Schlagwort: Überflüssige

Revolution oder Revolte (jetzt auf deutsch)

Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie Du mit Deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semi-kapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie Du ihn nennen würdest bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die ‚Verdammten dieser Erde‘ heute eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland in dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?

Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht Deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun. Dieser Mangel ergibt sich aus objektiven Bedingungen, nicht aus unseren politischen Überzeugungen. Gleichgültig, was wir oder Leute wie wir in den 1980er-Jahren dachten: Sozialismus oder Revolution hatten damals keine Chance. Als wir glaubten, dass eine theoretisch hergeleitete Alternative wesentlich sei, hatten wir Unrecht. Alternativen haben in der Vergangenheit niemals Revolutionen hervorgebracht und werden das auch in der Zukunft niemals tun. Im Gegenteil: Nur andauernde Revolutionen bringen reale (nicht falsche, utopische oder imaginierte) Alternativen hervor.
Es ist seltsam, dass Du Russland »semi-kapitalistisch« nennst. Was ist falsch am russischen Kapitalismus? Warum soll ein russischer Oligarch ganz anders sein als ein amerikanischer, deutscher oder peruanischer? Das Weltsystem integriert alle Länder, und es gibt spezifische Nischen für die deutsche verarbeitende Industrie wie für russische, lateinamerikanische oder saudische Ökonomien, die den globalen Kapitalismus mit Rohstoffen und anderen Ressourcen versorgen. Dies macht die Kapitalismen jeweils besonders. Aber dieses Modell der Arbeitsteilung, das im Neoliberalismus entstand, ist nun in einer Krise, die uns über Kriege und Revolutionen in eine andere, sich radikal von der gegenwärtigen unterscheidenden Gesellschaft führen wird.
Der ökonomische Zerfall ist die Ursache der Krisen, die wir rund um uns herum erleben, einschließlich des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der wenig zu tun hat mit Demokratie oder Nationalismus. Trump, Brexit, Nawalny, der Krieg im Donbas und die Kapitulation von Syriza in Griechenland, die unerwarteten Erfolge von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind nur einige weitere Symptome dafür. Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten? Sowohl als auch. Viel hängt davon ab, wie wir entstehende Möglichkeiten nutzen und die Gefahren meistern, die auf uns zukommen.

Kai Ehlers: Zweifellos stehen wir am Beginn einer globalen Krise des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Form. Ich meine auch, dass Russland Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft ist – allerdings auf eine spezifische Weise, die Du als »peripher« bezeichnest, die ich als »hybrid« beschreibe. Wir sind uns auch einig, dass Erscheinungen wie Trump, Brexit, sogar Syrien etc. Symptome einer Entwicklung sind, die uns zu einer völlig anderen Gesellschaft führen wird.
Aber was meinst Du damit, wenn Du sagst, dass viel von unserem Handeln abhängt? Also was nun: Hängt ein Prozess, der objektiv abläuft, dennoch vom subjektiven Eingreifen ab? Wenn Revolutionen nicht von erdachten Alternativen erzeugt werden, sondern von objektiven Prozessen, mehr noch: wenn Alternativen erst von diesen Prozessen erzeugt werden – dann müssen wir klären, wie dies geschieht, was unsere Rolle dabei ist, wer überhaupt dieses »Wir« ist.
Auch was Deine Einschätzung über Krieg und Revolution anbelangt, liegen wir vielleicht nicht auf einer Linie. Muss die globale Erhebung, die wir erwarten, notwendig mit einem globalen Krieg einhergehen? Sie ist sicherlich nicht mit der Französischen, Russischen oder irgendeiner früheren Revolution vergleichbar, die sich von einem Land aus in der Welt ausgebreitet haben. Und ein globaler Krieg ist heute nicht wie der Erste oder Zweite Weltkrieg als Nebeneffekt radikalen sozialen Wandels oder zu dessen Verhinderung führbar. Er würde beide Seiten – Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus etc. ebenso wie Ansätze sozialer Befreiung – in einem einzigen dreckigen Aufwasch zerstören.
Natürlich haben wir heute eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt: lokale Proteste und Revolten, verschiedene Arten des Terrorismus, die von den Härten der Endphase des Kapitalismus hervorgebracht werden. Das ist der aktuelle Prozess, von dem Du sprichst. Aber bisher führt er nicht zu dem einen großen Knall, der einen globalen Revolution oder dem einen globalen Krieg, sondern radikalisiert sich Stufe um Stufe. Und solange dies so ist, kann es nicht unsere Rolle sein, mit aller Kraft Revolten anzuheizen, wie es gerade ein paar vereinzelte Militante, aus deren Sicht Gewalt eine ausreichende Botschaft darstellt, beim G20 in Hamburg versucht haben. Wir müssen Wege und Bilder zeigen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können und wie diese aussehen könnte.
Und daher ist es wichtig, die Widersprüche und Unterschiede zwischen den kapitalistischen Staaten zu sehen, zwischen entwickeltem und peripherem Kapitalismus, zwischen Kulturen, bis hin zu verschiedenen Formen von Widerstand oder möglichen Alternativen für unterschiedliche Völker mit unterschiedlichen sozialen und historischen Hintergründen. Das gilt auch für die gegenwärtige russische Gesellschaft, die von der besonderen sowjetischen Geschichte und Strukturen der Dorfgemeinschaft geprägt ist, auch wenn diese heute vom Kapitalismus überlagert sind.
Ich bin mit Dir einer Meinung, dass Alternativen immer konkret sind. Doch brauchen sie eine Leitidee; keine geschlossene Ideologie, aber Gedanken und Visionen, wie das Leben sein könnte. Um dies auf unser Thema zu beziehen: Die Revolution der heute Ausgestoßenen wird nicht über Revolten oder schlimmstenfalls faschistische Tendenzen hinauskommen, wenn sie sich nicht statt auf bloßen Aufruhr auf Ideen einer humanen Zukunft stützt, die auf überlieferten Werten beruht.

Boris Kagarlitzki: Anscheinend sind wir immer noch auf eine Vorstellung von Revolution fixiert, wie sie der stalinistische »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)« präsentiert. Als wären die Bolschewiki, sagen wir 1916, bereits eine verankerte Kraft gewesen! Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung aber existierten sie tatsächlich nicht. Alternativen, die naheliegend schienen, hatten wenig mit dem zu tun, was dann tatsächlich geschah. Wenige Wochen, bevor Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ihre Kampagnen begannen, gab es sie politisch nicht. Und genau darin war ihr Erfolg begründet. Gegenwärtig haben nur Bewegungen, Anführer, Ideen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, Aussicht auf Erfolg. Alles, was da ist und sichtbar, ist entweder bereits oder wird schnell diskreditiert. Und das hat keine ideologischen Gründe, sondern liegt daran, dass nichts von dem, was innerhalb des Bestehenden unternommen wird, funktionieren kann. Das ist ein objektiver Vorgang. Für mich ist nicht relevant, ob die Leute den Neoliberalismus mögen oder nicht. Tatsächlich mochten sie ihn nie. Aber Privatisierung und Deregulierung kamen, weil sie funktionierten. Nicht für die Mehrheit, aber für die Eliten. Nun aber führt die neoliberale Hegemonie ins Nichts, weil das System seine Potentiale erschöpft hat. Es kann sich einfach nicht mehr reproduzieren, seine Erträge können nicht einmal mehr die herrschenden Klassen zufriedenstellen – und das ist es, was Leute wie Trump oder Nawalny hervorbringt.
Die Ironie heute liegt darin, dass uns nicht die Möglichkeiten fehlen, sondern die Ziele. Die Linke ist zu einer Gemeinschaft liberaler Intellektueller geschrumpft, die sich für Tierrechte, Schwule und Feminismus interessieren (aber nicht für die real existierenden Tiere, homosexuellen Paare oder Frauen aus der Arbeiterklasse). Die Linke hat sich vollständig von der Klassenpolitik entfernt; auch wenn sie sich der Klassenrhetorik bedient, so bleibt diese inhaltsleer. Ironischerweise sind es heute im Westen einige Teile der radikalen Rechten, die der Arbeiterklasse zuhören und – wenn auch verworren und inadäquat – versuchen, deren Alltagsinteressen zu vertreten.
In Russland ist im Moment die radikale Rechte sehr schwach. Das macht die Sache für die Linke einfacher. Unsere Aufgabe ist: eine neue Linke zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht eher wie die originale alte sein wird. Zurück zu den Vor-60ern, zu den 1920ern. Das klingt etwas nach der hegelianisch-marxistischen Negation der Negation. Aber überlassen wir das den Philosophen, wir müssen praktisch sein.
Wer sind »wir« heute? Als eine politische Kraft existieren wir noch nicht. Wir müssen uns selbst erschaffen. Mit sehr einfachen Gedanken – Gemeinwirtschaft, Regulierung, Wohlfahrtsstaat, demokratische Partizipation. Können wir auf das Erbe der Sowjetunion zurückgreifen? Ja, warum nicht! Nur sollten wir nicht versuchen, die Sowjetunion zurückzubringen. Das wäre unmöglich.
In dem großen Fundus von Ideen und Methoden, den die Linke lange Zeit besessen hat, können wir finden, was wir brauchen. Die aktuelle Ausgestaltung wird von der Situation und den aktuellen Bedürfnissen abhängen. Versuchen wir aber gar nicht erst, etwas Neues zu erfinden. Das hat keinen Sinn. Wir brauchen keine neuen Ideen. Wir haben ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die meisten haben sich als falsch oder nicht praktikabel erwiesen. Wir brauchen Politik. Das heißt nicht, eine Organisation aufzubauen, sondern Leute zu schulen, die in der Lage sind, bei Bedarf sehr schnell Strukturen aus dem Boden zu stampfen. Diese Arbeit wird schon heute und nicht ohne Erfolg geleistet. Die Politik wird kommen, wenn es eine Gelegenheit gibt. In einem Jahr, einem Monat, in einigen Wochen. Oder niemals.

Kai Ehlers: Nichts Neues erfinden: Ja! Schulung: Ja! Aber der Teufel steckt im Detail: was, wie und wann! Zuallererst müssen wir uns vor Augen führen, dass der Glaube an bloße Effizienz und wirtschaftliches Wachstum auf Basis von Konkurrenz die Menschheit in eine Krise geführt hat. Diese kann nur durch Kooperation in selbstgewählten Gemeinschaften überwunden werden, die sich, statt am alltäglichen Krieg aller gegen alle, an der kulturellen Entwicklung jedes menschlichen Wesens und jedes Volkes orientieren. Stichworte: Liebe, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sonst werden künftige Erhebungen nur das wiederholen, was wir heute haben – und zwar in einem schlimmeren Grad. Und was die Frage der sozialen Ertüchtigung anbelangt: lokal wie global, in der Organisation der Arbeit wie des Alltagslebens. Wir müssen Wege suchen, wie wir uns selbst, wie der wachsenden Zahl von Außenseitern körperlich, wie geistig helfen, uns und sich selbst als Individuen zu finden, »ich« sagen zu lernen, und ebenso als Kollektivmacht zu entfalten, die sich selbst in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen organisiert. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach dem Wann: Jetzt natürlich, immer jetzt, weil jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt. ‚Morgen‘ würde niemals bedeuten. Und jede Betätigung in diese Richtung ist, denke ich, eine Art von Vorbereitung. Jeder Revolution ging eine solche Vorbereitung voraus, bei der Bevölkerung, den Minderheiten, mit sozialer Fantasie und der Hoffnung auf etwas Besseres, die dazu beitrugen, die unvermeidliche Gewalt einzugrenzen. Und ich hoffe, dass es dies auch heute gibt.

Boris Kagarlitzki: Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Werte zu verkünden, während die andere Seite Politik gemacht hat. Wir müssen sehr konkret werden. Jeremy Corbyns Kampagne ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr Erfolg beruhte auf praktischen Vorschlägen. So moderat die meisten davon auch sind, wirken sie nach 30 Jahren Neoliberalismus doch radikal oder sogar revolutionär. Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen, den Öffentlichen Dienst wieder in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen, oder staatliche Investitionen, um Wachstum zu erzielen, wenn Marktanreize erschöpft sind: Das ist alles sehr einfach.
In Russland liegen die Dinge noch mehr auf der Hand. Eine große Mehrheit möchte Öl- und Gaskonzerne und andere Firmen, die die Oligarchen der Bevölkerung gestohlen haben, wieder verstaatlichen. Trotzdem kämpft keine politische Kraft für diese populären Forderungen. Warum? Weil das Volk selbst nicht für seine eigenen Interessen und Rechte eintritt. Das Problem liegt nicht bei der Linken – es liegt bei den Massen. Solange sie passiv bleiben, spielt es keine Rolle, welche Werte wir verbreiten. Die Frage ist, ob sie sich bewegen. Wenn nein, verdienen wir alle eine düstere Zukunft. Aber mir scheint ein Wendepunkt sehr nahe zu sein. In diesem Moment müssen wir die praktische Bedeutung unserer Ideen beweisen. Wenn sie hier und jetzt in ein konkretes Programm eingehen und in Handlungen, die zu einer Transformation führen, dann werden sie funktionieren, und unsere Existenz hat einen Sinn.

(Dieser Text erschien zuerst in „Melodie und Rhythmus“, Heft 4/2018)

(Eine ungekürzte englische Version auf der Website: www.kai-ehlers.de unter „Revolution or Revolt“

Siehe dazu auch: Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzky, Band I und II, laika diskurs 2013/14

 

Präventionswahn

Unsere Welt steht vor einem Entwicklungssprung: Immer weniger Menschen verfügen über immer effektivere Mittel zur Produktion gesellschaftlichen Reichtums, während immer mehr Menschen gerade durch diesen Reichtum als ‚Überflüssige‘ ausgeschlossen oder gar nicht erst zur Teilhabe zugelassen werden.

Das Aufkommen von Milliarden Menschen, die freigesetzt, denen aber zugleich die Lebensgrundlagen entzogen werden, rückt den ‚turning point‘, an dem das Profitprinzip dem Solidarprinzip weichen müsste, unmissverständlich vor aller Augen. Aber statt dem zu entsprechen, gehen die heute Herrschenden daran, die Zäune, mit denen sie sich vor den ‚Überflüssigen‘ der Welt in Sicherheit zu bringen trachten, höher und höher zu ziehen. Zugleich versuchen sie die übrige Bevölkerung präventiv ruhig zu stellen.

 

Deutscher Herbst

Über den präventiven Sicherheitsstaat ist schon vor Jahren geschrieben worden, allerdings ohne dass all das bereits voll eingetreten wäre, was seinerzeit am Horizont dunkel hoch zu kommen schien. Gleichwohl macht es Sinn, an diese Zeit zu erinnern: Teile der 68er Generation des vorigen Jahrhunderts befürchteten eine schnelle Re-Faschisierung der Bundesrepublik Deutschland wie auch der internationalen Beziehungen, speziell mit Blick auf die USA.

Ihren schärfsten Ausdruck fand diese Sicht in der Roten Armee Fraktion (RAF), die die Welt nur noch in Kategorien eines Weltfaschismus definierte, dem nicht mehr anders als militärisch, das hieß für sie angesichts des von ihnen beklagten mangelnden Bewusstseins der ‚Massen‘, nur noch mit gezieltem Terror gegen  Funktionsträger des ‚Systems‘ zu begegnen sei.

Aber auch in ruhigeren Analysen wurde damals die Entwicklung des modernen Staates zum autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat befürchtet. Begründet war das in der Erfahrung der globalen Systemkonfrontation und in Deutschland speziell in der schnellen Remilitarisierung der damaligen ‚BRD‘, dem Westen des geteilten Deutschland. Zu erinnern ist an den „Deutschen Herbst“ nach der Entführung des damaligen BDI-Präsidenten Hans Martin Schleyer durch die RAF, in dem Kanzler Schmidt per Notstand das staatliche Gewaltmonopol durchsetzte. Zu erinnern ist an die toten Gefangenen in deutschen Gefängnissen, die im Zuge polizeilicher Fahndung Erschossenen, an das bürgerkriegsähnliche Vorgehen der Staatsmacht gegen die Anti-AKW-Bewegung, an die Aufregung um das ‚Orwell-Jahr‘ 1984, um nur einige Daten zu nennen, aus denen sich seinerzeit die Befürchtungen speisten. Das „Dritte Internationale Russel-Tribunal“, das 1977-1979 „zur Situation der Menschenrechte in der BRD“ abgehalten wurde, war ein Ausdruck dieser Stimmung.[i]

Von heute aus gesehen waren die Erwartungen der unmittelbaren Eskalation des  Sicherheitsstaates, gar einer Faschisierung der BRD und der internationalen Verhältnisse eine etwas, sagen wir ruhig, hysterische Sicht. Tatsächlich befand sich die Welt damals eher in einem Zustand des Kalten Friedens, als dem des  ‚Kalten Krieges‘. Es herrschte das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘. Die BRD befand sich in der kalten Systemkonfrontation mit der DDR, heute würde man sagen, in einem ‚eingefrorenen Konflikt‘.

 

Globale Anarchie

Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging das globale, auch das deutsche und europäische Patt in die anarchische Bewegung über, die jetzt in die damals befürchteten Verhältnisse zu führen droht. Nach dem Niedergang des realen Sozialismus ist die globale Lage heute von drei Elementen gekennzeichnet:

  • Dem Sichtbar-Werden der prinzipiellen Grenzen des kapitalistischen Industrialismus. Inzwischen unübersehbar an der wachsenden Zahl der Marginalisierten, der aus der Produktion Gedrängten, in einem Wort, der oben erwähnten ‚Überflüssigen‘, deren Unruhen den globalen Überfluss begleiten.
  • Der Krise des Nationalstaats als Grundordnung des heutigen Zusammenlebens der Völker, erkennbar an dem Widerspruch, dass globale Monopole die Nationen als souveräne Subjekte aushebeln, während gleichzeitig neuer Nationalismus in nachholender Weise entsteht.
  • Dem Problem begrenzter Ressourcen bei wachsendem Bedarf durch eine zunehmende Zahl potentieller Verbraucher.

In dieser Gemengelage haben sich die globalen Konflikte entschieden verschärft, soweit verschärft, dass die bisher herrschenden ‚Eliten‘ ihre Zukunft bedroht sehen. Ökologisch orientierte Warnrufe, wie die Veröffentlichung des ‚Club of  Rome‘ 1972 zu den „Grenzen des Wachstums“[ii], die Warnungen und Forderungen des Berichtes „Global 2000“ 1981[iii], die im Zuge der heraufkommenden Perestroika in den Kreisen Michail Gorbatschows 1982[iv] entwickelten Perspektiven von der Notwendigkeit einer ökologischen Wende verengten sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, anders gesagt, mit der Befreiung der kapitalistischen Welt von ihrem sozialistischen Konkurrenten in den ‚Denkfabriken‘ des Westens, allen voran denen der USA, zu langfristigen Strategien einer präventiven Sicherung der heute herrschenden, nachsowjetischen  Verhältnisse. Die sowjetischen Nachfolgestaaten fügten sich in diese Ordnung. Wie lange dies so bleiben kann, ist eine offene Frage, der an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden soll.

 

Fundamentale Bedrohung der   Zivilisation?

Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die Globalisierung, sprechen  US-Dienste von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, so wurde von den CIA und seinen ‚Thintanks‘ vorgerechnet, wenn die Millionen junger Menschen, die heute in den ehemaligen Entwicklungsländern geboren werden – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten.[v] Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte.

Nachzulesen ist dies in aller Ausführlichkeit auch in dem 2003 erschienenen Buch „Söhne und Weltmacht“ des Bremer Terror- und Völkermordforschers Gunnar Heinsohn[vi], der sich mit diesem Buch bemühte, die seit Mitte der 80er entwickelten CIA-Strategien zur globalen Bevölkerungskontrolle als herrschendes Dogma auch in Deutschland zu verankern. 

Dass mit der ‚bedrohten Zivilisation‘ selbstverständlich die westliche Welt gemeint ist, allen voran die USA, versteht sich schon fast von selbst. Die grassierende Jugendarbeitslosigkeit in den Industrieländern des Westens wird bei den demographischen Hochrechnungen der CIA vollkommen außer Acht gelassen, obwohl, angesichts der von dem Dienst für diese Länder durchaus richtig konstatierten niedrigeren Geburtenraten, umso unmissverständlicher erkennbar sein sollte, wo die Ursache für das beschriebene Phänomen der ‚Überflüssigen‘, konkret auch der Masse der arbeitslosen Jugendlichen in den ‚entwickelten‘ Industrieländern liegt, nämlich, nicht in zu viel oder zu wenig Jugendlichen, sondern in einer Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung, die weltweit immer mehr Menschen als nicht mehr benötigt ausschließt.

Die Ursachen der heutigen Krise sind eben nicht nur, nicht einmal hauptsächlich demographischer Natur, wie CIA, Heinsohn und andere es hinstellen, sie liegen in der kapitalistischen Produktionsweise. Karl Marx sprach deshalb seinerzeit in der Kritik an den eugenischen Theorien Robert Malthus‘ nicht von ‚Überflüssigen‘, sondern von „Überflüssig Gemachten“, wörtlich von einer „relativen Überflüssigmachung“, mit der das Kapital sich eine „industrielle Reservearmee“ halte.[vii] Heute sind das die Menschen, deren Arbeitskraft im Zuge der Automation in sich zusehends beschleunigendem Maße eingespart wird. Das ist kein lokaler, das ist ein weltweiter Prozess, der heute an seine Grenzen kommt.

 

Das Märchen vom ‚Stillen‘  

Die ökonomischen und demografischen Daten der CIA flossen auch in die legendäre Tagung ein, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ über die Zukunft der Welt zu beraten.[viii]

Als Hauptfrage kristallisierte sich bei dieser Tagung heraus, was mit dem Heer der ‚Überflüssigen‘ geschehen solle, das aus dem Zusammentreffen von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Hier wurde der Begriff der 20/8o- oder auch Einfünftelgesellschaft geprägt. Was Gorbatschow dazu sagte, ist nicht überliefert,  zu vermuten ist, dass er nach dem Scheitern seiner Reformen und seinem Sturz als Parteisekretär einfach nur den Dialog zu „Neuem Denken“ wenigstens im globalen Rahmen erneuern wollte.

Bekannt wurde jedoch der Vorstoß des  US-Strategen Zbigniew Brzezinski, der grauen Eminenz der US-Sicherheitspolitik seit Jimmy Carter, ein globales „tittytainment“ einzuführen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verband das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainment“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel der von ihm vorgestellten Maßnahmen wäre es gewesen, 80% der Menschheit auf dem Niveau niedrigen Konsums durch Massenmedien zu ‚stillen‘.

Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierbare Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange gesprochen werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen der damaligen wie auch heutigen Kritiker und Kritikerinnen zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein. Eher heizen neue Techniken wie Facebook, die weltweite Verbreitung von Mobiltelefonen und anderes die Unruhen weiter an, die man gerade ersticken möchte. Die Revolten der letzten Jahre lassen das klar erkennen.

Aber davon abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten eines solchen ‚Stillens‘ schon in den Widersprüchen der herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte ‚Überflüssige‘ und nicht hereingelassene ‚Unterentwickelte‘ haben dieses Geld nicht.

Eine Verkürzung des Wirtschaftskreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital, das den Sektor des konkreten Marktes, der noch von tatsächlicher Produktion und Konsumption lebt, zugunsten eines Finanzmarktes hinter sich lässt, auf dem Geld für mehr Geld gekauft und verkauft wird oder sogar nur noch Wetten auf Risikogelder gehandelt werden, kann dieses Problem auch nicht lösen, sondern führt – wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Auch massenhaftes Drucken von Geld hilft aus ihr nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet.

Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung einer allgemeinen Grundversorgung für alle Menschen liegen. Mit solchen Schritten, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was als noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der ‚Überflüssigen‘ als stillzulegender oder gar zu entsorgender ‚menschlicher Müll‘ und einiges mehr. Das könnte den Menschen vom Reserve-Objekt und Abfall einer profitorientierten Megamaschine zum Kulturwesen machen. Es ist aber offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt.

 

Für den Fall der Fälle…

Für den Fall, dass die gewünschte Stilllegung der befürchteten Unruhen, sei es durch kollektives oder persönliches „tittytainment“, wie von den Diensten schon bei Ausarbeitung ihrer Strategien erwartet, nicht gelingen sollte, gingen aus den US-Studien von 1990 denn auch „effektivere“ Varianten zum Umgang mit der erwarteten Bedrohung hervor.

In Heinsohns Kolportage der CIA-Studien stehen diese Ausführungen bezeichnender Weise unter der Überschrift: „Nur ein wankender Hegemon muss sich rüsten“. Dem folgt nach ein paar abschweifenden Nebengedanken mit dem Satz: „Kehren wir auf die andere Seite zurück, die a u s g e l ö s c h t werden soll.“ die Aufforderung an die Leser, sich diesem bedrohten Hegemon, der ausgelöscht werden soll, wieder zuzuwenden.  (Gesperrt durch ke). Kann man noch deutlicher werden?

Die westliche Führungsmacht, so fasste Heinson zusammen,  stellt sich jedenfalls für weitere zwanzig oder mehr Jahre auf „youth bulge-geborene Konflikte ein“.  (kursiv: Heinsohn)

Die ins Auge gefassten ‚Rüstungen‘ sollen mit dem aktiven Export der ‚westlichen Eigentumsordnung‘ beginnen, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der  ,Überflüssigen‘ sollen hereingelassen, die Unerwünschten an den Grenzen abgefangen werden. Die Realität zeigt, dass diese Politik das Problem der ‚Überflüssigen‘ nicht löst, sondern im Gegenteil weiter verschärft, indem sie die Menschen vor Ort aus ihren traditionellen Wirtschaftsräumen reißt, ohne ihnen eine neue Perspektive geben zu können – oder wirklich zu wollen.

Ergänzend zu der Theorie des Exports der ‚westlichen Eigentumsordnung‘ wurde deshalb schon in der Grundlegung dieser Strategie über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Wer erinnert sich da nicht an das Blutvergießen zwischen Irak und Iran von 1980 bis 1988, in dem beide Seiten mit amerikanischen Waffen ausgerüstet wurden.

Für den Fall aller Fälle müsse man sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen man jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, die technische Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen. Auch hier sei wieder auf den Iran verwiesen, der  nach dem Aderlass in den  80gern heute immer noch im Fadenkreuz der US-Politik steht.

Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahrzehnte und der ihrer westlichen Verbündeten, einschließlich des globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachvollziehen. Das muss an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden. Die inzwischen zur globalen ‚Flüchtlingskrise’ angeschwollene Immigration und der Einsatz der NATO zu ihrer Bewältigung im Mittelmeer macht zudem deutlich, was für die Zukunft zu erwarten ist.

 

Problem der erwachenden Völker

Brzezinski aktualisierte die Warnungen der CIA daher im Jahr 2013 in dem dritten seiner für die US-Politik und ihre westlichen Verbündeten wegweisenden Bücher. Unter dem Titel  „Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power”[ix], in dem er sich mit dem Niedergang der US-Vormacht befasst, entwirft er eine ‚alarmierende‘ Skizze für die Jahre bis 2025, in der er die aktuelle Situation der USA sogar mit dem Niedergang der Sowjetunion Anfang der 80er des letzten Jahrhunderts vergleicht. Schon in der Einleitung warnt er vor der Gefahr des „Erwachens der Völker“, das der Vorherrschaft des Westens gefährlich werden könne. Unter der Überschrift „Der Rückzug des Westens“ charakterisiert er  das „neue Phänomen massiven politischen Erwachens“ u.a. wie folgt:

„Laut einem von ‚Population Action International‘ herausgegebenen Report von 2007 waren ‚youth bulges‘ in vollen 80% ziviler Konflikte  zwischen 1970 und 1999 präsent. Man muss zudem bemerken, dass der Mittlere Osten und die weitere muslimische Welt einen überdurchschnittlichen Anteil von Jugendlichen haben. Irak, Afghanistan, die Palästinensischen Gebiete, Saudi Arabien und Pakistan  haben alle massive Jugendpopulationen, die von ihrer Ökonomie nicht absorbiert werden können und die anfällig sind für Enttäuschungen und Militanz. Es ist diese Region, von Ost-Ägypten  bis zum Westen Chinas, wo politisches Erwachen das größte Potential  für gewalttätige Umstürze hat. Das ist im Effekt ein demographisches Pulverfass. Ähnlich gefährliche  demographische Realitäten herrschen in Afrikanischen Ländern  wie dem Kongo und Nigeria ebenso wie in einigen Lateinamerikanischen Ländern.“

Im Unterschied zu früher, fügt Brzezinski dann hinzu, als es möglich war, eingeborene Bevölkerungen mit geringem finanziellen und technischen Aufwand zu beherrschen, habe das Aufkommen des politischen Erwachens der Völker den Widerstand gegen fremde Herrschaft effektiviert, so in Vietnam, Algerien, Tschechien, Afghanistan, und er beschließt diesen Absatz mit der Warnung: „In den daraus resultierenden mit starkem Willen und Ausdauer geführten Schlachten (im Original: battles, ke) waren die technisch weiter Entwickelten  nicht notwendigerweise die Gewinner.“

Man muss nur noch Irak, Libyen, Syrien, generell Afrika und Mesopotamien hinzufügen, um das Bild zu vervollständigen. Der Krieg gegen den ‚internationalen Terrorismus‘, wie er jetzt in einer zweiten Welle wieder neu aufgelegt wird, hebt diese Reihe auf eine erneute Stufe der Eskalation. Eine friedliche Lösung des Problems der ‚Überflüssigen‘ ist auf diesem Wege nicht zu erwarten.

 

Der geistige Hintergrund

Das  gibt Anlass in eine tiefere, sehr viel schwerer erkennbare Dimension des ‚Stillens‘ hinein zu schauen, die sich hinter den offen vorgetragenen Strategien als öffentlich unerklärte weitere Präventionslinie verbirgt: die verdeckte Neuauflage eugenischer Vorstellungen, die heute in den ‚entwickelten‘ Industriestaaten entsteht.  

Die bedrängende politische Perspektive dieses Weltbildes ist die Kombination des präventiven Sicherheitsstaates mit den neuen computergestützten Biotechnologien

Zukunftsforscher wie Achim Bühl[x] sprechen von dem Heraufkommen einer „biomächtigen Gesellschaft“: „Die reale Gefahr einer solchen Entwicklung“, schreibt er im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen gleichnamigen Sammelband, bestehe „im Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft bezüglich der normierenden Kraft (post)moderner Lebenstechnologien.“

Die Perspektive der biotechnischen Prävention zeigt sich heute allerdings nicht etwa in der offenen Wiederholung der eugenischen Propaganda des letzten Jahrhunderts und nicht in offenen Rufen nach einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; diese Ebene ist als historisch unwiederholbar tabuisiert.

Das Wiederaufleben eugenischer Vorstellungen vollzieht sich auf neuem wissenschaftlichen und technischen Niveau unter dem Vorzeichen einer allgemeinen Lebensvorsorge, die Krankheit als Abweichung von der gesunden Norm auf allen Ebenen des Lebens durch Verbesserung der genetischen Ausstattung des Menschen verhindern will. Die neuen eugenischen Tendenzen kommen unter dem Vorzeichen der Lebensvorsorge daher, im Zuge eines allgemeinen Sicherheitsdenkens, das jedes Risiko ausschalten möchte – das größte Risiko in diesem Denken ist selbstverständlich der lebendige, verwundbare Mensch.

Als Risiken im präventiven bio-technischen Sicherheitsdenken gelten nicht etwa die von Menschen geschaffenen Verhältnisse, die zu den bekannten Verwerfungen unserer heutigen Entwicklung geführt haben und weiter zu führen drohen, insbesondere zu der Verwandlung der wachsenden Anzahl von Menschen in ‚Überflüssige‘. Als ‚Sicherheitsrisiken‘ gelten vielmehr die ‚Überflüssigen‘ selbst. ‚Sicherheitsrisiken‘ sind alle die Menschen, welche die ungehinderte Selbstverwertung des Kapitals stören könnten – sei es durch spielerische Fantasie, durch reale Alternativen, durch aktive politische Tätigkeit, durch Proteste, Aufstände, , Bürgerkriege oder auch terroristische Akte, sei es schließlich einfach  nur durch Leistungsschwäche und Krankheiten, welche die Prozesse der Kapitalvermehrung gefährden.

Überflüssig sind in diesem Weltbild tendenziell auch heute alle sozialen Schichten, von denen Teile schon mehrmals in der jüngeren Vergangenheit in Verwahrhäusern, Irrenanstalten, Konzentrations- und Vernichtungslagern zusammengepfercht und umgebracht wurden, weil sie den jeweiligen Nützlichkeitskriterien nicht entsprachen. Die Reihe der potentiell nicht ‚verwendungsfähigen‘ Mitglieder der Gesellschaft lässt sich bis in die feinsten Verästelungen verdünnen.

Am Ende dieser Abwärtsspirale landet die Gesellschaft dann doch wieder bei einer Selektion „lebensunwerten Lebens“, diesmal allerdings, paradox gesagt, nicht über „Vernichtung durch Arbeit“, sondern im Gegenteil über Verweigerung von Arbeit, nämlich durch Ausschluss aus der der gesellschaftlichen Produktion und damit des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.

Mit dem biotechnischen Weltbild entsteht eine neue Form der Eugenik, die den unvollkommenen Menschen und die durch ihn gefährdete Welt tendenziell durch die gentechnische Optimierung des Menschen und die künstliche Steuerung der Evolution ersetzen will. Diese Tendenz geht über aktuelle politische Kombinationen, über Ländergrenzen und auch über die Anti-Terrorstrategien hinaus, wo diese an die erkennbare Grenze kommen, an der sich, sagen wir es deutlich, mit jeder Bombe, die auf tatsächliche oder vermeintliche Terroristen niedergeht, neue Kämpfer erheben.

Dabei sind die eugenischen Inhalte in Begriffe der Vorsorgemedizin, der Zukunftssicherung, der Optimierung individueller Lebenschancen gekleidet; heute ist die Rede von Pränataldiagnostik, also von Tendenzen der vorgeburtlichen Auslese, von Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, die die Auslese sogar noch vor die Zeugung verlegt, von Stammzellenforschung, von der man sich das Heranzüchten künstlicher Organe verspricht, von reproduktivem Klonen, das die natürliche Zeugung bei Mensch und Tier ablösen soll, von ‚Grüner Gentechnik‘, die eine künstliche Pflanzenwelt schaffen will usw.

Das alles zielt auf verständliche, berechtigte Lebenswünsche der Menschen. Wer möchte nicht stark, gesund, klug und mit einem langen, erfüllten Leben gesegnet sein? Der individuelle Wunsch nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen wäre ja nicht das Problem, schon gar nicht, wenn dies allen Menschen gleichermaßen zugestanden würde. Das Problem liegt im Missbrauch dieser Wünsche durch die herrschenden Mächte.

 

Biotechnische Ruhe

Betrachten wir noch kurz die Liste der absehbaren, teils schon stattfindenden „Genetisierungen“, die Achim Bühl am Schluss  seines Buches aufführt. 

Das ist die Genetisierung der Überwachung, der Personalausweis mit genetischem Fingerabdruck, verbunden mit zentralen DNA-Banken für Straftäter, das sind DNA-Bürgerdatenbanken, die alle Staatsangehörigen von Geburt an erfassen, mit  pflichtgemäßer Beteiligung an Massenscreenings zur Aufklärung von Straftaten bis zu gesetzlich verankerten DNA-Tests zur Überprüfung der Familienzugehörigkeit bei Einwanderern.

Das ist die Genetisierung des Arbeitslebens. Wessen Gentest mögliche zukünftige Erkrankungen erkennen lässt, der oder die wird als  Bewerber/in abgewiesen. Im Gesundheitswesen zeigt sich die Tendenz, Krankheiten in wachsendem Maße als Abweichungen von einer virtuellen genetischen Norm zu definieren und per Sequenzanalyse und Gendiagnose als unangepasst zu stigmatisieren.

Das ist die Genetisierung der Reproduktion. Sie zielt darauf, die natürliche Zeugung durch die Zeugung in vitro zu verdrängen: „Der Staat einer biomächtigen Gesellschaft als ‚eugenischer Staat’“, so Bühl, „wird durch diverse Steuerungsmechanismen sowie Druck (‚Hegemonie gepanzert mit Zwang’) das Ziel verfolgen, die ‚natürliche Zeugung zu Hause’ durch die kontrollierte Zeugung in vitro inclusive umfassender PID zu ersetzen – begleitet von Diskussionen über ‚Gesundheitsverantwortung’ und staatsbürgerliche Pflicht zur Gesundheit’.“

Das ist Genetischer Rassismus. Seine Vertreter betrachten bestimmte genetische Dispositionen als wünschenswert, andere als minderwertig und ordnen sie zugleich bestimmten Bevölkerungsgruppen zu.

Hier darf an neuere Beispiele erinnert werden: das „Judengen“ etwa, das Thilo Sarrazin[xi] gefunden haben wollte, das „Toleranzgen“, das nach Ansicht des früheren niederländischen Außenministers Ben Bot den Moslems fehle[xii] oder selbst ein “Demokratie-Gen“, das Michail Gorbatschow bei den Protesten gegen Wladimir Putin zum Jahreswechsel 2011/12 ausgemacht haben wollte.[xiii] Die Variationsbreite der hier genannten Personen weist darauf hin, wie weit der alltägliche genetische Aberglaube heute bereits verbreitet ist.

In der Ökonomie schließlich wachsen Mikroelektronik, Computerindustrie und Biotechnologie zusammen. Ergebnis, so Bühl, werde ein „hohes Rationalisierungspotential“ sein, das sich besonders in der Agrochemie, der Lebensmittelindustrie und der Pharmaindustrie auswirken werde: „Bereits vorhandene Medikamente werden durch neue ersetzt, herkömmliches durch transgenes Saatgut abgelöst, der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft wird weiter verringert, Produktionsprozesse etwa in der Lebensmittelverarbeitung erfahren einen neuen Effektivierungsschub.“ Es werden, anders gesagt, noch weitere Menschen ins Abseits geschickt.

Betrachten wir noch den letzten Satz, mit dem Bühl seine Einführung in die Bestandsaufnahme zur „biomächtigen Gesellschaft“ abschließt: „Mit bereits erteilten Patenten auf pflanzliches, tierisches und menschliches Leben sind erste Schritte in Richtung einer biomächtigen Gesellschaft, die sich durch eine umfassende Ökonomisierung und Kapitalisierung des globalen Lebens auszeichnen würde, sowie durch vielfältige neue Abhängigkeiten nationaler Ökonomien ganzer Länder und Kontinente von einer Handvoll global agierender Saatmultis wie Pharmariesen, bereits vollzogen. Für ein dystopisches Szenario einer Genetisierung der Ökonomie existieren somit bereits vielfältige Wege zum andocken.“

Zum „dystopischen Szenario“, also dem abschreckenden Gegenbild zur wünschenswerten Utopie, gehören nach Bühl, wie könnte es unter heutigen Bedingungen anders sein, selbstverständlich auch noch das „genetische Personenkennzeichen“, das Staatsbürger schon vor ihrer Geburt katalogisiert, sowie – offenbar unvermeidlich und schon weit entwickelt – eine „neue Qualität der Bio-waffen“, die selektiv töten können.

Es muss nicht alles so kommen, wie Bühl und andere Kritiker des biotechnischen Präventionswahns es beschreiben. Vieles davon aber hat sich bereits unbemerkt von der Öffentlichkeit in den Alltag eingeschlichen. Und jeden Tag kommen neue Meldungen hinzu, nicht zuletzt über das Angebot immer ‚intelligenterer‘ Smartphones und der ausufernden Flut von ‚apps‘, die das Leben so angenehm verfügbar machen, indem sie dem Einzelnen die Kontrolle über das eigene Leben abnehmen.  

Einfach zusammengefast heißt dies alles: Die Gleise, die in eine „bio-mächtige Gesellschaft“ hinausweisen, in welcher die  ‚Überflüssigen‘ nicht mehr physisch vernichtet werden müssen, sondern stattdessen psychisch stillgelegt, normiert und kontrolliert werden, in der Geburten von vornherein verhindert oder ihre Anzahl und Qualität nach demographischen Nützlichkeitserwägungen gelenkt wird, sind bereits gelegt; am Zug, der darauf fahren soll, wird noch gebastelt. Der Phantasie über das Machbare sind jedoch kaum noch Grenzen gesetzt, sie führt direkt in ein ‚tittytainment’ der das gesamte Leben erfassenden futuristischen Art. Die „Biomächtige Gesellschaft“, eingefasst in den präventiven Sicherheitsstaat ist möglich, die Frage ist nur noch, salopp formuliert, ob wir, genauer gesagt, ob die ‚Überflüssigen‘ dieser Welt zusammen mit den noch-nicht ‚Überflüssigen‘ eine solche Entwicklung zulassen.

(Zuerst veröffentlicht in „Hintergrund, 3/2018)

 

überarbeiteter Auszug aus dem Buch:

Kai Ehlers die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Neuauflage, BoD Norderstedt, 2016. Zu beziehen über: www.kai-ehlers.de  

[i] Siehe http://www.mao-projekt.de/BRD/REP/Russell-Tribunal.shtml

[ii] Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of  Rome zur Lage der Menschheit, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1972

[iii] Global 2000, Ein Bericht an den Präsidenten, Frankfurt/M., Zweitausendeins, 1981

[iv] Igor Frolow, Wladimir Sagladin, Globale Probleme der Gegenwart, Dietz, Berlin, 1982, ausserdem: Miachail Gorbatschow, Perestroika, Die zweite russische Revolution, Knaur, München, 1987/89

Sowie: Igor Bestuschew,-Lada, Die Welt im Jahr 200 – Eine sowjetische Prognose für unsere Zukunft, Dreisam-Verlag, Freiburg, 1984

[v] CIA-Report, Long-Term Global Demographic Trends: Reshaping the Geopolitical Landscape, July 2001, us: http://www.cia.gov/library/report/s/general-reports-1/Demo Trends For WEB.pdf

[vi] Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell  füssli, Zürich 2003

[vii] Karl Marx, Das Kapital, Band 1,   Werke Bd. 23, Dietz, Berlin, 1979, S. 657 ff , Kapitel 3: „Progressive Produktion einer relativen Überbevölkerung oder industriellen Reservearmee.“

[viii] Hans-Peter Martin, Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle, Rowohlt, Hamburg 1996

[ix] Zbigniew  Brzezinski, Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power, Basis Books, New York, 2013

[x] Achim Bühl, Auf dem Weg zur biomächtigen Gesellschaft? Chancen und Risiken der Gentechnik, VS Research, Wiesbaden 2009

[xi] Thilo Sarazzin, Deutschland schafft sich ab, Deutsche Verlagsanstalt, München 2010

[xii] Siehe Achim Bühl, S. 89

[xiii] Kai Ehlers, Russland Zwischentöne, Dezember 2011 auf www.kai-ehlers.de

Krieg oder Frieden? Dem Treffen der 20 zum Geleit.

In Hamburg treffen sie just zusammen, um zu beraten, wie es in der Welt politisch weitergehen soll – in einer Zeit, in der kaum jemand weiß, wie es weitergehen kann. Hier finden Sie den Video-Mitschnitt eines Vortrags, der sich passend zu den Vorgängen in Hamburg mit den anstehenden Fragen befasst: Stichworte zur gegenwärtigen Lage, Stichworte zu möglichen Alternativen, sowie Einschätzungen zu der Rollneverteilung zwischen den großen ‚Playern‘ in diesem großen Spiel.

Hier anklicken: https://youtu.be/5i3nMlX6Ydk

Stichwort: Wie wollen wir leben? ‘Soziales Kapital’ – soziale Arbeitsorganisation – Chance für die ‚Überflüssigen‘ von heute und morgen?

Unter der Frage: Wie wollen wir leben, wenn nicht nach den Vorgaben des traditionellen Sozialismus oder des jetzigen entfesselten globalen neo-liberalen Kapitalismus? geht es heute um die Wiedergeburt des Sozialen jenseits der jetzt herrschenden kapitalistischen Produktionsweise von Lohnarbeit und Kapital.  Dabei geht es nicht um einen ‘dritten Weg’ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern um einen Schritt über die kapitalistische, auch die staats-sozialistische Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialordnung hinaus, bei dem der Mensch nicht nur als Konsument begriffen wird. Gibt es Indikatoren für einen solchen Weg?

Von Elenor Ostrom, Nobelpreisträgerin für Ökonomie 2009[1], inzwischen verstorben, stammt die aktuellste Vision für einen solchen möglichen Weg. Ihre Untersuchungen beschreiben das neue Aufkommen der historischen Allmende auf dem Niveau der heutigen Industriegesellschaften. Als Allmende beschreibt sie Gemeinschaften,  Zusammenschlüsse, selbst Institutionen der verschiedensten Art und Größe bis ins Globale, die ein begrenztes, definiertes Feld von Ressourcen autonom bewirtschaften, dabei im freien Austausch mit privat-wirtschaftlichen Zusammenhängen und staatlichen Strukturen stehen, von deren Bevormundung sie sich tendenziell befreien.  

Die ostromsche Vision stützt sich auf die wachsende Zahl solcher Zusammenschlüsse, die heute unter dem Druck der Automatisierung entstehen, inzwischen ‚Vierte Technische Revolution‘ genannt. In deren Zuge werden immer mehr Menschen als ‚Überflüssige‘ aus der Gesellschaft gedrängt¸ zugleich werden die Ressourcen in katastrophenträchtiger Weise belastet.

Hinter der von Elenor Ostrom konstatierten Entstehung moderner ‚Commons‘ werden zudem Erfahrungen des gemeinschaftlichen Wirtschaftens und Lebens erinnerbar, wie sie sich im alten Russland und darauf aufbauend in der Sowjetunion[2], wie sie sich in anderer Weise in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg infolge der von Rudolf Steiner angeregten Dreigliederung[3], einfach gesagt, der Entstaatlichung eines vom Staat monopolisierten gesellschaftlichen Lebens entwickelten. Bedauerlicher Weise hat Elenor Ostrom diese Erfahrungen, östliche wie hiesige, trotz ihrer ansonsten weltweit angelegten und historisch fundierten Feldforschungen in ihre Untersuchungen nicht mit einbezogen. Auch die aktuelle Commons- und Gemeinschafts-Bewegung tut das bisher nicht.

Machen wir es aber kurz, ohne dieses Manko an dieser Stelle  nachholen zu wollen; das kann an anderer Stelle geschehen: Hauptproblem, mit dem sich nicht nur Frau Ostrom, sondern alle Initiativen oder Bewegungen, die sich für eine Überwindung des herrschenden Konkurrenzkapitalismus und der damit verbundenen Lohnarbeitsordnung einsetzen, zu tun haben, ist die Tatsache, dass es Mitglieder der Gesellschaft gibt, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der gleichen Weise in der Erwerbsarbeit stehen wie die Mehrheit ihrer Zeitgenossen. Unterschiedslos als ‚Trittbrettfahrer‘ klassifiziert, dienen diese Menschen den Gegnern gemeinschaftsorientierter Arbeits- und Lebensentwürfe als Beweis, dass es zum herrschenden System, sei es staats- oder privatkapitalistisch organisiert, keine Alternativen gebe, dass es sie prinzipiell aus der egoistischen Natur des Menschen heraus nicht geben könne – weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft.  Zwang, indirekt oder direkt, sei daher unumgänglich, um die Menschen auf Dauer zur Arbeit zu veranlassen.

  

Worum es nicht geht…

Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Phänomen des ‚Trittbrettfahrers‘ macht aber klar, worum es bei der Entwicklung von Alternativen zu den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen NICHT geht, heute weniger als je zuvor: Es geht nicht darum, ein idealistisches Weltbild zu erfinden, in dem es keine Konflikte zwischen privatem und öffentlichem Interesse, zwischen Privateigentum und kollektivem Eigentum, zwischen Privateigentum und Staatseigentum oder direkt im Arbeitsleben gäbe. Sehr wohl aber geht es darum ein geistiges Klima zu schaffen und dem folgend gesellschaftliche Strukturen, unter denen Arbeit nicht als Zwang, sondern als allseitiger Weg zur Selbstverwirklichung erlebt werden kann. Dies bedeutet selbstverständlich, den Menschen aus seiner heutigen Reduzierung auf einen ‚homo ökonomicus‘ schärfer gesprochen, auf ein ‚animal ökonomice‘ zu befreien, also eine geistige Orientierung zu entwickeln, die über den neoliberalen Öknomismus hinausführt.

Es geht auch nicht darum, eine Situation zu erfinden, in der es kein persönliches Interesse gäbe, das nicht immer wieder zu dem Phänomen des Trittbrettfahrens des Einen auf Kosten anderer ginge. Wir alle sind irgendwann und irgendwo einmal ‚Trittbrettfahrer‘ in dem Sinne, dass wir bei einer von anderen Menschen getragenen Aktivität ‚mitfahren‘, sei es zu Haus in der Familie, sei es im Freundeskreis, sei es in der Kommune oder auf der Ebene des gesamten Gesellschaftskörpers. Oder wir sind vielleicht auch in anderen Bereichen tätig  als denen des unmittelbaren Erwerbslebens. Das kann jede/r an der eigenen Realität überprüfen.

Zum Problem wird das Mitfahren‘ erst, wenn es keinen geistigen, über das  Ökonomische hinausgehenden Entwurf gibt, in dem die Menschen miteinander leben wollen, wenn kein Verständnis für Tätigkeit der Anderen da ist, wenn dann bei Verletzung eingegangener Selbstverpflichtungen und miteinander gefasster Regeln keine Korrektur stattfindet. Aber es ist viel, was da zusammenkommen muss, bevor aus einer zeitweiligen Untätigkeit, Nachlässigkeit, selbst Übertretung  vereinbarter Regeln eine Situation wird, die man als ‚Trittbrettfahrt‘ bezeichnen muss. Auch fallen Kinder, Kranke, Hilfsbedürftige und Alte ohnehin nicht unter dieses Verdikt.

Es geht auch nicht darum, Eigentum abzuschaffen. Es geht vielmehr darum, wie Eigentum so genutzt werden kann, dass es dem Wohl des Einen wie auch dem der Anderen dient. Zweifellos macht es Sinn, der Entstehung des Eigentums genauer nachzugehen, wie seinerzeit Rousseau es tat, der die Entstehung des Eigentums damit beschrieb, dass jemand einen Zaun um das Eigene zog, mit dem er sich von der Gemeinschaft abgrenzte.

Aber es kann heute nicht um Abschaffung des Eigentums, nicht um Enteignung, nicht um Phantasien einer eigentumslosen Gesellschaft und dergleichen gehen. Formwandel von privatem zu staatlichem oder öffentlichem Eigentum oder umgekehrt von öffentlichem oder Staatseigentum zu privatem hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, vor Rousseau und auch nach ihm. Nicht eine dieser Wandlungen endete mit Abschaffung des Eigentums, ebenso wenig  wie mit dessen endgültiger Sicherung; bestenfalls führten die Veränderungen zu Umverteilungen zwischen alten und neuen Eigentümern; danach konnte dann alles von vorn beginnen.

Und scharf betrachtet, enden auch alle Theorien zur Frage der Eigentumsordnung im Grunde, wie sie schon bei Rousseau endeten, nämlich in der Beschreibung eines so oder anders begründeten ‘contract sociale’, also eines ‘Sozialvertrages’ oder noch genereller in einem ‘volonté générale’ [4], einem ‘allgemeinen Willen’, der angeblich zwischen Eigentümern und nicht Eigentümern zustande kommt – ungeachtet der Frage, wie solche ‚Verträge‘ zustande kamen, friedlich oder gewaltsam, und wer die jeweiligen Eigentümer waren und in welchen geistigen Kontinuum das geschah.  

Eine Gesellschaft, die einen möglichen Urzustand, in dem es außer dem persönlichen Eigentum nur zeitlich begrenzten Besitz, also vorübergehende Nutzungsrechte am Gemeineigentum für alle Menschen gleichermaßen gab, auf einem höheren Niveau wiederhergestellt hätte, wurde seit der von Rousseau beschriebenen Errichtung eines Zaunes bisher jedenfalls nicht wieder erreicht.

 

Nichts  ohne Arbeit

 Es ist sogar zu bezweifeln, ob dieser Zaun je mehr als eine Metapher für einen Vorgang war, der sich noch weit vor seiner Errichtung ereignet hat und seitdem auch immer wieder ereignet. Dreh- und Angelpunkt des Eigentumskarussells ist nämlich eine Tatsache, die sich unabänderlich jeden Tag aufs Neue bestätigt: Kein Eigentum, nicht privates und nicht gemeinschaftliches, nicht kapitalistisches, nicht sozialistisches und auch kein denkbares alternatives entsteht und besteht ohne Arbeit! Auch nicht unter den Bedingungen der ‚Vierten industriellen Revolution‘. Arbeit hat nur ihre Form gewandelt und wandelt sie auch heute. Arbeit ist auch heute die Basis des Lebens. Das gilt auch für ererbte oder geraubte Vermögen. Ohne dass Naturstoffe, auch Pflanzen und Tiere von Menschenhand bearbeitet und gepflegt werden, besitzen sie keinen Gebrauchswert und bekommen ihn auch nicht, wenn sie noch so hoch und noch so oft eingezäunt werden. Weder Beeren, Birnen, Äpfel und sonstige Naturprodukte, ja, nicht einmal Bananen fliegen dem Menschen von selbst in den Mund. Desgleichen Grund und Boden: welchen Wert hätten sie, wenn sie nicht zuvor urbar gemacht, kultiviert oder bebaut worden wären? Und selbst eine Robot-Gesellschaft muss ernährt, muss mit Ressourcen versorgt, gepflegt und unterhalten werden.   

Kurz, Arbeit, also die Verwandlung von Naturstoff in die für den Menschen nützlichen Mittel zum Leben, Zivilisation und Kultur ist die Grundlage allen Eigentums, ob in der Form des persönlichen Vermögens oder in der Form des Privateigentums an Produktionsmitteln. Es ist die Stellung im Arbeitsprozess, in dem sich soziale Differenzierungen immer wieder manifestiert haben und sich auch heute manifestieren. Es ist die Entwicklung und der jeweilige Stand der Arbeitsteilung und der Arbeitsorganisation, worin sich die historischen Niveaus der uns vorangegangenen Gesellschaften unterscheiden – von der gemeinschaftlichen Jagd über die Teilung der Gesellschaften in Sklaven, Freie und Aristokraten, über die egalitären Versuche der verschiedenen sozialistischen Gesellschaften bis hin zu den   gegenwärtigen Verhältnissen, in denen sich Privateigentümer von Produktionsmitteln oder leitende Funktionäre von Staatseigentum Millionen, ja, inzwischen Milliarden Menschen als Lohnarbeiter, treffender für viele zu sagen, als Lohnsklaven halten können, die sie auf diese Weise von ihren Möglichkeiten enteignen sich selbst durch ihre eigene Arbeit als Mensch zu entwickeln.

Oberste bisher erreichte Sprosse dieser Leiter ist heute die Polarisierung von Kapital und ‚Humankapital‘. In dieser Beziehung dient der Mensch, darin inzwischen auf die gleiche Stufe gedrückt wie die zur Produktion benötigten materiellen Ressourcen, nur noch als Verwertungsmasse für die Selbstvermehrung des Kapitals, bevor er – ausgepresst – als Überflüssiger‘ freigesetzt wird.

Es ist klar, dass die heutige Art der Arbeitsorganisation allen Effektivitätsphantasien, allen Maßnahmen der Rationalisierung und Automatisierung zum Trotz, ja, letztlich gerade durch sie bedingt, das Gegenteil von effektiv ist, wenn man Effektivität an der Entwicklung des Menschen zum Kulturwesen misst – und nicht nur am Ausstoß von Waren, Konsum oder Profit.

Eben dieser wachsende Widerspruch zwischen industrieller Rationalität und dem Bedürfnis des Menschen nach Kultivierung seines Menschseins ist es, der die Motivation und die geistige wie physische Dynamik hervorbringt, die über die jetzige Arbeitsorganisation hinausweist. Was in diesem Widerspruchsfeld heute entsteht, ist das Verlangen der verbal zum ‚Humankapital‘ erhöhten; real jedoch als ‚Überflüssige‘ ausgestoßenen und erniedrigten Menschen, ihre Arbeit, ihre Beziehung zu anderen Menschen, den Umgang mit den Ressourcen, die Ziele ihrer Arbeit und deren Verwertung selbstbestimmt, in gegenseitiger Hilfe zu ihrem eigenen und zugleich gemeinsamen Wohl organisieren zu können.

Mit anderen Worten, es entsteht das Verlangen  nach einem neuen gesellschaftlichen Niveau der Arbeitsteilung, in welcher der Mensch aus seiner prekären Vereinzelung heraus in selbstorganisierte, selbstverantwortete, aber gemeinschaftliche Arbeitsprozesse eintreten kann, die ihn unabhängig, zumindest erst einmal unabhängiger machen von der bisherigen Polarität von Markt‘ ODER ’Staat‘.

 

Projektgesellschaft

Und es entsteht nicht nur das Verlangen: In der sozialen Realität von heute ist dieses Feld schon längst bebaut, in die Sprache schon längst eingeführt. Wovon ist die Rede? Die Rede ist vom Projekt. ‚Projekt‘ heißt heute fast alles, was auch nur ansatzweise Anspruch auf gemeinschaftliche Selbstorganisation und Originalität erhebt. Menschen tun sich zusammen, entwerfen ein Projekt – einen Film, eine Kindertagesstätte, die Produktion eines trendigen Konsumartikels. Man gewinnt eine Gruppe von Freunden, Bekannten, Interessierten dafür, zur Finanzierung des Projektes persönlich mit Geld oder auch mit Arbeitsleistung beizutragen. Man verpflichtet sich zu gegenseitiger Hilfe für die Dauer des Projektes. Man haftet gemeinsam für den Erfolg. Mögliche Erträgnisse aus dem Projekt fließen nach dessen Abschluss an die Geldgeber und Bürgen zurück. Selbst Firmen oder allgemeine Zukunftsplanungen laufen heute unter dem Titel ‘Projekt’.

Was so entsteht, ist nichts anderes als die moderne Variante einer Allmende. Die Vielzahl solcher Projekte lässt heute ein Kraftfeld selbstbestimmter und selbstorganisierter Initiativen entstehen, die sich aus dem Dualismus von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Förderung zu befreien versuchen.

Auch hier ist wieder wichtig zu sagen: Das heißt nicht, dass ‘Staat’ oder ‘Markt’ durch diese Initiativen ersetzt, überwunden oder gar in einem revolutionären Akt eines ‘Dritten Weges’ nun endlich abgeschafft würden; es heißt nur – aber in diesem ‘nur’ liegt eben die Kraft – dass ‘Staat’ oder ‘Markt’ nicht mehr passiv als quasi naturgegebene Autorität erduldet, sondern als Unterstützer von selbstbestimmten Projekten verstanden und genutzt werden. In einer geläufigeren Begrifflichkeit ausgedrückt heißt das: projektbezogene Kooperation aktiviert die Kräfte, die gebraucht werden, um die Ohnmacht zu überwinden, die heute aus dem scheinbar untrennbaren Paar von Turbokapitalismus auf der einen und dem zu seiner Eindämmung auftretenden planwirtschaftlichen Bürokratismus, konkret, des nationalen Einheitsstaates mit seinem Verwaltungsmonopol auf der anderen entstanden ist.

In Projekten ist die Kooperation vom Interesse der Beteiligten, von der Sache, von der Effektivität des gemeinsamen Willens bestimmt, in ihrer zeitlich und örtlich unabhängigen Mobilität entspricht sie den Erfordernissen und Möglichkeiten einer globalisierten Welt, statt weiter von Gesetzen der Selbsterhaltung der Bürokratie, staatlicher wie auch privater Kapitale bestimmt, beschränkt, behindert oder ganz verhindert zu werden.

 

‚Vertrauenskapital‘

Diesen Raum beschreibt Elinor Ostrom mit dem Begriff des ‘sozialen Kapitals’, das meint – im Gegensatz zum Begriff des ‚Humankapitals‘, das den Menschen entpersönlicht – die Qualität der aus individuellem Interesse hervorgehenden gemeinsamen Arbeit. Man mag diesen Begriff für unglücklich halten, weil das, was Elenor Ostrom mit ihm bezeichnen will, mit dem herkömmlichen Begriff des Kapitals nur wenig gemein hat. Als Arbeitshypothese – und einen höheren Anspruch stellt sie selbst nicht – mag er zunächst ausreichen, auch wenn, wie eingangs gesagt, Erfahrungen aus der russischen und real-sozialistischen Welt wie auch aus der Dreigliederungsbewegung des letzten Jahrhunderts darin noch nicht mit eingegangen sind, weder die positiven noch die negativen.

Gemeint mit ‘Sozialem Kapital’ ist das, was umgangssprachlich auch als ‚Vertrauenskapital‘ bezeichnet wird, auf konkreten Beziehungen beruhende Effektivität gemeinsamer Tätigkeit. Gemeint sind die Einsparungen an Kraft, Material und Zeit, die gewonnen werden, weil und wenn Allmenden – oder auch in anderer Formulierung: Projekte, Gemeinschaften – keine staatlich oder privat finanzierte Bürokratie, keinen aufwendigen Sicherheits- und Kontrollapparat brauchen – jedenfalls den Aufwand für solche Maßnahmen radikal minimieren. Im Gegenteil setzen sie – vom Eigeninteresse ihrer Mitglieder ausgehend – eben jene Motivation, Kreativität und Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe frei, die unter dem Druck staatlicher oder privatwirtschaftlicher Strukturen üblicherweise erdrückt werden.

‘Soziales Kapital‘ – sprechen wir diese Beziehung einmal nicht vom Kapital, sondern von den Menschen her aus, dann könnte man sagen: Die heute sichtbar werdende Perspektive weist in die Richtung einer neuen sozialen Realität der Entstehung einer mobilen Projektarbeiterschaft, sie weist in die Richtung eines neuen Sozialvertrages zwischen Privateigentümern, mobilen Projekteigentümern und Funktionären von Staatseigentum, ja, sie weist in die Richtung der Herausbildung eines neuen Grundkonsenses zwischen diesen Gruppen der Weltbevölkerung –  dieses Mal von unten. Der selbstbestimmte, selbstorganisierte, sich zu gegenseitiger Hilfe verpflichtende Projektarbeiter wird in dieser Perspektive zum Impulsgeber einer gesellschaftlichen Ordnung, die über die gegenwärtige Dualität von Markt oder Staat, von Privateigentum oder Staatseigentum hinauswächst. Noch anders gesagt, denn von ihnen müssen wir zunehmend sprechen: Die ‚Überflüssigen‘ sind – wenn sie es verstehen – die Boten einer Gesellschaft der Selbstermächtigung, dies alles, ohne die alte Gretchenfrage ‘Wie hältst du es mit dem Eigentum?’ als Kriegserklärung stellen zu müssen.

 

Eigentum durch Arbeit definieren

Die Frage nach dem Eigentum stellt sich aber sofort, wenn wir nicht nur auf die strukturellen, organisatorischen, politischen Beziehungen von Privatkapital, Staatskapital und ‘Sozialem Kapital’ schauen, sondern wenn wir in die innere Beziehung zwischen Arbeit und Kapital gehen, das heißt, wenn wir uns der Frage der Lohnarbeit genauer zuwenden – allerdings auch dies nicht in Form der ‚Abschaffung‘ von irgendetwas, der ‚Enteignung‘ oder dergleichen, sondern in einem Prozess der Transformation der grundlegenden Beziehung von Kapital und Arbeit, der die Arbeitskraft des Menschen wieder zu dem macht, was sie ursprünglich einmal war, was sie ‚eigentlich‘ ist, nämlich, das ganz persönliches Vermögen jedes Menschen, sein unveräußerliches Eigenes, eben sein ursprüngliches Eigentum.

 

Kern ist hier, jenseits aller aktuellen Vernebelungen, die davon ausgehen, dass Wirtschaften erst mit der Zinsnahme entstehe, die Frage, wie das Arbeitsprodukt oder auch dessen Wert unter denen aufgeteilt wird, die es miteinander zustande gebracht haben – Unternehmer und die von ihm Beschäftigten.

Geregelt ist dies heute im Lohnvertrag, der zwischen Unternehmer und Arbeitern abgeschlossen wird, also zwischen dem Menschen, der Geld und oder Maschinen, sowie Fabrikanlagen zur Verfügung hat und zum Einsatz bringen kann und jenen, die für Geld, manchmal auch für Sachwerte die notwendige Arbeit leisten, damit das Produkt real zustande kommen kann. Die Beschäftigten haben im traditionellen Lohnvertrag in der Regel keinen Einfluss auf die Produkte ihrer Arbeit, weder auf die Werbung, den Umfang der Produktion, den Vertrieb noch den Verkauf. Die Aufteilung des Mehrwerts, obwohl  gemeinsam erwirtschaftet,  liegt im Belieben der Unternehmer; die Höhe des an die Beschäftigten ausgezahlten Anteils ist in der Regel ein Ergebnis des ‚Arbeitsmarktes‘, genauer, des Arbeitskampfes: stehen reichlich Menschen als Reserve zur Verfügung, sinken die Löhne, sind Arbeitskräfte knapp, steigen die Löhne. Jede durch Automation eingesparte Arbeitskraft erhöht den Mehrwertanteil der Unternehmerseite.

 

Der Zwang zur Selbstorganisation

 Wohin diese Organisation der Arbeit tendiert, kann nicht oft genug benannt werden – ins Heer der ‚Überflüssigen‘, die gezwungen sind sich irgendwie, und sei es im Leben auf Müllhalden, selbst zu organisieren, um ihr Leben und ihre Würde als Mensch zu bewahren, sowie zur Entstehung einer Unternehmer- und Manager’elite‘, die losgelöst vom Wohl der Mehrheit der Bevölkerung nur sich selbst verpflichtet ist, bestenfalls der Absicherung ihres eigenen Risikos..

Aus den heutigen Verhältnissen führt der Weg aber nicht nur in die zunehmende Polarisierung zwischen der Masse der ‚Überflüssigen‘ und einer ‚Elite’ von Unternehmern, Managern, privilegierten Spezialisten oder Facharbeitern, es entsteht, anknüpfend an Mitbestimmungs- und Beteiligungsansätzen, die sich in den Betrieben herausgebildet haben, auch innerhalb der Betriebe eine Tendenz zur Transformation der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.

Fassen wir es kurz und in einem Bild: Es entsteht auch im Bereich derer, die sich nicht oder noch nicht zu den Überflüssigen‘ zählen müssen, eine Situation, in der Menschen sich nicht mehr nur als Unternehmer und Arbeiter begegnen, also als Kapitaleigner auf der einen und von ihm eingekaufte ‚Arbeitskräfte‘ auf der anderen Seite. Viele Betriebe haben sich faktisch über dieses Grundverhältnis hinaus in Arbeitsgemeinschaften verwandelt, in denen sich Kapitaleigner, Manager, Spezialisten, Facharbeiter und Ungelernte zusammenfinden, die miteinander etwas produzieren.

Faktisch, das ist zu betonen, nicht rechtlich und häufig auch nicht in ihrem Selbstverständnis, bilden sie bereits eine Gemeinschaft, im weitesten Sinne eine unerklärte Allmende. Hier bedarf es, historisch gesehen, nur noch eines winzigen Schrittes, um aus der unerklärten eine erklärte Situation werden zu lassen, so wie ein Küken seine Schale aufbricht. In diesem ‘nur’ steckt allerdings, wie immer die entscheidende Hürde.

 

Vom Lohnvertrag zum Teilungsvertrag

Von Rudolf Steiner stammt der Vorschlag, zwischen Menschen, die gemeinsam produzieren wollen, einen, wie er es nennt, Teilungsvertrag anstelle eines Lohnvertrages miteinander einzugehen. Für die Leser/innen, die Steiner nur als ‚Esoteriker‘ kennen, sei kurz daran erinnert, dass dieser Mann wie kaum ein anderer nicht Marxist im letzten Jahrhundert mit Marx und Engels darin übereinstimmte, dass das Proletariat als Klasse dazu berufen sei, die Zukunft der Menschheit zu gestalten. Steiner folgte Marx auch in dessen Analyse der Mehrwertproduktion, er forderte allerdings, die Ersetzung des Lohnvertrages durch einen Teilungsvertrag, in welchem die Arbeiter die Verfügungsgewalt über ihr Produkt an den Geldgeber nicht für die Lohnzahlung abgeben. In dieser Frage war er ungeduldiger als vor ihm Marx und präziser als die heutigen Theoretiker der von ihnen so genannten ‘Eigentumsgesellschaft’ wie Gunnar Heinsohn, Peter Sloterdijk und andere, die an der Frage der Verteilung des erarbeiteten Mehrwerts vollkommen vorbeigehen, ja, die Arbeit als Basis des Eigentums wegdefinieren und gegen die Mehrwerttheorie von Marx als ihrer Ansicht nach folgenschweren historischen Fehler polemisieren.[5]

Ein Teilungsvertrag anstelle eines Lohnvertrages, hätte aber gerade die Bedingungen zu regeln, entlang derer der gesamte Arbeitsprozess zwischen allen daran Beteiligten  m i t e i n a n d e r  organisiert und das gemeinsam erarbeitete Produkt nach Maßgabe von Position, Leistung und Bedarf der einzelnen in diesem Prozess und unter Berücksichtigung notwendiger Investitionen wie notwendiger außerbetrieblicher Abgaben aufgeteilt wird. Eine solche Regelung könnte dann auch das private Eigentum an Produktionsmitteln als Form der Vergangenheit hinter sich lassen, allerdings – wie Steiner es sich im Unterschied zu Marx dachte – nicht im Verlaufe immer wiederholter Lohnkämpfe und letztlich der gewaltsamen Enteignung der Kapitaleigner, sondern schrittweise, wo es möglich ist, jetzt und hier. Entsprechend setzte Steiner sich in seiner Zeit als Dozent an der Arbeiter-Bildungsschule in Berlin 1899-1904 aktiv für die Stärkung der damaligen Betriebsrätebewegung und für die Bildung assoziativer Wirtschaftsbeziehungen ein. Er erwartete von den Arbeitern mehr als nur Forderungen nach mehr Lohn – eben den Einsatz für radikale Beteiligungsmodelle anstelle der Lohnvertragsordnung.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch mit dem Modell des Teilungsvertrages als Basis kooperativen Arbeitens wird weder das Privateigentum aufgehoben, noch ein Gleichheitsanspruch zwischen den Subjekten des Vertrages aufgestellt – im Vertrag werden nur die kooperativen Beziehungen, wird nur die Realisierung, Nutzung und Aufteilung der gemeinsam geschaffenen Werte miteinander vereinbart. Dies allerdings! In den Vertragsbedingungen gilt es dabei Positionen, Leistung und Bedarf gegeneinander abzuwägen. Der eine bringt Kapital (auch in Form von Anlagen und Arbeitsmitteln), der andere Ideen und Wissen,  logistische Fähigkeiten, wieder andere ihre Arbeitskraft oder auch soziale oder künstlerische Fähigkeiten mit.  

Entscheidend ist, dass niemand aufgrund der Art seines oder ihres Einsatzes, unkündbare oder vererbbare Alleinverfügungsgewalt über den Gesamtprozess hat, angefangen bei der Planung der Arbeit, über die Produktion bis zur Verteilung. Leitungsfunktionen entstehen aus gegenseitiger Vereinbarung und durch Wahl und werden übergeben, sobald sie nicht mehr ausgefüllt werden können. Die Verteilung des Arbeitsertrages unterliegt einem von der Betriebsgemeinschaft überwachten Schlüssel, wobei zum Betrieb nicht nur die Produktion, sondern auch der Vertrieb und die Bedarfsanalyse gehören, die den Betrieb mit der übrigen Gesellschaft verbindet.

Was sich unter solchen Bedingungen entwickeln kann, ist ein neues Verständnis von Arbeit als Kern einer anderen Eigentumsordnung, nicht der Abschaffung von Eigentum, ja, nicht einmal der Abschaffung des Kapitals, auch nicht der „Abschaffung von Arbeit“, wie manche es formulieren, sehr wohl aber der Überwindung des Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, nämlich der Selbstverwertung des Kapitals bei gleichzeitiger Entwertung der menschlichen Arbeit und der ‚Freisetzung‘ von immer mehr ‚Überflüssigen‘.

Kapital ist ja eine Ressource, die allen Menschen, man darf sogar über die Menschen hinausdenken, allen Wesen der Erde als vom Menschen geschaffene Ressource ‚eigentlich‘ zur Verfügung steht. Die natürlichen Ressourcen der Erde wurden im Lauf der Jahrtausende und werden heute zunehmend in zivilisatorische, genereller gesagt, kulturelle verwandelt – bei Verschärfung der Rückstände allerdings, die aus der Verwandlung entstanden. Aber auch dieses Problem ist bei gemeinschafts- und bedarfsorientierter Arbeitsorganisation anders zu lösen als bisher.

Damit tritt immer deutlicher ein Zug der Arbeit in neuer Weise wieder hervor, der durch die Reduzierung der Mehrheit der Menschheit auf bezahlte ‚Arbeitskräfte‘ am ‚Arbeitsmarkt‘ verloren gegangen war, nämlich Arbeit als Kommunikation, als gegenseitige Unterstützung; Arbeit als Hilfe zur gegenseitigen Entwicklung – und nicht nur Erwerbsarbeit, Job, Geldquelle – der Mensch als Ware.

Hier findet auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ihren Sinn, wenn die ‚Überflüssigen‘ nicht aus den Betrieben, allgemeiner gesehen nicht aus der Gesellschaft ausgeschieden werden, sondern ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihre freigesetzten Kräfte kreativ in das gesellschaftliche Leben einzubringen – allerdings nicht nur durch ein finanzielles Grundeinkommen von Seiten des Staates, sondern auch durch Sachwerte im kommunalen oder betrieblichen Rahmen sowie in Form der infrastrukturellen Angebote der Gesellschaft, der lokalen wie auch der gesamt gesellschaftlichen.[6]

All das ist eine tiefer in der Arbeit liegende Qualität: Nur wenn meine Arbeit nützlich für andere ist, nützt sie auch mir; nur wenn ich mich auf die Hilfe anderer verlassen und mich frei entwickeln kann, kann eine Gemeinschaft entstehen, in der die Würde des Menschen Priorität hat. Die heute sich herausbildende Möglichkeit zu Entwicklung einer kooperativen Form der Arbeitsteilung geht in Richtung dieser uralten Einsicht auf neuem Niveau – es bedarf nur der bewussten Wahrnehmung einer Entwicklung, die schon läuft, dann wird diese neue Arbeitsteilung zu einem integrierenden Prozess, der längst vergessen geglaubte soziale Impulse und Dynamiken neu in Gang setzt.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Bücher von Kai Ehlers zum Thema: :

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, Erweiterte Neuauflage, September 2016, BoD

Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte, 2. Auflage 2007

Erotik (Eros) des Informellen, Impulse für eine Andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation, edition 8, 2004

Die Bücher sind direkt über den Autor zu beziehen:

www.kai-ehlers.de

Dieser Text erschien zuerst in:  ‚Hintergrund‘ 2/2017

[1] Ostrom Elenor, Die Verfassung der Allmende, Mohr Siebeck, Tübingen 1999

[2] Siehe dazu die unten angegebene Literatur über russisch/sowjetische Gemeinschaftstraditionen

[3] Steiner, Rudolf, Die Kernpunkte der sozialen Frage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984, S. 108)

[4] Rousseau, Jean Jaques, Diskurs über die Ungleichheit, 6. Auflage, Schöning UTB, 2008, S. 243 ff

[5] Siehe dazu: Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Überflüssigen, Neuauflage, 2016, BOD

[6] Siehe dazu Kai Ehlers, Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte , 2007

Trump und Co – Unberechenbarkeit als Prinzip? Die andere Osterbotschaft

Donald Trumps unberechenbare Wendemanöver beunruhigen die Weltgemeinschaft. Der Kampf um die Erhaltung der US-amerikanischen Vorherrschaft nimmt irrationale und existenzielle Formen an: Raketenangriff auf Syrien, Megabombe in Afghanistan, Interventionsdrohungen gegen Nordkorea. Was demnächst? Eine strategische Linie ist nicht erkennbar außer Demonstrationen von „Entschlossenheit“.

Fragt sich, Entschlossenheit wozu? Sind die USA unter Trump bereit, den von vielen Menschen befürchteten finalen Crash zu riskieren, um ihre Vormacht zu halten? Sind die Europäer und die übrigen Staaten der Welt bereit, das Risiko mit zu tragen? Wofür? Gegen wen? Was gibt es zu retten?

Betrachten wir die entstandene Situation  aus der Sicht der frühen Kritiker des Kapitalismus, dann finden wir vielleicht einen Zugang zur Beantwortung dieser Fragen:

„Der moderne Arbeiter,“ schrieben die Verfasser des Kommunistischen Manifestes, Karl Marx und Friedrich Engels dem entstehenden Kapitalismus 1848 als Schlusswort ihrer Analyse ins Stammbuch, „statt sich mit dem Fortschritt der Industrie  zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus  entwickelt sich  noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.  Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die beherrschende Klasse  der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen  ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen, Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb  seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“

Es folgt das bekannte Schlusswort: „Die Bedingung  des Kapitals ist die Lohnarbeit.  Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz  der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung  der Arbeiter durch die Konkurrenz  ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwickelung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“[1]

 

Absehbare Revolten

Nun vereinigt die heutige industrielle Entwicklung die Arbeiter und die Belegschaften von Betrieben immer weniger in revolutionären Assoziationen, sondern bringt stattdessen in steigendem Maße individualisierte Arbeitsprozesse hervor, die zugleich immer Menschen als nicht mehr benötigte ‚Überflüssige‘ freisetzen, als Subproletariat aussondern. Zugleich wächst die Erdbevölkerung von jetzt bereits acht Milliarden Menschen um rund achtzig Millionen Menschen jährlich.  Daraus erwächst für  die herrschenden Verhältnisse eine noch fundamentalere Gewissheit ihres drohenden Unterganges, wenn anstelle der von Marx prognostizierten „revolutionären Assoziation“ Revolten atomisierter, entwurzelter  Individuen treten, in denen sich die blanke Überlebensnot gewaltsam Bahn bricht – nicht zuletzt in Formen eines hilflosen, ziellosen Terrorismus.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Donald Trumps Poltern als Vertreter der Vormacht des an seine Grenzen stoßenden Kapitalismus seine Bedeutung. Vor diesem Hintergrund werden auch die ‚verständnisvollen‘ Kommentare zu den ‚entschlossenen‘ Maßnahmen seiner Politik wie etwa die der deutschen Kanzlerin, aber auch die zurückhaltenden Reaktionen anderer westlicher Staaten als das transparent, was sie ihrem Wesen nach sind: als Versuch, den absehbaren Untergang der herrschenden kapitalistischen Weltordnung mit allen Mitteln und sei es militärisch aufzuhalten. Zweimal ist dieser Versuch unter ungeheuren Opfern gelungen; erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg. Stehen wir jetzt vor dem nächsten, vielleicht letzten Versuch?

 

Die Offenbarungen Trumps

Die Aktivitäten des neuen US-Präsidenten lassen solche Befürchtungen in die Wahrscheinlichkeit treten. Aber es ist nicht  etwa so, dass Donald  Trump, wie manche Zeitgenossen meinen, durch seine Unberechenbarkeit eine völlig neue Qualität der US-Politik präsentierte, indem er die Kriterien, nach denen diese Politik betrieben wird, undurchschaubar macht. Nein, im Gegenteil, er offenbart nur den tatsächlichen Charakter der US-Politik in ihrer nackten nationalistischen Egozentrik.

Fraktionierung der Weltgemeinschaft nach dem Prinzip ‚teile und herrsche‘, Politik des ‚Regime Changes‘, all dies ist ja nicht neu. Auch die Willkür, mit der die US-Politik ihre Ziele durchsetzt, ist nicht neu. Es ist nur so, dass unter Trump die Rücksichten, die unter Obama noch genommen wurden, jetzt fallen gelassen werden, sei es weil Trump keine Ahnung davon hat, wie Diplomatie funktioniert, ja, nicht einmal als Demagoge geschickt genug ist, sich zu verstellen, sei es, dass es ihm vollkommen gleich ist oder weil er einfach provozieren will.  

Der entscheidende Punkt ist, dass unter Trump Weltpolitik nach dem Prinzip einer US-Unternehmensführung betrieben wird,  ‚hire and fire‘. Wer mir nicht nützt, wird gefeuert. Das war schon das Prinzip unter George W. Bush. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das  war unter Barack Obama im Grunde nicht anders, nur leicht verdeckt, weil die USA durch die Politik, die Bush angelegt hatte, zu stark in die Isolation gekommen waren.

Im Prinzip wurde das Durchstechen, der Alleingang der US-Politik von Obama nur auf eine technische Ebene gehoben, weg von der sichtbaren und demonstrativ vorgeführten plumpen Intervention auf die Ebene des weniger sichtbaren, heimlichen, ‚sauberen‘ Drohnenkrieges. Mit dem Drohnenkrieg ging die amerikanische Politik unter verbindlichem Lächeln ihres Präsidenten zu direkter Liquidation der von ihr zu Gegnern erklärten Personen über, klar gesagt, zu globaler Lynchjustiz unter Missachtung jeglicher völkerrechtlicher Regeln.

 

Neue Formen des Krieges

Lassen wir also die moralische Empörung, die sich an Trumps persönlichen Mängeln als ‚unerhört‘, ‚unverantwortlich‘ und dergl. abarbeitet, beiseite und schauen wir, was konkret passiert.

Konkret passiert nichts anderes, als dass die USA in ihrer Situation der niedergehenden Weltmacht wie ein wildes Tier um sich schlagen, so wie, um ein altes Bild aus der chinesischen Politik zu gebrauchen, der Tiger, der in die Enge getrieben wird, um sich schlägt. 

Aber was bedeutet das? Bedeutet das, dass wir morgen den großen, den dritten Weltkrieg zu erwarten haben? Vermutlich trotz allem nicht, nicht in der Art jedenfalls, die wir von den beiden großen vorangegangenen Weltkriegen kennen. Nur kann dies keine Entwarnung sein. Unsere Vorstellungen vom Krieg müssen neu gedacht werden. Es muss neu wahrgenommen werden, wie Krieg heute geführt wird. Heute geht es nicht mehr um Landnahme, wie noch im zweiten Weltkrieg, wie selbst noch unter Bush, der in den Irak einmarschieren ließ. Alles Gerede, von wegen ‚einmarschieren in Syrien oder nicht einmarschieren‘, kann man getrost als hohle Propaganda beiseitelassen. Darum geht es nicht. Heute geht es darum, die möglichen Gegner zu diffamieren, klein zu machen, einzudämmen, zurück zu drängen, zu schwächen, seine Gesellschaft lahm zulegen und zu spalten, Unfrieden zwischen ihnen zu schüren, damit  sie sich möglichst gegenseitig bekämpfen etc. pp.

Den großen Krieg zu führen, das hieße den Atomkrieg zu riskieren. Das wäre der totale Widersinn auch für die, die einen solchen Krieg beginnen sollten. Widersinnig bleibt es selbst unter der Voraussetzung, dass heute ‚nukes‘ existieren, deren Einsatz örtlich begrenzbar ist. Ein solcher Einsatz müsste in jedem Falle eine Eskalation nach sich ziehen.  

Schauen wir genau hin: Das Gerede um die Modernisierung der NATO:  Was wird da modernisiert? – Modernisiert wird die NATO als Kriseninterventionsinstrument im globalen Maßstab, auf der Ebene des Cyberkrieges, des Internetkrieges, des Weltraumkrieges, des sog. ‚hybriden Krieges‘, das heißt, des  entgrenzten, vielstufigen Krieges. Was sich heute entwickelt, ist der unerklärte Krieg, in dem Krieg oder Frieden fließend ineinander übergehen, in dem nicht mehr klar zu unterscheiden ist, wo Frieden aufhört und wo Krieg schon begonnen hat. Der Krieg beginnt bereits im Kindergarten, in der Schule, in den Medien, in der Propaganda, in der Wirtschaft. Er steigt über all diese Ebenen hinein bis in die sog. „Innere Sicherheit“, bis in die Generalprävention gegenüber einer täglich beschworenen globalen Bedrohung.

 

Irreführende Feinderklärungen

Von wo kommt die Bedrohung? Von Russland? Von China? Vom Islam? Von Korea? Vordergründig mag das so scheinen. Langfristig gesehen kommen die Bedrohungen jedoch nicht von Russland, nicht von China, erst recht nicht von Korea. Jedenfalls nicht primär. Diese Konflikte sind konjunkturell und können geregelt werden, wenn man sich einig ist in der Hauptsache. Die Hauptsache aber heißt: Die eigentliche Bedrohung kommt aus der Masse der Menschen, die heute aus den Industriegesellschaften ausgegrenzt werden. Hier hat denn auch die Kritik ihre tiefere Ursache, die von den wichtigsten der heutigen ‚player‘, also von Russland, ebenso wie von China gegen die US-Politik vorgebracht wird, nämlich, dass die USA nicht bereit seien, gemeinsam gegen ‚den‘ Terrorismus vorzugehen.

‚Gemeinsam gegen den Terrorismus‘ heißt im Kern eben nichts anderes, als gemeinsam gegen die Unterprivilegierten, die Ausgestoßenen, die in ihrer Ohnmacht, Wut  und Verblendung zu Terror greifenden  Minderversorgten und zivilisatorisch Zurückgestauten vorzugehen, um sie niederzuhalten, sie wenn nötig nieder zu bomben. Da liegt das Ziel der NATO, die sich anschickt eine Weltorganisation zur Krisenprävention werden zu wollen. Da liegt die eigentliche Struktur, um die es heute geht – lokal wie global. Hier sei nur an Sbigniew Brzezinskis Warnungen vor dem „awakening of people“, dem Erwachen der Völker und Personen  erinnert.[2] Alles andere sind vordergründige Techtelmechtel, sind Ablenkungen, Ersatzkämpfe, auch wenn sie brutal daherkommen und immer wieder die Schlagzeilen der Presse füllen.

Was heute heranwächst, sind Stellvertreterkriege einer ganz neuen Art, Abwehrkämpfe einer zum Untergang verurteilten Ordnung, die nach dem Gießkannenprinzip weltweit  inszeniert werden. Im Kern geht es um die Millionen, besser wohl sogar zu sagen, die Milliarden der ‚Überflüssigen‘. Milliarden Menschen, die nach Teilhabe verlangen, welche ihnen in zunehmendem Maße verwehrt ist, lassen sich ja nicht einfach mit einem großen Krieg auslöschen, bei dem das Risiko besteht, dass die herrschenden Kreise selbst mit untergehen. Nein, die Ausgegrenzten müssen propagandistisch so eingelullt, so in Angst versetzt, so eingeschüchtert werden, dass sie eine manipulierbare Masse werden, in der sich die ‚Überflüssigen‘ möglichst noch gegenseitig dezimieren. Die dazu langfristig angelegten Präventionsstrategien in ihrer Abstufung von der Indoktrination bis zur Bombe sind die eigentliche Kriegführung von morgen – und schon heute erkennbar. [3]

Der Wunsch nach Grundversorgung, nach Selbstbestimmung, nach Autonomie, nach anderen als den kapitalistischen Beziehungen ist der eigentliche Gegner der gegenwärtigen Großmächte. Diese Bestrebungen unten zu halten, darin sind sich die Führungen der Großmächte, bei aller Unterschiedlichkeit der dazu verfolgten Strategien einig. Die einen, wie Trump, wollen das durch die Dominanz eines bewaffneten großen Nationalstaates erreichen, eben der USA als Weltpolizist, die anderen wie Russland oder China über die Stärkung einer Völkerordnung, wie sie die gegenwärtige UNO darstellen könnte, wenn sie als Vertretungsorgan mehr Macht hätte. Das sind erhebliche Unterschiede, die Stoff für aktuelle Konflikte enthalten. Unter dem Strich aber steht die als gemeinsame Bedrohung ausgemachte Geahr: die Unkontrollierbarkeit möglicher Revolten rund um den Globus gegen die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen.

 

Es ist Zeit aufzustehen

Lassen wir uns also nichts vormachen. Lassen wir uns nicht erfundene Feindbilder aufdrängen, nicht in eine Angstpsychose jagen, die einzig und allein auf Wohlverhalten, auf Stillhalten der Bevölkerung zielt, damit  die Herrschaften, die heute noch das Sagen haben, weiterhin das Sagen haben können.

Es ist Zeit den Ursachen der heutigen Probleme wirklich an die Wurzel zu gehen. An die Wurzel gehen heißt, es ist Zeit, die kapitalistische Produktionsweise, die katastrophentreibende Priorität der Ökonomie zu durchbrechen zugunsten einer Weltordnung, einer Menschenordnung, einer Völkerordnung, die den Menschen, jeden einzelnen, das Individuum und seine Bedürfnisse, wirtschaftliche, geistige und rechtliche in den Vordergrund stellt in einer Welt, die geleitet wird von gegenseitiger Hilfe statt einer Welt, in der Konkurrenz als Leitwert gilt.

Es wird Zeit, sich nicht weiter in die Ohnmacht pressen zulassen, es wird Zeit sich zu wehren, es wird Zeit aufzustehen, es wird Zeit, da, wo wir leben, jede und jeder an seinem und ihrem Ort, die Prinzipien, nach denen diese kapitalistische Gesellschaft heute funktioniert – genau gesagt, eben nicht mehr funktioniert – in Frage zu stellen, dem Krieg da  entgegenzuwirken, wo er im Alltag bereits als Ellbogengesellschaft beginnt. Zäune gegen Armut, Bomben gegen den Terror – das wird die sich abzeichnende Entwicklung nicht aufhalten. Krieg gegen den‘ Terror ist nichts anderes als eine Eskalationsspirale.

Man muss sich dieser Eskalationsspirale entziehen. Wenn es bei Marx heißt, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendig zum Untergang bestimmt ist, dann ist das unter ökonomischen Gesichtspunkten eine unbestreitbare Wahrheit, zumal, wenn sie durch die heutige Entwicklung des Kapitalismus zur roboterisierten Gesellschaft zugespitzt wird, aus der kein rettendes Proletariat mehr herauswächst, sondern die Perspektive weltweiter Revolten von marginalisierten ‚Überflüssigen‘ am Horizont auftaucht. Dennoch, ja, gerade deswegen, muss gesagt werden, dass zwischen die Pole von Krieg oder Nichtkrieg immer noch die Entscheidung des Menschen, einzelner wie die von Staatsführungen gestellt ist, ja, dass mehr noch als je zuvor jeder einzelne Mensch an dem Platz, an dem er oder sie steht, die Möglichkeit hat, ja zu sagen, zu einer anderen als der bloß ökonomischen Priorität. Dieses Recht dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Es ist unsere einzige Chance, aber die gibt es.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema:

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, (erweiterte Neuauflage von „Die Kraft der ‚Überflüssigen‘ – Der Mensch in der globalen Perestroika“ )

Eigenverlag, Erschienen bei „Verein zur Förderung der deutsch-russischen  Medienarbeit e.V.“, Hannover, Dezember 2016, ISBN 9783-7412-98066, 10.99 €

    Das Buch zeigt, wer die „Überflüssigen“ sind und welche Kräfte in ihrem „Überflüssigsein“ liegt, welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien ihr Aufbruch ausgesetzt ist, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte. (Bestellungen über: info@kai-ehlers.de)

 

[1] Manifest der Kommunistischen Partei, Ende von Teil I, Bourgoisie und Proletariat, in Kröner, Frühschriften, S. 538

[2] Zbigniew Brzezinski, Strategic vision, America and the crisis of Global power, basic Books, New York, 2013, S. 30 ff

[3] Siehe dazu: Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell füssli, Zürich, 2003

Ausserdem: Kai Ehlers, die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen“, erweiterte Neuauflage, 2016

 

Vortrag beim Kieler Friedensforum vom 1. April 2017: „Russland und die Logik des neuen kalten Krieges“

 

Votrag Ortsgruppe Ottersberg  der anthroposophischen Gesellschaft vom 7. April 2017:

„Krise des Nationalstaats und Perspektiven der Dreigliederung heute.“

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen. Erweiterte Neuauflage

Was bei Erscheinen des Buches vor drei Jahren noch als auf uns zukommende, möglicherweise  eruptive Tendenz erscheinen konnte, nämlich der Aufbruch der „Überflüssigen“ aus der Südhalbkugel des Globus, hat sich im Zuge der „Flüchtlingskrise“ zur manifesten Herausforderung Europas entwickelt, die dem Problem der hiesigen „Überflüssigen“ die explosive globale Dimension unübersehbar hinzufügt.

Aber weit entfernt davon, das akute Ansteigen des Migrationsdrucks als Aufforderung zu verstehen, den Ursachen dieser Entwicklung jetzt endlich an die Wurzel zu gehen, indem zumindest Ansätze  gemacht würden, die dahinter stehenden Ausplünderung des Südens durch den „entwickelten Norden“ zu korrigieren, werden nur die Symptome der Krise bekämpft, um die Flüchtlinge abzudrängen, werden die Zäune noch höher gezogen, wird inzwischen zur militärischen Abwehr der nach Norden drängenden „Flüchtlingsströme“  übergegangen.

Insofern war der Analyse von der Grundtendenz her nichts hinzuzufügen. Leichte statistische Schwankungen der Arbeitslosenstatistik in den „entwickelten Ländern“ sowie der Zahlen der nach Norden strebenden        Menschen aus dem Süden haben demgegenüber bloß konjunkturellen Charakter. Ergänzt habe ich die Neuausgabe lediglich um die Korrektur einiger Druck- und Satzfehler sowie um einen Text von mir, der im Vorfeld der Arbeiten zu den „Überflüssigen“ aus Gesprächen mit dem Künstler und Kulturökologen Herman Prigann entstanden ist, dessen Projekt „Terra Nova“ am Schluss des Buches vorgestellt wird. Der Text findet sich im Anhang unter der Überschrift „Die Krise nutzen“.

Eine Bemerkung schließlich noch zur Kritik eines Lesers der ersten Auflage, ich hätte den eugenischen Tendenzen, die sich heute abzeichnen, zu viel Platz eingeräumt. Ich gebe zu, es ist mühsam, diese Tendenzen wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber anders als der kritische Leser, dem ich sehr dankbar für seinen Einwand bin, sehe ich mich durch die tatsächliche Entwicklung eher bestätigt – nur treten die heutigen eugenischen Tendenzen natürlich nicht in der historisch bekannten Form auf; sie erscheinen heute als Präventionsstrategie im Namen globaler, sogar „ganzheitlicher“  Sicherheit. Die Form dieser Präventionslogik reicht heute von Peter Sloterdijks in schöner Sprache formulierten „Menschenzucht“, über die Verwandlung des individuellen Wunsches nach Gesundheit, über den Druck zum Nutzen der Gemeinschaft nicht krank sein zu    dürfen, bis hin in das  beständig ansteigende Niveau der über den ganzen Globus sich ausbreitenden Ideologie des Terrors, die letztlich nichts anderes propagiert als die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Dabei spielt es schon keine Rolle mehr, wer Terrorist, wer Anti-Terrorist ist.

Um aber zu  erkennen, woraus auch die „moderne Eugenik“ wieder     hervorgeht, ist es wichtig sich ihres historischen Kerns zu erinnern: Sie war Ausdruck des totalisierten  nationalen Einheitsstaates, der den Zugriff auf sämtliche Lebensbereiche, die vollkommene geistige und physische Verfügungsgewalt über den einzelnen Menschen hatte. Die Ideologie und die Realität dieses Einheitsstaates aus der Kraft selbstbewusster Individuen zu überwinden, die sich mit anderen in kooperativer Gemeinschaft für eine lebensförderliche Welt souverän verbinden, steht heute auf der Tagesordnung und wird mit jedem Tag aktueller.

Entwickeln und sortieren wir die möglichen Alternativen.

Ich wünsche ihnen nunmehr eine ertragreiche Lektüre.

 

Kai Ehlers, bestellen direkt beim Autor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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