gefasster Regeln keine Korrektur stattfindet. Aber es ist viel, was da zusammenkommen muss, bevor aus einer zeitweiligen Untätigkeit, Nachlässigkeit, selbst Übertretung  vereinbarter Regeln eine Situation wird, die man als ‚Trittbrettfahrt‘ bezeichnen muss. Auch fallen Kinder, Kranke, Hilfsbedürftige und Alte ohnehin nicht unter dieses Verdikt.

Es geht auch nicht darum, Eigentum abzuschaffen. Es geht vielmehr darum, wie Eigentum so genutzt werden kann, dass es dem Wohl des Einen wie auch dem der Anderen dient. Zweifellos macht es Sinn, der Entstehung des Eigentums genauer nachzugehen, wie seinerzeit Rousseau es tat, der die Entstehung des Eigentums damit beschrieb, dass jemand einen Zaun um das Eigene zog, mit dem er sich von der Gemeinschaft abgrenzte.

Aber es kann heute nicht um Abschaffung des Eigentums, nicht um Enteignung, nicht um Phantasien einer eigentumslosen Gesellschaft und dergleichen gehen. Formwandel von privatem zu staatlichem oder öffentlichem Eigentum oder umgekehrt von öffentlichem oder Staatseigentum zu privatem hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, vor Rousseau und auch nach ihm. Nicht eine dieser Wandlungen endete mit Abschaffung des Eigentums, ebenso wenig  wie mit dessen endgültiger Sicherung; bestenfalls führten die Veränderungen zu Umverteilungen zwischen alten und neuen Eigentümern; danach konnte dann alles von vorn beginnen.

Und scharf betrachtet, enden auch alle Theorien zur Frage der Eigentumsordnung im Grunde, wie sie schon bei Rousseau endeten, nämlich in der Beschreibung eines so oder anders begründeten ‘contract sociale’, also eines ‘Sozialvertrages’ oder noch genereller in einem ‘volonté générale’ [4], einem ‘allgemeinen Willen’, der angeblich zwischen Eigentümern und nicht Eigentümern zustande kommt – ungeachtet der Frage, wie solche ‚Verträge‘ zustande kamen, friedlich oder gewaltsam, und wer die jeweiligen Eigentümer waren und in welchen geistigen Kontinuum das geschah.  

Eine Gesellschaft, die einen möglichen Urzustand, in dem es außer dem persönlichen Eigentum nur zeitlich begrenzten Besitz, also vorübergehende Nutzungsrechte am Gemeineigentum für alle Menschen gleichermaßen gab, auf einem höheren Niveau wiederhergestellt hätte, wurde seit der von Rousseau beschriebenen Errichtung eines Zaunes bisher jedenfalls nicht wieder erreicht.

 

Nichts  ohne Arbeit

 Es ist sogar zu bezweifeln, ob dieser Zaun je mehr als eine Metapher für einen Vorgang war, der sich noch weit vor seiner Errichtung ereignet hat und seitdem auch immer wieder ereignet. Dreh- und Angelpunkt des Eigentumskarussells ist nämlich eine Tatsache, die sich unabänderlich jeden Tag aufs Neue bestätigt: Kein Eigentum, nicht privates und nicht gemeinschaftliches, nicht kapitalistisches, nicht sozialistisches und auch kein denkbares alternatives entsteht und besteht ohne Arbeit! Auch nicht unter den Bedingungen der ‚Vierten industriellen Revolution‘. Arbeit hat nur ihre Form gewandelt und wandelt sie auch heute. Arbeit ist auch heute die Basis des Lebens. Das gilt auch für ererbte oder geraubte Vermögen. Ohne dass Naturstoffe, auch Pflanzen und Tiere von Menschenhand bearbeitet und gepflegt werden, besitzen sie keinen Gebrauchswert und bekommen ihn auch nicht, wenn sie noch so hoch und noch so oft eingezäunt werden. Weder Beeren, Birnen, Äpfel und sonstige Naturprodukte, ja, nicht einmal Bananen fliegen dem Menschen von selbst in den Mund. Desgleichen Grund und Boden: welchen Wert hätten sie, wenn sie nicht zuvor urbar gemacht, kultiviert oder bebaut worden wären? Und selbst eine Robot-Gesellschaft muss ernährt, muss mit Ressourcen versorgt, gepflegt und unterhalten werden.   

Kurz, Arbeit, also die Verwandlung von Naturstoff in die für den Menschen nützlichen Mittel zum Leben, Zivilisation und Kultur ist die Grundlage allen Eigentums, ob in der Form des persönlichen Vermögens oder in der Form des Privateigentums an Produktionsmitteln. Es ist die Stellung im Arbeitsprozess, in dem sich soziale Differenzierungen immer wieder manifestiert haben und sich auch heute manifestieren. Es ist die Entwicklung und der jeweilige Stand der Arbeitsteilung und der Arbeitsorganisation, worin sich die historischen Niveaus der uns vorangegangenen Gesellschaften unterscheiden – von der gemeinschaftlichen Jagd über die Teilung der Gesellschaften in Sklaven, Freie und Aristokraten, über die egalitären Versuche der verschiedenen sozialistischen Gesellschaften bis hin zu den   gegenwärtigen Verhältnissen, in denen sich Privateigentümer von Produktionsmitteln oder leitende Funktionäre von Staatseigentum Millionen, ja, inzwischen Milliarden Menschen als Lohnarbeiter, treffender für viele zu sagen, als Lohnsklaven halten können, die sie auf diese Weise von ihren Möglichkeiten enteignen sich selbst durch ihre eigene Arbeit als Mensch zu entwickeln.

Oberste bisher erreichte Sprosse dieser Leiter ist heute die Polarisierung von Kapital und ‚Humankapital‘. In dieser Beziehung dient der Mensch, darin inzwischen auf die gleiche Stufe gedrückt wie die zur Produktion benötigten materiellen Ressourcen, nur noch als Verwertungsmasse für die Selbstvermehrung des Kapitals, bevor er – ausgepresst – als Überflüssiger‘ freigesetzt wird.

Es ist klar, dass die heutige Art der Arbeitsorganisation allen Effektivitätsphantasien, allen Maßnahmen der Rationalisierung und Automatisierung zum Trotz, ja, letztlich gerade durch sie bedingt, das Gegenteil von effektiv ist, wenn man Effektivität an der Entwicklung des Menschen zum Kulturwesen misst – und nicht nur am Ausstoß von Waren, Konsum oder Profit.

Eben dieser wachsende Widerspruch zwischen industrieller Rationalität und dem Bedürfnis des Menschen nach Kultivierung seines Menschseins ist es, der die Motivation und die geistige wie physische Dynamik hervorbringt, die über die jetzige Arbeitsorganisation hinausweist. Was in diesem Widerspruchsfeld heute entsteht, ist das Verlangen der verbal zum ‚Humankapital‘ erhöhten; real jedoch als ‚Überflüssige‘ ausgestoßenen und erniedrigten Menschen, ihre Arbeit, ihre Beziehung zu anderen Menschen, den Umgang mit den Ressourcen, die Ziele ihrer Arbeit und deren Verwertung selbstbestimmt, in gegenseitiger Hilfe zu ihrem eigenen und zugleich gemeinsamen Wohl organisieren zu können.

Mit anderen Worten, es entsteht das Verlangen  nach einem neuen gesellschaftlichen Niveau der Arbeitsteilung, in welcher der Mensch aus seiner prekären Vereinzelung heraus in selbstorganisierte, selbstverantwortete, aber gemeinschaftliche Arbeitsprozesse eintreten kann, die ihn unabhängig, zumindest erst einmal unabhängiger machen von der bisherigen Polarität von Markt‘ ODER ’Staat‘.

 

Projektgesellschaft

Und es entsteht nicht nur das Verlangen: In der sozialen Realität von heute ist dieses Feld schon längst bebaut, in die Sprache schon längst eingeführt. Wovon ist die Rede? Die Rede ist vom Projekt. ‚Projekt‘ heißt heute fast alles, was auch nur ansatzweise Anspruch auf gemeinschaftliche Selbstorganisation und Originalität erhebt. Menschen tun sich zusammen, entwerfen ein Projekt – einen Film, eine Kindertagesstätte, die Produktion eines trendigen Konsumartikels. Man gewinnt eine Gruppe von Freunden, Bekannten, Interessierten dafür, zur Finanzierung des Projektes persönlich mit Geld oder auch mit Arbeitsleistung beizutragen. Man verpflichtet sich zu gegenseitiger Hilfe für die Dauer des Projektes. Man haftet gemeinsam für den Erfolg. Mögliche Erträgnisse aus dem Projekt fließen nach dessen Abschluss an die Geldgeber und Bürgen zurück. Selbst Firmen oder allgemeine Zukunftsplanungen laufen heute unter dem Titel ‘Projekt’.

Was so entsteht, ist nichts anderes als die moderne Variante einer Allmende. Die Vielzahl solcher Projekte lässt heute ein Kraftfeld selbstbestimmter und selbstorganisierter Initiativen entstehen, die sich aus dem Dualismus von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Förderung zu befreien versuchen.

Auch hier ist wieder wichtig zu sagen: Das heißt nicht, dass ‘Staat’ oder ‘Markt’ durch diese Initiativen ersetzt, überwunden oder gar in einem revolutionären Akt eines ‘Dritten Weges’ nun endlich abgeschafft würden; es heißt nur – aber in diesem ‘nur’ liegt eben die Kraft – dass ‘Staat’ oder ‘Markt’ nicht mehr passiv als quasi naturgegebene Autorität erduldet, sondern als Unterstützer von selbstbestimmten Projekten verstanden und genutzt werden. In einer geläufigeren Begrifflichkeit ausgedrückt heißt das: projektbezogene Kooperation aktiviert die Kräfte, die gebraucht werden, um die Ohnmacht zu überwinden, die heute aus dem scheinbar untrennbaren Paar von Turbokapitalismus auf der einen und dem zu seiner Eindämmung auftretenden planwirtschaftlichen Bürokratismus, konkret, des nationalen Einheitsstaates mit seinem Verwaltungsmonopol auf der anderen entstanden ist.

In Projekten ist die Kooperation vom Interesse der Beteiligten, von der Sache, von der Effektivität des gemeinsamen Willens bestimmt, in ihrer zeitlich und örtlich unabhängigen Mobilität entspricht sie den Erfordernissen und Möglichkeiten einer globalisierten Welt, statt weiter von Gesetzen der Selbsterhaltung der Bürokratie, staatlicher wie auch privater Kapitale bestimmt, beschränkt, behindert oder ganz verhindert zu werden.

 

‚Vertrauenskapital‘

Diesen Raum beschreibt Elinor Ostrom mit dem Begriff des ‘sozialen Kapitals’, das meint – im Gegensatz zum Begriff des ‚Humankapitals‘, das den Menschen entpersönlicht – die Qualität der aus individuellem Interesse hervorgehenden gemeinsamen Arbeit. Man mag diesen Begriff für unglücklich halten, weil das, was Elenor Ostrom mit ihm bezeichnen will, mit dem herkömmlichen Begriff des Kapitals nur wenig gemein hat. Als Arbeitshypothese – und einen höheren Anspruch stellt sie selbst nicht – mag er zunächst ausreichen, auch wenn, wie eingangs gesagt, Erfahrungen aus der russischen und real-sozialistischen Welt wie auch aus der Dreigliederungsbewegung des letzten Jahrhunderts darin noch nicht mit eingegangen sind, weder die positiven noch die negativen.

Gemeint mit ‘Sozialem Kapital’ ist das, was umgangssprachlich auch als ‚Vertrauenskapital‘ bezeichnet wird, auf konkreten Beziehungen beruhende Effektivität gemeinsamer Tätigkeit. Gemeint sind die Einsparungen an Kraft, Material und Zeit, die gewonnen werden, weil und wenn Allmenden – oder auch in anderer Formulierung: Projekte, Gemeinschaften – keine staatlich oder privat finanzierte Bürokratie, keinen aufwendigen Sicherheits- und Kontrollapparat brauchen – jedenfalls den Aufwand für solche Maßnahmen radikal minimieren. Im Gegenteil setzen sie – vom Eigeninteresse ihrer Mitglieder ausgehend – eben jene Motivation, Kreativität und Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe frei, die unter dem Druck staatlicher oder privatwirtschaftlicher Strukturen üblicherweise erdrückt werden.

‘Soziales Kapital‘ – sprechen wir diese Beziehung einmal nicht vom Kapital, sondern von den Menschen her aus, dann könnte man sagen: Die heute sichtbar werdende Perspektive weist in die Richtung einer neuen sozialen Realität der Entstehung einer mobilen Projektarbeiterschaft, sie weist in die Richtung eines neuen Sozialvertrages zwischen Privateigentümern, mobilen Projekteigentümern und Funktionären von Staatseigentum, ja, sie weist in die Richtung der Herausbildung eines neuen Grundkonsenses zwischen diesen Gruppen der Weltbevölkerung –  dieses Mal von unten. Der selbstbestimmte, selbstorganisierte, sich zu gegenseitiger Hilfe verpflichtende Projektarbeiter wird in dieser Perspektive zum Impulsgeber einer gesellschaftlichen Ordnung, die über die gegenwärtige Dualität von Markt oder Staat, von Privateigentum oder Staatseigentum hinauswächst. Noch anders gesagt, denn von ihnen müssen wir zunehmend sprechen: Die ‚Überflüssigen‘ sind – wenn sie es verstehen – die Boten einer Gesellschaft der Selbstermächtigung, dies alles, ohne die alte Gretchenfrage ‘Wie hältst du es mit dem Eigentum?’ als Kriegserklärung stellen zu müssen.

 

Eigentum durch Arbeit definieren

Die Frage nach dem Eigentum stellt sich aber sofort, wenn wir nicht nur auf die strukturellen, organisatorischen, politischen Beziehungen von Privatkapital, Staatskapital und ‘Sozialem Kapital’ schauen, sondern wenn wir in die innere Beziehung zwischen Arbeit und Kapital gehen, das heißt, wenn wir uns der Frage der Lohnarbeit genauer zuwenden – allerdings auch dies nicht in Form der ‚Abschaffung‘ von irgendetwas, der ‚Enteignung‘ oder dergleichen, sondern in einem Prozess der Transformation der grundlegenden Beziehung von Kapital und Arbeit, der die Arbeitskraft des Menschen wieder zu dem macht, was sie ursprünglich einmal war, was sie ‚eigentlich‘ ist, nämlich, das ganz persönliches Vermögen jedes Menschen, sein unveräußerliches Eigenes, eben sein ursprüngliches Eigentum.

 

Kern ist hier, jenseits aller aktuellen Vernebelungen, die davon ausgehen, dass Wirtschaften erst mit der Zinsnahme entstehe, die Frage, wie das Arbeitsprodukt oder auch dessen Wert unter denen aufgeteilt wird, die es miteinander zustande gebracht haben – Unternehmer und die von ihm Beschäftigten.

Geregelt ist dies heute im Lohnvertrag, der zwischen Unternehmer und Arbeitern abgeschlossen wird, also zwischen dem Menschen, der Geld und oder Maschinen, sowie Fabrikanlagen zur Verfügung hat und zum Einsatz bringen kann und jenen, die für Geld, manchmal auch für Sachwerte die notwendige Arbeit leisten, damit das Produkt real zustande kommen kann. Die Beschäftigten haben im traditionellen Lohnvertrag in der Regel keinen Einfluss auf die Produkte ihrer Arbeit, weder auf die Werbung, den Umfang der Produktion, den Vertrieb noch den Verkauf. Die Aufteilung des Mehrwerts, obwohl  gemeinsam erwirtschaftet,  liegt im Belieben der Unternehmer; die Höhe des an die Beschäftigten ausgezahlten Anteils ist in der Regel ein Ergebnis des ‚Arbeitsmarktes‘, genauer, des Arbeitskampfes: stehen reichlich Menschen als Reserve zur Verfügung, sinken die Löhne, sind Arbeitskräfte knapp, steigen die Löhne. Jede durch Automation eingesparte Arbeitskraft erhöht den Mehrwertanteil der Unternehmerseite.

 

Der Zwang zur Selbstorganisation

 Wohin diese Organisation der Arbeit tendiert, kann nicht oft genug benannt werden – ins Heer der ‚Überflüssigen‘, die gezwungen sind sich irgendwie, und sei es im Leben auf Müllhalden, selbst zu organisieren, um ihr Leben und ihre Würde als Mensch zu bewahren, sowie zur Entstehung einer Unternehmer- und Manager’elite‘, die losgelöst vom Wohl der Mehrheit der Bevölkerung nur sich selbst verpflichtet ist, bestenfalls der Absicherung ihres eigenen Risikos..

Aus den heutigen Verhältnissen führt der Weg aber nicht nur in die zunehmende Polarisierung zwischen der Masse der ‚Überflüssigen‘ und einer ‚Elite’ von Unternehmern, Managern, privilegierten Spezialisten oder Facharbeitern, es entsteht, anknüpfend an Mitbestimmungs- und Beteiligungsansätzen, die sich in den Betrieben herausgebildet haben, auch innerhalb der Betriebe eine Tendenz zur Transformation der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.

Fassen wir es kurz und in einem Bild: Es entsteht auch im Bereich derer, die sich nicht oder noch nicht zu den Überflüssigen‘ zählen müssen, eine Situation, in der Menschen sich nicht mehr nur als Unternehmer und Arbeiter begegnen, also als Kapitaleigner auf der einen und von ihm eingekaufte ‚Arbeitskräfte‘ auf der anderen Seite. Viele Betriebe haben sich faktisch über dieses Grundverhältnis hinaus in Arbeitsgemeinschaften verwandelt, in denen sich Kapitaleigner, Manager, Spezialisten, Facharbeiter und Ungelernte zusammenfinden, die miteinander etwas produzieren.

Faktisch, das ist zu betonen, nicht rechtlich und häufig auch nicht in ihrem Selbstverständnis, bilden sie bereits eine Gemeinschaft, im weitesten Sinne eine unerklärte Allmende. Hier bedarf es, historisch gesehen, nur noch eines winzigen Schrittes, um aus der unerklärten eine erklärte Situation werden zu lassen, so wie ein Küken seine Schale aufbricht. In diesem ‘nur’ steckt allerdings, wie immer die entscheidende Hürde.

 

Vom Lohnvertrag zum Teilungsvertrag

Von Rudolf Steiner stammt der Vorschlag, zwischen Menschen, die gemeinsam produzieren wollen, einen, wie er es nennt, Teilungsvertrag anstelle eines Lohnvertrages miteinander einzugehen. Für die Leser/innen, die Steiner nur als ‚Esoteriker‘ kennen, sei kurz daran erinnert, dass dieser Mann wie kaum ein anderer nicht Marxist im letzten Jahrhundert mit Marx und Engels darin übereinstimmte, dass das Proletariat als Klasse dazu berufen sei, die Zukunft der Menschheit zu gestalten. Steiner folgte Marx auch in dessen Analyse der Mehrwertproduktion, er forderte allerdings, die Ersetzung des Lohnvertrages durch einen Teilungsvertrag, in welchem die Arbeiter die Verfügungsgewalt über ihr Produkt an den Geldgeber nicht für die Lohnzahlung abgeben. In dieser Frage war er ungeduldiger als vor ihm Marx und präziser als die heutigen Theoretiker der von ihnen so genannten ‘Eigentumsgesellschaft’ wie Gunnar Heinsohn, Peter Sloterdijk und andere, die an der Frage der Verteilung des erarbeiteten Mehrwerts vollkommen vorbeigehen, ja, die Arbeit als Basis des Eigentums wegdefinieren und gegen die Mehrwerttheorie von Marx als ihrer Ansicht nach folgenschweren historischen Fehler polemisieren.[5]

Ein Teilungsvertrag anstelle eines Lohnvertrages, hätte aber gerade die Bedingungen zu regeln, entlang derer der gesamte Arbeitsprozess zwischen allen daran Beteiligten  m i t e i n a n d e r  organisiert und das gemeinsam erarbeitete Produkt nach Maßgabe von Position, Leistung und Bedarf der einzelnen in diesem Prozess und unter Berücksichtigung notwendiger Investitionen wie notwendiger außerbetrieblicher Abgaben aufgeteilt wird. Eine solche Regelung könnte dann auch das private Eigentum an Produktionsmitteln als Form der Vergangenheit hinter sich lassen, allerdings – wie Steiner es sich im Unterschied zu Marx dachte – nicht im Verlaufe immer wiederholter Lohnkämpfe und letztlich der gewaltsamen Enteignung der Kapitaleigner, sondern schrittweise, wo es möglich ist, jetzt und hier. Entsprechend setzte Steiner sich in seiner Zeit als Dozent an der Arbeiter-Bildungsschule in Berlin 1899-1904 aktiv für die Stärkung der damaligen Betriebsrätebewegung und für die Bildung assoziativer Wirtschaftsbeziehungen ein. Er erwartete von den Arbeitern mehr als nur Forderungen nach mehr Lohn – eben den Einsatz für radikale Beteiligungsmodelle anstelle der Lohnvertragsordnung.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch mit dem Modell des Teilungsvertrages als Basis kooperativen Arbeitens wird weder das Privateigentum aufgehoben, noch ein Gleichheitsanspruch zwischen den Subjekten des Vertrages aufgestellt – im Vertrag werden nur die kooperativen Beziehungen, wird nur die Realisierung, Nutzung und Aufteilung der gemeinsam geschaffenen Werte miteinander vereinbart. Dies allerdings! In den Vertragsbedingungen gilt es dabei Positionen, Leistung und Bedarf gegeneinander abzuwägen. Der eine bringt Kapital (auch in Form von Anlagen und Arbeitsmitteln), der andere Ideen und Wissen,  logistische Fähigkeiten, wieder andere ihre Arbeitskraft oder auch soziale oder künstlerische Fähigkeiten mit.  

Entscheidend ist, dass niemand aufgrund der Art seines oder ihres Einsatzes, unkündbare oder vererbbare Alleinverfügungsgewalt über den Gesamtprozess hat, angefangen bei der Planung der Arbeit, über die Produktion bis zur Verteilung. Leitungsfunktionen entstehen aus gegenseitiger Vereinbarung und durch Wahl und werden übergeben, sobald sie nicht mehr ausgefüllt werden können. Die Verteilung des Arbeitsertrages unterliegt einem von der Betriebsgemeinschaft überwachten Schlüssel, wobei zum Betrieb nicht nur die Produktion, sondern auch der Vertrieb und die Bedarfsanalyse gehören, die den Betrieb mit der übrigen Gesellschaft verbindet.

Was sich unter solchen Bedingungen entwickeln kann, ist ein neues Verständnis von Arbeit als Kern einer anderen Eigentumsordnung, nicht der Abschaffung von Eigentum, ja, nicht einmal der Abschaffung des Kapitals, auch nicht der „Abschaffung von Arbeit“, wie manche es formulieren, sehr wohl aber der Überwindung des Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, nämlich der Selbstverwertung des Kapitals bei gleichzeitiger Entwertung der menschlichen Arbeit und der ‚Freisetzung‘ von immer mehr ‚Überflüssigen‘.

Kapital ist ja eine Ressource, die allen Menschen, man darf sogar über die Menschen hinausdenken, allen Wesen der Erde als vom Menschen geschaffene Ressource ‚eigentlich‘ zur Verfügung steht. Die natürlichen Ressourcen der Erde wurden im Lauf der Jahrtausende und werden heute zunehmend in zivilisatorische, genereller gesagt, kulturelle verwandelt – bei Verschärfung der Rückstände allerdings, die aus der Verwandlung entstanden. Aber auch dieses Problem ist bei gemeinschafts- und bedarfsorientierter Arbeitsorganisation anders zu lösen als bisher.

Damit tritt immer deutlicher ein Zug der Arbeit in neuer Weise wieder hervor, der durch die Reduzierung der Mehrheit der Menschheit auf bezahlte ‚Arbeitskräfte‘ am ‚Arbeitsmarkt‘ verloren gegangen war, nämlich Arbeit als Kommunikation, als gegenseitige Unterstützung; Arbeit als Hilfe zur gegenseitigen Entwicklung – und nicht nur Erwerbsarbeit, Job, Geldquelle – der Mensch als Ware.

Hier findet auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ihren Sinn, wenn die ‚Überflüssigen‘ nicht aus den Betrieben, allgemeiner gesehen nicht aus der Gesellschaft ausgeschieden werden, sondern ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihre freigesetzten Kräfte kreativ in das gesellschaftliche Leben einzubringen – allerdings nicht nur durch ein finanzielles Grundeinkommen von Seiten des Staates, sondern auch durch Sachwerte im kommunalen oder betrieblichen Rahmen sowie in Form der infrastrukturellen Angebote der Gesellschaft, der lokalen wie auch der gesamt gesellschaftlichen.[6]

All das ist eine tiefer in der Arbeit liegende Qualität: Nur wenn meine Arbeit nützlich für andere ist, nützt sie auch mir; nur wenn ich mich auf die Hilfe anderer verlassen und mich frei entwickeln kann, kann eine Gemeinschaft entstehen, in der die Würde des Menschen Priorität hat. Die heute sich herausbildende Möglichkeit zu Entwicklung einer kooperativen Form der Arbeitsteilung geht in Richtung dieser uralten Einsicht auf neuem Niveau – es bedarf nur der bewussten Wahrnehmung einer Entwicklung, die schon läuft, dann wird diese neue Arbeitsteilung zu einem integrierenden Prozess, der längst vergessen geglaubte soziale Impulse und Dynamiken neu in Gang setzt.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Bücher von Kai Ehlers zum Thema: :

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, Erweiterte Neuauflage, September 2016, BoD

Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte, 2. Auflage 2007

Erotik (Eros) des Informellen, Impulse für eine Andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation, edition 8, 2004

Die Bücher sind direkt über den Autor zu beziehen:

www.kai-ehlers.de

Dieser Text erschien zuerst in:  ‚Hintergrund‘ 2/2017

[1] Ostrom Elenor, Die Verfassung der Allmende, Mohr Siebeck, Tübingen 1999

[2] Siehe dazu die unten angegebene Literatur über russisch/sowjetische Gemeinschaftstraditionen

[3] Steiner, Rudolf, Die Kernpunkte der sozialen Frage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984, S. 108)

[4] Rousseau, Jean Jaques, Diskurs über die Ungleichheit, 6. Auflage, Schöning UTB, 2008, S. 243 ff

[5] Siehe dazu: Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Überflüssigen, Neuauflage, 2016, BOD

[6] Siehe dazu Kai Ehlers, Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte , 2007

Alternativen für eine selbstbestimmte Gesellschaft – können wir und was können wir dazu aus den Vorgängen in der Ukraine lernen?

Zugegeben, die Fragestellung ist vermessen. Während in Kiew mit einem „Marsch der  Würde“ der demokratische Erfolg des Maidan beschworen wurde, allen voran unter Teilnahme des gegenwärtigen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, während sich in Moskau, organisiert von aktiven Vaterlandsverteidigern,  Zehntausende unter aufgebrachten Rufen „Kein Maidan in Russland“, „Keine Ukrainisierung in Russland“ zum Protest gegen die „Faschisten“ in Kiew versammelten, während in Sewastopol tags darauf der 23. Februar zum Tag des „Russischen Frühlings“ erklärt wurde, hörte man aus Lugansk und aus Donezk nichts dergleichen. Weder Pro noch Contra wurde demonstriert – Donezk lag stattdessen weiter unter Beschuss seitens der Ukrainischen Truppen, wie selbst regierungsnahen deutschen Medien zu entnehmen war. Continue reading “Alternativen für eine selbstbestimmte Gesellschaft – können wir und was können wir dazu aus den Vorgängen in der Ukraine lernen?” »

Ukraine: Kritischer Impuls in Brüssel

Schon fast überrollt von den sich überstürzenden Ereignissen  fand am 26.02. in Brüssel unter dem Thema „Krise der Ukraine – Gefahren und Möglichkeiten“  eine Konferenz linker Aktivisten, Publizisten und Analytiker zur Krise der Ukraine statt. Initiatoren waren das Moskauer „Institut für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen“ (IGSO) und die ihm angeschlossen  „Post Globalisation Initiative“  (pglobal) in Zusammenarbeit mit der „Vereinigten Linken/Nordisch-grün-Linke-Allianz“ (GUE/NGL) des Europäischen Parlamentes.  Die Teilnehmer/innen kamen aus der Ukraine, aus Russland, Rumänien, Österreich, Frankreich, Belgien, Deutschland, Irland,  sowie aus den USA und Uruguay. Kostenträger war – ein Novum auf diesem Gebiet – das Moskauer Institut.

Die Konferenz stand unter dem unmittelbaren Eindruck  des  Machtwechsels in Kiew.  In der Einschätzung, dass berechtigte soziale Proteste durch westliche Intervention in den gewaltsamen Umsturz getrieben worden sind, gab es keine Differenzen. Die unvollendete „orangene Revolution“ wurde mit der „Maidan-Revolution“ im zweiten Anlauf durchgezogen. Mit ihrer nationalistischen, in Teilen offen faschistischen Radikalisierung  ist sie allerdings, je mehr sie angeheizt wurde, der Kontrolle ihrer Förderer entglitten Die Übergangsregierung ist schließlich durch nichts anderes als die unmittelbare Gewalt der bewaffneten Maidan-Rechten legitimiert  und es besteht die Tendenz, dass sie ihre Macht mit Duldung oder gar Förderung seitens der EU/USA weiter ausbaut und verfestigt. 

Differenzen und tendenziell  Ratlosigkeit gab es zu der Frage, was zu tun sei. Die ukrainischen Teilnehmer/innen bewerteten die entstandene Situation äußerst negativ. Die Wahl bestehe nur zwischen rechts und extrem rechts. Die Linke, auch in ihren radikaldemokratischen Rändern, habe keine Strategie und keinerlei konkreten politischen Einfluss, weder auf dem Maidan, noch im Parlament, noch in den Gewerkschaften oder Betrieben. Wenn nicht von außen Hilfe komme, sondern wie im bisherigen Verlauf der Maidan-Revolte, die Radikalisierung von außen angeheizt, die Rechten verharmlost, sogar unterstützt würden, drohe Chaos und Bürgerkrieg. Die Linke werde unter diesen Umständen praktisch  – auf jeden Fall in der Ukraine – in den Untergrund gedrängt.

Keine Begeisterung löste am Ende der Konferenz die  Aussicht aus, daß Russland nach langem Zögern nun doch versucht sein könnte, in das politische Geschehen innerhalb der Ukraine einzugreifen. Die ukrainischen Probleme von den Ukrainern gelöst werden. Hilfe von außen könne nur darin bestehen, im Medienkrieg um die Ukraine die Verharmlosung und Unterstützung der Rechten aufzudecken und zurück zu weisen und im aktiven Dialog bei der Entwicklung  von Alternativen mitzuwirken. Als eine solche mögliche Perspektive wurde am Ende der Konferenz vorgeschlagen, darüber nachzudenken, wie eine Föderalisierung in der Ukraine aussehen könnte, die  das Land nicht spaltet, sondern durch intensive Kooperation ihrer mit mehr Rechten demokratischer Selbstverwaltung herausgebildet wird.

Die Konferenzteilnehmer vereinbarten eine Dialogplattform  einzurichten, über die Austausch von Informationen in russisch und englisch laufen soll:

Volodmyr  Ishenko: https://www.facebook.com/vishchenko Boris Kagarlitzkij  www.IGSO.ru     http://www.pglobal.org

Bericht von Kai Ehlers

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Communique: Round Table «Ukrainian Crisis: Dangers and Opportunities».

February 28, 2014

 

On February 27th a group of experts and activists from Ukraine, Russia and from the EU visited Brussels hosted in the European Parliament by GUE/NGL for a one-day round table «Ukrainian Crisis: Dangers and Opportunities».

 

Ukrainian society needs radical social and economic changes but not more neoliberal austerity. The Association Agreement with the EUin the form in which it is proposed now,is not providing answers to the problems of the country. We stress the need for a peaceful solution of the crisis which can only be achieved if the external forces do not support irresponsible policies from either side. While international media blames the former government for theviolence that occured in Kiev, this violence is continuing, and is in fact many sided.

 

We call on the EU to have a stronger stand on the far right and theirgroups and recognize the fact that they pose a serious danger to democracy in the country.

 

We likewise call for the cancellation of the debt accumulated by all previous governments.

 

We recognise that Ukraine needs financial support but this should go hand and hand with system change towards citizen paricipation in decision making processes and social justice.

Vom europäischen Traum zur Europäischen Union

Krisen kennzeichnen unsere heutige Welt – Afghanistan, Nordafrika, Syrien, Somalia, um nur einige zu nennen. Wir leben mit ihnen. Jetzt aber die Ukraine! Seit Monaten fressen sich die Proteste auf dem „Euromaidan“ ins öffentliche Bewußtsein. Inzwischen beherrscht die Ukrainische Krise die internationale Diplomatie, Weltkriegsszenarien werden entworfen.  Was ist an dieser Krise so besonders, dass sie alle anderen Krisenherde derart überragt?

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Medwedews Sozialpolitik: Vor einer 2. Phase der Privatisierung

Thesen zur Diskussion der Zeit nach Putin

Dimitri Medwedew orientierte bei seinem Antritt als Präsident auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Ausländischem Kapital will er optimale Investitionsmöglichkeiten bieten, in der Innenpolitik will er sich auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen, also die Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“

Nach solchen Äußerungen wurde Medwedew von vielen Menschen in Russland und im Westen als Liberaler begrüßt. Wer genauer wissen will, was zu erwarten ist, muss allerdings etwas zurückschauen: Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sie sich nach Gorbatschow und Jelzin entzogen hatten. Das hieß auch, ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug Putin mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Maßlosigkeiten der privaten Bereicherung, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige Bereiche, insbesondere die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder her (ohne die Privatisierung vom Grundsatz her zurückzudrehen!) und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.

Putins Versuche, die Privatisierung auf die soziale und kommunale Sphäre auszudehnen, blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Die dringend benötigte Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde nicht geschafft. Das allgemeine unentgeltliche, genauer, vergütungsbasierte Bau-, Gesundheits- ebenso wie das Bildungswesen verfiel und verwandelte sich in private Spielwiesen für Neureiche. Landwirtschaftliche Betriebe verfielen. Als Putin und die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 dann doch an die Privatisierung der sozialen und kommunalen Sphäre gehen wollten, musste er vor landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen und Vergütungen blieb in halben Maßnahmen stecken.

Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern. Kern der putinschen Vorschläge war ein staatliches Kreditierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 – vor der Wahl – kündigte Medwedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.

Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds Ende 2007 auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Milliarden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.

Die Ausrufung der nationalen Projekte durch Putins im Herbst 2005 war somit eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem keine besondere Sympathie für Putin nachgesagt werden kann, könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“. Das Problem der putinschen Sozialpolitik liege nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt worden seien, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückte, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte.

„Im Großen und Ganzen“, fasste Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“ – Nicht mehr unmittelbare Not ist Ursache wachsender Unzufriedenheit, sondern ein Verteilungsproblem, die ungleiche Teilhabe am wachsenden Wohlstand.

Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichten, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums darauf beschränkten, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken.

Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wurde nach ihnen gesucht. Dabei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und soeben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird. Das ist das von Medwedews übernommene Erbe.

Da war beispielsweise bei deutschen Analytikern[1] zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“

Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.

Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.

Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.

Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden. Im Übrigen gehen unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.

Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus allein dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem sein. Es ist darüber hinaus auch eine Frage der Lebensweise, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.

Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw., die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungsmarkt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.

Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“, also die Verwandlung von Vergünstigungen und Vergütungsstrukturen in finanzielle Kompensationen, zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.

Vor diesem Hintergrund bekommen Medwedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, auch nicht die angekündigte Entbürokratisierung, neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles jetzt verstärkt im Zentrum des Regierungshandelns stehen soll. Zusammen mit Medwedews Ankündigungen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen zu wollen, wird darin die Entschlossenheit der russischen Führung deutlich, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren zu wollen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF private Investitionen im Wohnungssektor zu erleichtern, das Bildungswesens an die EU-Normen anzupassen, den Dienstleistungssektor zu kommerzialisieren, die Agrar-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften zu fördern und schließlich, selbstverständlich, einen zweiten Anlauf zu nehmen, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen.

Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht. Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die zum einen selbstverständlich vom Niveau der Öl- und Gaspreisen abhängt, aber auch damit nicht allein beantwortet wird. Es geht auch um generellere Fragen des Lebens- und Gesellschaftsentwurfes: Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit abflachenden oder einbrechenden Gas- oder Ölpreisen, mit möglichen inflationären Folgen maßloser Kreditierungsexzesse könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Als Ergebnis einer Überprüfung dieser Analyse, die ich durch Gespräche im Lande selbst im Sommer 2006 in drei verschiedenen Orten durchführte – Moskau, Tarussa/Kaluga und Tscheboksary, möchte ich Folgendes festhalten:

1. Auch Medwedews Modernisierungsprogramm folgt, wie schon vor ihm das Gorbatschows, Jelzins, Putins dem für Russland typischen Muster der Reform von oben: Russlands Modernisierungsschübe sind immer Reformen von oben gewesen. Das entspricht der historisch gewachsenen Grundstruktur der russischen Ökonomie, die man traditionell als bürokratisch gelenkte Wirtschaft auf gemeinwirtschaftlicher Basis bezeichnen kann. Das Stichwort, welches Karl Marx und Friedrich Engels dazu seinerzeit gaben, lautet: asiatische Produktionsweise.

2. Es zeigt sich aber, dass eine Privatisierung der kommunalen und sozialen Strukturen auch unter den neuen Bedingungen nach dem Wechsel von Putin auf Medwedew nicht einfach zu dekretieren, auch nicht durch bloße Ausweitung des Kreditierungsprogrammes zu erkaufen ist, sondern nur in einem intensiven, im wahrsten Sinne nachhaltigen sozialen Dialog zwischen oben und unten entwickelt werden kann, in dem sich herausbildet, was die Bevölkerung, die aus einer gemeinwirtschaftlichen Tradition kommt, tragen kann und will.

3. Dieser soziale Dialog fehlt jedoch auch unter Medwedew, zumindest ist er nur in allerzartesten Ansätzen entwickelt. Die Privatisierung im Wohn-, Bildungs- und Gesundheitswesens erscheint immer noch als Zerstörung der gewachsenen sozialen Sicherungssysteme und Spaltung der Gesellschaft in Reihe und Arme – Gesundheitsangebote für Reiche, Wohnungen zu unerschwinglichen Preisen, Bildung nur über Beziehung oder für Geld, häufig sogar Bestechungsgeld, Verödung der Dörfer. Exemplarisch dafür die Häuserkämpfe in Moskau, die nach wie vor von der Bevölkerung nicht verstandene, nicht akzeptierte, sondern nur bürokratisch verordnete Monetarisierung in Kleinstädten wie Tarussa oder auch die sich weiter öffnende Schere zwischen mangelnder gesundheitlicher Versorgung auf dem Land und einem Klinikboom in einer Stadt wie Tscheboksary, um nur einige Beispiele zu nennen.

4. Wenn der soziale Dialog ungenügend geführt wird, reproduzieren die nationalen Projekte einschließlich der Monetarisierung jedoch nur die vorhandenen Strukturen der Bürokratie und der Trennung von oben und unten, lässt die Verfügbarkeit leichter Kredite bei gleichzeitiger sozialer Apathie der Mehrheit der Bevölkerung Korruption und Spekulation (im Bauwesen, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen ebenso wie in der Agrarwirtschaft) und eine für die Zukunft problematische Verschuldung entstehen.

5. Als Kern der Sozialpolitik, einschließlich Modernisierung der großen Produktion und der Entwicklung einer breiten mittelständischen wirtschaftlichen Tätigkeit, tritt unter diesen Umständen die Notwendigkeit einer Bildungsoffensive zutage, die auf Entwicklung individueller Kompetenz, Bereitschaft, Initiative zielt, welche die bürokratischen Leitungsstrukturen ersetzt, bzw. von unten mit Leben erfüllt.

6. Die soeben beschlossene Einführung des EGE (des einheitlichen Staatsexamens), welche die Bildung nach Standarts der WTO und der Bologner-Beschlüsse der EU ausrichtet, ersetzt jedoch die Entwicklung individueller sozialer Kompetenz durch standardisiertes Spezialistentum zum einen und rudimentäre Grundbildung der Mehrheit der Bevölkerung zum Anderen, d.h. sie verfestigt die traditionelle Grundstruktur von oben und unten, statt sie aufzulösen.

7. Notwendig wäre eine Bildungspolitik, die das Prinzip der Pluralität – ausgehend von der eigentümlichen ethnischen, kulturellen und geografischen Pluralität Russlands bis hin zur Multipluralität der internationalen Beziehungen, wie sie Russland als Alternative zur heutigen Weltordnung vorschlägt – als ureigenen russischen Impuls aufnimmt und mit einem allgemeinen, international kompatiblen Standart verbindet. Dies könnte der Schritt sein, der Russland über eine bloße Kopie des westlichen Kapitalismus hinausführen würde.

Der Text wurde für eine Konferenz in der „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau Dezember 2008 formuliert, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau organisiert wurde.


[1] „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa, Anfang 2006

Russland: Putins 2. Rochade – „Traum am Rande des Faschismus“?

Es war kaum zu glauben: Eine Woche nach der Wahl zur russischen Duma war plötzlich Ruhe an der Front der Russlandkritik, nachdem zunächst eine Welle bissiger Kommentare durch die Medien geschwappt war, die „Putins bestellten Sieg“ in den unterschiedlichsten Tönen anprangerten. Lange nicht Gehörtes ging vor sich; westliche Politiker lobten Russland: Gernot Erler, deutscher Staatsminister im Auswärtigen Amt, ortete in der „Berliner Zeitung“ gar eine „Stärkung ziviler Kräfte in Russland“, US-Außenministerin Condoleeza Rice ließ sich, von „USA today“ zu Russland befragt, herab zu erklären, sie wolle “nicht im voraus spekulieren“, man werde nun „einfach zuschauen müssen, wie das alles vor sich gehen wird.“ Was war geschehen?
Sehr einfach: Am 11. Dezember, nur eine Woche nach der russischen Duma-Wahl und eine Woche früher als angekündigt, hatte Präsident Putin das Geheimnis gelüftet, für welchen Kandidaten er sich mit Blick auf die bevorstehende Wahl als Wunschnachfolger im Präsidentenamt ausspreche: den bisherigen Vizeregierungschef Dimitri Medwedew.
Ein „Politiker der neuen Generation“ komme damit ins Spiel, lobte Frau Rice; Medwedew komme nicht aus den Geheimdiensten, erklärte Erler und nicht aus dem Militär. Das alleine sei schon interessant, weil es eine Veränderung gegenüber dem jetzigen Zustand sei. Als stellvertretender Ministerpräsident sei Medwedew mit zentralen Reformaufgaben betraut gewesen und habe sich als liberaler Parteigänger Putins profiliert. Eitel Sonnenschein also?
Den Eindruck konnte man gewinnen. Daran änderte sich auch nichts, als Wladimir Putin wenige Tage später öffentlich und demonstrativ in Medwedews Angebot einschlug, nach der Wahl Ministerpräsident der neuen Regierung zu werden. Innerhalb Russlands herrschte ohnehin sofort Hochstimmung: Die russische Börse boomte, russische Unternehmer sahen in der Entscheidung Putins „eine Gewährleistung für die Fortsetzung des gegenwärtigen strategischen Kurses“. Sofort-Umfragen in der Bevölkerung ergaben eine Zustimmung von 60% zu Putins Wunschkandidat. Die fünf weiteren Prätendenten, Genadij Szuganow für die KPRF, Wladimir Schirinowski für die sog. „Liberal-Demokraten“, Boris Nemzow für die Ultra-Liberalen, außerdem noch Michail Kassjanow und Andrej Bogdanow sind ab sofort außer Konkurrenz, wenn nicht noch völlig Unvorhersehbare Ereignisse eintreten sollten.
Der negative Putin-Bann schien gebrochen: Zudem stellte das US-Magazin „Time“ ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt den russischen Präsidenten zur „Person des Jahres“ vor. Begründung: Putin habe sich um die innere Stabilität und die wieder gewachsene Bedeutung Russland in der Welt verdient gemacht. Der so Gelobte erhielt Gelegenheit zu einem ausführlichen Interview, in dem er die Ergebnisse seines Wirkens, seine Vorschläge zur internationalen Friedenssicherung einschließlich seiner Kritiken an der US-Politik ausführlich darstellen konnte.
Dass aber die Russland-Schelte nicht von Putins Tun und Lassen abhängig ist, sondern anderen Gesetzen folgt, sie sich auch auf den neuen Stern am russischen Himmel bald eingeschossen haben wird, zeigte sich schon, als Frau Rice sehr bald nachsetzte, es sei bedauerlich, dass der Ausgang der kommenden Präsidentenwahlen so gut wie sicher sei.
In krassester Schärfe aber trat die russlandfeindliche Grundhaltung, die auch Medwedew einholen wird, wenn er weiter russische Interessen mit russischem Selbstverständnis vertritt wie jetzt Putin, aus dem neuesten Bericht der einflussreichen „Russlandanalysen„ hervor, die von der Bremer Forschungsstelle für Osteuropa herausgegeben werden. Sie ließ ihre letzte Ausgabe des Jahres 2007 mit einem Kommentar von Heinrich Vogel erscheinen, der sich unter der Überschrift „Machtwechsel als Hütchenspiel“ nicht scheut, Russland in einer Weise, die er vermutlich für nützliche oder notwendige Polemik hält, mit dem faschistischen Deutschland zu vergleichen.
Putins Motive nicht zum dritten Mal als Präsident anzutreten und stattdessen die Rochade mit Medwedew zu inszenieren werden in Vogels Kommentar nicht nur auf Machterhalt reduziert, was verständlich wäre. Es wird auch der Vermutung Raum gegeben, es gehe Putin möglicherweise nur um Immunität, durch die er sich vor „peinlichen Enthüllungen“ bewahren wolle. Aber nicht nur das: Kein Gedanke wird daran verschwendet, Putins Vorgehen zumindest als Versuch zu sehen das Einüben von Verfassungstreue mit Machterhalt zu verbinden.
Stattdessen versteigt der Kommentar sich zu der Aussage, angesichts der in Russland zu beobachtenden „Für Putin“-Bewegung falle es schwer, „Erinnerungen an die Proganada der Nationalsozialisten beim Referendum nach dem Anschluss in Österreich im Jahr 1938 mit ihrem Motto ‚Dein Ja zum Führer’ zu unterdrücken. Die Techniken faschistischer Massenmanipulation und Mobilisierung haben sich nicht verändert, und ihre Eigendynamik sollte nicht unterschätzt werden.“ Der Gipfel ist die Aussage: „Einziger Unterschied zum deutschen und europäischen Faschismus jener Zeit ist das Fehlen eines zur Doktrin erhobenen Rassismus“ und die Eskalation des Personenkults zum Führerkult ließen „kein Ende der Überraschungen absehen, zumal die Träume an Rande des Faschismus nicht auf eine autoritär denkende Führung beschränkt sind.“
Heinrich Vogel, muss man dazu wissen, leitete von 1972 bis 1976 das „Osteuropa-Institut“ in München, danach war er bis 2000 Direktor des „Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und internationale Studien“ in Bonn, später Gründungsmitglied des „deutsch-russischen Forums“, das seinerseits den „Petersburger Dialog“ mit ins Leben rief. Die „Russlandanalysen“ gelten heute als führendes Fachblatt der deutschen Russlandforschung. Wenn solche Kommentare wie der aktuelle von Heinrich Vogel an dieser für die Meinungsbildung hervorragenden Stelle als Analysen verbreitet werden können, muss man das Schlimmste für die deutsch-russischen Beziehungen fürchten.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Globalisierung –aber wie? Für eine andere Globalisierung, für weniger Staat, aber mehr soziale Gerechtigkeit, gegen die Entwicklung eines präventiven Sicherheitsstaates

Im Prozess der Globalisierung treten heute, ungeachtet aller Besonderheiten der einzelnen Länder, immer deutlicher die Grundzüge hervor, die der Modernisierung im einen wie im anderen Lande gemeinsam sind. Besonders deutlich wird das im Vergleich mit dem russischen, wie generell den nachsowjetischen Versuchen, das wissenschaftlich-technische Fortschrittsbild des Sozialismus gegen eine Modernisierung westlichen Zuschnitts auszutauschen. Kern all dieser Entwicklungen ist der Funktionswandel des Staates, das Ende des Sozial- und Fürsorgestaates alten patriarchalen Typs vor dem Hintergrund der generellen Krise des industriellen Wachstumsmodells und die damit verbundene sich überall ankündigende andere Organisation der Arbeit und der Familie.

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Eurasische Integration: Antwort an Curt Jankowski

Curt Jankowski fragte:
Wie wird Eurasien strukturiert sei?
Wenn Asien und Europa enger zusammenrücken, werden irgendwann vielleicht auch einmal gemeinsame Strukturen entstehen. Natürlich erst im russischen Raum und dann zwischen Rußland und der EU. Das kann dauern, aber irgendwann stellt sich die Frage nach der Strukturierung dieser Zusammenarbeit auf dem riesigen Kontinent. Gibt es da schon jemand, der sich Gedanken gemacht hat, egal ob sie ausgegoren sind oder nicht? Ich habe leider kein E-Mail, gehöre schon zu den älteren Semestern. Können Sie bitte hier antworten? Es wird mir dann mitgeteilt. Vielen Dank, Ihr C. Jankowski.
Kai Ehlers antwortete:

Lieber C. Jakowski,
wie Eurasien strukturiert sein wird kann heute natürlich niemand beantworten.
Ich sehe es so, daß entscheidende Veränderungen der globalen Neuordnung mit Veränderungen mit Wachstumsprozessen auf dem euro-asiatischen Kontinent zusammenhängen. Der eine Prozess ist die die Entwicklung der Europäischen Union mit der Kernmacht Deutschland und deren tendenzielle Abkoppelung von den USA, ein zweiter die Herausbildung einer asiatischen Union mit der Kernmacht China, ein dritter die Herausbildung einer russischen Union und ein vierter die einer zusammenhängenden arabischen Welt. Alle diese Prozesse finden bereits statt, wenn auch in unterschiedlichen Stadien ihrer Herausbildung, und die darin in Keimen angelegten plurale Kräfteverhältnisse stehen in Konkurrenz zu jeglicher Form einer unilateralen Weltordnung – sei sie von den USA oder sonst jemanden beansprucht. Dazu kommen regionale Integrationsprozesse in Südamerika und Afrika, die noch sehr in den Anfügen stecken, aber als weitere Elemente der Pluralisierung mit in diesen Zusammenhang hineinwirken. Aus dieser Konstellation heraus erhellt sich die gegenwärtig zu beobachtende Politik der USA (Afghanistan, Irak, atomare Bedrohung der „Schurkenstaaten“ Iran, Nordkorea, Syrien, Libyen), die praktisch darauf zielt, einen solchen weltweiten pluralen Prozess gleichberechtigter Partner – in den sie sich einordnen müssten – unter dem Anspruch der „einzig verbliebenen Weltmacht“ zu verhindern. Im Klartext bedeutet das Krieg – nicht nur gegen den Irak, sondern es bedeutet einen langandauernden, möglicherweise vernichtenden Krieg gegen die potentiellen Herausforderer, bzw. deren Parteigänger, wenn es der „internationalen Gemeinschaft“, das heißt, der Allianz, bzw. verschiedenen Allianzen der neuen Mächte nicht gelingt, die vernünftigen Teile der amerikanischen Gesellschaft zu einer Einsicht in die neu herangewachsenen Kräfteverhältnisse auf unseren Globus zu bewegen, vielleicht auch zu zwingen, indem sie der Globalisierung imperialistischer Ansprüche durch die USA die Gefolgschaft verweigern. Eine solche Verweigerung beginnt mit dem NEIN zum Krieg gegen den Irak und zu militärischen Lösungen des Terrorismusproblems und setzt sich fort in der gezielten Integration und Stärkung von global agierenden Regionalmächten und deren kooperativer Beziehung zueinander.

Soweit, lieber C. Jakowski, meine Sicht der heutigen Entwicklung, in der China, Russland und Europa und die Herausbildung ihrer von zivilen, kooperativen Beziehungen zwischen ihnen als Gegengewicht zur einseitigen Orientierung auf eine militärische Weltmacht USA eine entscheidende Rolle spielen. Deutschland nimmt darin in der Verarbeitung seiner Rolle im ersten Weltkrieg und seiner faschistischen Vergangenheit und als Herz des Europäischen Einigungsprozesses einen wesentlichen Platz ein. Die strategischen Entwicklungslinien der neuen pluralen Weltordnung Ordnung herauszuarbeiten und sich für deren Verwirklichung einzusetzen, halte ich daher für eine der wesentlichen Aufgaben der kritischen Intelligenz unseres Landes.
Zu einem Artikel „Euroasiatismus im heutigen russland“ in Eurasisches Magazin 07-02

Vom technischen zum moralischen Fortschritt?

Gedanken
erstmals vorgelegt
anlässlich eines Seminars der Europäischen Akademie Waren/Müritz
über „Religiöse Erneuerung in Russland“ im Dezember 2001

1. Russland, die nachsowjetische Entwicklung, steht exemplarisch für einen Prozess der religiösen Erneuerung, der überall in der heutigen Welt zu beobachten ist. In Russland ist dieser Prozess auf Grund der besonderen Bedingungen der russisch-sowjetischen Geschichte besonders deutlich. Die besonderen Bedingungen liegen in dem gleichzeitigen Nebeneinander der unterschiedlichsten religiösen Traditionen und Entwicklungsstadien wie auch in der Forcierung einer nachholenden Industrialisierung auf dieser Grundlage, was extreme Polarisierungen und immer wieder extreme Wendungen geistiger Orientierungen nach sich zog, in denen allgemeine globale Entwicklung sich exemplarisch zuspitzten.

2. In Russland war sehr deutlich und ist noch heute exemplarisch zu beobachten, wie sich Menschen von ursprünglichen kreatürlichen Bindungen an die – Mutter – Natur und ihre unmittelbare Aufgehobenheit in kosmische Abläufe entfernen. Dies gilt vor allem für die nomadischen Völkerschaften Mittel- und Ost-Sibirienes, aber auch für einige Völker Mittelrusslands. Die ursprüngliche kreatürliche Einbindung in die natürlichen Lebensprozesse und kosmischen Abläufe wurde und wird durch deren  rituelle Beschwörung, durch einen schamanischen Geisterbeschwörer ersetzt.

3. Im zweiten Schritt trennen Menschen sich auch von der rituellen schamanischen Beschwörung, indem Gott nun außerhalb des Menschen und seines lebendigen Naturzusammenhanges gesucht wird und sich besondere Institutionen absondern, die stellvertretend für den Menschen die Verbindung zu diesem einen Gott herstellen und halten:  Erde und Himmel trennen sich; der Himmel wird zum Ersatz für eine als unvollkommen erlebte Erde – das Paradies. Christentum, Islam und Judentum nehmen diese Stellung ein.

4. Mit dem Wachstum der Menschen auf geistigem und physischem Gebiet erwies sich auch das durch die Kirchen repräsentierte Versprechen auf das jenseitige Paradies als unfähig, die Mühsal der irdischen Realität zu ersetzen und Fragen nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Wissenschaft und Industrie traten an die Stelle; statt Vertröstungen auf ein jenseitiges Paradies versprachen sie dessen Verwirklichung hier auf der Erde – und dies im Laufe eines menschlichen Lebens. Religiöse Ideen verwandelten sich in soziale und intellektuelle, allerdings ohne die ursprüngliche natürliche Einbindung in die natürlichen und kosmischen Kreisläufe und in die institutionalisierte Religion ganz verdrängen zu können. Der sowjetische Sozialismus wurde auf diese Weise zur Ersatzreligion.

5. Der Versuch, das Paradies auf  Erden wissenschaftlich-technisch und industriell hier und jetzt verwirklichen zu können, scheiterte jedoch ebenso wie vorher das Paradiesversprechen der Kirche. Dies zeigte sich zunächst im Heimatlande der sozialistischen Utopie – der Sowjetunion und im sozialistischen Lager parallel dazu aber auch als auch bei seinem kapitalistischen Gegenpol.

6. Viele Menschen schauen deshalb heute zurück – zu kirchlichen Glaubensformen eines stellvertretenden Monotheismus – sei es Christentum, Islam oder auch das Judentum. Diese fundamentalistischen Bewegungen tragen starke konservative, anti-modernistische Züge. Solche Entwicklungen lassen sich nicht nur in Russland, sondern global beobachten. Der islamische Fundamentalismus ist ein Teil davon, aber keineswegs die einzige Erscheinungsform des Fumdamentalismus. Vergleichbare anti-modernistische Reflexe sind ebenso im sog. Westen, vor allem in den USA zu beobachten. Die Rückwendung zu schamanistischen Ritualen dagegen trägt eher anarchischen, pluralistischen, tendenziell demokratischen Charakter. Auch diese ist nicht nur in Russland, sondern global zu erkennen.

7. Zurzeit suchen Menschen überall auf der Welt einen Weg, die ursprüngliche, die verlorene Einheit von Natur, Mensch und Kosmos auf neue Weise herzustellen. In anti-modernistischer Rückwendung ist dies aber nicht möglich, sondern nur in einer bewussten Erkenntnis der Eingebundenheit des Menschen in einen vielfältig gestalteten und belebten Kosmos und deren wissenschaftlich-technischer Umsetzung in eine praktische individuelle Lebensführung und eine entsprechende globale ökologische Politik.

8. Diese Erkenntnis bedingt die Einsicht in die individuelle Eingebundenheit des einzelnen Menschen in die Gemeinschaft der Menschen, der Menschen in die Gemeinschaft der Tiere und der Pflanzen, des Lebens in die Bewegungen und Gesetze eines offenen, sich bewegenden  sich stetig verändernden Kosmos. Es ist eine Bewegung, die sich nicht unter dem Motto „Zurück“, sondern „Vorwärts zur Natur“ vollzieht. In Ihr verwirklicht sich eine Modernisierung, die über den bloß technischen Fortschritt zu dessen moralischer ethischer und moralischer Einbindung in die ökologischen und kosmischen Zusammenhänge führt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Wieder Frau sein – Rückschritt oder Fortschritt?

Thesen für das Abschlussgespräch des Seminars:

„Russland – Krise des Patriarchats oder heimliches Matriarchat?“

vom 5,10. – 7.10. in der Akademie Sankelmark

1. Die Krise des russischen Patriarchats ist Teil einer weltweiten Krise des Patriarchats. In Russland tritt diese Krise zur Zeit besonders scharf hervor. Sie äußert sich in einer allseitigen und tiefen Zerrüttung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, ist in ihrem Wesen aber ein Wachstumsprozess.

2. Russische Frauen kommen aus der Phase der Gleichmacherei: Für sie ist Emanzipation nicht Gleichheit, sondern das Recht auf Ungleichheit, genauer auf ein Anders-Sein ohne Diskriminierung.

3. Nicht in der Forderung nach Gleichheit oder Ungleichheit, sondern in der Forderung nach dem Recht auf Anderssein ohne Diskriminierung liegt daher der emanzipatorische Kern der Vorstellungen und Forderungen russischer Frauen, in denen sie sich mit denen von Frauen und Männern aus anderen Teilen der Welt treffen.

4. Generell ist die Krise der patriarchalen Ordnung nicht dadurch lösbar, dass die in die Krise gekommene patriarchale Herrschaft durch eine matriarchale ersetzt wird, sondern indem sich im Dialog zwischen weiblichen und männlichen Polen, einschließlich ihrer kulturell gewordenen jeweiligen Besonderheiten, ein Drittes entwickelt, ohne die Existenzberechtigung der Pole – weiblich und männlich – zu negieren.

5. Dieses Dritte wächst im Einsatz, tendenziell in der Liebe für eine Gemeinschaft, die unabhängig von Geschlecht, Alter, Kultur oder Rasse zum Nutzen jedes Einzelnen selbst gewählt und entwickelt wird.

Kai Ehlers. Publizist, www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
D- 22147 Rummelsburgerstr. 78, Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482

Aus Anlass der Anschläge vom 11.9.2001: Nicht „Schulterschluß“ und Konfrontation…

Alternativen entwickeln

Der „Schulterschluss“ der „zivilisierten“ gegen die „unzivilisierte“ Welt, wie in Christian Semmler kritisiert, also des „Westens“ gegen den „unterentwickelten“ Rest des Globus ist ganz sicher nicht die Reaktion, die hilfreich ist, den Knoten zu lösen, der mit den Terroranschlägen in New York und Washington ins Licht der Weltöffentlichkeit getreten ist. Wir brauchen stattdessen Differenzierungen, um die Entwicklungswege zu fördern, die einer zivilisierten Lösung unserer heutigen globalen Probleme dienlich sind. Wir brauchen eine Lösung, die darauf zielt, allen Menschen die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zu geben.
…sondern eine multipolare Weltordnung…
Anders gesagt: Nicht die Ablösung der alten Systemkonfrontation durch eine Konfrontation der Kulturen unter Führung der USA steht heute an, sondern die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung, in der die Völker der Welt eine vielgestaltige Weltkultur kooperativ und gleichberechtigt miteinander entwickeln. Nur darin liegt eine menschenwürdige Zukunft.
…und soziale Alternativen entwickeln
Dies bedeutet auch, die vielfältigen Alternativen zur Privatisierung und so genannten Globalisierung herauszuarbeiten, die heute, angestoßen durch die nachsowjetische Entwicklung in Russland und anderswo erkennbar werden. In dieser Entwicklung läuft ja keineswegs alles so, wie sich es sich die Liquidatoren des sowjetischen Modells gedacht haben. Es zeigt sich nämlich, dass der ungehemmte liberale Kapitalismus keineswegs die Alternative zum sowjetischen System ist. Unter dem Druck der Globalisierung des Kapitals entstehen vielmehr – besonders sichtbar im nachsowjetischen  Russland, aber keineswegs nur dort – die vielfältigsten Mischformen des Wirtschaftens und Lebens. Das sind kulturell geprägte Verbindungen aus industriellen und vorindustriellen, aus kollektiven und individuellen, aus staatlichen und familiären Strukturen, die zunächst aus purem Überlebensdruck hervorgehen, die aber darüber Keime möglicher Alternativen zum schematischen Entweder-Oder von „Kapitalismus oder Sozialismus“ in sich tragen. Diese Keine gilt es zu erkennen, zu analysieren und bewusst zu fördern.
Kai Ehlers

Globalisierung und Identität

Thesen
Erstmals vorgelegt
anlässlich eines Seminares vom 23.-25.11.20001
der evangelischen Akademie Mecklenburg-Vorpommern:
„Altai – Wiege der Völker und letzte ökologische Zuflucht?“

1. Mit dem Ende der Sowjetunion ist die polarisierte Welt des 20. Jahrhunderts in Bewegung geraten. 2. Das sah zunächst aus wie ein Siegeszug des Kapitalismus und der sog. westlichen Zivilisation, insonderheit der USA. Tatsächlich ging die Krise der Sowjetunion der Krise des Westens, auch hier wieder vor allem der USA, nur voran.3. Tatsächlich sind im Schoße der vom sog. Westen entwickelten und beherrschten industriellen Zivilisation, besonders heftig auch in der Sowjetunion, Verhältnisse herangewachsen, die auf eine grundsätzliche Umwälzung der herrschenden Modelle der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und der sie erhaltenden Machtverhältnisse hinauslaufen. Es ist eine Wachstumskrise, welche die Ablösung einer bloß technischen durch eine moralische und soziale Modernisierung beinhaltet,  die an einer für alle Menschen lebensfähigen ökologisch zu gestaltenden Zukunft orientiert ist – wenn die zur Zeit herrschenden Mächte das zulassen. 4. Die beiden ehemaligen Supermächte unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf ihre jeweilige Krise diametral: Die Führung der Sowjetunion akzeptierte in der Person von Michail Gorbatschow die Politik der Transformation als unausweichlichen Schritt in ein „Neues Denken“, nachdem die Niederlage in Afghanistan klar machte, dass die Union das Ende der russisch-sowjetischen Expansion erreicht hatte und ein Übergang zur intensiven Entwicklung, zur Dezentralisierung und Demokratisierung unausweichlich sei. Die USA unter ihrem Präsidenten George W. Bush dagegen sind nicht gewillt, die Krise zum Anlass einer Transformation ihres liberal-kapitalistischen Gesellschaftsmodells zu nehmen, sondern versuchen sie durch neuerliche Expansion zu überwinden. 5. Dabei unterscheidet sich die amerikanische Expansion grundsätzlich von der russisch-sowjetischen: War die russisch-sowjetische entlang der gesamten Entstehung des russsisch-sowjetischen Imperiums im Wesen eine territorial integrierende, so ist die us-amerikanische im Gegensatz dazu im Wesen eine maritim intervenierende – was überseeische Interventionen seitens der UdSSR und territoriale Kolonisation der USA in Mittel- und Südamerika zur Zeit des kalten Krieges nicht ausschloß. Grundsätzlich folgt aber aus dem unterschiedlichen geografisch und historisch bedingtem Herkommen Russlands und der USA offensichtlich nicht nur ein unterschiedlicher Charakter der Kolonisation, sondern auch unterschiedliche Vorstellungen zu Lösung der  gegenwärtigen Krise. 6. Elemente der möglichen neuen Verhältnisse, die aus der Krise hervorgehen könnten, sind  eine multipolare Weltordnung der Völker und Kulturen mit einer zu dieser Ordnung gehörenden sozialen Symbiose zwischen industriellen Produktionsweisen und persönlicher, bzw. familiärer Subsistenz durch die eigene Produktion von Grundlebensmitteln und Mitteln des eigenen Bedarfs. Dies schließt die Tendenz zur Entwicklung von Stadtgärten und handwerklichen Kleinstbetrieben aller Art mit ein, die gegenwärtig nicht nur auf dem Lande und nicht nur in Ländern der ehemaligen dritten Welt, sondern auch in den Metropolen der Industriegesellschaften, auch denen der USA zu beobachten sind. 7. Diese Verhältnisse – global wie lokal – entstehen nicht als Modell, sondern aus unmittelbarer Lebens-, sogar Überlebensnotwenigkeit als Selbsthilfe im Gegenzug gegen die Konzentration des Weltkapitals in immer weniger Händen. 8. Es ist zu hoffen, daß sich diese neue Ordnung, deren Voraussetzungen in den Jahren seit dem ersten und dann verstärkt seit dem zweiten Weltkrieg bereits herangewachsen sind, mit möglichst wenig Widerstand von Seiten der jetzt Herrschenden und mit möglichst wenig Gewalt seitens der Vertreter der herandrängenden neuen Ordnung durchsetzen kann. Durchsetzen wird sie sich so oder so – oder die menschliche Welt wird nicht mehr sein. 7. Die Ereignisse seit dem 11. 9. 2001 bestätigen die Aktualität dieser Überlegungen. Eine bloße kriegerische Antwort der industriellen Welt auf die Herausforderung durch den fundamentalistischen Terrorismus – wo immer er sich artikuliert – wird die herangereiften Alternativen weder ersetzen können, noch entwickeln. Er wird die unvermeidliche Auseinandersetzung darum lediglich in eine Eskalation der Gewalt verwandeln. Nicht nur menschlicher, sondern auch effektiver wäre es, die Debatte und die Bemühungen zur friedlichen und kooperativen Förderung der anstehenden Alternativen in den Vordergrund zu stellen. Kai Ehlers, 22.11.2001www.kai-ehlers.de

Aufbruch in eine multipolare Welt?

Thesen für ein Seminar in Sankelmark
vom 6. – 8. 10. 2000

1. Das Ende der Sowjetunion ist gleichbedeutend mit dem Ende der bipolaren Weltordnung, welche die Welt seit 1917 in zwei Systemlager teilte.

2. Die Aufhebung der Systemteilung ist ein Wachstumsprozess, der die Grenzen der Systemteilung von innen heraus sprengte. Das gilt für die Sowjetunion selbst, deren Regionen eine eigene Entwicklungsdynamik entfalteten und es gilt für Gebiete der sog. 3. Welt, die sich im Schutz des System-Patts entwickeln konnten.

3. Mit der Auflösung der bipolaren Weltordnung treten die bisherigen Sub-Zentren aus den Schutzräumen zwischen den Blöcken in die freie Konkurrenz des Weltmarktes hinaus. Diese Entwicklung bezeichnet man heute gemeinhin als Globalisierung.

4. Ergebnis ist eine vorübergehende Anarchisierung der internationalen Beziehungen und ein Kampf um die Neuaufteilung der Welt, der an exemplarischen Konflikten wie Kossovo, wie Tschetschenien ausgetragen wird.

5. Wichtigste Konfliktlinie im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, die sich zur Zeit abzeichnet, ist die zwischen China als der kommenden asiatischen Führungsmacht und den USA, die heute den Anspruch auf Weltherrschaft stellen, nachdem sie aus dem kalten Krieg der Systeme als Sieger hervorgegangen sind.

6. Europa, speziell Deutschland, wird im Zuge dieser Entwicklung tendenziell auf den dritten, die bisherige Großmacht Russland auf den vierten Platz der Weltmächte verwiesen. Für beide, Europa wie Russland, besteht die Gefahr, zukünftig auf ein Bollwerk zwischen den großen Kontrahenten China und USA reduziert zu werden.

7. Europäischer Politik, speziell deutscher, fällt somit die historische Rolle zu, eine erneute Polarisierung der Welt, dieses mal entlang der chinesischen und der amerikanischen Interessen, östlicher und westlicher Kultur durch Herausbildung eines dritten Pols im Gleichgewicht zu halten. Darin treffen sich russische und europäische, insonderheit deutsche und russische Interessen..

8. Zu dem Kräftedreieck China, USA, Russland-Europa kommt als zukünftige Potenz noch die orientalisch-arabische, die indische, die afrikanische, die australisch-neuseeländische und die südamerikanische Welt, die sich aber noch in unterschiedlichen Graden der Abhängigkeit von den drei großen Macht- und Wirtschaftszentren befinden.

9. Die Gesamtentwicklung drängt auf eine multizentrale globale Ordnung. Ihre Protagonisten sind aber weder die USA, die verbal als Hüter globaler Demokratie auftreten, noch China, das propagandistisch aggressiv für eine multipolare Welt eintritt. Die multizentrale Ordnung wird gegen die Interessen dieser beiden Supermächte, der gegenwärtigen und der kommenden, von den übrigen Völkern und Ländern des Globus, gruppiert um die alten Mächte Russland und Europa durchgesetzt werden.

Kai Ehlers. Publizist, www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
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Der mongolische Vorhang – Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der mongolische Vorhang –

Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der Osten spielt in der linken Solidaritätsbewegung allem Gerede über Globalisierung zum Trotz bisher nahezu keine Rolle. Haben diejenigen Recht, die den Grund dafür in einem „linken Rassismus“ sehen und die eine linke Position zu Menschenrechten und humanitären Aktionen einfordern?

Die Frage ist dazu geeignet, bisher gültige Kategorien durcheinanderzuwirbeln: „Linke“ Menschenrechte? „Linker“ Rassismus? „Linke“ Humanität? – Solche Eingrenzung der Fragen ist ganz sicher ungeeignet, unseren gegenwärtigen Problemen auf den Leib zu rücken oder Perspektiven zu entwickeln. Nicht „linker“ Rassismus ist das Problem – sondern einfacher alltäglicher, europäischer Rassismus. Er besteht zuallererst einmal darin, dass Geschichte, Kultur und Lebensrecht der Völker des Euroasiens, einschließlich seiner Verbindungen zum asiatischen und orientalischen Raum auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer schlichtweg nicht existiert.

Nach der Öffnung des eisernen Vorhanges kommt ein weitaus kräftigerer, undurchdringlicher Vorhang im europäischen Bewusstsein zum Vorschein, der mongolische Vorhang; man kann ihn auch den hunnischen Vorhang nennen. Dieser Vorhang macht es den Europäern – mit Differenzierungen von Westen nach Osten – schwer, irgendetwas anderes als Europa jenseits des Ural zu erkennen. Das Europa der Europäer reicht selbstverständlich bis nach Wladiwostok. Dass es im euroasiatischen Raum außer den Titularnationen, die den jeweiligen Staaten die Namen geben, weitere Hunderte von Völkern und Kulturen gibt, die heute zwar keine Staatsnationen sind, die aber eine lange Geschichte und Kultur haben, entzieht sich dem alltäglichen europäischen Blick.

Der europäische Blick ist nicht nur durch die eigene koloniale Geschichte verstellt, sondern auch durch die Russlands, an der sich die Westeuropäer in ihrem Drang nach Osten immer wieder zu beteiligen versuchten. Die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“, das einen Raum ohne Volk sucht, ist keineswegs erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden. Sie hat ihre Wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte West-Europas.

Der Mongolische Vorhang rasselte spätestens im 13. Jahrhundert zwischen der westeuropäischen Welt und dem Rest Euroasiens nieder, nachdem er als hunnischer schon im fünften Jahrhundert niedergegangen war. Russland übernahm die Rolle des Vorhangschließers, bzw. Öffners. Westeuropäische Kultur festigte sich in der Abwehr der Hunnen, später der „Mongolischen Pest“. Die Völker und Kulturen des euroasiatischen Raumes wurden nicht als Reichtum, sondern als existenzielle und permanente Bedrohung wahrgenommen, Russland als ungeliebter vorgeschobener Posten gegen diese Bedrohung und zugleich als ein Teil von ihr.

An dieser Konstellation hat sich im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung bis heute wenig geändert – auch wenn die neuen geopolitischen Verhältnisse, die wir gegenwärtig unter dem Begriff der Globalisierung fassen, einfach schon deswegen daran rütteln, weil Europa nicht mehr das Zentrum der Entwicklung ist, sondern ein Zentrum unter mehreren, ja, vielen. Russland knackt an dieser Koordinatenverschiebung ebenso wie Europa und interessanterweise existiert der mongolische Vorhang nicht nur für Europa, sondern auch für Russland – wiewohl er in Russland schon durch die Vielvölker-Realitäten immer wieder in Frage gestellt wird.

Über diese historisch gewachsenen, in Politik und Kultur Europas eingeschriebenen Tatsachen, die sich im Unterbewusstsein der dort lebenden Menschen als tief verwurzelte Vorurteile festgesetzt haben, muss man sprechen, wenn man die Blindheit der europäischen Bevölkerung für die von ihr aus gesehen östlichen Völker verstehen will. Man vergegenwärtige sich nur das von Hitler gezeichnete Bild des östlichen Untermenschen, um zu erkennen, wie tief das Bild der kinderfressenden hunnischen, mongolischen, türkischen oder anderer euroasiatischer Teufel sich im Unterbewusstsein der europäischen Bevölkerung festgesetzt hat. Mit dem Ende der Sowjetunion bricht dieses Bild heute auf. Ein neuer Blick auf die Welt, allen voran die östliche, aber nicht nur sie kann sich entwickeln, in der nicht nur die Systemteilung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch die Ost-West-Polarisierung der Welt durch neue, multipolare Beziehungen zwischen den Völkern und multikulturelle innerhalb der einzelnen Staaten verdrängt wird. Es ist die dritte, letzte große Welle der Entkolonialisierung, nachdem der erste Weltkrieg, danach der zweite den von Westeuropa aus gespannten kolonialen Rahmen bereits gesprengt hatten. Die Voraussetzungen dafür sind im Schoße der bipolaren Welt herangereift, ohne dass diese Tatsache bereits ins allgemeine Bewusstsein der alten Welt eingedrungen wäre. Dieses Bewusstsein zu schaffen und damit der auf Durchbruch drängenden multipolaren Lebens- und Weltordnung auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, dürfte der Sinn einer Kritik der Globalisierung sein. Der „linke“ Ansatz könnte dabei sein, diesen Durchbruch so sozial, friedlich und ökologisch verträglich wie möglich zu gestalten.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de