Autor: Kai

Tschuwaschisches Epos: „Ylttanbik – der letzte Zar der Bolgaren – Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts“ “ ist angekommen

Kai Ehlers (Hrsg.)
Ylttanbik – letzter Zar der Wolgabolgaren (Tschuwaschisches Epos).
Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts
Zusammengetragen von Mischi Juchma. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Kai Ehlers. In Zusammenarbeit mit Christoph Sträßner und Eike Seidel.
1. Aufl. 2016, 392 Seiten, Format B5, Hardcover, ISBN 978-3-944101-25-5, Preis: 39,80 Euro, Rhombos-Verlag, Berlin, 15. Januar 2016

Das Buch ist ab sofort im Buchhandel erhältlich und kann auch bei mir bestellt werden. Bestellkontakt

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Epos Ylttanbik noch in der Post. Nächstes Mal – Ylttanbik, Vielvölkerstaat, Nationalstaat

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden
Bericht vom 51. „Forum integrierte Gesellschaft“ am Sonntag, 19.12.2015

Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis, mit dem Ziel kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,

Dies wird ein sehr kurzer Bericht. Der Vorweihnachtszeit und dem der damit verbundenen Tatsache geschuldet, dass das Buch „Ylttanpik – der letzte Zar der Bolgaren.“, das Epos über die Verschiebung der Mitte der Welt durch den Sturm der Mongolen, das wir heute besprechen wollten, kam leider nicht rechtzeitig vom Drucker aus Polen…

Wir haben es daher bei diesem Treffen bei einem allgemeinen Vor-Weihnachts-Check zur Lage belassen und werden uns das nächste Mal mit dem Epos und seiner Geschichte befassen. Dabei wollen wir die Gelegenheit wahrnehmen, die Geschichte und die Gegenwart des Vielvölkerstaates Russland anzuschauen und der Frage nachzugehen, ob man diesen Staat als Nationalstaat bezeichnen kann. Damit werden wir dann mitten in den aktuellen politischen Geschehnissen landen.

Die Buchanzeige mit Klappentext könnt Ihr auf der Website www.kai-ehlers.de lesen. Das Buch selbst wird beim nächsten Mal vorliegen.

Thema also:
Vorstellung des ins deutsche übertragene und historisch kommentierte tschuwaschischen Epos
„Ylttanpik – der letzte Zar der Bolgaren und Debatte um die Frage, ob der russische Vielvölkerstaat ein Nationalstaat ist oder ob das Zusammenleben in ihm und auch mit ihm anderen Regeln folgt.

Wir treffen uns am 17. Januar 2016 um 16.00 am üblichen Ort.
Interessierte können den Ort unter info@kai-ehlers.de erfragen.

Ich wünsche Euch und uns allen einen guten Übergang ins neue Jahr.

Im Namen des Forums integrierte Gesellschaft,
Kai Ehlers, Christoph Sträßner

Screenshot Syrien – Vom Schachspiel zum Poker

Die Schärfe der globalen Spannung, die zurzeit über Syrien lastet, fordert über die Tagespolitik hinaus mehr Beachtung der langfristigen Wirkungen der dortigen Vorgänge. In Kurzem:

„The Grand Chessboard…“ nannte Zbigniew Brzezinski sein bekanntestes Buch, in dem er die Strategie der US-Regierung Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts vor aller Welt offenlegte. Essens der Strategie war: Es dürfe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, durch den die USA zur einzigen Weltmacht geworden seien, kein neuer Rivale auf dem Globus heranwachsen, der die Vorherrschaft der USA in Frage stellen könne.

An dieser Zielvorgabe ließ sich die US-Politik bis in den Ukrainischen und auch bis in den Syrischen Krieg hinein messen: Unruhe schaffen, um mögliche Rivalen zu schwächen. Hauptadressat dieser Politik war und ist das nachsowjetische Russland als Impulsgeber einer multipolaren Welt.

CIA-Vorgaben aus den Jahren 90/91 des letzten Jahrhunderts, die empfahlen, dem absehbaren Bevölkerungswachstum der ehemaligen Kolonialgebiete wirksam entgegenzutreten, bildeten den nicht-öffentlichen, aber keineswegs geheim gehaltenen Hintergrund dieser Strategie. In den Vorgaben wurde vorgeschlagen dafür zu sorgen, dass die in den ehemaligen Kolonialländern heranwachsenden „Überflüssigen“ (in der Fachsprache der Dienste „Youth-Bulge“, Jugendüberschuß genannt) sich in lokalen Kriegen und Bürgerkriegen gegenseitig dezimieren.

 

Die Partie stagniert

Diese 91er Strategien, sagen wir es vorsichtig, haben sich überlebt. Die Jahrzehnte der einsamen US-Vorherrschaft wie auch der ebenso einsamen multipolaren Opposition Russlands dagegen gehen ihrem Ende entgegen. Eine neue Lage hat sich herausgebildet: Vergangen ist die unipolare Welt der scheinbar unaufhaltsamen neoliberalen Globalisierung, die sich nach Ende des Kalten Krieges unter der Dominanz der USA entwickelte hatte. Auch die der Globalisierung vorangegangene systemgeteilte Welt mit ihren leicht erfassbaren Freund-Feind/Sozialismus-Kapitalismus-Schablonen liegt weit zurück und ist nicht wiederholbar – auch nicht als Krieg der Kulturen.

Entstanden ist eine globale Gemengelage gegenläufiger, sich auf vielfältigste Weise überschneidender Interessen, die sich in wachsender Rivalität gegenüberstehen. Die langfristigen strategischen Optionen der systemgeteilten, ebenso wie die der unipolaren und auch der multipolaren Welt sind nicht vergessen, aber sie schrumpfen zurzeit auf kurzatmige taktische Manöver zusammen. Im Kampf um Ressourcen, globalen Einfluss und mögliche Vorherrschaft ist das Schachspiel aktuell zum Poker verkommen, in dem sich die ‚Spieler‘ in wechselnden Bündnissen gegenseitig belauern, einander zu übervorteilen und ins Risiko zu ziehen versuchen.

 

Eine neue Etappe

Man mag vielleicht einwenden, dass Poker gewissermaßen die natürliche, die ‚normale‘ Form des politischen ‚Spiels‘ sei, dem gegenüber die Regeln der system-geteilten Welt nach 1945 und selbst noch jene der US-Alleinherrschaft nach 1991 die entwickeltere, die rationalere, weil Stabilität bewirkende Form des globalen Konflikt- und Friedensmanagements gewesen seien, dass die heutigen globalen Beziehungen dagegen von der vorübergehenden Ausnahme sozusagen zur historisch Regel zurückkehrten. Mit dieser Sicht ginge man jedoch an der inzwischen erreichten Eskalationsstufe der globalen Beziehungen vorbei, die man, um es paradox aber realistisch zu formulieren, als zunehmende Fragmentierung der Globalisierung charakterisieren kann. Die führt entweder ins Chaos oder auf bisher nicht beschrittene zukunftsoffene, lebensdienlichere Wege der gesellschaftlichen, man darf ruhig sagen, der kulturellen Entwicklung.

In dem Maße, in dem die Weltbevölkerung technisch-logistisch als globale zusammenwächst, im dem Maße, in dem territoriale Entfernungen an Bedeutung abnehmen, steigt weltweit zugleich der Grad der Individualisierung, der Atomisierung und der Sektoralisierung der Gesellschaften in sich selbst genügende Einheiten, die ihre Beziehungen zu anderen Einheiten neu definieren müssen.

Der Nationalstaat, wie er im letzten Jahrhundert als Zentralstaat definiert wurde, erst recht der ethnisch dominierte, sowie der mit dem Lineal ohne jede Rücksicht auf historische Gewordenheiten gezogene, verliert in diesem Prozess seine bindende Kraft. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass der Nationalstaat heute nicht mehr als Ausdruck eines Volkes, sondern als bloßer Rahmen für eine in viele Sektoren gegliederte Bevölkerung verstanden wird, deren Teile nicht selten mit der Außenwelt enger verbunden sind als mit den Menschen innerhalb der nationalen Grenzen.

Zugleich verlieren die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten ihre Verbindlichkeit als grundlegende völkerrechtliche, besser gesagt globalrechtliche Ordnungseinheit. Auch sie sind, real betrachtet, in zunehmendem Maße nur noch Sektoren einer überstaatlichen, aber deshalb nicht etwa definierten und nicht etwa legitimierten allgemeinen Ordnung. Für die internationalen Beziehungen heißt das: Es herrscht das Recht des Stärkeren.

All dies sind Indikatoren der Krise des Nationalstaats und der mit ihm verbundenen gegenwärtigen Völker-Ordnung in seiner bisherigen Form und Bedeutung. Die Krise kann kurzschlüssige Rückwendungen zu nationalistischen Exzessen wie in der Ukraine und als Gegenstück dazu Weltherrschaftsphantasien wie die des „IS“ hervorbringen. Sie kann aber auch zur Weiterentwicklung des Nationalstaates in Richtung souveräner, miteinander in föderalem Verbund gleichberechtigt kooperierender autonomer Regionen, politischer Großkollektive und länderübergreifender Korporationen führen. In dieser Entwicklung wird auch der Nationalstaat als rechtlicher Rahmen seine neue Bedeutung finden.

Es stellt sich die Frage, welche Karte im globalen Poker um Syrien als nächste gespielt wird. Wenn Russland darauf besteht die Souveränität des syrischen Nationalstaates zu achten, ist das selbstverständlich noch nicht der endgültige Weg in die Zukunft, aber vermutlich ist es die Karte, die das geringste Risiko nach sich zieht, die ganze Runde zu sprengen und die Raum lässt für weitere Runden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Syrien – Gipfel der Souveränität.

So wie es vom Gipfel aus abwärts geht – oder im hohen Flug in ungesicherte Gefilde, so geht es vom Krieg in Syrien aus in die endgültige Beseitigung des Prinzips des souveränen Nationalstaats – oder zu deren grundlegender Neubestimmung.

Schauen wir, was da auf dem syrischen Schlachtfeld zusammenläuft: Continue reading “Syrien – Gipfel der Souveränität.” »

Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?

Wenn die deutsche Bundesregierung der deutschen Bevölkerung erzählen will, es gebe keine Alternative zum Kriegsbeitritt der Bundeswehr in Syrien – was ist das? Dummheit? Lüge? Schamloser Opportunismus?

Man mag es kaum zum x-ten Mal wiederholen, was selbst die Strategen des von George W. Bush 2001 losgetretenen „Krieges gegen den Terrorismus“ inzwischen eingestehen mussten: dass der von den USA geführte „Krieg gegen den Terror“ den Terror erst zur globalen Geißel hat werden lassen, und zwar in doppelter Weise: als staatlichen Terror und in der Entstehung dessen, was sich heute „IS“ nennt sowie anderer verstreuter Milizen. Continue reading “Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?” »

Hamburg, Mittwoch 03.12., 17.00 Uhr: Kundgebung gegen Bundeswehreinsatz in Syrien, Hauptbahnhof

Wir sagen nein zum Bundeswehreinsatz in Syrien.

Krieg gegen den Terrror schafft nur neuen Terror.

Wir fordern Verhandlungen auf Basis des Völkerrechtes.

Kommt zur Kundebung, zeigt, daß ihr gegen diesen Kriegseintritt seid …

Zum Aufruf  ⇒

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Flüchtlinge: … an die Wurzel gehen

Inzwischen mag man es kaum noch aussprechen: Den Ursachen, warum Menschen zu Zehntausenden und in zunehmender Zahl ihre Heimat verlassen ist nicht mit Aufforderungen an die Türkei, die Grenzen zu schließen, ist nicht mit schnellerer „Abfertigung“ an den Grenzübergängen, selbst nicht mit Reduzierung der deutschen „Willkommenskultur“ durch Leistungskürzungen für die Flüchtlinge u.ä. beizukommen, sondern …ja, wo hört man, wo liest man etwas über dieses „Sondern“ ?

Selbstverständlich muss den Menschen, wenn sie einmal hier sind, geholfen werden. Man lässt ein Kind ja schließlich nicht im Bade ertrinken, wenn es einmal hineingefallen ist. Darüber kann es „eigentlich“ keine zwei Meinungen geben. Man kann es sich auch ersparen, den Abgründen nachzugehen, die sich hinter dem Wörtchen „eigentlich“ auftun. Es findet sich bei gutem Willen und warmem Herzen immer ein Plätzchen, um das Kind in Sicherheit zu bringen. Es finden sich, anders gesagt, allen Unkenrufen über die selbstsüchtige Jugend und die selbstzufriedenen Alten in Deutschland zum Trotz immer noch Tausende Menschen, die bereit sind, den nach Hoffnung auf ein ruhigeres Leben lechzenden Flüchtenden zu helfen. Hier liegt, auch wenn das Geschrei über die angebliche Überforderung Deutschlands zurzeit sehr schrill klingt, nicht das Problem. Zu anderen Zeiten hat man noch ganz andere Opfer gebracht und Deutschland hat es überlebt.

Das Problem liegt in der schamlosen Unverfrorenheit, mit der die Regierenden der Bevölkerung das Auffangen der Flüchtenden aufbürden – während sie zur gleichen Zeit fortfahren – und das noch in zunehmendem Maße – ehemalige Kolonien, heute selbstständige Nationalstaaten, über Kredit- und Schuldenpolitik in Abhängigkeit und unter Druck zu halten, deren lokale Wirtschaften mit subventionierten Dumping-Exporten zu strangulieren und letztlich, wenn daraus Revolten hervorgehen, militärisch zu intervenieren – ganz zu schweigen von den Waffenexporten in die so entstandenen Krisengebiete.

Solange diese Politik, an der Deutschland an der Spitze der EU führend beteiligt ist, nicht einem grundsätzlichen Revirement unterworfen wird, wird die Flut derer, die ihr Heil in der Flucht nach Norden oder in andere Teile der „entwickelten“ Welt suchen, nicht abnehmen, sondern weiter anwachsen – sagen wir es unumwunden: wird die Flut der Migrationsbewegungen als neuer Verteilungskampf über die Ufer der gegenwärtigen Weltordnung treten und die heutige Eskalation extremer Ungleichheit mit sich reißen.

Also – was tun? Die Geschichte lehrt uns, wenn wir bereit sind zu lernen, dass solche Situationen, in denen eine gesellschaftliche Minderheit vom Elend einer großen Mehrheit lebt, zwar lange gestreckt werden können. Anders gesagt, die Wellen der Empörung laufen über weite Strecken des Meeres allmählich heran, immer wieder niedergedrückt von kurzfristig aufkommenden Wetterumschwüngen, bis sie aber irgendwann dann doch zu großen Brechern auflaufen. Nehmen wir die letzten großen zurückliegenden Revolutionen:

Die Französische Revolution kündigte sich lange vor dem Sturz Ludwigs XVI. in den Schriften und Polemiken der französischen Aufklärer an. Ihre durchschlagende Wucht, die die Strukturen des Ancien Regime in den Grundfesten erschütterte, bekam sie durch das Massenelend der französischen Bauern, deren sich wiederholende und steigernde Hungerrevolten und damit einhergehenden Brutalisierung der vorrevolutionären Gesellschaft, in der die Bauern nichts mehr zu verlieren hatten als ihr ihr Elend – in der für die Feudalen dagegen alles auf dem Spiel stand.

Im Kern nicht anders die russischen Revolutionen von 1905 bis 1917: Lange kündigte sich der Sturz des Zarismus in den Schriften der russischen Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts an, deren Aktivitäten, ebenso wie die des wankenden Zarentums um die Jahrhundertwende bis zum Terror eskalierten, bevor sie dann durch die Erhebung der Bauern 1905 die gewaltsame und auch brutale Dynamik bekamen, die eine relativ leichte Machtübernahme durch die Bolschewiki 1917 erst ermöglichte.

Macht es Sinn, unsere heutige Situation mit diesen zurückliegenden gesellschaftlichen Erschütterungen zu vergleichen? Nein, wenn man nur die äußeren Umstände vergleicht. Heute ist die Herrschaft der Ausbeuter global und tendenziell total, Kritik und Revolte sind dagegen über den ganzen Globus verteilt; eine Revolution, die diese Verhältnisse gewaltsam stürzen will, kann nur gleichbedeutend mit globalem Chaos sein.

Im Kern allerdings wiederholt sich der Spagat zwischen hoch entwickelter, radikaler Gesellschaftskritik und dem wachsenden Drang der Benachteiligten und der zunehmend „überflüssig“ Gemachten, ihrem Elend ein Ende zu setzen. Was ist der wachsende Terror heute denn anderes als die radikalisierte Reaktion auf die ausbeuterische Herrschaft der übermächtigen Kapitale und ihrer perfektionierten Unterdrückungsapparate?

Wieso begriffen die Adligen des Ancien Regime, die Aristokraten des Zarismus nicht, dass der von ihnen geführte Krieg gegen die Revolten diese nur weiter anheizen konnte? Wieso begreifen die heute herrschenden Kräfte nicht, dass der Krieg gegen den Terrorismus nur neue Terroristen hervorbringen kann? Oder begreifen sie es doch? Oder haben sie ein Interesse daran, die Welt unter dem Druck dieses anti-terroristischen Krieges zu halten? Wer hat mehr Interesse daran, die Bevölkerung in Angst zu halten? Diejenigen, die die vermeintliche Weltsicherheit angreifen oder diejenigen, die sie zu verteidigen vorgeben? Eine offene Frage.

Hier hilft vielleicht die Erkenntnis von Pjotr Kropotkin weiter, der als Ergebnis seiner Analyse der vorrevolutionären Bauernrevolten Frankreichs feststellte, man müsse mit einem allgemeinen Irrtum aufräumen, nämlich dem, dass Revolten – und noch mehr Revolutionen – aus Angst und Verzweiflung erwüchsen, nein, so Kropotkin, sie entzündeten sich über das Elend, die Angst und die Verzweiflung hinaus eher an der Hoffnung, nämlich an der, dass das Leben in Zukunft nur besser, vielleicht sogar glücklicher werden könne.

Könnte es vielleicht sogar sein, dass wir es heute mit Kräften zu tun haben, denen daran gelegen ist, die Mehrheit der Menschen in Angst zu halten, um überhaupt erst keine Hoffnung aufkeimen zu lassen, dass die Verhältnisse, wie sie heute sind, veränderbar sein könnten?

Und wo wären solche Kräfte zu suchen? Anders gefragt, ist der Terror tatsächlich eine Gefahr für die bestehenden Verhältnisse oder stützt er sie eher? „Sicherheit“ ist ja heute, wie es scheint, alles, was noch zählt. Mit nichts lässt sich eine Zementierung der herrschenden Verhältnisse besser begründen als mit drohendem Terror. Führt seine Ausbreitung, genauer die Angst vor seiner Ausbreitung nicht im geraden Gegenteil zu den hysterischen Warnungen zur Festigung, ja, geradewegs in die Eskalation der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in Richtung einer präventiven globalen Sicherheitsdiktatur? Ängste, Opfer des Terrors zu werden, sind heute eher hervorzurufen als jene, an zukünftigen Klimakataklysmen zugrunde zu gehen. Bedenken wir dies, wenn wir heute mit präventiven Sicherheitsstrategien unter der Parole „Krieg dem Terrorismus“ überzogen werden!

Was wir brauchen sind keine Strategien präventiver Sicherheit, sondern Visionen und umsetzbare Strategien zur Verwirklichung der bisher noch nicht verwirklichten Ziele aller, besonders der beiden letzten großen Revolutionen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – unter Einbeziehung der Ebenbürtigkeit von Männern und Frauen erweitert zu „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“. Das ist heute ein schwieriger Balanceakt, der den Mut zur radikalen Kritik des Bestehenden und seiner Veränderung bis hin zu aktivem Widerstand gegen kriegstreiberische Politik, von wem immer betrieben, mit dem scheinbar entgegengesetzten Mut verbindet, der äußeren Eskalation ein Widerlager der Deeskalation im eigenen Inneren und im konkreten Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, sogar dem Feindlichen entgegenzusetzen. Es bedeutet auch, sich keine bequemen Feindbilder aufschwatzen zu lassen, sondern in kritischer Solidarität zu unterscheiden, wann und von wem eskaliert, wann und vom wem Deeskaliert wird. Das heißt, selbst denken, den eigenen Kopf benutzen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:
Kai Ehlers, die Kraft der „Überflüssigen“, Pahl-Rugenstein, 2013
Bezug über den Autor: info@kai-ehlers.de

Forum integrierte Gesellschaft: Flüchtlinge – „an die Wurzel gehen…“

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden
Bericht vom 50. „Forum integrierte Gesellschaft“ am Sonntag, 15.11.2015

Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis, mit dem Ziel kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt.
Thema:
Flüchtlinge – „an die Wurzel gehen…“

Inzwischen, liebe Freunde und Freundinnen, man mag es kaum noch zum wiederholten Male aussprechen: Den Ursachen, warum Menschen zu Zehntausenden und in zunehmender Zahl ihre Heimat verlassen ist nicht mit Aufforderungen an die Türkei, die Grenzen zu schließen, ist nicht mit schnellerer „Abfertigung“ an den Grenzübergängen, selbst nicht mit Reduzierung der deutschen „Willkommenskultur“ durch Leistungskürzungen für die Flüchtlinge u.ä. beizukommen, sondern …ja, wo hört man, wo liest man etwas über dieses „Sondern“ ?

Selbstverständlich muss den Menschen, wenn sie einmal hier sind, geholfen werden. Man lässt ein Kind ja schließlich nicht im Bade ertrinken, wenn es einmal hineingefallen ist. Darüber kann es „eigentlich“ keine zwei Meinungen geben. Man kann es sich auch ersparen, den Abgründen nachzugehen, die sich hinter dem Wörtchen „eigentlich“ auftun. Es findet sich bei gutem Willen und warmem Herzen immer ein Plätzchen, um das Kind in Sicherheit zu bringen. Es finden sich, anders gesagt, allen Unkenrufen über die selbstsüchtige Jugend und die selbstzufriedenen Alten in Deutschland zum Trotz immer noch Tausende Menschen, die bereit sind, den nach Hoffnung auf ein ruhigeres Leben lechzenden Flüchtenden zu helfen. Hier liegt, auch wenn das Geschrei über die angebliche Überforderung Deutschlands zurzeit sehr schrill klingt, nicht das Problem. Zu anderen Zeiten hat man noch ganz andere Opfer gebracht und Deutschland hat es überlebt.

Das Problem liegt in der schamlosen Unverfrorenheit, mit der die Regierenden der Bevölkerung das Auffangen der Flüchtenden aufbürden – während sie zur gleichen Zeit fortfahren – und das noch in zunehmendem Maße – ehemalige Kolonien, heute selbstständige Nationalstaaten, über Kredit- und Schuldenpolitik in Abhängigkeit und unter Druck zu halten, deren lokale Wirtschaften mit subventionierten Dumping-Exporten zu strangulieren und letztlich, wenn daraus Revolten hervorgehen, militärisch zu intervenieren – ganz zu schweigen von den Waffenexporten in die so entstandenen Krisengebiete.

Solange diese Politik, an der Deutschland an der Spitze der EU führend beteiligt ist, nicht einem grundsätzlichen Revirement unterworfen wird, wird die Flut derer, die ihr Heil in der Flucht nach Norden oder in andere Teile der „entwickelten“ Welt suchen, nicht abnehmen, sondern weiter anwachsen – sagen wir es unumwunden: wird die Flut der Migrationsbewegungen als neuer Verteilungskampf über die Ufer der gegenwärtigen Weltordnung treten und die heutige Eskalation extremer Ungleichheit mit sich reißen.

Also – was tun? Die Geschichte lehrt uns, wenn wir bereit sind zu lernen, dass solche Situationen, in denen eine gesellschaftliche Minderheit vom Elend einer großen Mehrheit lebt, zwar lange gestreckt werden können. Anders gesagt, die Wellen der Empörung laufen über weite Strecken des Meeres allmählich heran, immer wieder niedergedrückt von kurzfristig aufkommenden Wetterumschwüngen, bis sie aber irgendwann dann doch zu großen Brechern auflaufen. Nehmen wir die letzten großen zurückliegenden Revolutionen:

Die Französische Revolution kündigte sich lange vor dem Sturz Ludwigs XVI. in den Schriften und Polemiken der französischen Aufklärer an. Ihre durchschlagende Wucht, die die Strukturen des Ancien Regime in den Grundfesten erschütterte, bekam sie durch das Massenelend der französischen Bauern, deren sich wiederholende und steigernde Hungerrevolten und damit einhergehenden Brutalisierung der vorrevolutionären Gesellschaft, in der die Bauern nichts mehr zu verlieren hatten als ihr ihr Elend – in der für die Feudalen dagegen alles auf dem Spiel stand.

Im Kern nicht anders die russischen Revolutionen von 1905 bis 1917: Lange kündigte sich der Sturz des Zarismus in den Schriften der russischen Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts an, deren Aktivitäten, ebenso wie die des wankenden Zarentums um die Jahrhundertwende bis zum Terror eskalierten, bevor sie dann durch die Erhebung der Bauern 1905 die gewaltsame und auch brutale Dynamik bekamen, die eine relativ leichte Machtübernahme durch die Bolschewiki 1917 erst ermöglichte.

Macht es Sinn, unsere heutige Situation mit diesen zurückliegenden gesellschaftlichen Erschütterungen zu vergleichen? Nein, wenn man nur die äußeren Umstände vergleicht. Heute ist die Herrschaft der Ausbeuter global und tendenziell total, Kritik und Revolte sind dagegen über den ganzen Globus verteilt; eine Revolution, die diese Verhältnisse gewaltsam stürzen will, kann nur gleichbedeutend mit globalem Chaos sein.

Im Kern allerdings wiederholt sich der Spagat zwischen hoch entwickelter, radikaler Gesellschaftskritik und dem wachsenden Drang der Benachteiligten und der zunehmend „überflüssig“ Gemachten, ihrem Elend ein Ende zu setzen. Was ist der wachsende Terror heute denn anderes als die radikalisierte Reaktion auf die ausbeuterische Herrschaft der übermächtigen Kapitale und ihrer perfektionierten Unterdrückungsapparate?

Wieso begriffen die Adligen des Ancien Regime, die Aristokraten des Zarismus nicht, dass der von ihnen geführte Krieg gegen die Revolten diese nur weiter anheizen konnte? Wieso begreifen die heute herrschenden Kräfte nicht, dass der Krieg gegen den Terrorismus nur neue Terroristen hervorbringen kann? Oder begreifen sie es doch? Oder haben sie ein Interesse daran, die Welt unter dem Druck dieses anti-terroristischen Krieges zu halten? Wer hat mehr Interesse daran, die Bevölkerung in Angst zu halten? Diejenigen, die die vermeintliche Weltsicherheit angreifen oder diejenigen, die sie zu verteidigen vorgeben? Eine offene Frage.

Hier hilft vielleicht die Erkenntnis von Pjotr Kropotkin weiter, der als Ergebnis seiner Analyse der vorrevolutionären Bauernrevolten Frankreichs feststellte, man müsse mit einem allgemeinen Irrtum aufräumen, nämlich dem, dass Revolten – und noch mehr Revolutionen – aus Angst und Verzweiflung erwüchsen, nein, so Kropotkin, sie entzündeten sich über das Elend, die Angst und die Verzweiflung hinaus eher an der Hoffnung, nämlich an der, dass das Leben in Zukunft nur besser, vielleicht sogar glücklicher werden könne.

Könnte es vielleicht sogar sein, dass wir es heute mit Kräften zu tun haben, denen daran gelegen ist, die Mehrheit der Menschen in Angst zu halten, um überhaupt erst keine Hoffnung aufkeimen zu lassen, dass die Verhältnisse, wie sie heute sind, veränderbar sein könnten?

Und wo wären solche Kräfte zu suchen? Anders gefragt, ist der Terror tatsächlich eine Gefahr für die bestehenden Verhältnisse oder stützt er sie eher? „Sicherheit“ ist ja heute, wie es scheint, alles, was noch zählt. Mit nichts lässt sich eine Zementierung der herrschenden Verhältnisse besser begründen als mit drohendem Terror. Führt seine Ausbreitung, genauer die Angst vor seiner Ausbreitung nicht im geraden Gegenteil zu den hysterischen Warnungen zur Festigung, ja, geradewegs in die Eskalation der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in Richtung einer präventiven globalen Sicherheitsdiktatur? Ängste, Opfer des Terrors zu werden, sind heute eher hervorzurufen als jene, an zukünftigen Klimakataklysmen zugrunde zu gehen. Bedenken wir dies, wenn wir heute mit präventiven Sicherheitsstrategien unter der Parole „Krieg dem Terrorismus“ überzogen werden!

Was wir brauchen sind keine Strategien präventiver Sicherheit, sondern Visionen und umsetzbare Strategien zur Verwirklichung der bisher noch nicht verwirklichten Ziele aller, besonders der beiden letzten großen Revolutionen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – unter Einbeziehung der Ebenbürtigkeit von Männern und Frauen erweitert zu „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“. Das ist heute ein schwieriger Balanceakt, der den Mut zur radikalen Kritik des Bestehenden und seiner Veränderung bis hin zu aktivem Widerstand gegen kriegstreiberische Politik, von wem immer betrieben, mit dem scheinbar entgegengesetzten Mut verbindet, der äußeren Eskalation ein Widerlager der Deeskalation im eigenen Inneren und im konkreten Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, sogar dem Feindlichen entgegenzusetzen. Es bedeutet auch, sich keine bequemen Feindbilder aufschwatzen zu lassen, sondern in kritischer Solidarität zu unterscheiden, wann und von wem eskaliert, wann und vom wem Deeskaliert wird. Das heißt, selbst denken, den eigenen Kopf benutzen.

An dieser Gesprächsrunde beteiligten sich:
Wilhelm; Cornelia; Christoph; Wiebke; Hannes; Lilo, Kai

Für die kommende Runde vereinbarten wir ,
um uns der Welt zur Abwechslung einmal literarisch zu nähern:

Lesung, Gespräch und Hintergrunddiskussion zu dem hoffentlich noch rechtzeitig erscheinenden , tschuwaschischen Epos „Ylttanpik – der letzte Zar der Wolgabolgaren. Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts. “,

(Den Klappentext als knappe Erläuterung des Themas findet Ihr in der Anlage.
Des Weiteren findet Ihr hier http://www.erlebnisoffen.de/demokratie/fluechtl_programm_03.pdf
einen Text, der dem Forum von einem virtuellen Teilnehmer zugeschickt wurde.)

Das Treffen findet statt am 19.12.2015 um 16.00 am üblichen Ort.
Helfer zum Herrichten des Versammlungsortes sind willkommen.

Bitte anmelden: info@kai-ehlers.de Tel: 040 64 789 791 mobil: 0170 27 32 482
Wer den Ort nicht kennt, bekommt ihn dann mitgeteilt. Und wie immer bitten wir darum eine Kleinigkeit (!) zum Knabbern mitzubringen.

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner
Im Namen des Forums integrierte Gesellschaft

Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?

Wieder einmal will man uns einnebeln: Dem Demokratisierungsprozess in der Ukraine stehe nur noch Russlands Unterstützung für die nicht anerkannten Republiken Donezk und Lugansk entgegen. Eine Befriedung Syriens und damit ein Ende des Terrors wie auch der Flüchtlingsbewegungen würden nur durch Russlands Festhalten an Präsident Baschar el-Assad verhindert. Continue reading “Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?” »

Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

Schriftliche Fassung eines Vortrags
auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »

Vorschläge für Veranstaltungen mit mir, Stand November 2015

Dienstag, 10. November 2015
Sehr geehrte Veranstalterinnen, sehr geehrte Veranstalter,
Hallo, liebe Freundinnen, liebe Freunde!

Für Ihre/Eure Veranstaltungsplanung möchte ich heute einige aktuelle Vorschläge unterbreiten. Ich gebe die Themen nur in Stichworten an. Wir können die Themen und die Form ihrer Behandlung (Vortrag oder auch Seminar) über Mail oder per Telefon konkretisieren. Mail: info-kai-ehlers.de, Tel: 040 /64 789 791 (mobil: 0170 27 32 482)

Globaler Maidan?
Ukraine – Flüchtlingskrise – Syrien

Russland Regionalmacht oder Imperium?
Was will Putin?

Was ist so anders an Russland?
Warum Russland ein Angstgegner des Westens ist.
Ein Blick auf Russlands Kräfte der Autarkie

Deutschland in Europa – Gefahr oder Segen?

Krise der EU –
ist ein Europa der Regionen möglich?
Wie könnte es aussehen?

Wie wir wirklich leben wollen:
Gibt es eine Welt nach der Lohnarbeitsgesellschaft?

Anthropologische Grundlagen zukunftsorientierter Politik
Ein Ausflug auf ein anderes Menschenbild als des gegenwärtigen „homo oeconomicus“.

Grammatik der Transformation –
Das siebengängige kretische Labyrinth als Schule lebendiger Dialektik und Selbstorganisation. (Ein praktisch orientiertes Wochenend-Seminar)

Zwei mögliche Buchvorstellungen:

– 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarkitzki, Band I und II
Innenansichten der russischen Transformation, ein Buch zum Studieren

– Ylttanpik – der letzte Zar der Bolgaren
Ein tschuwaschisches Epos über den Abwehrkampf der seinerzeit im heutigen Zentralrussland lebenden Bolgaren gegen die mongolische Invasion Angang des 13. Jahrhundert. Die Tschuwaschen sind ein heute an der Wolga lebendes Volk Russlands.
Äußerst interessant mit Blick auf die damalige Verschiebung der Mitte der Welt vom muslimischen Kulturraum nach Europa.

Für weitere Anregungen auch zu Einführungs- oder Grundsatzthemen der Art wie:
„Was ist das Russische an Rußland“ oder „Was ist das Mongolische an der Mongolei“ bzw. „Nomadentum und Zivilisation“ und ähnliche Grundfragen schauen Sie bitte auf meine Website unter www.kai-ehlers.de unter Vorträge/Angebote.

Auf der Eingansseite finden Sie außerdem unter der Überschrift „Aufruf – die ‚Überflüssigen'“ eine Skizze der gegenwärtigen Entwiclungsströme. Daran anknüpfend können wir ebenfalls Themen verabreden, die die Skizze konkretisieren.

In Erwartung Ihrer Antwort,
mit freundlichen Grüßen

Kai Ehlers

 

Nachdenkliches zu Europa und Unbekanntes zu Russland – Fragen zu Nationalismus und „Flüchtlingskrise“

Ein Abgrund tut sich auf, so will es vielen Zeitgenossen beim Blick auf das gegenwärtige Weltgeschehen, besonders auf die Vorgänge in Europa erscheinen, ein Abgrund, der die Werte der Nachkriegsgesellschaft – Menschenrechte, Solidarität, Toleranz – verschluckt und an deren Stelle überwunden geglaubte Gespenster des Nationalismus, des religiösen Fanatismus oder gar des Faschismus in neuer Gestalt wieder aufsteigen lässt.

Zu verdenken ist niemandem eine solche Sicht: die geistige Verschmutzung und das Elend des ukrainischen Krieges, die Verstetigung des Terrors in den Brutalitäten des „Islamischen Staates“, der besser Anti-Islamischer Staat genannt würde, der Rückfall der Europäischen Union in nationalistische Egoismen angesichts der „Flüchtlingskrise“ müssen erschrecken.

Vergleiche mit dem Ende des römischen Reiches werden gezogen, das trotz des Limes im Ansturm der hunnischen und germanischen Völkerschaften unterging. Thilo Sarazzins fade Prophezeiungen, Deutschland schaffe sich ab, kommen zu neuen Ehren.

Aber stimmt dieses Bild? Verweist das Anwachsen separatistischer Tendenzen, auch des aktuellen Nationalismus, ja, selbst die barbarische Kulturstürmerei des „IS“ über die Tagesereignisse hinaus nicht auch auf eine dahinter liegende Entwicklung, die in ihrer aktuellen Eskalation auf Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse drängt? Ist vielleicht nicht die Zivilisation am Ende, sondern nur die atlantische Dominanz, nicht Europa, sondern nur die imperiale EU, nicht Deutschland, sondern nur die gegenwärtige Verfasstheit Deutschlands als tendenzieller neuer Zuchtmeister Europas?
Damit kein Irrtum aufkommt zu dem hier Gemeinten: Keine Krankheit führt automatisch zur Gesundung; solche Automatismen müssten erst noch erfunden werden. Aber bei gründlicher Diagnose wächst die Chance mit frischen Kräften in einen neuen Lebensabschnitt einzutreten.

 

Versuchen wir also eine Diagnose.

Weltfrieden? Europäische Solidargemeinschaft? Demokratie? – Die meisten Menschen sind sich mehr oder weniger im Klaren darüber, dass von einem Weltfrieden nicht die Rede sein kann, es sei denn, man gehe der systematisch verbreiteten Anmaßung derer auf den Leim, die den atlantischen Binnenraum als Weltgemeinschaft ausgeben.

Aber schon die Auflösung des sowjetischen Imperiums entzieht sich einer solchen Sicht. Die Transformationskriege am Rande der ehemaligen Sowjetunion – Usbekistan, Tadschikistan, die Gebiete des Kaukasus – forderten mehrere zigtausend Menschenleben. Die meisten dieser Kriege endeten in Diktaturen neu entstandener, nationalistischer, keineswegs demokratischer, solidarischer oder gar subsidiär verfasster Gesellschaften. Das bisher letzte Beispiel aus dieser Reihe war und ist die Ukraine. Millionen von Flüchtlingen retteten sich seinerzeit nach Russland; aktuell kamen auch gerade wieder eine Million Menschen aus der Ukraine. Aber wen in der „Weltgemeinschaft“, in der Europäischen Union, in Deutschland hat es interessiert, wie Russland in einer Situation, in der die Staatlichkeit des Landes bis hin in die lokalen sozialen Strukturen und bis in die Familien hinein zusammengebrochen war, neue Solidarität entwickeln konnte?

Im Gegenteil wurde Wladimir Putins Kennzeichnung dieses Zusammenbruchs als größte soziale Katastrophe des 20./21. Jahrhunderts als revanchistischer Anspruch auf Wiederherstellung des russischen Imperiums denunziert, bestenfalls als Großmannssucht bespöttelt oder Putin gar als anti-demokratischer Möchtegern-Stalin dämonisiert. Die tatsächliche Wiederherstellung sozialen Vertrauens im Lande, die in Russland gelungen ist und die allein Grundlage solidarischen Zusammenlebens sein kann, entzieht sich ganz offensichtlich dem westlichen Verständnis, das Solidarität und Demokratie nicht nach der tatsächlichen Lebenslage der Menschen, sondern nach der Einhaltung formal-demokratischer Regeln beurteilt – und die sind in Russland zweifellos weitaus weniger entwickelt als in Deutschland.

Und was ist mit dem „IS“, was mit der „Flüchtlingskrise“? Beide Phänomene sind ja nicht vom Himmel gefallen, passender gesagt, nicht plötzlich aus dem Untergrund hochgeschossen: Das Aufkommen des „IS“ ist Ausdruck einer Eskalation des Wiederspruchs zwischen den im Gewand des Fortschritts und der Menschenrechte auftretenden reichen Ländern des Westens und den von ihnen zur Wüste gemachten Ländern des Südens, insonderheit des afrikanischen Kontinentes, in denen die aus den früheren Kolonien entstandenen Nationalstaaten, die meisten von ihnen Diktaturen, heute nur noch die Rolle von Agenturen internationaler Kreditgeber spielen. Sie haben die Ressourcen ihres jeweiligen Landes und Absatzmärkte zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen haben sie das Land, in der Regel mit Gewalt, ruhig zu halten. Wo das nicht gelingt, sind die „Special forces“ zur Stelle. Nur wenige Länder haben sich aus dieser Zange befreien können.

Seit Gründung der Internationalen Währungsordnung nach 1945 war erkennbar, wohin diese Entwicklung führen musste: In die Zerstörung lokaler Märkte, in das Anwachsen einer Heerschar „Überflüssiger“, die ihre Zukunft, noch dazu gesteigert durch das rasante Bevölkerungswachstum nicht mehr in ihren Heimatgebieten, sondern im reichen Westen suchen – sofern sie überhaupt noch die Kraft haben, über eine Zukunft für sich nachzudenken. Demokratische, solidarische, gar subsidiäre Gesellschaften konnten unter diesen Bedingungen jedenfalls nicht entstehen. Dass diese Entwicklung nur in einer globalen Revolte gegen die Verursacher dieses Elends enden konnte, war schon lange klar. Der „IS“ wächst als vergiftete Speerspitze aus dieser Revolte hervor; die „Flüchtlingskrise“ ist ein längst überfälliger Ausdruck dieser Entwicklung.

 

Erwachen der Völker

Ja, dies alles ist heute herrschende Realität. Und dennoch ist damit nicht alles beschrieben. Unter all diesen Umständen hat sich eine Tendenz herausgebildet, die einer der bekanntesten Strategen der USA, Zbigniew Brzezinski seinerzeit als „awakening of people“ bezeichnet hat. Unter dem Druck der vom Westen ausgehenden neo-kolonialen Globalisierung sind als deren unvermeidliche Begleiterscheinung immer mehr Menschen mit den Möglichkeiten bekannt geworden, die unsere Welt heute den Menschen zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit bereitstellt – denjenigen, versteht sich, die Zugang zu diesen Möglichkeiten haben. Zu diesen zu gehören, tritt inzwischen bei einer wachsenden Zahl von Menschen als Verlangen nach Teilhabe an den Reichtümern der Welt, nach Selbstbestimmung, nach Autonomie, in der Auseinandersetzung mit den herrschenden Kräften als aktiver Separatismus oder, im pervertierten Fall des „IS“, als destruktiver pseudo-religiöser Fanatismus zutage. Gegner sind in jedem Fall die etablierte Ausbeuterordnung der „Weltgemeinschaft“ und deren lokale Statthalter.

 

Krise der EU

Diese allgemeine Entwicklung macht auch vor der Europäischen Union nicht halt, wenn sich die schwächeren Mitglieder der Bevormundung und dem wirtschaftlichen Druck durch die Großen der Kern-EU, allen voran durch Deutschland, nicht weiter beugen wollen. Von Binnenzöllen unbelastet würgt Deutschland als „Exportweltmeister“ die lokalen Wirtschaften der kleineren Mitgliedstaaten der EU ab, danach werden ihre Regierungen durch Kredithilfen in eine Abhängigkeitsschleife gebracht, aus der für sie bei Beibehaltung der jetzigen Beziehungen kein Weg wieder herausführt. Es ist der gleiche Mechanismus, mit dem die EU als Ganzes, wieder mit dem Motor Deutschland, die lokalen Wirtschaften in den nach-kolonialen Ländern in Abhängigkeit hält. Die „Flüchtlingskrise“ ist nicht etwa die Ursache der Krise der EU; sie bringt das lange herangerollte Problem nur in die Sichtbarkeit der aktuellen Politik. Um es in ein Bild zu fassen: in der „ Flüchtlingskrise“ laufen die langen Wellen der globalen und die aus der EU kommenden kürzeren Wellen der Ausbeutungskonflikte aktuell zu mächtigen Brechern zusammen. Sie haben das Zeug, die Uferbefestigungen, auch wenn noch ein paar Sandsäcke aufgeworfen werden, glattweg zu überspülen und neue Uferkonturen entstehen zu lassen.

Kommt hinzu, dass die Entwurzelung der Bevölkerung in den aus den Kolonien hervorgegangenen Nationalstaaten, die dort aus der Zerstörung der traditionellen Strukturen der Selbstversorgung ohne Aufbau von adäquaten Alternativen lokaler Wirtschaften resultiert, ihre Fortsetzung in der Europäischen Union findet. In den Mitgliedstaaten, die in die Abhängigkeit gedrängt werden, nimmt die Verarmung der Bevölkerung in dem Maße zu, wie das Bruttosozialprodukt in den Kern-Ländern der EU, vor allem Deutschlands wächst. Nehmen wir als letztes Beispiel Griechenland, das unter dem Druck seiner Kreditschulden dem von Brüssel geforderten Abbau sozial-staatlicher Leistungen nachkommen musste – für Griechenland ein Fall ins Nichts, für Brüssel eine Stabilisierung.

Aber nicht nur in Griechenland, auch in Spanien, Italien, Portugal, den Balkanländern führt das Diktat der EU als „Wettbewerbsgemeinschaft“, dominiert vom „Exportmeister“ Deutschland zu einer immer weiter auseinander gehenden Schere zwischen dem reichen Kern der EU und drückender Armut in den peripheren Mitgliedsländern. Eine Pyramide der Ausbeutung innerhalb der EU ist entstanden, an deren Spitze Deutschland die Bedingungen diktiert; sogar Frankreich muss sich ducken. Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und sinkende soziale Versorgung – runtergestaffelt von Norden nach Süden, von innen nach außen – bilden die Basis der Pyramide.
Demokratie, Solidarität und Subsidiarität bleiben bei diesem Prozess nicht nur im globalen Maßstab, nicht nur in der EU, sondern auch in Deutschland zunehmend auf der Strecke. Darüber werden täglich genügend Fakten veröffentlicht, so dass hier auf Details verzichtet werden kann. Aber je größer der Druck der „Wettbewerbsgemeinschaft“ EU, desto breiter wird die Basis und desto intensiver das Verlangen, diese Art der Gemeinschaft zu verlassen. Initiativen für direkte Demokratie, für Autonomie, separatistische Bewegungen wie die in Schottland, in Katalonien, Rückzüge auf nationale Alleingänge in der EU wie die Ungarns, Austrittstendenzen wie die Englands, begleitet von nationalistischen Exzessen wie in der Ukraine, terroristischen wie denen des „IS“ und anderswo sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Kurz gesagt, es macht Sinn, im heute zu beobachtenden Chaos nicht nur den Schrecken des Zerfalls, der Revolte, der demonstrativen Zerstörung von Menschen und Kultur, sondern auch die Dynamik der Überwindung, wenn auch teils pervertiert, der für diese Entwicklung ursächlichen Herrschaftsstrukturen zugunsten kleinerer, überschaubarer, autonomer miteinander auf Augenhöhe kooperierender Lebenseinheiten zu erkennen – auch wenn klar ist, dass dieser Übergang ein lang andauernder ist und noch viele Opfer kosten wird.

 

 Russland nationalistisch?
Wichtig ist wohl an dieser Stelle noch einmal in den Vergleich zu Russland zu gehen, das sich von deutschen Politikern und Medien in zunehmendem Maße als nationalistisch kritisieren lassen muss. Wladimir Putin erscheint in dieser Kritik gar als der leibhaftige Wiedergänger Hitlers, der das Land in einem nationalistischen Rausch und unter Inkaufnahme eines neuen Weltbrandes zu neuer imperialer Größe führen wolle.

Ach, wollte doch nur einer dieser Kritiker Russland einmal von innen, das heißt, von seiner sozialen und kulturellen Struktur her betrachten! Zum einen ist Russland zwar ein Zentralstaat, ohne Moskau geht gar nichts, zum anderen ist das Land aber nach Republiken und im Land miteinander lebender unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachgruppen derartig vielgestaltig organisiert, dass es sich verbietet von einer russischen Nation zu sprechen. Alle Versuche eine solche Nation zu definieren, sind gescheitert. Das Höchste, was an „nationaler“ Vereinheitlichung erreicht wurde, war der ‚Große Vaterländische Krieg‘ unter Stalin. Gerade diese Formulierung, die Worte wie sowjetische oder russische Nation vermeidet, zeigt aber auch das vollkommen andere Verständnis von Vaterland oder Nation in Russland: Russland ist nach russischem Sprachgebrauch ein Vaterland vieler „Nationen“, d.h., ein Land von Völkern mit eigener Sprache, Religion und Kultur sowie unterschiedlichster Republiken in unterschiedlichsten Stadien von Autonomie, die einen gemeinsamen Organismus vieler Vaterländer im friedlichen Zusammenleben miteinander bilden. Der Zusammenhalt kann nicht befohlen, er muss im Konsens immer wieder neu hergestellt werden. Putin ist ein Meister des Konsenses. Ausnahmen wie der Tschetschenienkrieg, der eine Sezession gewaltsam unterband, bestätigen wie immer die Regel. Der Tatsache der Vielvölker-Konsensgesellschaft trägt Rechnung, dass dieser Organismus in Russland nicht als russisch, sondern als russländisch bezeichnet wird. Moskau, einer russländischen Redewendung folgend, ist auch heute immer noch weit.

Was den angeblichen aktuellen Nationalismus angeht, so mag ein Beispiel genügen: Der Tschuwaschische, im Herzen Russlands an der Wolga lebenden „Nationalschriftsteller“ (eine ins Deutsche nicht übersetzbare Formulierung) Michail Juchma, 79, sein Leben lang engagiert, die Tschuwaschische Kultur vor ihrer Überformung durch das Russische zu bewahren, aus dieser Position heraus ein scharfer Kritiker Putins, antwortete im Sommer 2015 auf die Frage, was er von der Politik Putins halte, er stimme Putin in seiner Außenpolitik voll zu: „Er verteidigt unsere Vaterland“. „Unsere Vaterland“, erklärt Juchma, das ist mein tschuwaschisches Vaterland im untrennbaren Zusammenhang des russländischen Organismus.

Wer im Glashaus sitzt, soll also nicht mit Steinen schmeißen, so könnte man diesen Artikel beenden. Anders gesagt: Möglicherweise können Europäer in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalismus von der russländischen Realität etwas lernen, zumindest Anregungen für ein Europa nach der Europäischen Union gewinnen, das die unterschiedlichen Gewordenheiten der europäischen Kulturen im lebendigen Konsens verbindet, statt sie weiter in ein Korsett der „Wettbewerbsgemeinschaft“ zu schnüren.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Siehe zu diesem Thema:

 
Kai Ehlers, die Kraft der ‚Überflüssigen‘, Pahl-Rugenstein, 19,90:

(über den Autor beziehbar): Bestellkontakt

Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki – Innenansichten zur neueren russischen Geschichte

Vorgestellt durch den Autor selbst.

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Soeben erschien der zweite Band des der zweibändigen Ausgabe „25 Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki. Gesprächspartner Kagarlitzkis und Autor des Buches ist Kai Ehlers. Der erste Band zeigt die Zeit von Gorbatschow bis Jelzin; der zweite nunmehr Jelzins Abgang, Putin, Medwedew und wieder Putin. Verlag, LAIKA

Im öffentlichen westlichen Bewusstsein wird das Einsetzen der Perestroika vor 25 Jahren heute als Reform eingeordnet, bei einigen ganz verwegenen Zeitgenossen als Revolution, bei manchen sogar als letzte Revolution. Zu schweigen von denen, die nie etwas von Perestroika gehört haben.

Eine etwas andere Sicht erschließt sich aus den in dem Buch vorliegenden Gesprächen, die aus direkter Betroffenheit heraus Schritt für Schritt am konkreten Geschehen und im Bemühen um analytische Klarheit entstanden im Verlaufe von 25 Jahren sind.

Die Gespräche beginnen mit einer ersten Kontaktaufnahme zwischen der damaligen westdeutschen Neuen Linken der 80er Jahre (vertreten durch den ‚Kommunistischen Bund’ (KB), gemeinhin mit dem Zusatz ‚Nord’ versehen und einem Sprecher der Perestroikalinken Moskaus. Diese ersten Begegnungen stehen noch unter der Parole der von der Perestroika in den Jahren nach Gorbatschows Antritt als Generalsekretär der KPsSU 1985 hervorgebrachten informellen Bewegung, die von sich sagt: „Wir sind der linke Flügel der Perestroika“.
Sehr schnell folgen die ersten Ernüchterungen, als deutlich wird, dass Perestroika nicht die Reform des Sozialismus, nicht mehr Selbstbestimmung, nicht einen demokratisch kontrollierten Markt bringt, sondern mehr Leistung bei gleichzeitigem Abbau von sozialen Sicherungen fordert und schließlich zur Einführung eines Notstandsregimes führt, dass aber auch diejenigen, die sich wie Boris Jelzin Reformer nennen, ebenfalls nicht den Sozialismus reformieren, sondern ihn zugunsten einer ‚demokratischen Elite’ abschaffen wollen.
So geht es Schritt für Schritt. Jedes Gespräch skizziert eine neue Wendung, einen neuen Verlust bisher verbriefter sozialer Garantien. Der Krise Gorbatschows folgt der sog. Putsch. Er wird im Westen im Allgemeinen als Versuch der ‚Ewig Gestrigen’ wahrgenommen, die Entwicklung zurückzudrehen; in Wahrheit ist er eine Machtergreifung, derer, die die Sowjetunion mit größerer Beschleunigung hinter sich lassen wollten.
Und schon geht es weiter zu nächsten Krise, wenn die neue Führung unter Jelzin und das ‚Volk’, vertreten durch den Kongress der Volksdeputierten, in einen unlösbaren Konflikt über die Geschwindigkeit, die Art und den Umfang der Privatisierung geraten. An seinem Ende steht die Revolte der Deputierten, die Jelzin mit Panzern niederschlagen läßt. Die Berichte zu all diesen Vorgängen klingen in diesen Gesprächen anders als in den weichgespülten Jelzin-Lobeshymnen der damaligen Zeit und auch anders als in seiner nachträglichen Verklärung als ‚erster demokratisch gewählter Präsident Rußlands’.
Und weiter geht es auf dem mühsamen Weg der Festigung der ‚neuen Macht’ bis hin zur Ankunft Wladimir Putins und den darauf folgenden Tandemmanipulationen Putins und Medwedews, die – Demokratie hin, Demokratie her – in der Manier der alten russischen Selbstherschaft die Ämter unter sich aushandeln. Offen bleibt, wie es heute weitergeht.
Dies alles wird in den Gesprächen nicht aus der Perspektive der Kremlastrologie erörtert, sondern vom Standpunkt des alltäglichen, des gewerkschaftlichen Lebens, aus der Sicht derer, die an einer theoretischen und praktischen Erneuerung des Sozialismus aus der Kritik des Gewesenen und unter den Bedingungen des Bestehenden interessiert sind. Viele Gespräche werden noch zu dokumentieren sein, wenn wir verstehen wollen, was in den zurückliegenden funfundzwanzig Jahren tatsächlich geschehen ist.
Der russische Partner der in diesem Buch vorliegenden Gespräche, Boris Kagarlitzkij, ist der heute im Westen bekannteste russische Reformlinke. Seine Stimme hat Perestroika von ihren Anfängen unter Gorbatschow, durch das Chaos bei Jelzin bis in die heutige Putinsche Restauration hinein kontinuierlich begleitet. Er wurde 1958 geboren, schloß sich als Student einerer ‚Marxistischen Gruppe’ an, wurde noch unter Breschnjew verhaftet. Er saß anderthalb Jahre im Gefängnis. Mit einsetzender Perestroika wurde er freigelassen. Seitdem ist er aus sowjetkritischer Position heraus um eine Erneuerung des Sozialismus auf marxistischer Grundlage bemüht. Mit diesen Positionen ist er nicht mehr nur politischer Dissident der UdSSR, sondern unter verdrehten Vorzeichen auch im postsowjetischen Russland. Boris Kagarlitzkij ist heute Direktor des ‚Instituts für Globalisierung und soziale Bewegung’ (IGSO) in Moskau, Initiator und verantwortlicher Herausgeber des in Moskau erscheinenden Monatsbulletins ‚Linke Politik’ und Redakteur an der Internetplatform ‚www.RABKOR.ru’

Die Einteilung der beiden Bände folgt den wesentlichen Phasen, in denen sich der Verlauf der Perestroika vollzogen hat: Aufkündigung des Alten durch Michail Gorbatschow bis hin zur Auflösung und effektiven Zerstörung der sowjetischen Strukturen durch Jelzin. Das betrifft nicht nur die Auflösung der Union 1991 durch Jelzin, sondern umschließt auch noch die systematische Auflösung, bzw. Zerstörung der sowjetischen Strukturen im Lande selbst nach dem, was man auch den zweiten Putsch nennen kann, also nach der gewaltsamen Auflösung des obersten Sowjet durch Jelzin 1993. Gegen Ende der zweiten Hälfte der Jelzinschen Amtszeit geht die Auflösung nach einer ruhigeren Übergangsphase ´96/97 und der darauf folgenden innerrussischen Bankenkrise von 1998 in eine offene Restauration unter dem Stabilisator Wladimir Putin über. Von daher ist es keineswegs zufällig, daß Boris Kagalitzki und ich unser längstes und am tiefsten in die sozialen Strukturen vordringendes Gespräch im Herbst `97 führen konnten – nach Jelzins Wiederwahl und vor dem Zusammenbruch von 1998. Danach folgen ‚nur noch’ Stadien der Wiederherstellung des Staates unter neuen, nicht mehr sowjetischen, sondern ‚demokratischen’ Vorzeichen der von Putin betriebenen autoritären Modernisierung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

So bestreiten der Initiator Gorbatschow und der Beschleuniger Jelzin also Band eins, der kränkelnde Jelzin und der Stabilisator Putin (unterstützt durch Medwedew) Band zwei.

Zur Orientierung ist jedem Gespräch eine knappe Situationsskizze und Kurz-Chronologie beigegeben, unter welchen Umständen und wann es stattgefunden hat. Eine durchlaufende Chronologie im Anhang ermöglicht zudem eine Einordnung in den zeitlichen Gesamtzusammenhang. Zusätzlich gibt es einen INDEX, über den alle im Text erwähnten Personen oder Organisationen aufgesucht werden können. Dieser Aufbau macht die beiden Bände über die einzelnen Gespräche hinaus auch zu einem Nachschlagewerk der neueren russischen Geschichte.

Beude Bände sind im Buchhandel und direkt beim Autor zubeziehen

 

Apropos Sanktionen: Ein Blick auf Russlands Ressourcen

Nach vorübergehender Annäherung zwischen Russland und dem Westen, speziell der EU, lautet die herrschende Frage des Westens heute wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse.

Wer glaubte, Russland fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder auf die Knie zwingen und zu einer Erdöl liefernden Regionalmacht, gar Kolonie herabstufen zu können, sieht sich getäuscht. Wieder einmal, muss hinzugefügt werden. Schon Napoleon, später Hitler unterlagen dieser Täuschung. Jetzt hat Russland den Erweiterungs-Offensiven der EU und der NATO ein klares Njet entgegengesetzt, verwandelt die vom Westen gegen das Land verhängten Sanktionen und Isolierunsversuche in neue eigene Entwicklungsschübe und festigt sein Bündnissystems mit den aus der US-Hegemonie heraustretenden Neuen Welt.

Woher nimmt Russland die Kraft der „Weltgemeinschaft“ auf diese Weise zu trotzen? Wie erklärt sich die Russland-Phobie der USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte?
Doppelt gestaffelte Autarkie

Die Antwort ist umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Die russische Autarkie ist doppelt begründet. Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen der eurasischen Weite: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Dazu gehört als besonderes Element auch noch die Vielfalt der in Russland lebenden Völker, die zusammen einen Organismus bilden, in dem Zentrum und Autonomie sich noch einmal unterhalb der staatlichen Verwaltungsstrukturen in besonderer Weise ergänzen.

Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder.

Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf der neueren Geschichte – wie oben schon angedeutet – bereits in die Lage, europäischen Kolonisierungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939. Heute ist es wieder so: Trotz Krise, trotz technischer Rückständigkeiten, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern auch dieses Mal wieder stärker aus der Krise hervorzugehen.

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte und von ihm abhängige – soziale Befriedungspolitk gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind: Beschluss einer neuen Militärdoktrin seit 2002, Auftritt gegen die USA bei der Münchner NATO-Tagung 2006, dazu eine, so möchte ich es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen, konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Es folgte das erste Njet gegen die NATO-Erweiterung 2008 im sog. Georgischen Krieg, in dem Russland sich gegen die weitere Ausdehnung der NATO in die Ukraine und nach Georgien wandte; gegenwärtig erleben wir die Aktualisierung dieses Njet im verdeckten Ukrainischen Stellvertreterkrieg zwischen EU/USA und Russland.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde Russland zum potentiellen Führer einer aus den ehemaligen Kolonien hervorgehenden neuen Welt, die sich aus der US-Hegemonie lösen will, während die frühere Neue Welt, die USA, sich im Versuch, ihren überhöhten Energiebedarf zu decken und ihre Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, sondern auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen wird.
Basis der Autarkie – extreme Bedingungen

Die russische Autarkie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch, Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden können. Diese Kombination von Reichtum und extremer Härte hat eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen Entwicklung, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch Privateigentum an Produktionsmitteln entstand, waren es lokale Ausnahmen und vorübergehende Erscheinung von kurzer Dauer, wie gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als neben den der staatlich initiierten Industrialisierung aus den dörflichen Strukturen zusätzlich private Industrie entstand, deren private Rechtsformen jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt wurden.

Das heißt, vor Ort, in den Weiten des russischen Landes, im Bewusstsein des Volkes war Eigentum „schon immer“ gemeinschaftlich organisiert. In der westlichen Geschichtswahrnehmung sind diese Verhältnisse als russische Dorfgemeinschaft, als Dorfdemokratie (MIR), russisch Òbschtschina bekannt; in Sibirien und im Süden Russlands waren es Genossenschaften freier Bauern, aber auch diese waren aufeinander angewiesene Gemeinschaften.

Die russischen Dörfer waren in ihrer Mehrheit ihrerseits Gemeineigentum des Zaren, der herrschenden Schicht, das heißt, des Hofes, der Kirche, des dem Zaren hörigen Dienstadels, alles zusammengefasst unter der Führung der zaristischen Selbstherrschaft, zu der Kirche und Staat sich verbunden hatten. Autarkie und Autokratie sind in dieser Geschichte untrennbar miteinander verbunden. Man hat es im Ergebnis im traditionellen Russland mit einer Wirtschafts- und Lebensweise zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit als „asiatische Produktionsweise“ charakterisierten. Damit waren Verhältnisse gemeint, wie sie auch aus dem alten Mesopotamien, aus Ägypten, von den Inkas, aus China, Indien usw. bekannt waren. . In der Industrie setzte sich diese Realität als staatlich initiierter Kapitalismus fort.
Asiatische Produktionsweise

Marx und Engels kategorisierten die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entlang zweier von ihnen angenommener Linien. Auf der Hauptlinie sahen sie, noch ganz einem ungebrochenen eurozentristischen Verständnis verhaftet, die Entstehung der abendländisch-europäischen Produktionsweise: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus – Kommunismus, die sich, basierend auf der Entwicklung des Privateigentums an Produktionsmitteln, dynamisch, unaufhaltsam, eskalierend von Revolution zu Revolution aus einer Formation in die nächst höhere bewege. Für Marx/Engels war Europa das Zentrum dieser Bewegung, heute sind es von Europa ausgehend die USA, allgemeiner der euro-amerikanische Westen. Auf der Nebenlinie verorteten sie die asiatische Produktionsweise, anders von Marx auch als gemeineigentümlicher Despotismus bezeichnet, die aus dem Zusammenwirken von dörflicher Selbstversorgung und einer ihr übergeordneten Bürokratie entstehe und von den Dörfern lebe (Priesterkaste, Gelehrtenhierarchie, Beamtenapparat…).

Prinzipiell formuliert: Die europäische Produktionsweise entwickelte Privateigentum als Motor der Selbstverwertung des Geldes, aus welcher der privatwirtschaftliche Kapitalismus hervorging. In ihr sind Staat, Kirche und Kapital getrennt und müssen sich immer wieder neu verbinden. Ihre Krisen tragen dynamischen Charakter. Die asiatische Produktionsweise entwickelt Gemeineigentum als Basis einer stabilen individuellen und allgemeinen Selbstversorgung unter der Herrschaft einer verwaltenden Klasse. Krisen entstehen periodisch aus der Schwäche der Bürokratie, nicht aus der Dynamik des Kapitals.

Marx bezeichnete diese asiatischen Formen der Wirtschaft im Gegensatz zur griechisch/römischen Sklavenhaltergesellschaft, in welcher einzelne Menschen zum Privatbesitz einzelner Menschen wurden, als eine „allgemeine Sklaverei“, weil in ihnen der Einzelne zwar frei, im Kollektiv aber dem Staat unterworfen oder gar hörig sei. Einen wesentlichen Unterschied der asiatischen Produktionsweise zur europäischen sahen Marx und Engels auch darin, dass die asiatische Produktionsweise keine innere Dynamik aufweise, die zum Kapitalismus dränge, sondern eine im Wesen sich immer gleich bleibende Gesellschaftsordnung sei, die als Krise der herrschenden Bürokratie zwar auch periodisch zusammenbreche, sich aber immer auf demselben Niveau wiederherstelle.

Marx und Engels entwickelten ihre Analyse am Beispiel der indischen Gesellschaft und bezogen auch die alten Hochkulturen mit ein. In Russland erkannten sie eine besondere Form der asiatischen Produktionsweise, die sich aus einer immer wieder erfolgten Mischung mit europäischen Elementen ergeben habe; eine Entwicklung billigten sie Russland jedoch nur im Kontext mit dem Kapitalismus und der Revolution im Westen zu.

Aber Marx und Engels irrten. Ausgelastet mit der Aufarbeitung der Entwicklung des europäischen Kapitalismus konnten sie die Analyse der asiatischen Produktionsweise nicht zu Ende führen. So konnten sie nicht erkennen, dass auch diese Gesellschaftsform, insbesondere in ihrer russischen Variante, periodische Modernisierungskrisen erlebte, die nach Zeiten des Zerfalls regelmäßig in eine Effektivierung des Systems von bürokratischem Zentralismus und Peripherer Autonomie übergingen, nur dass die Ursachen ihrer Krisen nicht in wirtschaftlicher Dynamik, sondern in bürokratischer Stagnation lagen.

Kurz, sie erkannten nicht, dass euro-amerikanische und asiatische Produktionsweise zwei Wege der Entwicklung sind, die nicht aufeinander folgen, sondern in Wechselwirkung neben- und miteinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen, sodass auch immer wieder neue Zwischenformen entstanden. Das gilt für die russische Geschichte, einschließlich ihrer sowjetischen Periode.
Russlands Besonderheiten

Schauen wir deshalb noch ein wenig genauer auf die russische Entwicklung: Russland entstand im offenen Niemandsland zwischen mongolischen Chanaten und westlichen Städten, in reicher Natur, aber der Weite und der Wildnis ausgesetzt. Ergebnis war die Selbstherrschaft der Moskauer Zaren als Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die polare Doppelstruktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau – autonome Versorgung im Lande. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Hinzu kamen die auf sich selbst bezogenen kollektiven Traditionen der in den zaristischen Organismus integrierten Völker, die eine Dynamik der Selbstbestimmung innerhalb des Gesamtorganismus bildeten – wenn auch zweifellos nicht immer ohne Konflikte.

Die Modernisierungswellen gingen über das Land, ohne die Grundstruktur von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen; Veränderungen vollzogen sich letztlich als Revolutionen von oben, als Teilimport westlicher Elemente, aber immer nur mit dem Ergebnis der Auswechslung von Personen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin provozierte als Reformer den bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus.
Modernisierungsetappen: Stolypin, Lenin, Stalin…

In den Umwälzungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts prallten asiatische und europäische Produktionsweise in Gestalt des von Europa ausgehenden Imperialismus und der bäuerlichen Realität Russlands besonders hart aufeinander. Die Revolution von 1905, ebenso wie die von 1917 waren Ausdruck dieser Entwicklung. In seinem Feldzug gegen die Selbstgenügsamkeit der Obschtschina wollte Stolypin im vorrevolutionären Russland die Fortsetzung der von Peter I. begonnenen Industrialisierung erzwingen. Die Dorfgemeinschaften sollten in Wirtschaften privater Großbauern überführt werden, die „überflüssigen“ Mitglieder der Dorfgemeinschaft sollten als Arbeiter in die Städte gehen. Am „Stolypinschen Kragen“, wie der Strick des Galgens von der Bevölkerung damals getauft wurde, endeten tausende von Bauern, die dieser Politik nicht folgen wollten – aber ihr Opfer dokumentierte auch das Scheitern der Stolypinschen Politik.

Lenin wiederholte den Stolypinschen Ansatz zur Industrialisierung der Landwirtschaft – aber nicht durch Auflösung der Dorfgemeinschaften, sondern indem er sie – Sowchosen und Kolchosen (Staatswirtschaft und kollektive Wirtschaft) – zu staatlichen Grundeinheit des neuen Staatswesens erhob. Ihre Struktur wiederholte sich im sowjetischen Aufbau der Verwaltung. Lenins Sieg über den Zarismus lebte einerseits von seinem Versprechen, jedem Bauern ein Stück Land zu geben. Gleichzeitig leitete er die Verstaatlichung der Landwirtschaft ein; Stalin setzte sie gewaltsam fort und verwandelte die kollektive Tradition des Landes zugleich in einen allgemeinen Zwangskollektivismus auf dem Lande wie in der Industrie. Wer sich weigerte oder angeblich im Wege stand, wurde deportiert und liquidiert. Aus dem agrarischen Despotismus des Zarentums wurde so ein planmäßiger industrieller Despotismus. Enteignung der Bevölkerung von ihrer gewachsenen Gemeinschaftstradition könnte man diesen Vorgang nennen.

Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa nur einfach den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde.

Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele. Diese Konstellation, wie schon frühere Konstellationen der russischen Lebensweise, wäre auf langfristige Stabilität, in westlicher Diktion „Stagnation“, angelegt gewesen, wenn sie nicht – dies allerdings stärker als früher – mit dem europäischen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase zusammengestoßen wäre. So ergab sich eine Konfrontation von prinzipiellem Charakter und historischen Ausmaßen: Selbstversorgung, auch auf industriellem Gebiet gegen Selbstverwertung des Kapitals und Selbstgenügsamkeit gegen konsumistische Expansion.

Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: für die Entwicklungszyklen der russischen Produktionsweise gelten offensichtlich andere Regeln als die europäischen. Sie lassen sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: Zusammenbruch nach langer Stabilität, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht, Stagnation. Phase zwei: Eintritt einer „verwirrten Zeit“, russisch: Smuta. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses in der herrschenden Schicht unter Hinzunahme von einzelnen Elementen der europäischen/westlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt jedoch erhalten. So war es nach dem Tod Iwans Iv. , im Westen besser bekannt als Iwan der Schreckliche, so nach den großen Bauernaufständen im 16. und siebzehnten Jahrhundert, so nach Peter I., so nach dem 1. Weltkriegs und danach, so ist es heute.
Heute

Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 – gegliedert in mehrere Etappen, versteht sich, die hier nicht im Detail auszuführen sind – individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“) und „Glasnost“ waren nicht die Ursache für neue Initiativen, sie waren der Ausdruck, das grüne Licht für eine schon lange befahrene Straße, auf der sich der Verkehr bereits gefährlich staute. Nach dem 17. Juli 1953 in der DDR, dem Aufstand in Ungarn 1956, dem Bau der Mauer 1961 war der Prager Frühling 1968 schließlich ein unübersehbares Zeichen; er zeigte aber auch, dass die sowjetische Staatsbürokratie noch nicht reif für die Smuta war. Einen theoretischen Reflex auf diese Entwicklung konnte man 1977 in Rudolf Bahros „Alternative“ nachlesen; einen zweiten in der Sowjetunion selbst am Ende der 70er in den Untersuchungen der Nowosibirsker Schule unter ihrer Leiterin Tatjana Saslawskaja.

Das Auftreten Michail Gorbatschows Anfang der 80er Jahre signalisierte die Bereitschaft der Führung der KPdSU zu einer der in der russisch-sowjetischen Geschichte üblichen Reformen von oben: Perestroika zielte auf eine gelenkte Befreiung der herangewachsenen Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese insgesamt aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung dieser Ordnung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung, nicht um die Einführung einer privatwirtschaftlichen Ordnung, auch nicht um die Verwandlung des asiatischen Typs der Produktion in den europäisch-westlichen.

Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung und Privatisierung des Denkens und Wollens, sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem sich beschleunigenden allgemeinen Zerfall führte. Der Druck der Anpassung an die umgebende Welt war einfach zu groß, um ihn kanalisieren zu können, die technische Revolution der neu entstehenden globalen Kommunikationsstruktur als Einwirkung von außen nicht – von heute aus gesehen: noch nicht – wieder beherrschbar. Mittel der Abschottung und Kontrolle der neuen Medien waren noch nicht zur Hand. Man könnte sagen, die Moskauer Bürokratie wurde von der Computerisierung überrannt. Boris Jelzin und seine ganz an den äußeren Einflüssen orientierten Reformer waren der Ausdruck dieser Dynamik – die sich dann im Schockprogramm Luft machte, das die Umwälzung innerhalb von zwei Jahren schaffen wollte.
Putin

Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand und besteht, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Nicht Nachvollzug, nicht Übernahme der europäisch-westlichen Produktions- und Lebensweise ist der Inhalt der nach-sowjetischen und heutigen russischen Transformation, sondern die Effektivierung des bürokratischen Kapitalismus auf privatwirtschaftlicher Basis.

Was dabei bisher herausgekommen ist, ist keine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus mit der ihm immanenten Selbstverwertungslogik des Kapitals, auf keinen Fall nur ein Nachvollzug westlicher Muster, sondern die Entstehung eines bürokratischen Zentralismus, der westliche und die russische Gemeinschaftstradition zusammenführt, eine Entwicklung also, die Elemente der zentralistisch gelenkten gemeineigentümlichen Ordnung mit privateigentümlichen Freiheiten zu verbinden sucht – das, was man im Westen ohne viel Verständnis für die innere Struktur des Landes „gelenkte Demokratie“ nennt.

Ihre widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Angleichung an die Standards der WTO sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite; dem auf der anderen Seite steht die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht, Subventionen für die eigene Landwirtschaft beizubehalten und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung gegenüber. Klar gesprochen: Russland wird sich auch in Zukunft nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, weil es aus seiner Geschichte die doppelt begründete Autarkie mitbringt: die Unabhängigkeit in den natürlichen Ressourcen und die Tradition der Eigen- und Selbstversorgung in der Bevölkerung, und autonomer Völker in einem übergreifenden zentralisierten Organismus.

 

Internationale Kraftlinien
Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen. Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Eine direkte militärische Zerstörung Russlands, die mehr bewirken sollte als nur eine vorübergehende Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Kooperative Autonomie – eine mögliche Perspektive? Kritischer Blick auf das heute gültige und morgen mögliche anthropologische Menschenbild

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden
Bericht vom 48./49. „Forum integrierte Gesellschaft“ am Sonntag, 20. September 2015

Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis, mit dem Ziel kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt.

Thema:
Kooperative Autonomie – eine mögliche Perspektive?
Kritischer Blick auf das heute gültige und morgen mögliche anthropologische Menschenbild

Die Behandlung des Themas zog sich über zwei Treffen hin. Auch dieser Bericht kommt sehr spät. Ursache waren gesundheitliche Probleme des Veranstalters und Berichterstatters, darüber hinaus sind die Ergebnisse der Gespräche für nicht an ihnen Beteiligte nur schwer zu vermitteln; Beteiligte werden vieles vermissen, was auf dem Treffen angesprochen wurde.

Kurz gesagt, wir machten den Versuch, ausgehend von der gegenwärtigen Wahrnehmung unserer heutigen Gesellschaft auf das anthropologische Grundverständnis zu kommen, das den gesellschaftlichen Ereignissen und der Politik heute unterliegt – und darüber hinaus der Frage nachzugehen, wie sich dieses Verständnis im Lauf der Geschichte gebildet und gewandelt hat und wie es sich zukünftig wandeln könnte oder gar müsste, wenn die Menschheit sich selbst überleben will.

Das herrschende Grundverständnis der heutigen Zeit war schnell beschrieben: es ist das des „homo ökonomicus“ in seinen Spielarten des profitorientierten Produzenten, des konsumabhängigen Verbrauchers, einer den Menschen immer weiter einschränkenden wuchernden Technik usw.

Schwerer schon fiel es den Versammelten sich aus der Verklammerung der unterschiedlichsten Facetten dieser Realität den Ursachen dieses heute herrschenden Verständnisses zu nähern. Erst nach vielen Umwegen und tastenden Schritten in die Vergangenheit, die immer wieder in den Erscheinungsformen der heutigen Gefahren bis hin zu heftigen tagespolitischen Differenzen steckenblieben, gelang es den Übergang von dem zurückliegenden glaubensgeleiteten zum heutigen materialistischen Verständnis von Welt und Leben als Ursache zu erkennen.

Noch schwieriger wurde es, je tiefer die Versammelten sich auf den Sprossen der Geschichtsleiter abwärts tasteten – nicht nur hinter die Aufklärung, sondern auch hinter die Entstehung der monotheistischen Religionen, ja, noch hinter die Zeit der Vielgötterkulte zurück. Hat der Mensch sich gewandelt? Oder hat sich nur das Verständnis des Menschen vom Menschen gewandelt? Gibt es eine menschliche Konstante, die sich aus den ersten Tagen der Wahrnehmung des Menschen von sich selbst über alle Zeiten durchhält?

Findet in der heutigen Weltentwicklung das Daseinsgefühl von Urgesellschaften, in welcher der Mensch sich der Welt noch nicht trennend entgegengestellt sah, mit unserer hochwissenschaftlichen materialistischen Wissenschaft auf neuem Niveau zu einem neuen ganzheitlichen Seinsverständnis zusammen? Kann sich die ursprüngliche Eingebundenheit des Menschen in die ihn umgebende Welt mit den Erkenntnissen der Quantenforschung zu einer widersprüchlichen Einheit auf dem heutigen historischen Niveau verbinden, die uns erkennen lässt, dass die Reduzierung der Welt auf Materie ein Irrtum ist, dass Materie und Geist nur zwei Ansichten derselben Welt sind, in die wir – immer schon – eingebunden sind?

Hier endete das Gespräch in vorgeschrittener Zeit mit tausend offenen Fragen.
Zur weiteren Vertiefung in diese Fragen empfehlen wir drei Bücher:
• Hans Peter Dürr, Warum es ums Ganze geht?, oekom 2009
• Christina Kesser, Ich liebe also bin ich, Arbor Verlag, 2002
• Kai Ehlers, Die Kraft der `Überflüssigen´ Pahl Rugenstein, 2013 (über den Autor zu beziehen)

Das nächste Forum wird sich mit der Frage der „Flüchtlingskrise“ befassen.

Es findet statt am 15. 11.2015 am üblichen Ort um 16.00 Uhr
Helfer zum Herrichten des Versammlungsortes sind willkommen.

Bitte anmelden: info@kai-ehlers.de Tel: 040 64 789 791 mobil: 0170 27 32 482
Wer den Ort nicht kennt, bekommt ihn dann mitgeteilt. Und wie immer bitten wir darum eine Kleinigkeit (!) zum Knabbern mitzubringen.
Seid herzlich gegrüßt,
Kai Ehlers, Christoph Sträßner
Im Namen des Forums integrierte Gesellschaft

DEUTSCH – EUROPÄISCHE SCHWANENGESÄNGE: Der Tag als die Einsicht kam …

Deutsch-Europäische Schwanengesänge
Der Tag als die Einsicht kam …
Das muss man gelesen haben. Das reißt sogar Kranke vom Lager:
In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem deutschen Kampfblatt der EU-Kampagne gegen die „Bedrohung aus Russland“, vorgetragen von einem der schärfsten Vollstrecker dieses Kurses, Reinhard Veser, war am. Freitag, d. 25.09.2015 auf S. 10, unter der Überschrift „Eine Misserfolgsgeschichte – Ukraine-Konflikt und Flüchtlingskrise: Die EU formuliert ihre Nachbarschaftspolitik neu“ Folgendes zu lesen.Ich zitiere:

 

„Ich wünsche mir einen Ring von Freunden um die Europäische Union und ihre engsten Nachbarn herum, von Marokko bis Russland und zum Schwarzen Meer“, sagte der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi im Dezember 2002. Damals, kurz vor der Aufnahme der Staaten Ostmitteleuropas, begann die EU, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die Beziehungen zu ihren Nachbarn langfristig und systematisch gestalten könnte. Das Schlüsselwort von Prodis Rede war Stabilität: Die von der EU innerhalb ihrer Grenzen geschaffene Stabilität solle auf die benachbarten Regionen ausgedehnt werden. Es sollte freilich nicht eine beliebige Form der Stabilität sein, sondern eine, die aus der Förderung von Demokratie und Rechtsstaat, aus wirtschaftlicher und politischer Kooperation entsteht. Einigen Nachbarn wurde langfristig der EU-Beitritt in Aussicht gestellt, andere sollten so nahe wie möglich an sie herangeführt werden.
Heute ist die EU von so viel Instabilität umgeben wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Russland ist mehr Feind als Freund, in der Ukraine herrscht Krieg, die Türkei entfernt sich immer weiter von demokratischen Verhältnissen und schlittert in eine neue gewaltsame Eskalation des Konflikts mit den Kurden, aus den zerfallenden Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas strömen in bis vor kurzem unvorstellbaren Massen Flüchtlinge nach Europa – durch Balkanstaaten, in denen zwölf Jahre, nachdem ihnen feierlich eine Beitrittsperspektive eröffnet worden war, mehr Hoffnungslosigkeit als Fortschritt zu erkennen ist. Von den Zielen der Nachbarschaftspolitik wurde so gut wie keines erreicht. Die 2008 gegründete „Union für das Mittelmeer“ hat nie politische Bedeutung gewonnen. Das ist bei der im Jahr darauf ins Leben gerufenen „Östlichen Partnerschaft“ zwar ganz anders, doch mit Folgen, die nicht beabsichtigt waren: Russland verstand die Initiative als geopolitische Kriegserklärung – der Krieg in der Ukraine ist seine Antwort.

Angesichts dieser Bilanz wird in Brüssel derzeit an einem neuen Konzept für die Nachbarschaftspolitik gearbeitet, das im November vorgestellt werden soll. Ein von der Kommission im Frühjahr dazu veröffentlichtes Papier besteht vor allem aus vielen Fragen und einigen wenigen Erkenntnissen: Es sei eine „klarere Analyse der Interessen sowohl der EU als auch ihrer Partner“ nötig, außerdem müsse das Verhalten „der Nachbarn der Nachbarn“ bedacht werden.
Spricht man in Brüssel mit EU-Diplomaten, benennen sie bereitwillig vor allem eine Schwachstelle der bisherigen Nachbarschaftspolitik: Man habe zu wenig berücksichtigt, dass die potentiellen Partnerländer unterschiedliche Bedürfnisse haben, unterschiedlich entwickelt sind und verschiedene Grade und Formen der Annäherung an die EU wünschen. Das habe in diesen Ländern zu dem Eindruck geführt, dass es sich weniger um eine Partnerschaft als vielmehr um eine einseitige Beziehung handle, in der die EU Vorgaben mache – und das obwohl die EU, so ein ranghoher Diplomat, ihre eigenen Interessen eigentlich zu zurückhaltend verfolgt habe. Auch das soll sich ändern: Die Formulierung der eigenen Interessen soll künftig in der Nachbarschaftspolitik mehr Raum einnehmen. Ein Beispiel dafür liegt angesichts der Flüchtlingskrise auf der Hand – die Sicherung der Außengrenzen.

So versuchen manche EU-Diplomaten noch immer, die russische Wahrnehmung, die „Östliche Partnerschaft“ diene der Schaffung einer gegen Russland gerichteten westlichen Einflusszone, mit dem Mantra wegzubeten, sie sei gegen niemanden gerichtet. Doch das wird nicht nur im Kreml niemanden überzeugen, sondern geht auch an der osteuropäischen Wirklichkeit vorbei, denn sowohl in Georgien, Moldau und der Ukraine als auch in den baltischen Staaten und Polen wird die „Östliche Partnerschaft“ sehr wohl als Mittel zur Zurückdrängung des russischen Einflusses betrachtet.
Eher hilflos wirken auch die Erklärungen, mit welchen Mitteln den Nachbarn geholfen werden soll, auf dem rechten Pfad von Demokratie und Marktwirtschaft voranzuschreiten. In Brüssel weiß man sehr wohl, dass die bisherigen Aktionspläne zur Förderung von Reformen an einer harten Realität gescheitert sind, in der Korruption, Klientelismus und eine politische Kultur vorherrschen, in der Kompromisse als Zeichen von Schwäche verstanden werden. Dass die europäischen Kooperationsprogramme nur ineffizient sind, wie auf dem Balkan, ist dabei nicht der schlimmste Fall. In der Republik Moldau etwa erscheint die EU heute in den Augen vieler Bürger als Komplize korrupter Seilschaften, die in den vergangenen Jahren im Gewand „proeuropäischer“ Parteien auftraten: Auf dem Papier trieben sie viele Reformen voran und wurden dafür von Brüssel gelobt, während sie gleichzeitig die staatlichen Institutionen unter sich aufteilten und als Privateigentum behandelten und die Banken des Landes ausplünderten. Sollte die Ukraine nicht an der russischen Aggression, sondern wie nach der orange Revolution an den eigenen Eliten scheitern, besteht die Gefahr, dass sich dieser Ansehensverlust der EU in einem viel größeren Maßstab wiederholt.

Allerdings steht die EU auch vor einem kaum lösbaren Dilemma: Sie muss mit den in diesen Ländern vorhandenen Kräften zusammenarbeiten, wenn sie überhaupt etwas tun will – und dass sie im eigenen Interesse wenigstens versuchen muss, die Nachbarschaft zu stabilisieren und wirtschaftlich und politisch voranzubringen, ist unbestreitbar. Die dürftigen Ergebnisse von gut zehn Jahren Nachbarschaftspolitik selbst in kleinen europäischen Ländern zeigen indes, dass die Chancen, Fluchtursachen in den arabischen Bürgerkriegsstaaten oder in Afrika wirksam zu bekämpfen, nicht besonders groß sind.

Über allem der Leitkommentar des Tages
unter der Überschrift „Applaus aus Moskau“
Vorausgegangen war der aktuellen Ausgabe der FAZ vom 25.09.2015 eine Erklärung der Bundeskanzlerin Merkel bei dem aktuellen Gipfeltreffen der EU in Brüssel in der Nacht vom 24.09. auf Donnerstag, den 25. Und tags darauf die Regierungserklärung in Berlin, dass angesichts der „Flüchtlingskrise“ nicht nur über deren Integration, auch nicht nur über deren Eindämmung nachgedacht, sondern auch mit Assad gesprochen werden müsse.
Die Bundeskanzlerin, habe in ihrer Regierungserklärung viele Punkte genannt, an denen die Politik des Westens ansetzen müsse, wenn er nicht von den Millionen Flüchtlingen überrannt werden wolle, heißt in dem Kommentar der in der gleichen Printausgabe erschien, in dem auch Vesers „Misserfolgsschichte“ zu lesen ist.
In der von mir gelesenen FAZ-Printausgabe hat der Kommentar von Berthold Kohler den Titel „Applaus aus Moskau“.
Den Kommentar zu diesem Schwanengesang wird die Wirklichkeit schreiben.

Pressefassung bei russland.ru

Dort lesen unter dem Stichwort: Analysen, Hintergründe:

Kai Ehlers: Deutsch-Europäische Schwanengesänge …

 

Videovortrag: Globaler Maidan – Kampf um globale Menschenrechte

Liebe Besucherinnen, liebe Besucher dieser Seite.

Der oben genannte Vortrag zum „Globalen Maidan“ wurde von mir am 28.05.2015 auf Einladung der Initiative „artikel20gg“ in Berlin gehalten. Wegen seiner Aktualität, die man geradezu beängstigend nachhaltig nennen könnte, stelle ich ihn hier als ersten Beitrag nach meiner Rückkehr von meiner Sommerreise durch Russland noch einmal auf die Eingangsseite meiner WEB: Dialogverweigerung in der Ukraine, Druck auf Griechenland, „Überflüssige“, die nach Europa strömen… Suche nach Alternativen – als wäre das alles erst gestern gesprochen worden.

Zwei Teile: Vortrag und für Menschen mit Geduld Antworten in der anschließenden Diskussion. Über Rückmeldungen würde ich mich freuen.

http://artikel20gg.de/video/05-Ehlers.htm

 

Jefim Berschin, Kai Ehlers – Gespräch zur Lage in der Dnesterrepublik

Im Juli erklärte der ukrainische Präsident Poroschenko den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnesterrepublik „lösen“ zu wollen. Seitdem ist „Prednestrowien“ (so im Russischen) als neuer Krisenherd, der den ukrainischen Konlikt um eine gefährliche Dimension erweitert, ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Bei seinem Aufenthalt in Russland führte Kai Ehlers ein Gespräch mit Jefim Berschin über die Lage in der „Dnjesterrepublik“. Jefim Berschin wurde dort geboren, hat als Journalist der „Literaturnaja Gasjeta“ an den Kämpfen teilgenommen, die 1991/2 zur Abspaltung dieses Gebietes von Moldawien geführt haben. Er lebt heute als Journalist, Schriftsteller und Poet in Moskau. Das Gespräch wurde in Tarussa (kleine Stadt 200 Kilometer südlich von Moskau, im Sommergarten des dort wohnenden Herausgebers der Internetueitung „russland.ru“ Gunnar Jütte, geführt.

Das Gespräch kann russisch und deutsch gehört werden, es findet in simultaner Übersetzung statt.

http://www.russland.ru/sommergespraech-ueber-moldawien-video/

 

Sommergespräch über Russland in Tarussa: Rückblick und Ausblick

Hallo allerseits! Ich bin wieder einmal in Russland unterwegs.

Im Folgenden können Sie sich in ein Gespräch einklinken, das der Herausgeber der Internetzeitung russland.ru und ich in seinem Wohnort in Tarussa geführt haben. Das Gespräch beginnt mit einer Rückschau auf touristische Annäherungen an Russland noch vor Perestroika und endet bei der Frage, warum die Sanktionspolitik desWestens Russland nicht wird in die Knie zwingen können. Nachfolgend das mit mir geführte Sommergespräch in Tarussa als Video:

Dazu die beiden erwähnten Bücher:

  • Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer – bestellen
  • Kai Ehlers, Jenseits von Moskau, 186 und eine Geschichte von der inneren Kolonisierungn- bestellen

Ein Wort zu Europa: Ethnologische Korrekturen …

Aus gegebenem Anlaß:

Auszug aus meinem Buch: „Die Kraft der Überflüssigen“

Sicher wird die Welt auch an sieben, acht oder neun Milliarden Menschen nicht ersticken – aber sie wird sich anders organisieren müssen – und nicht nur müssen, sondern auch können. Der Zuwachs der Millionen führt zur Erschütterung autokratischer und totalitärer Strukturen. Etablierte, vom Westen gestützte Diktatoren müssen dem Ansturm junger Menschen weichen, die an den Reichtümern der Erde teilhaben und ihre Vorstellungen eines selbstbestimmten, menschenwürdigen Lebens verwirklichen wollen.

Diese Kräfte sind nicht mehr unter den bisherigen Deckeln zu halten. Ein einziger Blick auf die gegenwärtigen Unruhen in den arabischen Staaten könnte schon reichen, das zu erkennen. Dazu kommen noch, wie wir wissen und wie sich jeden Tag in wachsendem Maße aufs Neue bestätigt, Impulse in China, Indien, Pakistan, Iran usw. bis hin zu den afrikanischen Völkern.

Die verzerrte Bevölkerungsstruktur kommt in Bewegung, die sich im Laufe der letzten 500 Jahre herausgebildet hat, seit Europäer sich im Zuge der Kolonisierung der Welt durch europäische Staaten über alle Kontinente so ausgebreitet haben, daß sie am Anfang des 20. Jahrhunderts die zu der Zeit besiedelbare Welt unter sich aufgeteilt hatten. Continue reading “Ein Wort zu Europa: Ethnologische Korrekturen …” »

Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen

Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.

Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen. Continue reading “Notizen zum Tage – und auf ein paar Tage voraus. Ukraine, Griechenland und die möglichen Folgen” »

Einladung In die Welt des Labyrinthes

Liebe Freundinnen, Freunde, Interessierte

In einer Zeit extremer Wandlungen wächst der Bedarf nach Orientierung. Wir brauchen einen  emotionalen und geistigen Kompass. Das Labyrinth ist ein solcher Kompass. Weit entfernt davon ein Irrgarten zu sein, ist es ist das genaue Gegenstück dazu – ein Wegweiser durch das Chaos, ein Schlüssel für den Zugang zu sich selbst und ein Helfer für die Lösung von Knoten. Das Labyrinth kennt nur einen Weg hinein und denselben wieder hinaus. Dieser Weg vollzieht sich allerdings nach festen Regeln in beständigem Wandel. Die Gesetze der Wandlungen kennen zu lernen, nach denen sich dieser Weg entwickelt,  sich in ihrer Anwendung zu üben und für Entwicklung des eigenen Lebensweges, als Hilfe für die Lösung von Problemknoten und als Denkhilfe nutzbar zu machen, ist Sinn und Zweck der Seminare zum und mit dem Labyrinth, zu dem ich Euch einlade.

Ein Grundkurs vom 18. – 20.09.2015 wendet sich an alle, vor allem auch diejenigen, die zu den früheren Terminen Interesse bekundet haben, aber nicht dabei sein konnten.

Achtung:

Die angekündigten Folgeseminare sind auf unbestimmte Zeit verschoben.

Anmeldungen ab sofort. 

Einzelheiten im Anschluss unter Weiterlesen Continue reading “Einladung In die Welt des Labyrinthes” »

Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?

Das Aktuelle ist schnell benannt: der ukrainische Präsident Poroschenko möchte zusammen mit dem rumänischen Präsidenten Johannis den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnjesterrepublik (Transnistrien) auftauen, „damit ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität wiedererlangen und Transnistrien re-integrieren kann.“ Er will damit zugleich die von ihm immer wieder beschworene territoriale Einheit der Ukraine wiederherstellen, versteht sich.

Wenige Tage vor dieser Ankündigung hatte Poroschenko den ehemaligen Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, bekannt für seinen provokativen Kriegskurs gegen Russland 2008, als dessen Ergebnis die Enklaven Südossetien und Abchasien zurückblieben, zum Gouverneur des Bezirks Odessa ernannt. „Ich kam nach Odessa, um Krieg zu verhindern“, erklärte Saakaschwili in einem Interview der Deutschen Tagesschau vor wenigen Tagen, konnte sich aber nicht bremsen, sofort dazu zu setzen: „Es gibt den klaren Plan Russlands, die Region zu zerstören.“ ‚Krieg verhindern‘, das heißt für Saakaschwili also unmissverständlich, Russlands ‚klaren Plan‘ zu verhindern. Continue reading “Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?” »