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Deutschland – Neutral zwischen Ost und West. Unfertige Gedanken zum Mitdenken

Es wird Zeit, sich darauf zu besinnen, dass Neutralität die einzige sinnvolle Lehre aus den beiden Weltkriegen sein kann, die beide Male von deutschem Boden ausgingen, deren Folgen auch in unserem Land bis zum heutigen Tag noch spürbar sind.

Neutralität muss heute Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen deutscher Politik sein, damit Deutschland nicht ein drittes Mal zum Schauplatz der Konfliktaustragung zwischen  Ost und West im globalisierten Rahmen wird. Denn in Deutschland läuft – historisch gewachsen – die Scheide zwischen Ost und West.

Deutschland ist nicht Ost, Deutschland ist nicht West; Deutschland ist Mitte zwischen Ost und West. Deutschland hat intensivste Bindungen an Russland und den ganzen russischen Raum, den ganzen östlichen Raum, und Deutschland hat intensivste Bindungen an den westlichen Raum, insofern der westliche Raum, der angelsächsisch-amerikanische zu großen Teilen auch aus der mitteleuropäischen, nicht zuletzt auch aus der deutschen Entwicklung hervorgegangen ist.

Das alles gilt, wenngleich sich der amerikanische Raum selbstständig gemacht, die europäische Kultur hinter sich gelassen und sich extrem veräußerlicht hat. Auch der russische Raum hat seine europäischen Wurzeln hinter sich gelassen und sich auf einen eigenen Entwicklungsweg gemacht. Die Gefahr besteht, dass diese beiden polaren Tendenzen wieder einmal aufeinanderprallen, wie eben erst in der jüngsten Geschichte, jetzt noch verstärkt durch das chinesische, das asiatische Element im Osten und – wie es sich in letzter Zeit andeutet – durch das arabische Element auf ‚westlicher‘, genauer, das saudi-arabische auf amerikanischer Seite.

Wenn sich diese Frontlinie weiter entwickelt, wie gegenwärtig zu befürchten, wenn sie sich sogar verfestigt, dann geht die Welt, konkret Europa, Mitteleuropa, noch konkreter Deutschland einer ganz schweren Zeit entgegen. Sehr unwahrscheinlich ist jedenfalls beim Stand des gegenwärtigen Aufmarsches an den russischen Grenzen, speziell der Stationierung von NATO-Schalt- und Kommandostellen in Deutschland, dass die ballistischen Flüge den kurzen Weg über den Pazifik, statt, wie in der ‚Sicherheits‘-Planung der NATO angelegt, über den Atlantik nehmen.

Selbstverständlich ist eine Neutralität Deutschlands, glaubt man der herrschenden Politik, heute ganz und gar unrealistisch, nachdem sie in den Jahren nach 1945 durch die Alliierten erfolgreich verhindert wurde  Die Anbindung Deutschlands an das atlantische Bündnis gilt den atlantischen Planern heute als ‚alternativlos‘, um die ‚Sicherheit‘ Europas und Deutschlands zu garantieren. Tatsächlich erweist sich dieser ‚Realismus‘ aber als ganz und gar unrealistisch, um nicht zu sagen, als gigantische Lüge, wenn es darum geht, eine friedliche Zukunft Europas und darin Deutschlands zu sichern, wenn man sieht, wie eben diese ‚realistischen‘ Verhältnisse auf eine neuerliche Zuspitzung des Ost-West Konfliktes zulaufen, wenn man sieht, wie die Europäische Union, halb als Vasall, halb als Avantgarde der strauchelnden ‚einzigen Weltmacht‘ wieder zur Weltgeltung spurtet, und, mit einem Deutschland als Kern darin, schnurstracks auf die nächste große Konfrontation zusteuert.

So gesehen erweist sich der herrschende ‚Realismus‘ als Wahn, der Deutschland direkt in die nächste Katastrophe zu führen droht.  Eine realistische Perspektive, die diesen Namen  verdient, kann allein in der Entwicklung eines Deutschland liegen, das sich von einseitigen Bündniszwängen löst und stattdessen als neutrale  Mitte seine ganze Kraft in die Auflösung der kriegstreibenden Polaritäten legt.

‚Seine ganze Kraft‘, damit ist selbstverständlich nicht nur Deutschlands ökonomische Potenz als ‚Exportweltmeister‘ und Finanzier der Europäischen Union, schon gar nicht, versteht sich, seine militärische Stärke, gemeint, sondern sein nachimperialer, nachfaschistischer, demokratischer Kulturimpuls, der in der Welt heute, zunehmenden Einschränkungen zum Trotz, immer noch Seinesgleichen sucht. Diesen Impuls gilt es zu schützen, zu fördern und zum Wohl einer sich herausbildenden neuen Völkerordnung wirken zu lassen, in deren Aufgabenbuch die Förderung der Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen in kooperativer Gemeinschaft mit dem Blick auf das Ganze der heutigen Welt steht – unabhängig von ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschieden.  

Also noch einmal: Die Entwicklung der Idee der Neutralität als Raum zur Förderung gegenseitiger Hilfe ist das, was in Deutschland heute zu allererst angegangen werden muss, wenn wir die Chance haben wollen, den Übergang aus der unipolaren in eine multipolare Welt gestärkt zu überleben.

 

Kai Ehlers, 10.04.2018

www.kai-ehlers.de

 

 

Solidarität? Achtung: Begriffsvergiftung

Dass zu den Vorfällen in Salisbury bisher keine Beweise vorliegen, weder in die eine, noch in die andere, noch in eine dritte Richtung ist eine Tatsache, die von niemandem bestritten wird – selbst nicht in den sklavischsten Ausgaben der Mainstreamorgane.

Nehmen wir als Beispiel das mediale Sprachrohr der deutschen Bundesregierung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ: In ihrem Kommentar zu den Ausweisungen russischer Diplomaten lässt sie Peter Sturm unter der Überschrift „Aktive Solidarität“ schreiben:  

„Zwar weiß die Öffentlichkeit weiterhin nicht, was genau die britische Premierministerin  beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche  zum Vergiftungsfall Skripal vorgelegt hat. Aber wäre es unplausibel gewesen, hätte zumindest die Bundesregierung  nicht so reagiert, wie sie es getan hat“.

Als Begründung folgt: Als Scharfmacher in der Politik gegenüber Russland habe sich Berlin nie betätigt, trotz Cyberangriff auf deutsche Regierungscomputer, der „mutmaßlich“ ebenso von Russland ausgegangen sei wie der Mordanschlag in Großbritannien, wisse die Bundesregierung vielmehr zu differenzieren.

„Warum auch nicht?“, fragt die FAZ großzügig: „Die russische Führung war bei ihren Versuchen, EU und NATO zu schwächen, in den vergangenen Jahren recht erfolgreich. Diese Erfolge sind einigen  in Moskau offenbar zu Kopfe gestiegen, was zu immer waghalsigeren Manövern  beigetragen haben mag. Die Ausweisungen signalisieren jetzt, dass Moskau die Schraube zu weit gedreht hat. Dies muss Präsident Putin irgendjemand in aller Ruhe und in aller Deutlichkeit klar machen. Angela Merkel und Emmanuel Macron könnten dies. Sie könnten Putin bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass er sich im Sommer  im Glanz  eines Fußballfestes sonnen möchte, dass aber die Frage erlaubt sein muss, ob man sich als Gast in Russland sicher fühlen kann, wenn schon im Ausland  Dinge wie der Anschlag in Salisbury passieren.“

So what? Alles nur eine pädagogische Maßnahme, um  eine weitere West-Erweiterung Russlands abzuwenden, alles nur Sorge um die Sicherheit gefährdeter Fussbalfans?

Man muss fragen, wie lange unsere Gesellschaft das Gift von Salisbury noch  schlucken will.  

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Europa ohne Russland? Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem zeitgemäßen Problem.

Kann es Europa ohne Russland geben? Die politischen Ereignisse der letzten Zeit, in der sich Europa und Russland immer weiter voneinander zu entfernen scheinen, lassen solche Fragen, die nach der „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ durch Michail Gorbatschow ganz unvorstellbar schienen, inzwischen immer drängender in den Raum treten. Aber so sehr die Frage sich inzwischen aufdrängt, so wenig ist sie mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten – nicht heute und bei genauem Hinsehen auch früher nicht.

Die europäische Politik hat Russland, wie schon mehrmals zuvor in der Geschichte, wieder zum Feindbild aufgebaut.  Putin wird als neuer Hitler, Russland insgesamt als unberechenbar hingestellt. Europa müsse vor russischen Aggressionen geschützt werden. Zugleich erklären europäische Politiker die Zusammenarbeit mit Russland für unerlässlich, schon aus ökonomischen Gründen, heißt es, aber selbstverständlich zu „unseren Bedingungen“. Mit Sanktionen und dem Aufbau militärischer Stärke möchte man Russland gefügig machen.    

Antworten, die man aus alltäglichen Gesprächen erhalten kann, sind ebenso widersprüchlich: „Europa ohne Russland? – das wäre doch wie Kopf  ohne Herz!“, sagen die einen, andere fühlen sich von Russland bedroht: 44% der Deutschen sind nach aktuellen Umfragen für restriktive Maßnahmen gegen Russland, 67% vertrauen Putins Russland nicht mehr. Die gleichen Befragten wünschen sich ein normales, friedliches Verhältnis zu Russland.

Kurz, die Beziehung Europas, speziell auch Deutschlands zu Russland sind durch und durch ambivalent. Gerade in der Ambivalenz liegt jedoch die Aufforderung  genauer hinzuschauen, ob Europa und Russland zu trennen sind oder ob nicht und welche Bedeutung ihre Beziehung zueinander für den Lauf der globalen Dinge heute hat.

 

Wovon reden wir?

 Zunächst ist zu klären: Was ist Europa? Was ist Russland? In welchem Umfeld steht ihre Beziehung zueinander oder gegeneinander heute?

Schauen wir als Erstes auf die Landkarte; da sehen wir, allem voran, die Botschaft, welche die Erde selbst gibt: Hier Europas Klein- und Vielgliedrigkeit als Appendix Eurasiens, dort Russlands schier unbegrenzt erscheinende kompakte Weite der eurasischen Landmasse.

Sodann: Wenn wir von Europa sprechen, sprechen wir natürlich nicht nur von der Europäischen Union.  Europa ist mehr als die Europäische Union. Europa, in seiner Gewordenheit und in seinem Werden umfasst auch Länder auf dem europäischen Kontinent, die nicht der Europäischen Union angehören, sehr wohl aber dem europäischen Kulturraum. Das betrifft Sprachen, Lebensart, Kunst, Religion und Geschichte. Das sind Länder auf dem Balkan, auf dem Kaukasus und eben auch Russland, zumindest Teile Russlands bis zum Ural.  

Offen ist auch, wie lange die Europäische Union in der heutigen Konstellation zusammen bleiben wird, ob, wie und wann sie sich möglicherweise in Kern- und Randbereiche neu gliedert, welche Rolle Mitteleuropa, konkret Deutschland in einem zukünftigen Europa zukommt.

Russland andererseits ist nicht einfach ein Teil Europas. Russland ist zwar geografisch – auch ökonomisch – nicht von Europa zu trennen, lässt sich jedoch seinerseits in seiner Gewordenheit und seinem Werden nicht auf Europa, auch wenn man es nur bis zum Ural betrachten wollte, schon gar nicht auf die Europäische Union reduzieren. Russland ist nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sogar ethnisch Teil Asiens, genau genommen ist Russland das Gebiet, die Kultur, die Realität zwischen Europa und Asien. Bildlich gesprochen: Russland kann man als Zwischenraum, Europa als Rand definieren.

Zusammen bilden Europa und Russland aber nicht nur einen untrennbaren geografischen Zusammenhang; sie sind auch nicht nur ökonomisch eng miteinander verbunden, im Kürzel gesagt: russisches Öl gegen europäisches Know how, sie bilden darüber hinaus miteinander auch den geopolitischen Raum, von dem aus die heutige Welt über eine Zeitspanne von 2000 Jahren christianisiert, kultiviert, zivilisiert und schließlich kolonisiert  wurde – arbeitsteilig, um es salopp, gleichberechtigt, um es provokativ zu formulieren: Europa als der ‚Nabel der Welt‘, Russland als das ‚Herzland‘ Eurasiens.

 

Koloniale Arbeitsteilung…

In dieser historischen Arbeitsteilung gibt es jedoch einen entscheidenden Punkt zu beachten, der Europa und Russland auf widersprüchliche Art trennt und zugleich verbindet: Heimat vieler Völker sind beide Räume, Russland als umfassender Vielvölkerorganismus in den Weiten Eurasiens, Europa als Pluralität von Staaten auf engstem Raum, aber:

  • Von Europa aus wurde die ganze Welt kolonisiert – bis auf Russland, das sich als einziges Gebiet der Erde der von Europa ausgehenden Kolonisierung bis heute immer wieder entziehen konnte.
  • Russland andererseits machte durch seine, zwar oft unterbrochene, aber unaufhaltsame Expansion im Eurasischen Raum bis hin zur Sowjetunion jegliche Kolonisierung des eurasischen Massivs durch Europa unmöglich.

Diese Konstellation schloss wechselseitige Übergriffe von Westen nach Osten und von Osten nach Westen selbstverständlich nicht aus, bedingte sie in nicht geringem Maße sogar.

Das sind von Westen nach Osten:

  • die deutsche Ostkolonisation um 1000 n. Chr.,
  • die Gründung des Deutschen Ritterordens in Livland im selben Zeitraum,
  • das Ausgreifen Polen-Litauens nach Süden nach dem Tod Iwan IV. 1584 ff,
  • die aufeinander folgenden Versuche Gustav Adolfs, danach Napoleons, Hitlers, der deutschen Wehrmacht Russland zu unterwerfen,
  • die Förderung der Oktober-Revolution durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und seine Gruppe im plombierten Wagen nach Russland einschleuste,
  • Und neuerdings die US-geführten Versuche des NATO-Westens, Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion klein zu halten – siehe Ukraine.

Von Osten nach Westen sind es:

  • die Zerschlagung Nowgorods, das als Mitglied der norddeutschen Hanse westorientiert, tendenziell sogar offen für die Reformation war, durch Iwan III./IV.,
  • die Vertreibung des Deutschen Ritterordens aus Livland durch Iwan IV.,
  • die politischen Übergriffe nach Westeuropa durch Alexander I. , der sich nach der Niederlage Napoleons als „Retter des christlichen Abendlandes“ verstand
  • und schließlich die Besetzung Ost-Europas und Ostdeutschlands durch die Sowjetunion.

In dieser Dichotomie zweier unaufhaltsam expandierender dominanter Kräfte gingen Europa und Russland als miteinander zu einem unlösbaren Konflikt verwachsene und zugleich zu unausweichlicher Kooperation verurteilte Zwillingsbrüder durch die Geschichte.

 

…bei diametral entgegensetzten Paradigmen

In der Art, WIE die Expansion vor sich ging, unterschieden sich Europa und Russland jedoch in diametraler Weise voneinander:

  • Europa expandierte in einem Prozess des Differenzierens, des Pluralisierens, des beständig um die Vormacht auf kleinstem Raum miteinander Kämpfens, der Konkurrenz, letztlich in einem sich steigernden Prozess der Individualisierung, der individuellen Emanzipation, im Kern eines tiefen, wenn auch produktiven Egoismus. Europa trug diesen Prozess als ununterbrochenen Krieg in die ganze Welt hinaus, vielsprachig, in ständiger Veränderung, ohne dauerndes Zentrum.
  • Russland expandierte nach dem Prinzip des Sammelns, des Zusammenführens, des Integrierens und Kollektivierens, der Vielfalt unter dem Dach einer Sprache, der Bildung von Gemeinschaftstraditionen unter einem autoritären Zentrum, Moskau. Das heißt nicht, dass die russische Expansion im Gegensatz zur europäischen gewaltlos vor sich gegangen wäre; es haben sich in der Geschichte nur zwei ganz unterschiedliche Prinzipien der Kolonisierung verwirklicht, deren Wirkung bis heute anhält: Integration im russischen Raum – Desintegration in Europa und von dort ausgehend in der Welt.

 

Geschichtliche Spurensuche

Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung? Paradox gefragt: Wo liegen die Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Entwicklung, die entgegengesetzter nicht verlaufen konnte? Welche Dynamik liegt heute noch darin?

Mit Hinweisen auf tagespolitische Ereignisse sind kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen zu gewinnen – Merkel, Macron, Putin, Poroschenko, Trump sind eher Getriebene als Treiber. Zu zeitgebunden sind die aktuellen politischen Manöver,  zu verschleiert die Motive der aktuellen Feind- oder Freunderklärungen, zu verwirrend die wechselnden Täuschungsmanöver im gegenwärtigen Des-Informationskrieg.

Auch aus der Ökonomie, die heute unter Schlagworten wie ‚Wachstum‘, ‚Fortschritt‘, ‚Konsumgesellschaft‘ etc. als der große zivilisatorische Gleichmacher rund um den Globus in den Vordergrund gerückt ist, der gewachsene kulturelle, religiöse und geistige  Unterschiede zunehmend nivelliert  und durch die Gemeinschaft williger Konsumenten ersetzt, lassen sich kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen gewinnen,

Der Blick muss tiefer, tief in die Geschichte gehen, um erkennen zu können, wie aus einem ursprünglich gemeinsamen Kulturstromstrom – indogermanisch-griechisch-römisch-christlich – die systemgeteilte Welt des 20. Jahrhunderts und nach deren vorübergehendem Übergang in die US-dominierte Globalisierung die sich heute andeutende erneute Ost-West-Teilung hervorgehen konnte und wo die Möglichkeiten der Überwindung dieser Dualität liegen.  

 

Mesopotamien – Wiege Europas

Beginnen wir ganz klassisch mit der Entführung Europas durch Zeus von den Stränden Phöniziens, erzählt aus griechischer Sicht zum ersten Mal von Homer ca. 800 vor unserer Zeitrechnung: Europa wurde die Mutter einer neuen, noch unentdeckten Welt.

Von Europas Landung an der kretischen Küste führt der Weg geradewegs durch die griechische Geschichte, ab 146 v. Chr. in die römische, von da durch die Zeitenwende, die von Christi Geburt, von der Geburt des Christentums in Palästina markiert wird, weiter über die Jahrhunderte der Christenverfolgung in Rom, bis das Christentum im Jahr 380 n. Chr. zur römischen Staatskirche ausgerufen wurde.

Über die ganze, sich über mehr als 500 Jahre  erstreckende Zeit dieser griechisch-römischen Geschichte zieht noch ein einheitlicher kultureller Strom ins frühe Europa.

 

Teilung der römischen Welt

Mit der Teilung Roms in Ostrom – Westrom im Jahr 395 n. Chr. setzt die unterschiedliche Entwicklung des europäischen Siedlungsraumes in ein östliches und ein westliches Europa ein. Ost-Rom, unter dem Namen Byzanz, später Konstantinopel wird zur Feste Europas, West-Rom zerfällt unter dem Ansturm germanischer Stämme  und hunnischer Reiterheere aus dem Inneren Asiens –  man erinnert sich an die Daten der Völkerwanderung: 410 n. Chr. Alarich vor Rom, 450 n. Chr. Attila vor Byzanz und vor Rom. Der Zerfall Roms setzt getrennte Reichsbildungsprozesse im Osten und im Westen Europas in Gang.

Als drittes Element neben den beiden christlichen Strömungen kommen die Wikingischen Handelskrieger hinzu, die im Osten entlang der Flüsse nach Süden bis Byzanz ziehen, im Westen vom Meer aus in die Küstengebiete eindringen. Die Gründung der Kiewer Rus durch den Wikinger Rurik 882 n. Chr., die Reichsbildungskriege der Karolinger im achten und neunten Jahrhundert, die ganz eigene Entwicklung der angelsächsisch-dänischen Besiedlung des heutigen England fallen in diese Zeit erster Differenzierungen des ursprünglichen mesopotamischen Kulturstroms.

Mit der Übernahme des orthodoxen Christentums durch den Fürsten Wladimir von Kiew im Jahr 988 n. Chr. bindet die Kiewer RUS sich an Byzanz. Mit diesem Schritt nimmt das Auseinanderdriften der religiösen Sphäre in Ost- und Westeuropa an Deutlichkeit zu. England geht zudem seinen eigenen Weg. Kiew bleibt aber zu der Zeit noch Handelsdurchgang von Osten nach Westen, unterhält auch noch höfische Beziehungen zu den französischen und anderen westlichen Fürstenhäusern.

 

Das Schisma:

Differenzierung im Westen…

Mit dem Schisma, der großen Kirchenspaltung von 1064 n. Chr., wird das Auseinanderdriften Europas auf einen oströmischen und einen weströmischen Entwicklungsweg manifest. Die Patriarchen von Byzanz und Rom exkommunizieren sich gegenseitig. Byzanz versteht sich als Hüter der Einheit von Staat und Kirche, betrachtet Rom als abtrünnig vom wahren Glauben. Roms Entwicklung führt dagegen sehr schnell auf einen dreigeteilten gesellschaftlichen Weg, der die differenzierte Zukunft des westlich Europa vorzeichnet, den politischen Bereich der Reiche und Staaten, den religiösen Bereich und eine unabhängige Philosophie und Wissenschaft.

 Ausgesuchte prägnante Daten mögen das verdeutlichen:

  • Nahezu zeitgleich zur Spaltung von Ost- und Westkirche setzen die von Rom ausgehenden Kreuzzüge ein – erster Kreuzzug 1095 n.Chr. Die Züge wenden sich, was heute kaum erinnert wird, auch gegen die Ostkirche. Die Ritter des 4. Kreuzzuges erobern sogar Byzanz. Als die Türken 1443 Byzanz belagern, kommt den Byzantinern aus dem Westen Europas keine Hilfe zu. Dieses Ereignis  treibt die Spaltung zwischen den Kirchen tief ins Unterbewusstsein der orthodoxen Bevölkerung, die sich vom Westen verraten fühlt.
  • Der Gang König Heinrich IV. nach Canossa 1076 n.Chr., mit dem er Papst Gregor VII. zwingt, die Bannbulle gegen ihn aufzuheben, besiegelt die Spaltung von Staat und römischer Kirche.
  • Dem großen Ost-West-Schisma folgt das kleine Schisma zwischen Rom und Avignon von 1378 bis 1417; in der Mitte des 15. Jahrhunderts erhebt sich noch ein weiterer Gegenpapst, dazu diverse Gegenbischöfe.
  • In den Klöstern entwickelt sich mit der scholastischen Philosophie das Bestreben, Religion rational zu begründen.
  • Nicht unerwähnt bleiben darf die Gegenbewegung der Inquisition, die Spaltungen und Abweichungen in Angelegenheiten des Glaubens als Häresien mit Folter und Tod einzudämmen versucht.  

Nur kursorisch benannt seien die bekanntesten Stationen der weiteren Differenzierung der westlichen Entwicklung:

  • die ‚Entdeckung Amerikas‘ durch Kolumbus 1492, die diesen Kontinent an Europa heranzieht,
  • die Renaissance im 15. Und 16. Jahrhundert,
  • die Konfessionalisierung der Westkirche durch Luther, Zwingli und Calvin,
  • der Dreißigjährige Krieg 1618 – 1648,
  • die Aufklärung ab 1700,
  • die Französische Revolution 1789 – 1799,
  • die Entstehung europäischer Nationalstaaten in der Folge der Revolution, durch Napoleon forciert.

Von der Neuzeit soll später gesprochen werden.

 

Ganz anders im Osten:

Das „Sammeln der russischen Erde“

Byzanz verschloss sich einer Entwicklung, wie sie von Rom ausging.  Im byzantinischen Raum, wie er sich im Kiew Wladimirs fortsetzte, entwickelten sich keine unabhängige Wissenschaft, keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung – und keine bürgerliche Revolution. Die Zerstörung Kiews durch die Mongolen im Jahr 1241 war ein weiterer entscheidender Impuls für die Entfernung Ost- und West-Europas voneinander.

Die Mongolen vernichteten Kiew, machten den südlichen und mittleren Osten abhängig; den Westen, obwohl sie dessen Heere bei Liegnitz vernichtend schlugen, verschonten sie, wandten sich stattdessen weiter nach Süden, wo sie das muslimische Kalifat Bagdad vernichteten. Im Schatten dieser Schonung konnte sich der Westen Europas anders als der Osten unabhängig von mongolischem Druck entwickeln. Die Zerschlagung Kiews löste dagegen eine Fluchtbewegung der Bevölkerung der RUS  nach Norden aus, wo die fürstliche Oberschicht als  Dienstadel, die Bauern als Siedler im Fürstentum Moskowien Zuflucht fanden, das von den Mongolen nicht besetzt und ihnen nur tributpflichtig war.

Mit diesen Ereignissen kommt zu der religiösen Spaltung zwischen Ost- und Westkirche die unterschiedliche Ausrichtung des zuvor noch offenen politischen Raumes hinzu. Ausgehend von Moskowien, noch unter der mongolischen Tributhoheit, beginnt mit dem  Moskowiter Fürsten Kalita (1325 – 1340), intensiviert durch Iwan III (1530 – 1584), dann Iwan IV. (1456 – 71) der Prozess des „Sammelns russischer Erde“, wie es in der russischen Geschichtsschreibung genannt wird. Nach dem Fall Konstantinopels erklärt Iwan IV. Moskau zum III. Rom. Dabei übernimmt er das Staatskirchentum des byzantinischen Modells, übernimmt auch den Titel Kaiser, also Zar des russischen Reiches. Mit der Unterwerfung Nowgorods und der Verdrängung des deutschen Ritterordens aus Livland schließt er die Grenzen nach Westen; zugleich forciert er die Kolonisation nach Osten auf der Spur des zerfallenden mongolischen Großreiches bis nach Sibirien.

Die Politik Iwans IV. zementiert die Trennung zwischen dem orthodoxen Osten und einem reformatorischen, protestantischen, aufklärerischen Westen bis in die Zeit Peter I. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ost und West, Russland und Europa sind für mehr als 200 Jahre getrennte Welten. In dieser Zeit festigt die christliche Orthodoxie ihr Verständnis von sich als Bewahrer des wahren christlichen Glaubens – ohne einschneidende Abspaltungen, ohne Protestantismus, ohne Religionskriege, ohne Aufklärung in despotischer Einheit von Staat und Kirche – bis auf die minoritäre Bewegung der „Altgläubigen“, die eine formale Kirchenreform im 17. Jahrhundert nicht mitmachen wollten.

 

Neue West-Ost-Begegnung,

Westlich orientierte Modernisierungsschübe Russlands

Vermischung, gegenseitige Übergriffigkeiten

Mit Peter I. 1682 bis 1725,  genannt der Große, beginnt eine neue Phase der Ost-West-Beziehungen. Den Beinamen ‚der Große‘, erhielt er dafür, das er das „Fenster nach Europa“ öffnete. Konkret hieß das: Er  unterwarf Russland einer Modernisierung und Industrialisierung nach westlichen Standards. Seine Modernisierung  war ein Gewaltakt, der die in ihrer traditionellen Orthodoxie lebende mehrheitlich bäuerliche russische Gesellschaft zutiefst erschütterte. Er ließ den Bauern Kaftane und Bärte gewaltsam beschneiden, um sie aus ihren orthodox-gläubigen Sitten herauszuholen. Er war sich nicht zu schade, eigenhändig die politische Opposition zu köpfen. Er ließ St. Petersburg in einem Gewaltakt aus den Newa-Sümpfen stampfen. Gleichzeitig führte er Expansionskriege nach Norden und nach Süden. Die sog. petrinischen Reformen hinterließen ein zwischen Orthodoxie und westlicher Modernisierung zerrissenes russisches Volk unter der Knute einer autoritären Zwangsmodernisierung. Im Westen wurde Peter I. natürlich gefeiert.

Zu beachten ist: Zeitgleich zu den petrinischen Reformen entwickelt sich im Westen die Aufklärung. Zeitgleich ziehen die antidynastischen Wolken der französischen Revolution auf, deren Ideologen ihre Impulse aus der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und der Bill of  Rights von 1797 beziehen, die das Recht auf Selbstbestimmung und Revolution verfassungsmäßig festschreiben. Europa und Russland sind, trotz Modernisierung Peters I., auf unterschiedlichen Wegen: Europa öffnet sich in Richtung Amerika, Russland expandiert, wenn man das Gebiet zu der Zeit noch so nennen kann, im ost- und süd-europäischen Raum.

Ein halbes Jahrhundert später, 1762  – 1796, intensiviert Katharina II., die ‚Deutsche auf dem Zarenthron‘, ebenfalls die Große genannt, die Beziehungen Russlands zum Westen. Sie pflegt intensivsten Umgang mit den französischen Aufklärern, insbesondere Voltaire. Sie fördert europäische Wissenschaft und Kunst. Der Enzyklopädist Diderot ist über längere Zeit Gast des Zarenhofes. Gleichzeitig setzt sie das Sammeln russischer Erde nach Süden, ebenso wie den autoritären Regierungsstil fort. Die Politik  Katharinas vertieft die  Durchmischung von Orthodoxie und westlicher Aufklärung erheblich.

 

Übergang in die Moderne:

Durchmischung, imperiale Konfrontationen, gegenseitige Zerstörung

 Auf die Westöffnung Peters I. und Katharinas II. folgt wie ein Donnerschlag der Feldzug Napoleons gegen Russland. Deutlicher als mit diesem Feldzug, der im russischen Winter von 1812 steckenblieb, konnte der Welt nicht mehr vorgeführt werden, dass Russland mehr war als nur Europa und wie weit sich Russland und der Westen inzwischen voneinander entfernt hatten. Napoleons Rückzug war nicht nur ein Rückzug Frankreichs, es war ein Rückzug Europas. Nur eins dazu: Mehr als die Hälfte des 500.000 Mann starken napoleonischen Heeres waren Mannschaften aus den von Napoleon besetzten Gebieten Europas.

Der Niederlage Napoleons folgte auf dem Fuße ein Vorstoß Russlands nach Westen. Auf dem Wiener Kongress von 1814, bei dem es um eine Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons gehen sollte, genauer, um die Wiederherstellung der von Napoleon zerstörten dynastischen Ordnung, war der russische Zar Alexander I. neben dem Vertreter Habsburgs, Fürst Metternich, die führende Stimme der Restauration. Sein im Zuge der „Heiligen Allianz“ unternommener Versuch die Auswirkungen der französischen Revolution zurück zu kämpfen warf den Schatten einer tiefen orthodoxen der Reaktion auf Europa.  

Der Schlagabtausch, der mit Napoleons endgültiger Niederlage  bei Waterloo 1816 endete, war das Vorspiel für die Konfrontationen des darauf folgenden Jahrhunderts, in denen die von Europa ausgehende Expansion über See und die von Moskau ausgehende territoriale Expansion an den Rändern Eurasiens, zum Beispiel in Afghanistan aufeinanderprallten, ergänzt durch Konfrontationen im süd-europäischen Raum, in dem Russlands panslawistische Ambitionen auf westeuropäische Grenzen stießen. Es entstand das, was uns bis heute unter dem Stichwort des ‚great game‘ begleitet und was sich in dem Jahrhundert der zwei Weltkriege entlud, die sich 1914 – bis 1918 und noch einmal 1939 bis 1945 im Kern um Verschiebungen der ins Globale gewachsenen Konkurrenz zwischen den von Europa und Russland ausgehenden Einflusszonen drehten.  

Einige Aspekte dieser konfrontativen Zeit, die Beziehung Europas zu Russland betreffend, fallen von heute aus besonders ins Auge:

Das ist vor allem die schon erwähnte Unterstützung der Oktoberrevolution durch den Westen im Zuge des 1. Weltkriegs, konkret durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und eine Gruppe russischer Revolutionäre in plombierten Waggons nach Russland einschleuste,  mit dem klaren Ziel den Zarismus zu stürzen und Russland damit zur Kapitulation zu zwingen. Anschließend bekämpfte der Westen die Ergebnisse der Revolution, um eine sowjetische Staatenbildung zu verhindern. Heute würden wir diesen Vorgang glatterdings einen ‚Regime change‘ nennen.

Aber wenn der Sturz des Zarismus, die Konfrontation mit westlichem revolutionären Gedankengut, nicht zuletzt mit dem Atheismus der Revolution Russlands Identität auch ins Herz traf, zerstörte Europa sich in diesem  Krieg doch andererseits selbst, während die von Russland, der entstehenden Sowjetunion sich ausbreitende kommunistische Internationale sich in der Gegenbewegung zu dem von Europa ausgegangenen Zersetzungsversuch praktisch über die gesamte westliche Welt verbreitete. Man ist versucht von einem paradoxen Vorzeichenwechsel zu sprechen: Russland übernahm den westeuropäischen Zivilisationsstrom der Desintegration in Gestalt einer modernen Einheitspartei, in den Westen floss in einer unaufhaltsamen Gegenbewegung der Strom des russischen Integrierens und Kollektivierens in Form einer Vielzahl kommunistischer Parteien hinein. Die Folge war, einfach gesagt, ein die Fronten übergreifendes Identitätschaos – in dem Atheismus und Orthodoxie sich zu monströsen Dogmatismen überkreuzten.

Im zweiten Weltkrieg versuchen die westlichen Alliierten – Hitler benutzend – den aus der Oktoberrevolution erwachsenen Einfluss der Sowjetunion/Russland wieder zurückzuschlagen. Hitler hatte sich einbilden können, England werde seinem Vorgehen gegen Russland stillschweigend zusehen. Aber anders als geplant, ging nicht Russland, sondern Europa in diesem Krieg zugrunde: Europa wird geteilt, West-Europa, Westdeutschland werden Satelliten der USA. Russland, die Sowjetunion dringt bis nach Mitteleuropa vor. Die Welt ist geteilt – bis die Sowjetunion 1991 implodiert und die USA als „einzige Weltmacht“ übrigbleiben, vorläufig jedenfalls, solange ihr keine neuen Rivalen erwachsen. 

 

Ergebnis im Rückblick:

Aus dem ursprünglich gemeinsamen Strom der beiden Kolonialmächte Europa und Russland wurde die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts:

  • Europas Expansion der Vielfalt explodierte:

Nach seiner Selbstzerstörung in dem zurückliegenden Weltkrieg des 20. Jahrhunderts (1. – und 2. Weltkrieg) braucht und sucht Europa heute eine neue nachkoloniale und nachnationale Identität und Form.  Die gegenwärtige Europäische Union ist eine Übergangserscheinung, bei der die Frage entsteht: was ist der Mitteleuropäische Raum in diesem ganzen Konzert.

  • Russlands Expansion des Sammelns implodierte:

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion braucht/sucht Russland heute eine post-expansive Identität als Entwicklungsland neuen Typs, in dem westliche Standards und durch den Sowjetismus gebrochene Tradition eine neue Verbindung suchen. Russlands gegenwärtige autokratische Form ist eine Übergangserscheinung.

  • Die USA übernahmen das Ruder der Weltentwicklung:

Sie haben ein erklärtes Interesse daran, die Verbindung eines erneuerten Russland mit einem erneuerten Europa, insonderheit Deutschlands als tragender Mitte Europas, zu verhindern.  

Aktuell tritt jetzt noch China als neue Größe vom Osten her in diese Konstellation mit ein.  Weitere Mächte melden ihre Ansprüche zur Teilhabe an. Es entsteht etwas, das als multipolare Weltordnung bezeichnet wird, bei dem aber vollkommen unklar ist, was die geistige Substanz dieser Weltordnung ist. Ohne verbindende Sinngebung droht diese Entwicklung in eine erneute Ost-West-Spaltung zu führen, jetzt lediglich ins Globale erweitert. Um es klar, und vielleicht auch ein bisschen provokativ zusammenzufassen: So wie Russland und Europa die Welt arbeitsteilig kolonisiert haben, so ist jetzt  die Zeit gekommen, sie ebenso arbeitsteilig unter Einbeziehung der inzwischen gewachsenen Außenflanken, China, und die USA zu transformieren.

 

Aber wie?

Wie kann es gelingen, die verschütteten Impulse der europäisch-russischen Beziehungen wieder freizulegen, sie miteinander in Austausch zu bringen, statt sie unerkannt, ins Lähmende oder ins Globale eskaliert, weiter gegeneinander wirken oder gar wüten zu lassen, nachdem die Versuche einer neuen Völkerordnung nach 1918 ebenso wie die russische Revolution damit in der Vergangenheit gescheitert sind und auch gegenwärtige Annäherungen jetzt wieder zu scheitern drohen?  

Ein interessanter Ansatz dazu lässt sich in einem Vortrag von Rudolf Steiner finden, dem Begründer der anthroposophischen Gesellschaft, den er zum Jahreswechsel 1918/1919 hielt, also noch unter dem unmittelbaren Eindruck des 1. Weltkrieges. Er spricht von drei Kulturströmungen, die sich aus den Tiefen des vorchristlichen Altertums entwickelt hätten. Deren Wirken müsse offen gelegt, verstanden und in neue Beziehung zueinander gebracht werden, so Steiner, wenn man das heutige Chaos und die heutige Entwicklungsdynamik verstehen wolle. Als die drei Strömungen benannte er:

  • Den aus dem Orient über Mesopotamien kommenden griechischen, christlichen Strom, der sich am Ende im russisch-slawischen Raum in besonderer Weise entwickelt und bewahrt habe.
  • Den aus Ägypten über Rom kommenden rechtlichen, politischen Strom, der sich über den ursprünglichen orientalischen gelegt und sich wesentlich in Mitteleuropa in der Herausbildung der Emanzipation des Einzelnen und rechtsstaatlicher Vorstellungen ausgeprägt habe.
  • Den später aus dem Norden kommenden pragmatisch, wirtschaftlichen Strom, der sich in der englisch-amerikanischen Welt entwickelt habe, der aber als jüngster Strom noch nicht voll ausgebildet sei.

Diese Grundströmungen, seien heute nicht mehr in Klarheit erkennbar, so Steiner weiter, sie  hätten sich auf dem  Weg durch die Geschichte zu einem chaotischen Knäuel einer geistlosen Zivilisation verwickelt, verfälscht und zum Teil pervertiert. Sie unter ihren Verformungen in ihrer jeweiligen Wertigkeit zu erkennen und im Zuge einer Entzerrung des heutigen sozialen Lebens nach geistigen, politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten, Steiner spricht von einer Dreigliederung des sozialen Lebens, so miteinander in Beziehungen zu bringen, dass die konfliktstiftende Dominanz des Ökonomischen überwunden werden könne, sei das Gebot der Zeit. Das habe der Krieg, der aus eben dieser Dominanz des Ökonomischen entstanden sei – um es mit Worten von heute zu sagen – der Menschheit nachhaltig vor Augen geführt.

Man muss kein Anthroposoph sein, um die Wahrheit dieser Aussagen zu erkennen und um weiter zu erkennen, dass wir seit dem ersten Weltkrieg ein weiteres Jahrhundert der „Verknäuelung“ und Nivellierung erlebt haben und im Zuge der Globalisierungskrise heute weiter erleben. Klar ist auch, wie sehr Europa und Russland – nämlich zentral, gewissermaßen als Kern, um die das Knäuel aufspult ist – in dieses Knäuel verwickelt sind:

  • Die Gemeinschaftskräfte Russlands kommen mit den vom Westen ausgehenden Modernisierungen unter existenziellem Druck. Er führt einerseits zu einer von Russland ausgehenden Hyperindividualisierung, lässt aber zugleich starke Tendenzen der Abschottung entstehen. In der Politik führt das dazu, dass Russlands europäische Nachbarn Russland als unberechenbar fürchten.
  • Die emanzipatorischen Impulse Europas verkehren sich zusehends in soziale Isolation, während sie zugleich einen aggressiven Export menschenrechtlicher Ideologie hervorbringen; der wird von Russland angesichts der realen Politik der Europäischen Union als hohl und übergriffig erlebt.
  • Die globalisierte Ökonomie bringt statt einer am Menschen orientierten Wohlfahrt, was ihre Aufgabe und Möglichkeit wäre, zunehmende Konfliktpotentiale und soziale Gewalt hervor.

Was könnte eine Besinnung auf die von Steiner genannten Kulturströmungen in der heutigen Situation für Europas Beziehung zu Russland also bedeuten?

  • Ganz sicherlich keine fraglose Unterordnung unter die Dominanz einer bloß ökonomisch orientierten Globalordnung nach amerikanischem Muster – auch dann nicht, wenn diese Ordnung in Zukunft unter anderen Namen, etwa dem chinesischen auftreten sollte. 
  • Ganz sicher keinen romantischen Rückfall auf den Traum von einem ungeteilten christliches Europa nach Art der deutschen Romantik oder gar auf eine von Europa und Russland gemeinsam gebildete eurasische Achse, die versucht ihre durch die Teilung verlorene abendländische Dominanz wiederherzustellen.    
  • Ganz sicher aber auch nicht den isolierten Rückzug auf eine „russische Idee“ oder eine „europäische Idee“, die sich voneinander abgrenzen oder gar bekämpfen. Das liefe nur auf eine Beschleunigung der nationalistischen Tendenzen hinaus, die sich gegenwärtig in der Welt des „Amerika first“ abzeichnen.

Eine Notwendigkeit der heutigen Zeit ist aber sicher, und das mehr und dringender als noch vor hundert Jahren, die russische und die europäische Idee, wie jede andere nationale Idee, die zurzeit lebt oder noch neu entsteht, einschließlich der amerikanischen, vorurteilslos daraufhin zu untersuchen, wie sich die genannten kulturellen Grundströmungen in der heutigen globalen gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellen und wie eine von nationalen Beschränkungen befreite  Wechselwirkung von geistigem Leben, Politik und Ökonomie so gefördert werden kann, dass die Dominanz der Ökonomie relativiert, tendenziell überwunden werden kann, bevor die Notwendigkeit dazu durch eine weitere Weltkatastrophe bewiesen wird.

Europa und Russland könnten dazu, wenn sie sich auf ihre historischen Wurzeln besännen, in ihrem gegensätzlichen Aufeinander-Bezogen-Sein von individueller Emanzipation und gemeinschaftlicher Tradition einen entscheidenden Beitrag leisten, in dem ‚Herz‘ und ‚Kopf‘ miteinander und nicht gegeneinander wirken – allerdings ohne dabei, das ist zu betonen, die Ökonomie zu vergessen, ohne dabei aber auch zu erneuter Expansion oder Dominanz aufsteigen zu wollen. Anders gesagt, die Ökonomie, konkret auch der „american way of life“, einschließlich seiner chinesischen Variante,  muss nicht bekämpft, sondern in diese Entwicklung integriert werden, wenn sich ein lebendiger Austausch zwischen den Kulturen entwickeln soll, der an der Förderung des Wohles, der Selbstständigkeit und Freiheit des einzelnen Menschen orientiert ist.   

In diese Richtung nach vorn zu schauen, um zu sehen, wie russische und europäische Art sich gegenseitig anregen können, ist wohl die optimale heutige Variante.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Kleiner Service zur aktuellen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA vom Dez. 2017

Soeben stellten die US-Behörden ihren diesjährigen 68 Seiten umfassenden Bericht zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vor. Es wird niemanden verwundern, dass die Strategie ganz nach dem von Trump ausgegebenen Motto „Make Amerika great again“ und „America first“ ausgerichtet ist, dem internationale Abkommen ohne Rücksicht auf Folgen in der Praxis der Trump´schen Administration bereits untergeordnet wurden. Im Trumps mündlichem Vortrag gehen die wenigen inhaltlichen Inseln möglicher Kooperation zudem in einer Flut Trump´scher und Amerikanischer Größe unter. Ein paar Kernaussagen sollten jedoch nicht übersehen werden.

Im ersten Kapitel „Frieden erhalten durch Stärke“ heißt es:

„Eine zentrale Kontinuität in der Geschichte ist der Kampf um die Macht. Die gegenwärtige Zeit unterscheidet sich davon nicht. Drei Hauptpunkte der Herausforderung – die revisionistischen Mächte Chinas und Russlands, die Schurkenstaaten  Iran und Nordkorea, und die transnationalen terroristischen Organisationen, besonders die djihadistischen Gruppen – treten aktiv gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten auf.  Obwohl unterschiedlich von Natur und Umfang, konkurrieren diese Rivalen auf politischen, ökonomischen und militärischen Feldern und nutzen Technik und Information, um die Konkurrenz zu verschärfen und damit die Machtbalance zu ihren Gunsten zu verändern.  Darin liegen fundamentale politische Unterschiede zwischen repressiven Systemen und solchen, die freie Gesellschaften bevorzugen.

China und Russland wollen eine zu den US-Werten und Interessen antithetische Welt.  China will die USA in der Indisch-Pazifischen Welt verdrängen, den Einfluss seines staatwirtschaftlichen Modells ausweiten und die Region in seinem Sinne reorganisieren. Russland will seinen Großmachtstatus wiederherstellen und die Einflusssphären an seinen Grenzen reorganisieren.  Die Intentionen der beiden Nationen sind nicht unbedingt festgelegt. Die USA stehen bereit mit beiden Ländern im gegenseitigen Interesse zu kooperieren.

Für Jahrzehnte  war US-Politik darauf begründet, dass Unterstützung für Chinas Entwicklung  und seine Integration in die internationale Nach-Kriegs-Ordnung China liberalisieren werde. Entgegen unseren Hoffnungen weitete China seine Macht auf Kosten der Souveränität von anderen aus.  China sammelt und nutzt Daten in Konkurrenzlosem Maße und weitet sein autoritäres System aus, einschließlich Korruption und Kontrolle. Es baut die fähigste und bestausgerüstete Streitmacht der Welt auf, nach der unsrigen. Sein nukleares Potential wächst und differenziert sich. Ein Teil seiner Modernisierung und ökonomischen Expansion verdankt China seinem Zugang zur innovativen US-Wirtschaft, einschließlich Amerikas Welt-Klasse Universitäten.

Russland zielt darauf den US-Einfluss in der Welt zu schwächen und uns von  unseren Verbündeten und Partnern  zu trennen. Russland betrachtet die NATO  und die EU (im Original engl. ausgeschrieben)  als Bedrohung. Russland investiert in neue militärische  Fähigkeiten, einschließlich  nuklearer Systeme, welche die existenziellste Bedrohung für die Vereinigten Staaten bilden. Durch modernisierte Formen subversiver Taktik greift Russland in die inneren politischen Angelegenheiten von Ländern rund um die Welt ein. Die Kombination von russischen Ambitionen  und wachsenden militärischen Fähigkeiten schafft eine unstabile Front in Eurasien, wo das Risiko zu Konflikten auf Grund  russischer Miss-Kalkulationen wächst.“

(Es folgen zwei Absätze zum Iran, Nord-Korea, IS, sowie Al-Kaida, danach der Satz: )

„Die Vereinigten Staaten werden Kooperationsfelder mit ihren Herausforderern auf der Basis der Stärke suchen.“

Unter der Überschrift „Regionales“ heißt es am Schluss unter dem Stichwort „Europa“:  

„Ein starkes und freies Europa ist von vitalem Interesse für die Vereinigten Staaten.  Wir sind verbunden durch unser Eintreten für die Prinzipien von Demokratie, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Zusammen haben wir Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und die Institutionen geschaffen, die Stabilität und  Reichtum auf beiden Seiten des Atlantiks brachten. Heute ist Europa eine der reichsten Regionen  der Welt und unser hervorstechendster Handelspartner.

Obwohl die Bedrohung des Sowjetischen Kommunismus vorbei ist, wird unser Wille durch neue Bedrohungen getestet. Russland setzt subversive Mittel ein, um die Glaubwürdigkeit  von Amerikas Eintreten für Europa zu schwächen, die transatlantische Einheit zu unterminieren  und europäische Institutionen  und Regierungen zu  schwächen.  Mit seinen Invasionen nach Georgien und in die Ukraine  hat Russland seinen Willen demonstriert die Souveränität der Staaten in der Region zu verletzten.  Russland fährt fort seine Nachbarn  in bedrohlicher Art durch nukleare Positionierung und durch die Aufstellung offensiver  Kapazitäten an den Grenzen einzuschüchtern.“

(Folgt, dass auch China Fuß in Europa fassen wolle, und zudem eine Bedrohung durch islamistischen Terror in Europa zunimmt)

„Die Vereinigten Staaten  sind sicherer, wenn Europa prosperiert und stabil ist und helfen kann unsere gemeinsamen Interessen zu verteidigen.  Die Vereinigten Staaten bleiben fest verbunden mit unseren Europäischen Verbündeten und Partnern.  Das NATO Bündnis freier und souveräner Staaten ist einer unserer großen Vorteile  gegenüber unseren Gegnern und die Vereinigten Staaten treten weiterhin für den Artikel V des Washingtoner Vertrages ein.“

Das gesamte Papier (englisch) gibt es hier: zur Ansicht und ggf. zum Download

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Globaler Farbwechsel – Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien

Beim GO, dem in Asien beliebten strategischen Brettspiel geht es beim wechselseitigen Besetzen der Spielfläche durch schwarze oder weiße Steinchen um Geländegewinn. Dabei kann ein Steinchen, zur rechten Zeit an die richtige Stelle gesetzt, auf einen Schlag die eben noch dominante Farbe des Feldes umschlagen lassen, wenn die so eingekreisten Steinchen des Gegners aus dem Feld genommen werden. Plötzlich tritt eine vorher gewachsene, aber übersehene Konstellation hervor.[1]

Ein solcher Farbwechsel ist durch den Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Rückzug russischer Truppen aus Syrien, verbunden mit seiner Erklärung, der Terrorismus sei besiegt und die Menschen könnten in ihr Land zurückkehren, um es wieder aufzubauen, soeben auf dem globalen Spielbrett  vor sich gegangen.  Putins Besuche in Ankara und Ägypten, dazu seine öffentliche Kritik an der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ergänzen das Bild. Was wird da erkennbar?  

 

Das „Heartland“ beherrschen?

Wer die Welt beherrschen wolle, hieß es bisher, der müsse Eurasien beherrschen; wer Eurasien beherrschen wolle, müsse das „Herzland“, also Russland, beherrschen – müsse es am Besten in drei Teile teilen, einen östlichen, einen mittleren und einen westlichen, die sich so gegeneinander abgrenzen und manipulieren ließen.

Der so sprach, schrieb und zu handeln versuchte, um damit den Fortbestand  des US-Imperiums nach dem Zusammenbruch  der bipolaren Welt  Ende der 80/Anfang der 90 Jahre  zu sichern, Zbigniew Brzezinski, ist inzwischen verstorben. Seine Thesen, basierend auf den Erfahrungen des britischen Empire, erstmals 1904 bei Halford Mackinder formuliert [2], von Brzezinski in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch „Die einzige Weltmacht“)[3] nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1997 mit Blick auf Russland weiter ausgearbeitet, sind jedoch nach wie vor brandaktuell – allerdings in Umkehrung dessen, was das Ziel Brzezinskis war und nach anderen Regeln, eben denen des asiatischen GO, statt des westlichen Schach.

Es gelang nicht das „Herzland“ zu teilen,  jedenfalls nicht in drei Teile. Zwar wurde es von seinen Rändern her beschnitten – Ost-Europa, Kaukasus, Baltikum, Zentralasien. Zwar wurde es eingekreist durch „bunte Revolutionen“. Zwar wurde es militärisch bedrängt mit der Stationierung von NATO „Battle Groups“ und Raketen-Abschussrampen direkt vor seinen Grenzen. Aber es konnte doch trotz allem vom Westen nicht kolonisiert werden, jedenfalls nicht auf Dauer, sondern hat sich nach dem katastrophalen Zusammenbruch der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts in den Jahren ab 2000 dann unter seinem zu der Zeit neu antretenden Präsidenten Wladimir Putin schrittweise von innen her stabilisiert. Es hat sich zum Integrator  des eurasischen Raumes entwickelt, der daran geht, sich selbst zu organisieren, statt Objekt imperialen Zugriffs aus dem Westen zu sein.

Als Vielvölkerorganismus, der die Stürme des ersten und des zweiten  Weltkrieges, des Kalten Krieges wie auch den Druck der US-geführten unipolaren Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion im Kern, wenn auch immer noch geschwächt, überlebte, wurde Russland, selbst plural organisiert, zusammen mit China zum faktischen Modell und Impulsgeber des multipolaren Gegenentwurfes gegenüber der unipolaren Imperialordnung der USA.

Steinchen für Steinchen hat sich diese neue Ordnung unerkannt unter der Dominanz der amerikanisch-europäischen Weltordnung herausgebildet – nicht zuletzt auch als Ergebnis überheblicher Abschätzigkeit des Westens gegenüber dem „unterentwickelten Osten“, also gegenüber Russland, China, generell Asien.  Man erinnere sich nur daran, mit welcher Häme und Vordergründigkeit die wiederholten, mühsamen, in den Anfängen nicht sehr erfolgreichen Anläufe Russlands kommentiert wurden, den durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen Fliehkräften im eurasischen Raum entgegenzuwirken. Das betrifft Russlands Beteiligung an der “Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), in der die aus der Sowjetunion ausgeschiedenen ehemaligen Republiken, außer den baltischen, zusammenfinden wollten. Das betrifft die Versuche Russlands mit der kleineren „Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung“  (GUAM), bestehend aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien, zu kooperieren. Das betrifft den „Vertrag zur kollektiven Sicherheit“ (OVKS) und schließlich auch die bilateralen Beziehungen Russlands zu einzelnen der neu entstandenen Staaten und halbstaatlichen autonomen Gebiete.

 

Viele kleine Schritte vom Westen nach Osten…

 In der Rückschau treten die in der Vergangenheit unscheinbar gesetzten Steinchen, aus denen das aktuelle Bild auf dem globalen Brett hervorging, dafür jetzt umso deutlicher hervor:

  • 1964 entwickelt China, nach der Spaltung der kommunistischen Welt weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörig, die Strategie einer multipolaren Weltordnung.
  • 1984/5 übernimmt Michail Gorbatschow mit Beginn der Perestroika die Option der Multipolarität auch für Russland, wenngleich noch ganz auf Zusammenwachsen Russlands mit Europa im „Europäischen Haus“ orientiert.  
  • 1996 schließen China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan sich zu den „Shanghai fünf“ zusammen, um die aus dem Zerfall der Sowjetunion resultierenden Grenzprobleme zu klären.
  • 1997 legen Russland und China der UNO ein Papier zur Entwicklung einer multipolaren, anstelle der unipolaren Weltordnung vor.
  • 1998 lenkt der russische Ministerpräsident Jewgeni Primakow, noch unter Boris Jelzins Orientierung auf den Westen, Russlands Außenpolitik aktiv auf Asien. Er sucht eine Allianz mit Indien und China unter Einschluss von Weißrussland. Mit dem Abbruch eines bereits eingeleiteten Staatsbesuches (er gibt dem Flugkapitän Befehl zur Rückkehr!) brüskiert er die USA wegen des von ihr geführten Kosovokrieges.
  • 2000 tritt Wladimir Putin sein Amt als Staatspräsident Russlands mit der Erklärung an, er wolle nicht nur Russlands Staatlichkeit wiederherstellen, sondern das Land in Übereinstimmung mit seiner historischen Rolle wieder zum „Integrationsknoten Eurasiens“ machen, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.
  • 2000 schließen sich Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zur „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ zusammen; 2002 treten Moldawien, die Ukraine und Armenien, 2006 auch Usbekistan dieser Gemeinschaft mit bei.
  • 2001 erweitern sich die „Shanghai fünf“ zur „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Sie versteht sich als Kooperationsorgan zwischen der Volksrepublik China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Die SOZ befasst sich über die bisher von den „Shanghai fünf“ behandelten Fragen der Grenzsicherheit und Stabilität der Region hinaus auch mit Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten. Der Organisation gehören seit 2017 neben den Gründerstaaten auch Indien und Pakistan an. Damit repräsentiert die SOZ heute die Hälfte der Weltbevölkerung; Weißrussland und die Türkei sind als „Dialogpartner“ angeschlossen.
  • 2001 schließen sich die Länder Brasilien, Russland, Indien und China (Kürzel: BRIC-Staaten, nach den Anfangsbuchstaben der beteiligten Länder) zu einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft zusammen,  die sich als Entwicklungsgemeinschaft gegen die Vormacht der USA wendet.  Seit 2011 nimmt Südafrika an den jährlichen Gipfeln der BRIC-Staaten teil, die seitdem unter dem erweiterten Kürzel  BRICS firmieren und turnusmäßig zu jährlichen Gipfeln zusammenkommen.
  • 2009 schließen sich 29 Staaten Süd-Ost-Asiens zu einem Wirtschaftsraum zusammen, nachdem sie seit 1967 bereits locker im Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (von englisch: Association of Southeast Asian Nations)  verbunden waren.  Die Gründung weiterer Unter-Organisationen für regionale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, zur Förderung des Handels uam. folgen. Die ursprüngliche Orientierung gegen die Sowjetunion und gegen China beginnt in eine Kooperation mit der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und den BRICS-Treffen überzugehen.  
  • 2013 stellt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Kasachstan das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ vor, das den gesamten eurasischen Raum von Osten bis Westen, von China über Zentralasien und Russland bis nach Europa in dem Entwurf einer Länder übergreifenden Kooperation miteinander verbinden soll. Das Projekt versteht sich ausdrücklich als ziviler Gegenentwurf zu der militärisch gestützten Globalisierungs- und aggressiven Fraktionierungspolitik der USA.
  • 2014 geht die „Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft“ in die verbindlichere „Eurasische Wirtschaftsunion“ (EAWU) über. Mitglieder sind Kasachstan, Russland und Weißrussland, ab 2015 auch Armenien und Kirgisistan.
  • 2014 gründen die BRICS-Staaten die „Neue Entwicklungsbank“ als Gegenkraft zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um der Dollarherrschaft etwas Eigenes von Seiten der Entwicklungsländer entgegensetzen zu können.
  • 2015 kommt eine „Asiatische Infrastrukturinvestmentbank“ (AIIB) als Hauptfinanzier des Seidenstraßenprojektes hinzu, ebenfalls als Gegenkraft zu Weltbank und dem IWF. Den 21 Gründungsmitgliedern aus dem asiatischen Raum schlossen sich 57 Interessenten an, von denen die meisten aus dem östlichen und süd-östlichen eurasischen Raum kommen. Dabei sind aber auch Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – trotz ausdrücklicher Warnungen aus den USA.
  • 2016 wirbt Putin beim turnusmäßigen ASEAN-Gipfel erfolgreich für engere Kooperation der ASEAN-Staaten mit Russland und China im Zuge des Seidenstraßenprojektes und Zusammenwirkens mit der „Eurasischen Wirtschaftsunion“.
  • 2016 unterzeichnen China, Russland und die Mongolei ein Entwicklungsprogramm zur Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftskorridors im Zuge der Seidenstraßen-Initiative.
  • 2016/2107 finden die turnusmäßigen BRICS Gipfel in GOA/Indien (2016), in Xiamen/China (2017) in lockerer Koordination mit Gipfeln der ‚Eurasischen Wirtschaftsunion‘ und dem ASEAN-Netz statt.
  • Seit 2017 werben Vertreter der russischen Politik, konkret Putins Chef-Berater für Ostpolitik, Sergei Karaganow[4], massiv für die Zusammenführung von „Europäischer Wirtschaftsunion“, der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, den ASEAN-Staaten und dem Projekt „Neue Seidenstraße“ zu einem „Projekt Großeurasien“, wobei sie in Aussicht stellen, darin  auch die Türkei, den Iran, Israel und Ägypten einzubeziehen. „Europa“ wird ebenfalls eingeladen – wenn es die Kraft dazu aufbringen könne; die USA werden ausdrücklich außen vor gehalten.
  • Im Mai 2017 treffen sich 29 Staats- und Regierungschefs aus dem eurasischen Raum auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf dem „Seidenstraßen-Forum“ in Peking. Unter den Gästen wird Wladimir Putin als wichtiger Partner und Förderer hervorgehoben.
  • Im November 2017 versammeln sich die ASEAN-Staaten zum 50jährigen Jubiläum ihrer Organisation (und ihrer diversen Vorläufer) in Anwesenheit Chinas und Russlands. China und Russland machen erfolgreich ihren Einfluss geltend, Trumps Drohungen gegen Nord-Korea diplomatisch einzuhegen.

Überschaut man die entstandene Konstellation, dann wird unschwer erkennbar, wie  massiv sich die Gewichte in den letzten Jahren und dies mit zunehmender Intensität in Richtung einer dichter werdenden eurasischen Vernetzung verändert haben.

 

… und ihr politischer Rahmen

Ein weiterer Blick zurück, dieses mal auf die politischen Rahmendaten, die diesen Prozess begleiten, macht diese Entwicklung noch offensichtlicher:

  • 2001: Wladimir Putin hält seine erste Auslandsrede – in deutscher Sprache, im deutschen Bundestag. Trotz bereits vereinbarungswidrig erfolgter erster Schritte zur Erweiterung der NATO nach Osten betont Putin damals, noch ganz im Strom der von Gorbatschow formulierten Idee des „gemeinsamen Europäischen Hauses“, die Einheit der europäischen Wertekultur und die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Das einheitliche und sichere Europa müsse zum „Vorboten“ für eine sichere Welt werden. Eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok könne der Ausdruck davon sein.
  • 2007: Nach weiteren Ost-Erweiterungen der NATO, angesichts der vom Westen offen unterstützten „Bunten Revolutionen“ in Georgien 2003, in der Ukraine 2004, in Kirgisistan 2005, des gescheiterten Ansatzes in Weißrussland, 2006, sowie den parallel dazu 2004 und 2007 folgenden Ost-Erweiterungen der EU, geht Wladimir Putin auf der „Sicherheitskonferenz“ in München erstmals in Distanz zu den westlichen Weltherrschaftsansprüchen. Er macht seine Kritik allerdings hauptsächlich an der Militarisierungspolitik der USA fest, erkennbar bemüht, zwischen USA und EU taktisch zu differenzieren.
  • 2008: Russland weist die provokativen Versuche des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili militärisch zurück, der im Schatten der NATO-Erweiterung einseitige Grenzkorrekturen auf Kosten Russlands vornehmen will. Das war zugleich als gelbe Karte für NATO und EU zu verstehen, von der geplanten Fortsetzung ihrer Erweiterungspläne über den südlichen Kaukasus hinaus nach Zentralasien Abstand zu nehmen.
  • 2014: Als deutlicher Abbruch der West-Integration muss Russlands Aufnahme der KRIM in den Russischen Staatsverband und die halbmilitärische Unterstützung der Kämpfe der Regionen Donezk und Lugansk um ihre Autonomie verstanden werden. Mit ihrer Politik in der Ukraine-Krise zeigte Russland dem Westen, also der Allianz von NATO, EU und den USA, dass es ein weiteres Vordringen des Westens, vor allem westlichen Militärs auf russische Kosten nicht hinnehmen werde. Die daraufhin vom Westen eingeleitete Sanktionspolitik wirkt seitdem als Brandbeschleuniger für die eurasischen Integrationsprozesse.
  • 2016/2017: Das militärische Eingreifen Russlands in Syrien hat nicht nur den Eroberungszug der US-Politik in Mesopotamien beendet und Syrien in eine vorläufige Waffenruhe geführt. Es hat Russlands Südflanke auch vom Druck der westlichen Allianz befreit und es zum zurzeit wichtigsten Akteur im mesopotamischen Raum werden lassen. Der wird über Russlands neue Bündnispartner Iran und Türkei zudem anschlussfähig für den eurasischen Raum, während die USA sich unter Trump aus der aktiven Politik im mesopotamischen Raum vorläufig zurückziehen, um die Hände frei zu haben für Asien. Putin wird von der globalen Öffentlichkeit –  im Westen widerstrebend und widerwillig, versteht sich – als „neuer starker Mann“ in Syrien und Mesopotamien wahrgenommen. Man werde sehen, schränken die westlichen Kommentatoren ein, noch sei Syrien nicht wirklich beruhigt und Putin wolle nur Punkte für seine innenpolitischen Auftritte sammeln. 
  • 2017: Auf der, schon erwähnten, ASEAN-Konferenz vom November trat die neue Konstellation im globalen Kräftefeld klar zutage: Nicht nur traten China und Russland den atomaren Drohungen Trumps gegen Nordkorea entschieden entgegen. US-Präsident Donald Trump, der mit großem Einsatz versuchte, in dem entstandenen asiatischen Netz Fuß zu fassen, hatte den ASEAN-Mitgliedern nach seiner,  zugunsten der von ihm ausgerufenen Politik des „Amerika first“ vorgenommenen Aufkündigung der „Transpazifischen Partnerschaft“ (TTP) nicht viel zu bieten, so dass sie nach neuen regionalen Zusammenschlüssen suchen. Die Vision eines „Großeurasien“ erwachsend aus einem Zusammenwirken der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ und dem „Projekt Seidenstraße“ rückt in den Mittelpunkt auch des ASEAN-Staatenbündnisses. Die USA sind nicht Bestandteil dieses Prozesses, die EU ist als Handelspartner am westlichen Ende der Seidenstraße geduldet.

 

Ermutigende Perspektiven…

Man muss die aus der eurasischen Selbstorganisation zum einen und den politischen Entfremdungen und Zusammenstößen zwischen Russland und dem Westen heute entstandene Konstellation nicht überbewerten. Soviel aber ist offensichtlich: Die USA und in ihrem Schatten Europa, konkret die EU haben ihre historische Definitionsmacht als imperiale Zuchtmeister des Globus verloren. Heute kommt die Ansage zur Entwicklung Eurasiens nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten – aus Russland, aus China, aus Zentral- und Süd-Ost-Asien mit Unterstützung einer zunehmenden Zahl von Ländern, die im Aufkommen eines starken Eurasiens die Möglichkeit  sehen, sich vom Druck der ‚westlichen‘ Weltherrschaft zu befreien.  Anders als zuvor aus dem Westen kommt dieser vom Osten herkommende Impuls zur Entwicklung Eurasiens nicht als militärisch gestützter  Impuls von ‚Teile und Herrsche‘, sondern als Prozess des Sammelns und sich Verbündens, des Länder-, Kultur- und Sprachräume übergreifenden Verlangens nach gegenseitiger tatsächlicher Entwicklungshilfe, statt der Herstellung neo-kolonialer Abhängigkeiten unter dem Etikett einer solchen daher.  In dieser Entwicklung kündigt sich eine Tendenz, bescheidener gesagt, eine Chance, noch bescheidener formuliert, die Möglichkeit  für die Entwicklung einer neuen Phase der Weltpolitik an: die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Kooperation einer multikulturell vernetzten Staaten-Gemeinschaft, in der Staaten sich darauf beschränken können, sich gegenseitig zu stützen.

  

… und mögliche Störungen

Um aber nicht in Wunschträume zu verfallen, muss allerdings daran erinnert werden, dass noch nicht alle Steinchen im Spiel und noch nicht alle Möglichkeiten der Störung ausgereizt sind: Ohne in Spekulationen zu verfallen, darf  davon ausgegangen werden, dass sich die „einzige Weltmacht“ mit der jetzt entstandenen Konstellation nicht zufrieden geben wird. Ansatzpunkte, von denen aus, um im Bild zu bleiben, ein erneuter Farbwechsel im globalen Spiel, klarer gesagt, im Ringen um die kommende Rolle Eurasiens bei der Herausbildung einer neuen Weltordnung, seitens des bisherigen Hegemonen erzwungen werden könnte, sind klar zu erkennen. Sie heißen: Europa, Korea und Mesopotamien, alle drei noch von Brzezinski seinerzeit als „Brückenköpfe“ zur Eroberung des „Herzlandes“ benannt und in den zurückliegenden Jahren auch genutzt. Das wäre: Europa als Stoßkeil vom Westen her, wenn es der US Politik gelingt, die EU, insonderheit Deutschland weiter  in die Konfrontation mit Russland zu treiben und so eine Beteiligung Europas an dem „eurasischen Projekt“ zu hintertreiben; Japan, das sich von Korea bedroht fühlt, als Stoßkeil vom Osten her, wenn es gelingt, den koreanischen Konflikt im Herzen der sich erst konsolidierenden ASEAN-Staaten-Gemeinschaft weiter anzuheizen, und schließlich der mesopotamisch-afrikanische Raum als Störfeld vom Süden her, wenn es gelingt, dieses Gebiet allen aktuellen militärischen und diplomatischen Erfolgen der russischen Einsätze zum Trotz erneut zu destabilisieren.

Nicht zuletzt lebt auf westlicher Seite immer noch die Hoffnung, Wladimir Putin, der sich soeben den Anforderungen stellen muss, die aus seiner Absicht resultieren, in eine neue Phase seiner Präsidentschaft einzutreten, ungeachtet seiner außenpolitischen Erfolge über innenpolitische, vornehmlich soziale Probleme stolpern zu sehen. Genauer gesagt sogar, seine außenpolitischen Erfolge zu relativieren, zu stören, wenn möglich sogar zu zerstören, in dem Wissen, dass er für sein innenpolitisches „Rating“, das heißt, für seine zukünftige innenpolitische Handlungsfähigkeit angesichts wachsender innenpolitischer Widerstände, nicht zuletzt sozialer Art auf außenpolitische Erfolge angewiesen ist. Wenn es gelänge, Putin innenpolitisch zu destabilisieren, würde dem eurasischen Projekt ein wesentlicher Pfeiler entzogen.

Noch unberührt von  all dem ist dabei die Frage, ob das „Eurasische Projekt“, wenn es sich denn ungestört entwickeln könnte, tatsächlich zu einer neuen Ordnung führen würde, welche die nationalstaatliche Konkurrenz hinter sich zu lassen in der Lage wäre oder ob es nur der Herausbildung eines neuen Hegemonen Vorschub leistet, nämlich Chinas. Dies wäre dann ein neues Spiel nach ganz alten Regeln, über dessen Ausgang nur spekuliert werden könnte.  

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema das Buch:

Kai Ehlers, Asiens Sprung in die Gegenwart. Russland – China – Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums „Inneres Asien“., Pforte, 2006

(In dem Buch werden die grundlegenden Entwicklungslinien dieses Raumes als „Treibhaus der Evolution“ skizziert)

Zu beziehen über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel)

[2] In „The geographical pivot of history“ , siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Halford_Mackinder

[3] Deutscher Titel: „Die einzige Weltmacht“, erschienen bei  Fischer tb, 2001

[4] Sergei Karaganow, Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, u.a. in Spiegel 28/2016

 

Für eine Bearbeitung des Textes mit weiterführendem Anschaungsmaterial und Hintergrundlinks siehe:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien

Ausserdem Unzensiertes Aktuelles und Strategisches zu Russland in: http://www.russland.news/

Krieg oder Frieden? Dem Treffen der 20 zum Geleit.

In Hamburg treffen sie just zusammen, um zu beraten, wie es in der Welt politisch weitergehen soll – in einer Zeit, in der kaum jemand weiß, wie es weitergehen kann. Hier finden Sie den Video-Mitschnitt eines Vortrags, der sich passend zu den Vorgängen in Hamburg mit den anstehenden Fragen befasst: Stichworte zur gegenwärtigen Lage, Stichworte zu möglichen Alternativen, sowie Einschätzungen zu der Rollneverteilung zwischen den großen ‚Playern‘ in diesem großen Spiel.

Hier anklicken: https://youtu.be/5i3nMlX6Ydk

Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes

Ungeachtet des angekündigten Kuschelkurses zwischen Donald Trump und Wladimir Putin, ungeachtet aller Beteuerungen aus Kreisen der EU wie auch der politischen Etagen Deutschlands, man wolle sich um ein gutes Verhältnis zu Russland bemühen, ungeachtet der von niemandem zur Zeit mehr bestrittenen Tatsache, dass das Schlachten in Syrien durch das Hinzutreten von Russland in einen – zumindest vorläufigen – Waffenstillstand übergegangen ist, also, ungeachtet all dieser Signale, ist das Verhältnis zwischen den Weltmächten doch nach wie vor das bekannte: die soeben zurückliegende „Sicherheitskonferenz“ in München brachte es unmissverständlich an den Tag: dort hat, wie die  „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es treffend zusammenfasste, die neue amerikanische Regierung in der Person des US-Vize-Präsident Mike Pence den Europäern „Bündnistreue in der NATO und eine Kritische Haltung gegenüber der russischen Aggression zugesichert.“ US-Präsident Trump twitterte gar in Abwesenheit, er sei ein „NATO-Fan“. Continue reading “Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes” »

Putin und Trump – ein Gespann? Ein Versuch hinter die Worte zu blicken

Ja, möchte man sagen – und doch nein. Ungeachtet unterschiedlicher persönlicher und politischer Profile sind Donald Trump und Wladimir Putin ein Gespann, notgedrungen, ob sie es wollen oder nicht. Und sind es doch nicht.

Beide sind vor einen Wagen gespannt, dessen Räder im Sumpf ungelöster globaler Probleme und Aufgaben zu versinken drohen. Sie selbst und die hinter ihnen stehenden „Eliten“ sind ratlos, wie sie mit der aus allen Fugen schießenden globalen Expansionsdynamik und der wachsenden Ungleichheit zwischen den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung und der bedrohlich wachsenden Zahl Benachteiligter, Ausgegrenzter, „Überflüssiger“, Marx würde sagen, überflüssig gemachter Paupers umgehen oder sich ihrer entledigen können. Immer ungeduldiger fordern diese Milliarden ihren Anteil am Reichtum der Welt, global und lokal. Eine Elitendämmerung kündigt sich an, wenn keine Vernunft einkehrt.

Die unipolare Weltordnung, die mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war, ist in wilder Bewegung.  Syrien ist dafür der aktuelle Brennpunkt, wo Kämpfe um lokale Souveränität, regionale Einflusszonen und globale Vorherrschaft sich an der Grenze zum globalen Krieg überschneiden.  

Denkbar wäre natürlich, dass die „Eliten“ in dieser Krisensituation, ungeachtet ihres Herkommens und ungeachtet der persönlichen Profile ihrer Vertreter und Vertreterinnen gemeinsam an einer Lösung dieses Knotens arbeiten, um ihre Ratlosigkeit zu überwinden, ja, sich vielleicht gar bereitfinden Ratschläge und Hilfe von „unten“ zu akzeptieren,  statt Milliarden von Menschen zu ohnmächtigen Zuschauern  oder zu Opfern ihrer Entscheidungen zu machen.

In Einzelfragen, die gegenwärtig in ersten Telefonaten zwischen dem neuen Mann in Washington und seinem schon länger amtierenden Kollegen in Moskau verhandelt werden, könnte tatsächlich Einiges möglich werden. Die Rede ist von der Einrichtung geschützter Zonen für Flüchtlinge in Syrien, von einem Ende der  Sanktionspolitik gegen Russland, von  einer Beilegung der Krim- und Ukrainekonflikte. Schließlich sogar von einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Terror – wobei allerdings schon zu fragen ist, was unter „dem“ Terror jeweils verstanden wird.  

Das alles klingt nach Frontbegradigungen – und wäre auch zu begrüßen, wenn es zu Entspannung auf überfälligen Konfliktfeldern führen, wenn es dazu beitragen könnte, die weitere Ausbreitung des Terrorismus zu verhindern. Allerdings muss hier über die Frage hinaus, was jeweils unter Terror verstanden wird, festgehalten werden, dass Terrorismus nicht mit Waffengewalt, auch mit einer russisch-amerikanisch kombinierten Militäraktion nicht zu beseitigen sein wird, sondern nur mit einer grundlegend anderen Politik der „entwickelten“  gegenüber der sich entwickelnden Welt, die den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben vor Ort zu gestalten.

Im Übrigen sind schon die ersten außenpolitischen Dekrete des neuen US-Präsidenten, die ein willkürliches Einwanderungsverbot aus einer Reihe von muslimischen Ländern in die USA verfügen, eher geeignet, dem Terrorismus weltweit neue Kämpfer und Kämpferinnen aus diesem Feld zuzuführen als ihn zu dämpfen. Auch flackern in der Unsicherheit des neuen Frontverlaufs ungelöste Konflikte wieder auf wie in der Ukraine, andere sind zu erwarten. 

 

Unterschiedliche Perspektiven

Obwohl gleichermaßen eingespannt und trotz möglicher Kompromisse in Einzelfragen streben Putin und Trump doch in entgegengesetzte Richtungen. Der eine, Putin, strebt seit seinem Amtsantritt 1999/2000 in die Richtung einer kooperativen Weltordnung, aus wohlverstandener eigener Schwäche  und aus bitterer historischer Erfahrung, wohin eine Überdehnung der eigenen Kräfte führt.

Der andere, Trump, getrieben von dem Bestreben, von globalen Verpflichtungen nicht länger, wie er sagt,  „ausgebeutet“ zu werden, setzt unter dem Motto „America first“ auf Parzellierung  gewachsener globaler Strukturen – bei gleichzeitiger Überhöhung seines und des US-Machtanspruches. Das setzt autoritäre und nationalistische Impulse frei.

Weit entfernt also davon in eine Richtung zu ziehen, obwohl in einem Gespann, gehen die Dynamiken Russlands und der USA extrem auseinander. Putin  orientiert auf Stabilisierung und Reform der nationalstaatlichen Ordnung, wie sie sich in den Vereinten Nationen herausgebildet hat und in ihrer Charta fixiert ist. Trump forciert bilaterale Beziehungen unter Führung der USA.

Damit setzt sich ins Extrem fort, was schon die Politik der letzten Jahre bestimmt hat. Sollte man die Situation, die so entsteht, in ein Bild bringen, so müsste man das einer Waage wählen, deren eine Seite sich senkt, während die andere sich hebt. Schauen wir im Detail.

 

Schrumpfen mit Trump?

Seit Jahren zielt die US  Strategie darauf die globale Vorherrschaft der USA nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ zu bewahren – und kann doch deren Verfall nicht  aufhalten. Bester Zeuge dafür ist der bekannte US-Stratege Zbigniew Brzezinski, in dessen Büchern die Stufen des Verfalls der US-Vormacht umso deutlicher hervortreten, je stärker er die Vorzüge dieser Macht hervorzuheben bestrebt ist – darin ein unfreiwilliger Vorbote Trumps, der jetzt auf den unteren Sprossen dieser Stufenleiter als Erbe erscheint:

Den Zusammenbruch der Sowjetunion begrüßt Brzezinski mit dem  Fanfarenruf des Siegers in dem Buch: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“[1]. Es erschien erstmals 1997, avancierte danach zum Weltbeststeller. In dem Buch wird das strategische Szenario entworfen, wie die USA die ihr in den Schoß gefallene Weltherrschaft  bewahren könnten, wenn sie dafür sorgten, dass in der Welt, insbesondere in Eurasien in Zukunft kein neuer Rivale sein Haupt erheben könne. Auf dieser Linie entwickelten die USA nach 1990/91 ihre Politik der Einkreisung Russlands.

Zehn Jahre später, 2006, schon wesentlich gedämpfter, folgt Brzezinskis erste Bilanz unter dem Titel: „The second chance“[2]. In diesem Buch schaut er auf die Präsidentschaften von Bush I, Clinton und Busch II zurück (so Brzezinskis Schreibweise).  Bush I – in Brzezinskis Charakteristik ein mittelmäßiger Verwalter, der nichts aus dem Sieg von 1990/91 gemacht habe, Clinton – ein Parvenü, der der Welt zu viel versprochen und dadurch amerikanisches Potential  leichtfertig verschleudert habe, Bush II  – ein politischer Hasardeur, der mit seinem brachialen, alleingängerischen „Krieg gegen den Terrorismus“ amerikanisches Ansehen in der Welt und dessen Vormachtstellung in krimineller Weise geschädigt habe. Zugleich habe er die Bildung der Bevölkerung sträflich vernachlässigt. Mit dem von ihm zurückgelassenen Bildungsniveau der US-Bevölkerung, so Brzezinski, sei keine Weltpolitik zu machen. 

Eine zweite  Chance für die in der Folge dieser drei Präsidenten geschwächte Weltmacht könne es nur geben, so Brzezinski, wenn das Land einen neuen Anlauf nähme, den „American way of life“ durch eine Bildungsoffensive im Innern und eine Bündnisoffensive nach außen zu erneuern. Barack Obamas Politik des „Yes we can“ war ein Kind dieser Kritik, eine Offensive des Lächelns bei gleichzeitiger Eskalation der US-Interventionen im Selbstmandat.

Noch ein Intervall später, 2013, im Vorjahr zum Ukrainischen Maidan, unter dem Titel „Strategic Vision, America and the crisis of global Power“[3]  sieht Brzezinski sich zu der Aussage gezwungen: „Angesichts des neuen dynamischen,  und international komplexen und politisch erwachenden Asien ist die neue Realität die, dass keine Macht versuchen kann – in Mackinders Worten[4] – Eurasien ‚zu beherrschen‘ und so die Welt zu ‚kommandieren‘.  Amerikas Rolle, besonders  nachdem es zwanzig Jahre vergeudet  hat (having wasted), muss jetzt sowohl subtiler als auch verantwortlicher gegenüber Asiens neuen Machtrealitäten sein. Herrschaft durch einen einzigen Staat, wie mächtig auch immer, ist angesichts des Hochkommens neuer regionaler Spieler (player) nicht länger möglich“. Nur unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, wiederholt Brzezinski beschwörend, könne dem  weiteren Niedergang der US-Vormacht entgegengewirkt werden.

Wie die Entwicklung zeigt, hat eine breiter angelegte Bündnispolitik  unter Obama auch nach Brzezinskis zweiter Ermahnung den weiteren Niedergang der US-Vormacht nicht aufhalten können, sondern mit der Politik des Regime Changes und der gezielten Tötung durch Drohnen noch tiefer in die Sackgasse des US-Alleingangs geführt. Darüber konnte auch Obamas aggressive Propaganda gegenüber dem angeblichen Kriegstreiber Russland nicht hinwegtäuschen. Das Ukrainische Abenteuer, wie auch der vorläufige Rückzug der USA aus Syrien haben vielmehr die zunehmende Schwäche der USA klar erkennen lassen.

Trump ist der Erbe  dieses innen- und außenpolitischen Niedergangs. Statt sich in ein erweitertes Bündnis der von Brzezinski beschworenen „Newcomer“ zur Herausbildung einer kooperativen Kraft einzugliedern, sucht er den Weg in die weitere Fraktionierung der internationalen Ordnung, die er, wie gesagt, als Last empfindet – in der irrigen Annahme Amerika auf diese Weise wieder groß machen zu können. Das geschieht ohne erkennbares Programm nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.

Im Gegensatz zu den zurzeit vor allem in Europa grassierenden Klagen, mit Trumps brachialem Motto werde die demokratische Tradition der „Pax Americana“ gebrochen, findet der unter diesem Schild bisher verdeckte Nationalismus der USA mit Trump lediglich seine unverhüllte Zuspitzung und Offenbarung. Die irritierte Empörung der atlantischen Partner der USA angesichts dieser Offenbarung des tatsächlichen Charakters der US-Politik lässt vor allem anderen eine Sorge erkennen, nämlich die, mit der Demaskierung der US-Politik zugleich selbst demaskiert zu werden.

 

… und wachsen mit Putin?

Demgegenüber Putin – ebenfalls Erbe, allerdings einer gegenläufigen Entwicklung. Sie steigt von Michail Gorbatschow, der ins europäische, über Boris Jelzin, der gleich ins amerikanische Haus einziehen wollte bis zu Putins und Medwedews immer aufs Neue wiederholtem Angebot auf, gemeinsam mit der NATO eine „Sicherheitsarchitektur“ von Wladiwostok bis Lissabon schaffen zu wollen . 

Auf dieser Linie ging es darum Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zu Kräften zu bringen. Dafür brauchte das Land eine Stärkung der internationalen Ordnung, wie sie von den Vereinten Nationen repräsentiert und in ihrer Charta beschrieben wird. Wohlverstanden im eigenen Interesse Russlands, aus eigener Schwäche, zum Schutz gegen die übermächtige Dominanz der USA.

Die Stationen dieses spät- und nachsowjetischen Restaurationsprozesses folgten nicht aus einem Programm der Revanche und der Re-Imperialisierung, wie vom Westen unterstellt, sondern aus den Tatsachen des für die Bevölkerung lebensbedrohlichen Zusammenbruchs der Sowjetunion und den blanken Notwendigkeiten einer Restauration der russischen Staatlichkeit, sprich fundamentaler sozialer Strukturen.   

Gorbatschow bat den Westen 1991 um Hilfe für die Verwirklichung seiner Reform des Sozialismus – die er, versteht sich, von den potentiellen Geldgebern nicht erhielt. Man schickte ihn vom Londoner G7-Treffen zum Scheitern nach Haus, während man Jelzin zu gleicher Zeit ermutigte und half, das Land für eine ökonomische und kulturelle Kolonisierung durch den Westen zu öffnen.

Erst mit Wladimir Putin kehrte so etwas wie die Besinnung Russlands auf sich selbst in die russische Gesellschaft zurück. Putin formulierte bei seinem Amtsantritt zwei grundlegende Ziele, die er danach beharrlich verfolgte und bis heute verfolgt: Russlands Staatlichkeit wieder aufzubauen und Russland entsprechend seiner gewachsenen historischen Rolle wieder zum Integrationsknoten Eurasiens zu machen.

Mit diesem Arbeitsprogramm, seinerzeit unprätentiös als einfache Internetmeldung der Öffentlichkeit bekanntgegeben, wandte er sich zunächst der  Stabilisierung der inneren Verhältnisse des Landes zu, verpflichtete die Oligarchen ihren im Zuge der Privatisierung des Volksvermögens gegeneinander geführten Krieg einzustellen und sich dem Wiederaufbau des Landes zuzuwenden. Das bedeutete für die neuen Reichen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, wieder in minimale kommunale und soziale Verpflichtungen einzusteigen, ihre privaten Vermögen in eine korporative Führung zu überführen, die sich staatlichen Regeln zu unterwerfen hatte. 

Kurz, es war ein Aufbauprogramm. Wer nicht wollte, wurde  beiseite gedrängt. Man erinnere sich an die Namen Wladimir Gussinski, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, die unter Jelzin – neben dem IWF – zu den unerklärten Herrschern Russland aufgestiegen waren.

Der eigentliche Befreiungsschlag Putins bestand jedoch in der Aufkündigung der von Jelzin eingegangenen Abhängigkeit von den Milliardenkrediten des IWF, darauf folgend auch noch in der Rückzahlung der sowjetischen Altschulden an die westlichen Gläubiger, die an der Rückzahlung überhaupt kein Interesse hatten, sondern es lieber gesehen hätten, die Schulden wachsen zu lassen.

Nach der inneren Konsolidierung trug Putin den Anspruch seines Krisenmanagements in die Außenpolitik, um dort der Einkreisung zu begegnen. Von da an ging es Zug um Zug entsprechend den allmählich wachsenden Kräften des neuen Russland.

2007: Putins Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“, bei dem er der aggressiven Militarisierung der Weltpolitik durch die USA, sowie der ebenso aggressiven Ost-Erweiterungspolitik der EU und der NATO erstmals weltöffentlich entgegentrat – ohne dass er zu der Zeit ernst genommen worden wäre. Die westlichen Medien ließen ihn vielmehr als Möchtegern Kraftprotz erscheinen.

Dann aber 2008: Nach der Serie „bunter Revolutionen“ und angesichts neuer Ansätze der Ost-Erweiterung von NATO und EU in die Ukraine, über Georgien und darüber hinaus, zieht Russland die gelbe Karte gegen die Provokationen des Georgischen Präsidenten Saakaschwili, der sich Ossetien einverleiben will.

In der Folge der Georgischen Krise, ebenfalls 2008, entstehen erste Ansätze zur Gründung der Eurasischen Union – übrigens nicht von Putin, sondern vom Kasachischen Präsidenten Nasarbajew angestoßen. 2010 folgt die aktive Erneuerung des Angebotes an die NATO zur Bildung einer gemeinsamen „Sicherheitszone“. 2013 schlägt Russland vor, das Problem der Ost-West-Gespaltenheit der Ukraine zwischen europäischer und eurasischer Union einvernehmlich in Gesprächen zu lösen. Keines dieser Angebote erschien dem Westen wert darauf einzugehen.

Mit dem vom Westen betriebenen Regimewechsel in der Ukraine 2014 ging Russland vom passiven Widerstand gegen die westliche Einkreisungspolitik zum aktiven über, indem es das Referendum der Bevölkerung der Krim zur Frage einer Rückkehr der Halbinsel nach Russland aktiv unterstützte und die Krim in den russischen Staatsbestand aufnahm. Zugleich förderte Russland die Bestrebungen im Osten der Ukraine nach Autonomie – lehnte von dort ausgehende Beitrittswünsche allerdings ab, ja, unterband sogar den Aufbau einer eigenen Staatlichkeit des Gebietes als „Novo Rossia“.

Mit dem Eingreifen  russischer Bomber auf Seiten Baschar al Assads in Syrien und gegen den „Islamischen Staat“ , das zum vorläufigen Rückzug der USA aus deren Interventionsreihe in Mesopotamien führte, fand das russische Krisenmanagement seinen vorläufigen Höhepunkt. Ergebnis ist das gegenwärtige Krisenpatt zwischen den USA und Russland, wie es sich in den von der Türkei, Russland und Iran initiierten Waffenstillstandsverhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana niederschlug, an denen die USA nur als Beobachter teilnahmen. Was daraus folgt, ist offen.

 

Patt – aber gemeinsame Interessen?

So stehen sich diese beiden globalen „Partner“ heute gegenüber. Wenn jedoch von gemeinsamen Interessen, wenn gar von gemeinsamer Sprache der Präsidenten die Rede ist, wenn gesagt wird, Trumps  „America first“ bedeute das Gleiche wie Putins seinerzeit erklärte Absicht, Russland wieder aufbauen zu wollen,  wenn gar gesagt wird, beide seien gleich unberechenbar, oder auch, jetzt würden die USA genauso unberechenbar wie vorher Putin, dann ist das nichts weiter als Augenwischerei, im harmlosesten Fall einfach Unkenntnis historischer Tatsachen oder Dummheit. 

Fakt ist die unübersehbare Kontinuität der Putinschen Politik, der seit seinem Amtsantritt vollkommen berechenbar Schritt für Schritt von der Stabilisierung der innenpolitischen Situation Russlands zur Stabilisierung der globalen Beziehungen fortgeschritten ist – während die USA im gleichen Maßstab ihre Berechenbarkeit verloren haben und mit Trump jetzt gänzlich zu verlieren sich anschicken.

Ergebnis ist, dass die beiden großen Mächte, die heute – neben China als bisher stillem Begleiter – die Weltpolitik wesentlich bestimmen, auf polaren Seiten ein und derselben gegenwärtigen Entwicklung stehen, eben als ein Gespann. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, wenn Trump die Weltordnung in nationale Fragmente zerlegen, der andere, Putin,  die Souveränität des Nationalstaates als Voraussetzung für Stabilität erhalten will.

Putin und Trump treffen an ein und demselben kranken Punkt der gegenwärtigen internationalen Weltordnung aufeinander, beide allerdings letztlich, wenn auch auf gegensätzlichen Seiten, auf löcherigem Boden, denn die heutige Form der globalen Nationalstaatsordnung, manifestiert in den vereinten Nationen, die der eine erhalten, der andere noch weiter als bisher beiseiteschieben will, ist angesichts der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technik und Kultur so oder so überlebt. Sie bedarf nicht nur der Reform, sie bedarf einer zeitgemäßen Weiterentwicklung.

Unter nationalstaatlicher Grundorganisation des heutigen Staatenlebens, um das hier in aller Kürze zu verdeutlichen, ist das im 19. Jahrhundert entstandene Credo zu verstehen, nach dem alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens von der Wirtschaft bis zur Kultur durch den nationalen Einheitsstaat unter staatlichem Gewaltmonopol zusammengefasst und verwaltet und gegenüber allen anderen Staaten zur Geltung gebracht werden, mit denen jeder Staat für sich Arbeitskräfte, Ressourcen und Märkte mit anderen teilen muss.

Kurz gesagt: was des einen Staates Gewinn, ist  zwangsläufig des anderen Verlust. Kriege sind bei dieser Ordnung umso unvermeidlicher, je größer die Anzahl der Nationalstaaten wird, die sich in dieser Weise den globalen Kuchen teilen müssen.

Beim Stand der Dinge ist die Politik, die Trump einzuschlagen gedenkt allerdings die gefährlichere, insofern sie die schon von seinen Vorgängern betriebene Fraktionierung dieser Ordnung unter dem Slogan „America first“ ohne Rücksicht auf zukünftige Folgen, nur getrieben vom spontanen Abwärtstrend der US-Supermacht, wie er sich in dem Weckruf „America first“ ausdrückt, ins Extrem zu treiben antritt. Putins Strategie, insofern sie das eigene Überleben nur im Rahmen eines globalen Krisenmanagements begreift, beinhaltet demgegenüber immerhin die Chance, so etwas wie einen vorübergehenden globalen Stabilitätsrahmen herzustellen,  der ein Sprungbrett für eine Ordnung bilden könnte, die über den Nationalstaat als Grundorganisation  des heutigen Staatenlebens hinausweisen – könnte.

 

Vom Zweier- zum Dreierpatt

Dass die Frage der heute anstehenden Neuordnung letztlich nicht allein zwischen den beiden Polen USA und Russland ausgetragen wird, ist dem bisher Gesagten schließlich noch hinzuzufügen. Zwar treten gewisse historische Linien aus der Vergessenheit der Geschichte wieder hervor, so die anglo-amerikanische, die aus der Tradition des Britischen Commonwealth heraus einem eigenen Kurs gegenüber Mitteleuropa und Eurasien folgt. Das ist eine Spur, die sich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über den zweiten bis zu den jetzt wieder hervortretenden Konstellationen  zieht. Sie  zielt auf eine Schwächung Europas, genauer der europäischen Mitte, insbesondere Deutschlands, noch  genauer und aktuell gesagt auf die Verhinderung einer möglichen deutsch-russischen Achse. Der Austritt Britanniens aus der EU und seine neue Nähe zu den USA unter Trump lässt diese Linie nach Brexit und US-Präsidentenwechsel unmissverständlich hervortreten.

Die historischen Parallelen sind allerdings nur noch bedingt gültig, eine einfache Wiederholung historischer Konstellationen wird es nicht geben können, weil inzwischen – wie schon von Brzezinski unter dem Stichwort der tendenziellen West-Ost-Verschiebung der globalen Machtzentren richtig beschrieben  – andere Kräfte in der Welt aufgetreten sind, insbesondere China. Damit ist der historische Impuls des Commonwealth nicht mehr das einzige bestimmende Element in der Weltgeschichte und auch nicht in der Beziehung zwischen den USA und Britannien und kann es, wenn kein Wunder geschieht, auch nicht wieder werden.

Ein Dreiecksverhältnis ist entstanden, bestehend aus Russland plus China, Europa und den USA, in das sich alle anderen Länder der Welt einfügen müssen. Das könnte dem zwischen Russland und USA entstandenen Patt vorübergehend  eine festere Haltbarkeit geben.

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Könnte,  wenn …

Allerdings kann selbst in einer solchen Dreiecksbeziehung nicht mehr entstehen als eben ein vorübergehendes Stillhalteabkommen. Warum? Weil die Grundfragen der gegenwärtigen Entwicklung, durch Krisenmanagement allein nicht zu lösen sind, solange die drei, und nicht nur die drei, sondern alle Mächte der Welt, alle heute herrschenden Kräfte der Welt, an der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Expansion festhalten, die ja ihrerseits letztlich Ursache der Krisenerscheinungen ist, wie wir sie heute haben.

Nicht oft genug kann wiederholt werden: Wir leben in einer Welt, in der alle bisherigen Versuche das Paradies auf Erden herzustellen gescheitert sind. Das betrifft das Glücksversprechen des Kapitalismus ebenso wie das des realen Sozialismus. Die bisherige Form der Globalisierung erweist sich darüber hinaus auch nicht als Lösung, sondern als Verschärfung dieser Ergebnisse. Die Frage stellt sich also, wie wollen wir leben, wenn nicht so, aber auch nicht so?

Solange eine Antwort auf diese Frage nicht über die Reduzierung des Menschen auf einen „Homo Konsumentis“ hinauskommt, der nur in Kategorien beständiger Expansion, wirtschaftlich gesprochen „Wachstum“ denken und leben kann, solange keine andere Weltorientierung, kein anderes Verständnis vom Menschen in der Welt entwickelt worden ist, das ihn wieder als kosmisches Ganzes begreift, solange ist eine weitere Zuspitzung der genannten Widersprüche unumgänglich, in welcher Konstellation auch immer.  

Das betrifft auch die nationale Frage. Zwar könnte die Achtung der internationalen Ordnung, wie sie die Charta  der Vereinten Nationen enthält, einen Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen abgeben, wenn sich alle Länder darauf als zur Zeit noch verbindlichen Rahmen einigen könnten, und niemand total quer schösse, aber – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – angesichts der globalen Verflechtung unserer heutigen Weltwirtschaft, Technik und Kultur ist die nationale Ordnung des Völkerlebens, ist die nationale Organisation, konkreter gesprochen, der nationale Zugriff auf das Feld der Ressourcen etc., ein auslaufendes Modell.

Die heute anstehenden Aufgaben, allen voran die Bewirtschaftung von Ressourcen – als Beispiel seien nur Öl und Internet genannt – können nur dann befriedigend und friedlich gelöst werden, wenn dies in nicht national begrenzter gemeinschaftsdienlicher Verwaltung  geschieht. Das allein kann eine Entwicklung öffnen, die im Rahmen der allgemeinen Nutzung zugleich zu der existenziell notwendigen Wiederbelebung lokaler Räume durch miteinander verbundene größere oder kleinere Bedarfsgemeinschaften führt.

Gebraucht wird eine Differenzierung gesellschaftlicher Aktivitäten, bei welcher der einzelne Mensch zugleich selbstorganisiert und in kooperativer Gemeinschaft leben kann, ohne von einem Staatsmonopol oder gar einem globalen Hegemons auf einen bloßen Konsumenten reduziert und zum Schräubchen fremder Interessen erniedrigt  zu werden.  

Mögliche Ansätze zu Entwicklungen in diese Richtung gibt es viele – globale,  regionale und lokale. Nach dem ersten, ebenso nach dem zweiten Weltkrieg und heute. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und wird viel ausprobiert . Eine Verwirklichung im großen Maßstab steht jedoch noch aus. Ein vorübergehendes Patt der heutigen Großmächte und ihrer politischen wie auch persönlichen „Follower“ könnte eine Chance sein, einen neuen Anlauf zur Förderung solcher Alternativen zu entwickeln. Klar ist jedoch: Die Rückführung der jetzigen globalen in bi-nationale Beziehungen unter der Dominanz eines Hegemons, wie das von der amerikanischen Politik, genauer von ihrem gegenwärtigen Präsidenten zurzeit anvisiert wird, ist nicht dazu geeignet, Alternativen auch nur ansatzweise zu fördern. Sie läuft auf eine Zertrümmerung solcher Ansätze hinaus. Möglicherweise ist das auch ein Weg zur Erkenntnis, aber es ist der schlechtere Weg.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu  das Video:

http://www.russland.news/putin-und-trump-ein-gespann-video

 

 

und das Buch:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Eigenverlag, Bestellung über: www.kai-ehlers.de

 

Außerdem Vortragsangebote, die Sie buchen können:

Siehe dazu auf der Eingangsseite: VORTRÄGE BUCHEN

[1] Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht, 1996 bei Fischer, neu herausgegeben bei Kopp Verlag, 2015

[2] Brzezinski, Zbigniew, Second Chance, 2006, English, Basic books, 2007

[3] Brzezinski, Zbigniew, Strategic vision, America and the crisis of global power, English, S. 131, Basic Books,

[4] Mackinder, Halford, 1861 – 1947, britischer Geopolitiker, Begründer Theorie des „Herzlandes“

Aleppo – apropos Scham

„Das Versagen“, so lautete der Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Niederlage der „Rebellen“ in Aleppo am 17. Dezember.

„Dass wir alle etwas sehen im 21. Jahrhundert“, erklärte die deutsche Bundeskanzlerin auf dem zurückliegenden Gipfel der „Europäischen Union“, „was zum Schämen ist, wo das Herz bricht,  was zeigt, dass wir politisch nicht so handeln konnten, wie wir gerne handeln würden.“ (ebendort)

Ja! kann man dazu nur sagen! Ja! Es ist eine Schande, was dort in Aleppo, was heute noch in Syrien geschieht, was weiterhin dort zu geschehen droht .

Aber worin besteht das Versagen? Und wer sind „wir“, die sich schämen müssten, weil sie nicht so handeln konnten wie sie wollten?

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Syrien – Regime Change der globalen Art?

Syrien, das Land des mesopotamischen Halbmonds – Wiege der europäischen, der westlichen Kultur. Wird es auch ihr Sterbebett sein, wie manche Zeitgenossen und Zeitgenossinnen schon fürchten? Oder gibt es andere Aussichten?

Vieles wurde dazu schon gesagt. Das Unbestreitbarste sei hier vorangestellt, nämlich: Dass es sich bei dem, was gegenwärtig in Syrien geschieht, nicht um einen Bürgerkrieg, sondern um einen Stellvertreterkrieg handelt. Diese Tatsache bedarf keiner neuen Beweise mehr. Berichte und Analysen wie die der Ethnologin, Islam- und Politikwissenschaftlerin Karin Leukefeld, die seit 2000 als freie Journalistin aus dem Nahen Osten, direkt aus Syrien berichtet, sind für jeden verfügbar.[1] Mehr als ein Dutzend Kriegsparteien, 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land, das dem Terror preisgegeben ist, das sind Tatsachen, die für sich sprechen. Dass es nicht um das Wohl der dort lebenden Menschen, sondern um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist ebenfalls klar.

Wichtig zu erkennen sind aber auch die inneren Probleme Syriens, die aus der Lage des Landes zwischen europäischer Orientierung als jungem säkularem, aus der Willkür nachkolonialer Grenzziehungen hervorgegangenem Nationalstaat und seinem traditionellen, nach umfassender geographischer und ideologischer Ganzheit strebenden arabisch-muslimischen Umfeld, speziell den Aktivitäten der über Syrien hinaus organisierten Muslimbrüderschaft erwachsen.

Es waren diese Widersprüche, die Bashar al-Assads Reformansatz, mit dem er seine Regierung im Jahre 200O antrat, in bewaffnete Auseinandersetzungen abgleiten ließen. Die eben zugelassene Opposition spaltete sich schon auf ihrem ersten legalen Kongress 2011 in einen gewaltfreien Teil und militante Widerständler aus dem fundamentalistischen Milieu, die von Anfang an von außerhalb Syriens unterstützt wurden. Die Regierung Assads sah sich in Kämpfe verwickelt und griff hart durch.  Zu einem Krieg, der das Land zerfetzt, hätte die Situation ohne Interventionen von außen jedoch nicht führen müssen.

Dazu noch einmal Karin Leukefeld, die aus intimer Kenntnis des Landes versichert: „Während die regionalen und internationalen Akteure Syrien nach ihren Vorstellungen und Interessen aufteilen, wollen die Syrer ihr Land und ihre Gesellschaft  heilen und wieder aufbauen. Ließe man sie gewähren, könnten sie in einem halben Jahr viele Fronten beruhigen, ist ein UN-Diplomat überzeugt, mit dem ich mehrmals gesprochen habe. Es sind die ausländischen Einflüsse, die sie daran hindern.“

Dies alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden, zumal Regierung und Medien, einschließlich Wikipedia die Version des Syrischen Krieges als Bürgerkrieg  entgegen jeder inzwischen nicht mehr zu leugnenden Offensichtlichkeit weiter aufrechterhalten. Selbst die kürzlich erfolgte öffentliche Anweisung Obamas, die Nußra-Front, also eine der aktivsten „Rebellen“-Gruppen, wie sie in westlichen Medien genannt werden, nicht weiter zu unterstützen, führt nicht zu einem Eingeständnis, dass diese Gruppe und mit ihr andere „Rebellen“ bisher als Instrumente der Interventionen  benutzt wurden. Und unerwähnt bleibt, dass diese Politik zu einer Ausbreitung des Terrorismus bis in die Zusammenrottung des „Islamischen Staates“ auf der halben Fläche des syrischen Landes und Teilen des Irak geführt hat. 

 

Die andere Dimension

Etwas Drittes rückt jedoch in den aktuellen Absprachen zwischen den gegenwärtigen Hauptantagonisten USA und Russland um einen Waffenstillstand in Syrien inzwischen mehr und mehr zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde dieses Andere durch einen demonstrativen öffentlichen Auftritt Bashar al-Assads im September 2016. Unmittelbar, nachdem die USA und Russland ihre Absicht öffentlich gemacht hatten, ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen, erklärte er, der syrische Staat sei „entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die Syrischen Streitkräfte würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“ fortsetzen.[2]

Der Auftritt verblüffte.  Bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass in den  Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt worden war,  welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende zugedacht ist,  obwohl in den Jahren und noch in den Wochen zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten worden war.

Die russische Position war bis dahin eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen. Alles andere muss notwendig ins Chaos führen.

Ebenso eindeutig war die amerikanische, in ihrem Gefolge westliche Position: Assad muss zurücktreten, um Raum zu geben für eine demokratische Neuordnung  und Stabilisierung Syriens und darüber hinaus des mittleren Ostens.    

Weniger bekannt war, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier überraschte ein von der „Deutschen Welle“ in die Öffentlichkeit gebrachtes Interview, das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung,  zu der Frage gegeben hatte, wie er zu der zu erwartenden Annäherung stehe.

Assads Antwort war deutlich, als er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf einen Nenner brachte, den er „value and deal“ nannte – „Value“ als Motivation für die russische, „Deal“ für die amerikanische Intervention.

Anders als die Politik der USA, so erläuterte die „Deutsche Welle“ Assads Sicht, beruhe  Russlands  Politik nicht darauf, „Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten“. Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne.

Die Russen, so Assad selbst, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.[3]

 

Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Wladimir Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Schon beinahe gebetsmühlenartig klang das, sich in Aufritten führender russischer Politiker wiederholende Angebot zur gemeinsamen Schaffung einer „Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis Lissabon“.  Putin „schockierte“ damit 2007 die sog. Sicherheitskonferenz von München; Dimitri Medwedew wiederholte das Angebot auf der NATO-Konferenz von Lissabon 2010. Kern war immer die Stärkung der UNO und der KSZE als organisatorisches Rückgrat einer solchen Sicherheits-Struktur auf der Basis einer Anerkennung  der Souveränität von Nationen als verbindliche globale  Grund-Ordnung – mit dem Ziel einer Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen.   

In seiner letzten großen Rede auf dem 13. Waldai-Forum vom 27. Oktober 2016 unterstrich Wladimir Putin diese Position Russlands noch einmal: „Für uns gibt es keinen Zweifel, dass die Souveränität die zentrale Idee des gesamten Systems der internationalen Beziehungen ist.  Ihre Anerkennung und  ihre Festigung  wird helfen Frieden und Stabilität zu sichern  sowohl  auf internationaler wie auf nationaler Ebene.“

Er beließ es nicht bei dieser allgemeinen Feststellung, sondern konkretisierte: „Man muss  der internationalen Agenda die Aufgabe hinzufügen den Ländern des Mittleren Ostens dabei zu helfen, eine nachhaltige Staatlichkeit, Ökonomie und soziale Sphäre wieder aufzubauen. Das  ungeheure Ausmaß an Zerstörung erfordert die Aufstellung eines langfristigen Programms, eine Art Marshall-Plan, um die von Krieg und Konflikten zerrissenen Gebiete wieder zu beleben. Russland ist unbedingt willens sich aktiv an solchen gemeinschaftlichen Bemühungen zu beteiligen.“[4]

 

USA: Spiegelverkehrt

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nahmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung  zu betreiben.

Diese Politk ist durch das unter G.W. Bush entwickelte „Project of a new American century“[5] und das daran anschließende weiterführende Projekt eines „Greater Middle East“ [6] mit dem darin nicht misszuverstehenden Aktionsterminus der „kreativen Zerstörung“, schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden.

Beide Projekte entstanden nicht etwa aus politischer Not, etwa um ein Chaos im Nahen Osten zu befrieden, sondern gingen aus der Schule des bekannten US-Strategen Zbigniew Brzezinski hervor,  der den nah-östlichen zusammen mit dem zentralasiatischen Raum in seinen Skizzen zur Erhaltung der US-Vorherrschaft als „Eurasischen Balkan“ definiert hatte. Die schwächeren Länder darin bezeichnete er als „Brückenkopf“ für den Zugriff der USA auf die Rohstoffvorkommen dieses Gebietes und zur Stabilisierung der US-Vorherrschaft, insbesondere zur Eindämmung russischen Einflusses.[7] Auch dies ist sattsam bekannt.

 

Syrien letzte Station

Syrien war auf dieser Line die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Am 18. August 2011 forderte Obama Assad öffentlich zum Rücktritt auf: „Die Vereinigten Staaten werden vom Streben der syrischen Bevölkerung nach einem friedlichen Übergang zur Demokratie inspiriert… Die  Zukunft Syriens muss von seiner Bevölkerung bestimmt werden, aber Präsident Bashar al-Assad steht ihr im Weg. … Die Vereinigten Staaten können und werden Syrien diesen Wandel nicht diktieren. Es liegt nun in der Hand der syrischen Bevölkerung, ihre Politiker selbst zu wählen, und wir haben den starken Wunsch der Menschen vernommen, dass es in ihrer Bewegung keinen Eingriff von außen geben soll. Die Vereinigten Staaten werden Bestrebungen vorantreiben, die ein demokratisches und gerechtes Syrien für alle Bürgerinnen und Bürger des Landes hervorbringen. Wir werden einen derartigen Ausgang der Ereignisse unterstützen, indem wir Präsident Assad dazu drängen, diesem Wandel nicht mehr im Wege zu stehen, und indem wir uns zusammen mit der internationalen Gemeinschaft für die allgemeinen Rechte der syrischen Bevölkerung einsetzen.[8]

Zu  welchem Wandel die Unterstützung der USA geführt hat, muss hier nicht noch einmal ausgeführt werden.  Festzuhalten ist nur, dass Obama sich bis heute nicht von dem Aufruf gelöst hat. Was sein Nachfolger tun wird, ist offen.

 

Wendepunkt Libyen

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war das für Russland Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht,  Russland ist inzwischen auch soweit wieder zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegen zu treten.

Dahinter werden selbstverständlich auch neue Konstellationen im globalen Kräfteverhältnis sichtbar: China, Indien, Iran, Türkei, Südafrika, Südamerika, Saudi-Arabien, die Staaten der EU, Kanada und kleinere Mitläufer – alle interessiert an der  Ausweitung ihrer Spielräume durch eine Zähmung der USA, nicht wenige von ihnen wie die Staaten der EU, wie Iran,  die Türkei, Saudi-Arabien, Quatar, Israel direkt oder indirekt in die Kriegshandlungen auf dem syrischen Boden involviert.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende„ herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder schwenken die USA auf die Linie Russlands ein, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und  Syriens erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt würde. 

 

Noch einmal Assad

Unter dem Eindruck der Verunsicherung, die von dem Ergebnis der US-Wahl ausging, bekräftigte Assad im Gespräch mit dem Portugiesischen  Fernsehens (RTP TV) im November 2016 noch einmal seine Position.[9]

Drei Passagen dieses äußerst lesenswerten Interviews sollen hier vorgestellt werden:

Erstens: Was er dazu sage, dass Russland, der Iran und die Hizbollah an der Seite der syrischen Armee im Einsatz seien.

Assad: „Sie sind hier, weil sie wichtige Hilfe anbieten konnten, denn in der Situation, der wir uns jetzt gegenübersehen, geht es nicht nur um ein paar Terroristen innerhalb Syriens: es ist wie ein internationaler Krieg gegen Syrien. Diese Terroristen sind von zig ausländischen Staaten unterstützt  worden, so dass Syrien nicht in der Lage gewesen wäre ohne Hilfe seiner Freunden dieser Art des Krieges zu begegnen.“[10]

Zweitens: Ob er nicht fürchte in Abhängigkeit von Putin zu geraten:

Assad: „Nein, erstens, wir sind vollkommen frei, nicht teilweise, vollkommen frei, in Bezug auf alles, was Syrien betrifft. Zweitens, was wichtiger ist oder wenigstens so wichtig, wie der erste Teil oder der erste Faktor, ist die Tatsache, dass die Russen  ihre Politik immer auf Werten aufbauen, und diese Werte sind die Souveränität anderer Länder, das internationale Recht, der Respekt für andere Völker, oder Kulturen, so dass sie in nichts intervenieren, was die syrische Zunft oder das Syrische Volk betrifft.“ [11]

Drittens: Ob er der Ansicht des designierten neuen UN-Generalsekretärs António Guterres zustimmen könne, dass Frieden oberste Priorität für Syrien habe:

 

Assad: „Unbedingt. Natürlich. Es  ist seine Priorität, und natürlich ist es unsere Priorität, das ist selbstverständlich. Es ist nicht nur unsere Priorität; es ist eine Priorität des Mittleren Ostens, und wenn der Mittlere Osten stabil ist, ist der Rest der Welt stabil, denn der Mittlere Osten ist das Herz der Welt, geografisch und geopolitisch, und Syrien  ist das Herz des Mittleren Ostens, geografisch und geopolitisch. Wir sind die Bruchlinie; wenn man diese Bruchlinie nicht beachtet, wird man ein Erbeben bekommen, das ist das, was wir immer gesagt haben. Darum ist diese Priorität  aus unserer Sicht hundertprozentig korrekt, und wir sind bereit  in jeder Weise zu kooperieren, um Stabilität in Syrien zu erreichen, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Interessen des Landes und des Willens des Syrischen Bevölkerung.“ [12]

 

Treffender lässt sich die Bedeutung des syrischen Krieges kaum noch beschreiben.

 

 

Souveränität für alle?

Hier erhebt sich allerdings die weiter führende Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe oder eines Volkes von den Vertreten des Souveränitätsprinzips die gleiche  Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das vor allem die Kurden, die heute in drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Rojawa“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Rojawa“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre kommunitäre Verfassung, die auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, insbesondere auch der Frauen  aufbaut, nicht nur zu einem zukunftsweisenden Modell für ganz Syrien werden. Es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für „Rojawa“ gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, sie vorübergehend dulden wie Russland  oder sie gar, wie die Türkei,  als „Terroristen“ bekämpfen.

 

„Islamischer Staat“ als Teil des Problems

Zum Nachdenken in diesem Zusammenhang fordert heraus, was Ibrahim al Dschaafari, Außenminister des Irak gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ äußerste, als er dieser Tage zu den „Fortschritten bei der Befreiung Mossuls“ befragt wurde:

„Es ist Hass entstanden bei den jungen Menschen in der Dritten Welt, „erklärte er. „Sie glauben, sie leben in einer Welt, die sehr reich ist, sie aber leben in armen Verhältnissen. Und sie sehen den Wohlstand,  und alle die Rechte der Europäer und Amerikaner.  Es gibt eine ‚Nordwelt‘, wo 20 Prozent der Menschen leben, denen 80 Prozent des Vermögens gehört. Und eine ‚Südwelt‘, wo 80 Prozent der Menschen leben, denen aber nur 20 Prozent gehören.“ 
Und er mahnt: „Wir müssen alle zusammen gegen den Terrorismus kämpfen. Nicht jeder allein für sich, sondern  alle Menschen dieser Erde. Alle  Länder sind vom IS-Terror  betroffen. Wenn die Dschihadisten  aus dem Irak oder aus Syrien oder Ägypten  vertrieben werden, dann werden sie woanders hingehen, wo es stabil ist. Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu einem Weltkrieg geworden. Im ersten Weltkrieg bekämpften sich nur die Militärs, im Zweiten Weltkrieg gab es große zivile Opfer. Dieser dritte Weltkrieg ist ein neuer Krieg. Er richtet sich allein gegen Zivilisten.“[13]

 

Und, darf man zustimmend ergänzen, auch wenn manches in Dschaafaris Text Kritik herausfordert, etwa seine Sicht auf die Weltkriege: Hass ist nicht nur in der islamischen Welt entstanden und die Welle des Aufruhrs, die auf die „entwickelte Welt“ zurollt, kommt nicht nur von außen, sondern auch von innen.

Der Krieg in Syrien, heißt das, ist nicht nur mehr als ein Bürgerkrieg, er ist aber auch nicht nur ein Stellvertreterkrieg, er ist ein Weltordnungskrieg.  Es geht um nicht weniger als um die Frage: Wie wollen und wie können wir morgen in einer Welt leben,  die immer mehr Menschen, hervorbringt, die sich nicht als Überflüssige an den Rand drängen lassen wollen.

 

Kampf um eine neue Ordnung

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität,  Selbstbestimmungsrecht der Völker und Selbstbestimmungsrecht des Individuums in ein neues Verhältnis zueinander bringt.

In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht, klar gesprochen, dem Modell des amerikanisch dominierten Finanzkapitalismus unterworfen ist.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiter führende Frage, WIE das geschieht.  Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation oder gar – darüber hinaus – durch neue Formen des Arbeitens und miteinander Lebens, die über   die heute noch herrschenden Ausbeutungsverhältnisse hinausführen.

Vor diesem Hintergrund ist die Zurückweisung der von den USA betriebenen „kreativen Zerstörung“ und deren Ablösung durch eine Orientierung auf Stabilität und strikte Einhaltung der nationalen Souveränität im Rahmen einer reformierten UN heute die rationalste Alternative, eine Art Minimalkonsens in Form eines globalen Stabilitäts- und Entwicklungspaktes – wenn sich nicht nur eine gewaltsame Ablösung des bisherigen Hegemons durch einen anderen vollziehen soll.  Ein solcher Pakt könnte den Rahmen für die Bearbeitung der anstehenden Fragen abgeben. Eine Lösung ist er noch nicht.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

 [1] U.a. Kasseler Friedensforum, 30.11.2015,  siehe auch ihr Buch: “Flächenbrand: Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat“, Papyrossa, (Neue Kleine Bibliothek) 20. Februar 2016

[2] Zitiert nach FAZ, 13.09.2016

[3] https://www.google.de/?gws_rd=cr&ei=bpvZV-vPLq-W6QSL8KbADw#q=DW+USA+wollen+in+Syrien+mit+Russland+zusammenarbeiten

[4] Präsident Russlands, Protokoll des 13. Waldai-Treffens: http://en.kremlin.ru/events/president/news/53151 (Englisch)

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fraum_Mittlerer_Osten

[7] Brzezinski, Zbigniew: „Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, Fischer tb 14358, 1999, Darin insbesondere der Abschnitt „Geostrategische  Akteure und geopolitische Dreh- und Angelpunkte“, sowie das Kapitel “Eurasischer Balkan“.

[8] http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien/obama.html

[9]  Portugiesisches Fernsehen, RTP TV, 16. November2016 , Syrien Arab News Agency (SANA), http://sana.sy/en/?p=93484

[10] ebenda, Frage 5

[11] ebenda, Frage 7

[12] RTP TV Channek, 16. November,  2016

[13] FAZ, Montag, 21.11.2016 , S. 2: „Wir brauchen einen Marshallplan für Mossul“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in „Hintergrund“ 1/2017

 

Putins Notruf – und kaum einer hört hin. Betrachtungen im Schatten des US-Wahlkampfes

Waldai 2016: Unüberhörbar deutlich, und doch im Westen unter dem Getöse des amerikanischen Wahlkampfes nahezu ungehört, schickte der russische Präsident Wladimir Putin als Hauptredner der dreizehnten Waldai-Konferenz vom Ende Oktober, die inzwischen als östliches Gegenstück zur Münchner Sicherheitskonferenz gesehen werden muss, einen Notruf in die Welt: Nichts habe sich seit der letzten Konferenz zum Besseren gewendet, so leitete er seine Rede ein, tatsächlich, wäre es ehrlicher zu sagen, nichts habe sich geändert.[1]

Noch „ehrlicher“ wäre es, in Fortsetzung des Putinschen Komparativs festzustellen, dass genau dieses „nichts“, so paradox es klingen mag, das ist, was die Lage verändert hat – und zwar zum Schlechteren hin.

Ein kurzer Rückblick auf die Reden, die Putin bei den Konferenzen 2014 und 2015 hielt, mag das verdeutlichen und damit den Ton der Rede von 2016 verständlicher werden lassen.

 

Vom Angebot zur Mahnung

Die Rede vom elften Treffen  2014 stand unter der Frage „Weltordnung: Neue Regeln oder ein Spiel ohne Regeln?“. Die Rede  enthielt, bei aller unüberhörbaren Kritik an der Einkreisungspolitik des Westens, die alle Reden Putins seit seinem Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“ transportieren, ein klares Angebot. Angeboten wurde von Putin die aktive Beteiligung Russlands an der Stabilisierung der internationalen Ordnung durch gezielte gegenseitige Achtung und Stärkung der Souveränität aller Nationen auf Basis des für alle gleichermaßen geltenden Völkerrechtes  im Rahmen ihrer Kooperation in der UNO. In dieses Angebot war die Wahrung der eigenen russischen Interessen ausdrücklich mit eingeschlossen:

„Russland hat seine Wahl getroffen“, erklärte Putin damals in voller Zuwendung zu Russlands „Partnern“, wie er seine westlichen Gegenüber nannte, „unsere Prioritäten bestehen in einer weiteren Vervollkommnung der demokratischen Institutionen und einer offenen Wirtschaft, in einer beschleunigten inneren Entwicklung unter Berücksichtigung aller positiven derzeitigen Tendenzen der Welt und der Konsolidierung der Gesellschaft auf Grundlage traditioneller Werte und des Patriotismus. Auf unserer Tagesordnung steht die Integration, diese Tagesordnung ist positiv und friedlich, wir arbeiten aktiv mit unseren Kollegen in der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der BRICS und anderen Partnern zusammen. Diese Tagesordnung zielt auf die Entwicklung von Beziehungen der Staaten untereinander und nicht auf Absonderung. Wir haben nicht vor, irgendwelche Blöcke zusammenzuzimmern oder uns in einen Schlagabtausch ziehen zu lassen. Jeder Grundlage entbehren auch Behauptungen, Russland sei bestrebt, irgendein Imperium wieder zu errichten oder verletze die Souveränität seiner Nachbarstaaten. Russland verlangt nicht nach irgendeinem besonderen, außerordentlichen Platz in der Welt, das möchte ich betonen. Indem wir die Interessen der anderen achten, möchten wir einfach, dass man auch unsere Interessen berücksichtigt und unsere Positionen achtet.“ [2]

In einer Rede die er am 29. September 2015 vor der UN-Vollversammlung zum  70. Jahrestag der Organisation, hielt, bekräftigte Putin übrigens dieses Angebot noch einmal: „Russland glaubt an das riesige Potential der UNO, das uns helfen sollte, eine globale Konfrontation  zu vermeiden und zur Strategie der Kooperation überzugehen. Zusammen mit anderen Staaten  werden wir konsequent  auf die Stärkung  der zentralen und koordinierenden  Rolle der UNO hinarbeiten.“

2015, bei der 12. Waldai-Konferenz schlug Putin einen wesentlich besorgteren Ton an. Hintergrund war die Ausweitung der Konflikte von der Ukraine auf Syrien, der anhaltende Sanktionskrieg  gegen Russland und die ausufernde Dämonisierung Russlands in den westlichen Medien. Unter dem Thema „Krieg und Frieden: Mensch, Staat und die Gefahr eines großen Konflikts im 21. Jahrhundert“ ging Putin die aktuellen Krisen-Schauplätze durch: Ukraine, Syrien, IS, der Sanktionskrieg. Er betonte die Legitimität des russischen Militäreinsatzes in Syrien, die im Einklang mit der Souveränität des Landes stehe, im Gegensatz zur illegitimen Intervention der USA und der von ihr geführten Koalition. Er warnte vor einer Teilung Syriens als „schlimmstem Szenario“ und wurde schließlich sehr deutlich, als er erklärte, nach der Entwicklung von Atomwaffen könne es in einem globalen Konflikt keine Sieger geben. Es liege klar auf der Hand, dass ein solcher Konflikt mit einer gegenseitigen Vernichtung zu Ende gehen würde. „In dem Versuch, eine Waffe mit immer höherer Zerstörungskraft zu entwickeln“, so Putins Fazit zum Thema der Tagung, „machte der Mensch einen groß angelegten Krieg sinnlos.“[3]

In der westlichen Berichterstattung mutierte diese Passage selbstverständlich – so muss man es leider sagen – umgehend zur Drohung.

 

2016: Bemerkenswerte Obertöne

Die aktuelle Rede vom Oktober 2016 unterscheidet sich von den zuletzt vorausgegangenen in bemerkenswerter Weise. Genau betrachtet zerfällt sie in drei Teile, von denen der erste und der letzte, so kann man es inzwischen schon sagen, im konventionellen Rahmen des gegenwärtigen Konfliktmanagements bleiben und deshalb hier nur kurz gestreift werden sollen.

Im ersten Teil der Rede führt Putin die bisherige Kritik an der Politik des Westens zu einer offenen Anklage gegen die von den USA betriebene Politik des Regime-Change. Die USA gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten hätten die Chance einer globalen Verständigung, welche in den späten 80ern und frühen 90ern bestanden habe, bewusst ausgeschlagen. Im Ergebnis befinde sich das „System der internationalen Beziehungen“ in einem „fiebrigen Zustand“, könne die globale Ökonomie ihre „Systemkrise“ nicht überwinden. Im Schlussteil der Rede geht es Putin um aktuelle Maßnahmen des Krisenmanegements. Er bekräftigt die bekannte Position Russlands, „dass Souveränität die zentrale Idee des gesamten Systems der internationalen Beziehungen sei“, um die herum allein Stabilität auf nationaler und internationaler Ebene entwickelt werden könne. Als möglichen Schritt in diese Richtung schlägt er die Entwicklung einer „Art Marshall Plan“ für die Staaten des mittleren Ostens vor, darüber hinaus auch gleich den Übergang zu Entlastungen und Aufbauhilfe für andere schwache Staaten,

 

Mahnungen an die „Eliten“

Zwischen der konventionellen Einleitung, in der Putin die Systemkrise konstatiert, und dem pragmatischem Schlussteil des Minimalprogramms zur Stabilisierung des Mesopotamischen Raumes,  führt der Hauptteil der Rede, anknüpfend an seine Charakterisierung der globalen Lage als „fiebrige Situation,  in eine ganz andere Dimension:

Die Frage stelle sich, so Putin, „was erwartet die Welt, wenn die Dinge sich in dieser Weise fortsetzen? Was für eine Welt werden wir morgen haben? Haben wir Antworten auf die Fragen, wie Stabilität, Sicherheit und eine nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu gewährleisten sind?“

Und er beantwortet diese Frage im nächsten Atemzug gleich selbst: „Traurig zu sagen, es gibt keinen Konsens zu diesen Fragen in der heutigen Welt. Mag sein, dass Sie in Ihren Diskussionen zu einigen allgemeinen Schlüssen gekommen sind, und ich wäre natürlich interessiert, sie zu hören. Aber es ist sehr klar, dass es einen Mangel an Strategie und Ideen für die Zukunft gibt. Das lässt ein Klima der Unsicherheit entstehen, das direkte Folgen auf die öffentliche Stimmung hat.“

Soziologische Studien rund um die Welt zeigten, so Putin, dass die Menschen in  verschiedenen Ländern  und auf verschiedenen Kontinenten dazu tendierten, die Zukunft trübe und öde zu sehen. Dies sei bedauerlich. Die Zukunft verlocke sie nicht, sondern ängstige sie. Zugleich sähen sie keine realen Möglichkeiten, irgendetwas zu ändern, Einfluss zu nehmen und Politik zu gestalten. Selbst in den entwickeltsten Demokratien habe die Mehrheit der Bürger keinen wirklichen Einfluss auf die politischen Prozesse und auf die Macht. Die Menschen fühlten eine zunehmende Kluft zwischen ihren Interessen und den Vorstellungen der „Eliten“ vom  „einzig richtigen Weg, einem Weg, den die Eliten selbst bestimmen.“ Ergebnis: Referenden und Wahlen brächten immer öfter Überraschungen für die Autoritäten hervor. Diese Entwicklung könne nicht einfach als „populistische“ Radikalisierung abgetan werden vielmehr gehe es hier um „gewöhnliche Menschen, normale Bürger, die ihr Vertrauen in die herrschende Klasse verlieren.“!

Es stelle sich schließlich die Frage: „Wer ist tatsächlich die Randgruppe? Die expandierende Klasse der supranationalen Oligarchie und Bürokratie, die in der Tat oft nicht gewählt ist und die nicht durch die Gesellschaft kontrolliert werden kann, oder die Mehrheit der Bürger, die einfache und klare Dinge wollen – Stabilität, freie Entwicklung ihrer Länder, Aussichten für ihr Leben und das ihrer Kinder, Bewahrung ihrer kulturellen Identität und, schließlich, Sicherheit für sich und ihre Lieben.“

Es folgen noch Ausführungen zum internationalen Terrorismus, der von einer fernen Bedrohung zu einer alltäglichen geworden sei. Man solle denken, so Putin, dass nach langen Verhandlungen nun eine gemeinsame Front gegen den Terrorismus zustande gekommen sei. Aber leider zeigten die westlichen Länder  das „unerklärliche und ich würde sagen irrationale Verlangen“, immer wieder dieselben Fehler zu machen wie zuvor schon in Afghanistan, Irak, Libyen, jetzt in Syrien, zu glauben nämlich, man könne Terroristen in gemäßigte, die man für eigene Ziele benutzen könne, und radikale unterscheiden.

Aber dies, so Putin sei ein sehr gefährliches Spiel, und er wende sich noch einmal an die „Spieler“: „Die Extremisten sind in diesem Falle schlauer, cleverer, und stärker als ihr, und wenn ihr diese Spiele mit ihnen spielt, werdet ihr immer verlieren.“

Unüberhörbar schwingt hier die Warnung vor möglichen Unruhen und Revolten mit. Als Präsident Russlands, das von Revolutionen mehr als jedes andere Land geschüttelt wurde, weiß Putin, wovon er spricht.

 

Und dazu die USA: Koinzidenz des Unvereinbaren

Putins mahnende Worte zur Abgehobenheit der „Eliten“, zum schwindenden Vertrauen der Bevölkerungen in ihre Regierungen, zu den daraus hervorgehenden Tendenzen der Selbstorganisation kamen zu einer Zeit, in der die USA sich in einem erschreckend inhaltlosen Wahlkampf  selbst zerfleischten.

Lassen wir hierzu eine Stimme aus der Zahl der besten Freunde der USA zu Wort kommen, der „Frankfurter Allgemeine Zeitung.

In einem Kommentar kurz vor der Wahl kam sie zu folgendem Fazit: „Schlammschlachten um das Weiße Haus  gab es in der langen Geschichte  der amerikanischen Demokratie auch früher.  Doch steht zu befürchten, dass die jüngste nicht am Wahltag endet.  In Amerika tobt ein neuer, ein politischer Bürgerkrieg, in dem nicht nur schwarze Bürger gegen weiße Polizisten und die Demokraten gegen die Republikaner kämpfen, sondern auch die Angehörigen einer sich um den amerikanischen Traum betrogen fühlenden Unter- und Mittelschicht gegen das politische und ökonomische `Establishment´. Dieses ist auch selbst gespalten. In ihm tritt der Isolationismus gegen den Interventionismus an und der Überrest des amerikanischen Missionsglaubens gegen ‚America First“. (…) Die Führungsmacht des demokratischen Westens (…) droht in einer Zeit an sich selbst zu scheitern, in der sie in der Weltpolitik als ein den Werten der liberalen Demokratie verpflichteter Stabilitätsanker und global agierender Ordnungsfaktor gebraucht würde wie selten zuvor.“ ‘…[4]

„Der russische Präsident“, heißt es dann zu Begründung der aus dem Zustand der USA resultierenden Gefahr, „betreibt eine aggressive, remilitarisierte Außenpolitik unter Missachtung internationaler Regeln und Prinzipien, um sein Regime  zu sichern und um von den Missständen im Inland abzulenken. Er nutzt für seine Zwecke nun auch das Machtvakuum und das Chaos, das Washington  nach dem Abzug aus dem Irak im Nahen Osten  hinterließ.“ Auch China wolle Supermacht werden. Die Türkei drohe  zu einer islamistischen Präsidialdiktatur zu werden.  Die EU stecke in der schlimmsten Krise ihrer Geschichte. Kurz: „Die freie Welt wird von Lähmung und Spaltung und Zerfall geplagt und nicht nur in Moskau, sondern auch in den westlichen Völkern  finden manche, das geschehe ihr recht.“

 

Führungswechsel?

Was, fragt man sich, hat dies alles zu bedeuten? Was kann aus dem Zusammentreffen dieser von Putin in Waldai beschworenen und von den USA in ihrem irren Wahlkampf vorgeführten großen Leere bei den „Eliten“ und der wachsenden Unzufriedenheit der „Menschen“  entstehen? Ist das amerikanische Zeitalter mit einem Donald Trump als zukünftigem Präsidenten nun an ihren Tiefpunkt gelangt? Wird Russland neue globale Führungsmacht, die zusammen mit Europa ein eurasisches Zeitalter eröffnet? Steht China vor der Tür? Oder gar die Türkei als Wiedergeburt osmanischer Größe?

Mitnichten. Spekulationen dieser Art verbieten sich. Sicher ist allein, dass die Grundfragen der gegenwärtigen Übergangsepoche die herrschenden politischen Mächte an eine Grenze führen, die zu überschreiten, nicht nur neue Formen der Politik erfordert, sondern auch neue Orientierungen nötig macht, über die heute in keinem der herrschenden Länder, genauer bei keiner ihrer „Eliten“ eine Vorstellung besteht.

Deutlich tritt die Frage zutage, auf die es bisher keine Antwort gibt: Wie will, wie kann die Menscheit leben in einer Welt, die durch profitorientierte Automation und bei gleichzeitigem Wachstum der Weltbevölkerung immer mehr Menschen hervorbringt, die als „Überflüssige“ an den Rand der Gesellschaften gedrängt werden?

Angesichts dieser Lage ist Putins Stimme zurzeit die vernünftigste, wenn er zur Einhaltung des geltenden Rahmens internationaler Beziehungen und zu „wahrer Führungskraft“ aufruft, die darin bestehe, konkrete Wege der Friedenssicherung aufzuzeigen. Was eine von Trump angeführte US-Regierung bringt, wird sich bald  zeigen.

Eine nachhaltige Lösung liegt allerdings auch in Putins Notruf nicht. Bloßes Krisenmanagement muss letztlich in Stagnation enden, solange die Perspektiven nicht über die „Sicherung des Wachstums“ hinausweisen – denn das heute herrschende Verständnis von Wachstum ist ja gerade die Ursache der Konflikte.

Bleibt also nur die Hoffnung, dass die von  Putin genannten weltweiten Impulse aus den unruhig werden Bevölkerungen, selbst die Dinge in die Hand nehmen zu wollen, die „Eliten“ zwingen neue Wege zu gehen – oder selber zu gehen. Ob das auch seine eigene Perspektive ist, ließ Putin in seiner Rede offen.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Erscheint demnächst:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, Neuauflage, hrsg. vom Verein zur Förderung der deutsch-russischen Medienarbeit e.V., Dezember 2016,

Bestellungen über www.kai-ehlers.de

[1] Dieser Absatz wie alle folgenden  Passagen der Waldai-rede Putins werden zitiert nach der englischen Übersetzung aus sott.net: https://www.sott.net/article/332371-Putin-2016-speech-at-Valdai-Discussion-Club

[2] Siehe dazu auch: Kai Ehlers, “Wladimir Putins Botschaft an den Westen – ein Zeitfenster für Alternativen“, nachzulesen u.a. auf www.kai-ehlers.de

[3] https://de.sputniknews.com/politik/20151022305127363-garantierte-gegenseitige-vernichtung/

[4] Dieses und die folgenden drei Zitate aus „Selbstmörderische Supermacht“, Kommentar in der FAZ vom 5.11.2016

„Values and deals“ – Anmerkungen zu einem verborgenen Aspekt des syrischen Krieges

Dass es in Syrien nicht um das Wohlergehen der dort lebenden Menschen geht, bedarf keiner Beweise: 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land. Diese Tatsachen sprechen für sich. Dass dem Terrorismus mit Bomben nicht beizukommen ist, gleich, wo sie produziert, von wem sie abgeworfen werden und wie entschlossen sich alle Beteiligten geben, ist ebenso offensichtlich. Dass es um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist auch klar. Das alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden.

Aber etwas Drittes rückt in den aktuellen Absprachen zwischen USA und Russland um einen Waffenstillstand zurzeit in Syrien zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde das durch einen irritierenden Auftritt Bascha al Assads unmittelbar nach Bekanntgabe der zwischen den USA und Russland getroffenen Absichtserklärungen ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen:

„Der syrische Staat“, ließ Assad bei einem, wie die FAZ zu Recht als besonders bemerkenswert hervorhebt, „seltenen öffentlichen Auftritt“ demonstrativ verlauten, „ist entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die Syrischen Streitkräfte, so Assad  weiter,  würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“  fortsetzen. (Zitiert nach FAZ, 13.09.2016)

Was war das? Die Ansage eines unverbesserlichen „Schlächters“? Eine Provokation? Verzweiflung? Eine Dummheit? Ein abgesprochener Auftritt? Wenn abgesprochen, dann mit wem und wofür?

 

Schweigen zu Assad

Bei genauerem Nachforschen fällt auf, dass in den aktuellen Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt wird, welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende spielen soll, nachdem zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten wurde.

Die russische Position war bisher eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen.

Die amerikanische Position war ebenso eindeutig. Sie ist durch das schon unter G.W. Bush entwickelte „Project of a new American century“[1] unmissverständlich und schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden. Auch dies ist sattsam bekannt.

Weniger bekannt ist, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier lohnt ein Blick auf ein von der „Deutschen Welle“ gezeigtes  Interview[2], das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung,  zu der Frage gab, wie er zu dieser Annäherung stehe.

Assads Antwort verblüfft, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf den frappierenden Nenner bringt, den er „value and deal“ nennt – „value“ als Motivation für die russische, „deal“ für die amerikanische Intervention.

In den Worten der „Deutschen Welle“ klingt das so: „Anders als die Politik der USA fuße die russische Politik nicht darauf, Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten.  Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne, so Assad.“

Die Russen, so Assad weiter, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.

 

Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nehmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung  zu betreiben. Syrien war auf dieser Line, wie gesagt, die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war für Russland das Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht,  Russland ist inzwischen auch soweit zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegenzutreten.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was jetzt mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende„ herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder sind die USA auf die Linie Russlands eingeschwenkt, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und des Landes erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt werde.

 

Souveränität für alle?

Hier erhebt sich die weiterführende prinzipielle Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe, eines Volkes die gleiche  Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das die Kurden, die heute drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Roschawa“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Roschawa“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre Verfassung nicht nur zu einem Modell für ganz Syrien werden, es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als internationales,  als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für „Roschawa“ gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, oder gar, wie die Türkei, sie als „Terroristen“ bekämpfen.

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität  und Selbstbestimmungsrecht der Völker in ein neues Verhältnis zueinander bringt. Das könnte geschehen, indem als drittes Element das Selbstbestimmungsrecht des Individuums mit in den Zusammenhang eingeht – eine Aufgabe der Zukunft.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiterführende Frage, WIE das geschieht.  Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation und darauf beruhende Vereinbarungen. In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht unterworfen ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[2] https://www.google.de/?gws_rd=cr&ei=bpvZV-vPLq-W6QSL8KbADw#q=DW+USA+wollen+in+Syrien+mit+Russland+zusammenarbeiten

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