Schlagwort: Russland

Merkels Minsker Märchenstunde

Parallel zu den NATO- Übungen in Polen, begleitet durch die neue Zielvorgabe von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Militärausgaben über das von der NATO geforderte Maß auf das der  Vereinigten Staaten heben zu wollen,  sollen nach dem Willen der EU, allen voran der deutschen Kanzlerin Merkel nun auch die Sanktionen, welche die EU im Sommer 2014 gegen Russland beschlossen hat, um ein weiteres halbes Jahr bis Ende Januar 2017 verlängert werden. Dies beschlossen die Botschafter der 28 EU-Staaten bei ihrem  letzten Treffen Anfang Juni einstimmig. Ihr Beschluss wurde soeben von Brüssel bestätigt.

Als Begründung für die Notwendigkeit der Verlängerung der Sanktionen wurde von der Botschafterversammlung angegeben, dass es mit der  Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die im Februar 2014 zwischen Angela Merkel, François Hollande , Wladimir Putin und Petro Poroschenko als „Reaktion auf Russlands Unterstützung der Separatisten“ beschlossen wurden, noch ‚gewaltig hapere‘, so der Tenor im Mitteilungsblatt der Regierung, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22.06.2016, dem ein ausführlicher Bericht zu dem Treffen zu entnehmen war. In dem Bericht heißt es:

„Nicht nur wird der damals  zugesagte Waffenstillstand immer wieder gebrochen. Noch längst wurden zudem offenbar nicht alle schweren Waffen  aus der Pufferzone abgezogen. Und nach wie vor  stehen die in Minsk  vereinbarten Kommunalwahlen  in der Ostukraine aus.“ Weitere Begründungen werden nicht gegeben.“

Stimmt. An der Grenze zwischen den Donbas-Republiken und der Kiewer Ukraine wird nach wie vor geschossen. Nicht mitgeteilt wird jedoch, wer schießt, obwohl die Frage eindeutig zu beantworten wäre: beide Seiten schießen. Die Klage darüber konnte man in den letzten Monaten in wachsendem Maße den Berichten der OSZE entnehmen und sogar aus Munde des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeiers hören. (siehe dazu diverse Berichte in russland.ru, jetzt russland.news), wenn er seine Eindrücke über die Erfolge der Demokratisierung in der Ukraine immer unzufriedener kommentierte.

Dass die  Kommunalwahlen der Ostukraine ausgeblieben seien, stimmt allerding s nur noch halb. Tatsache ist, es fanden Wahlen in der Ostukraine statt, allerdings nicht nach den in Minsk  vereinbarten, sondern nach eigenen örtlichen Bedingungen, weil die in den Minsker Beschlüssen vereinbarten Voraussetzungen von Kiew trotz diverser Gesprächsangebote aus dem Ostteil des Landes nicht hergestellt wurden. Eine Erinnerung an diese Vereinbarungen und ein Bestehen auf ihrer Einlösung sucht man in den  Begründungen für die aktuelle Sanktionsverlängerung jedoch vergebens.

Dabei könnte alles so einfach sein, wenn diese Vereinbarungen des Minsker Protokolls, die den Kern des Konfliktes zwischen Kiew und den Ostgebieten betreffen,  genannt, anerkannt und erfüllt würden. Sie lauten: Die Kiewer Regierung führt eine Verfassungsänderung durch, als deren wesentliches Ergebnis sie den Gebieten Donezk und Lugansk eine begrenzte Autonomie zugesteht, auf deren Grundlage dann Wahlen für die gesamte Ukraine durchgeführt werden können. (Siehe die Fakten zu den Vereinbarungen im 2. Teil dieses Artikels)

Tatsache ist, dass die Verfassungsreform bis heute nicht durchgeführt wurde, dass keine direkten Gespräche zwischen Kiew und den Donbas-Vertretern zur Vorbereitung und Einleitung einer solchen Reform zustande kamen – sei es, weil Poroschenko und seine Umgebung es selbst nicht wollen, sei es weil sie durch das nationalistisch dominierte Parlament daran gehindert werden. Mit Terroristen verhandeln wir nicht, hieß die bisher dabei von Kiewer Seite insgesamt verfolgte Linie.

Von  all dem – den ursprünglichen Vereinbarungen, wie deren Missachtung durch Kiew – ist,  wie gesagt, in den Begründungen für die Verlängerung der Sanktionen nicht mehr die Rede. Zwar werden von deutscher Seite, Steinmeier, großzügig „schrittweise Lockerungen“ der Sanktionen angeboten,  allerdings nur, wenn  „substanzielle Fortschritte“ bei der Umsetzung der Verträge erkennbar würden – substanziell von russischer Seite, versteht sich, wobei im Nebel bleibt, worum es hierbei gehen soll, da Russland eh schon seine Unterstützung auf die Aufrechterhaltung der rudimentären Infrastrukturen der Gebiete reduziert hat, die OSZE-Kontrollen in  mitträgt, den beschlossenen Fahrplan, wie oben  benannt, immer wieder zusammen mit den Donbas-Vertretern einklagt.

Dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wäre, wie er öffentlich erklärte, als „Signal aus Moskau“ sogar schon mit einem „Wahlgesetz für die Ostukraine“ Genüge getan. Aber selbst dafür, höhnt die „Frankfurter“, habe es in Minsk nicht gereicht.

Ähnliche  Töne wie die Steinmeiers und Gabriels sind auch von den Franzosen und Italienern,  waren in St. Petersburg vor einer Woche auch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu hören. Ungarn und Griechen schwanken. Gänzlich unnachgiebig sind die Balten und die Polen.

Kurz, es gibt durchaus widersprüchliche Positionen innerhalb der EU zu der Frage  und es fragt sich, wie lange die nach außen demonstrierte Einigkeit aufrechterhalten werden kann.  Nach dem Austritt Englands aus der EU stellt sich diese Frage noch einmal aktueller. In der Beschlussfassung zu den Sanktionen stellten jedoch weder Steinmeier, noch die Franzosen, noch die Italiener, noch sonst irgendjemand die Einstimmigkeit in Frage.

Die Beendigung der Minsker Märchenstunde lag  dann bei der deutschen Kanzlerin, die „klarstellt(e)“, wie die „Frankfurter Allgemeine“ es kernig formulierte, dass sie  eine Lockerung  der Sanktionen für „verfrüht“ halte. Die Zeitung weiß zu diesem Vorgang im Übrigen noch die folgende nette Anekdote zu berichten:

„Ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen war in der vergangenen Woche  mit zwei ranghohen Diplomaten  des Auswärtigen Amtes  nach Minsk gereist.  Nach der Reise  konnte Merkel sowohl Skeptikern in der EU als auch ihrem Koalitionspartner ausrichten: Seht her, wir haben es versucht. Aber es reicht noch nicht. Steinmeier und Gabriel mussten dies akzeptieren.“ So einfach ist das.

Was immer Kanzlerin Merkels Emissäre dort in „Minsk“ und bei wem  gefunden haben mögen – die tatsächlichen Vereinbarungen vom Februar 2015 fanden sie dort offenbar nicht. Angesichts eines solchen kollektiven Misserfolges bei der Suche nach Originalquellen oder auch einfach bedauerlichen Gedächtnisverlustes scheint es sinnvoll noch einmal an daran zu erinnern, was in den ursprünglichen Vereinbarungen zu finden wäre, was auch nicht mit neuen Reisen nach Minsk gesucht werden müsste, wenn man es denn finden wollte:

Dies kann jetzt und hier an Hand eines Textes von mir geschehen, der sich vor nahezu einem Jahr, am 1. Mai 2015, schon einmal die Aufgabe stellte, daran zu erinnern, was in Minsk tatsächlich beschlossen und schon seinerzeit beiseitegeschoben worden ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

***

 

Es folgt jetzt der Originaltext vom 1. Mai 2015, veröffentlicht u.a. in Russland.ru/russland.news

 

Wie alles sein könnte –

Ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen

 

Eigentlich ist alles ganz einfach: Die ukrainische Führung akzeptiert die Vereinbarungen des zweiten Minsker Treffens vom 12. Februar 2015, das heißt, sie geht mit den politischen Vertretungen der inzwischen selbst verwalteten Gebiete Donezk und Lugansk in direkte Verhandlungen über den autonomen Sonderstatus, den diese Gebiete ausgehend vom jetzigen Status quo in einer demokratisch und dezentral organisierten Ukraine erhalten sollen. Die Bereitschaft zu diesen Gesprächen geht von der Einsicht aus, dass eine militärische Lösung der Verfassungsprobleme der Ukraine nicht möglich ist.

Die Gespräche um Ausmaß und Form des autonomen Sonderstatus – Föderalisierung, Autonomie, lokale Sonderrechte oder einfache verwaltungstechnische Dezentralisierung – sind zugleich Bestandteil einer Verfassungsreform, als deren Ergebnis die autoritäre zentralstaatliche Organisation der Ukraine in eine dezentrale Demokratie umgewandelt werden soll.

Soweit, so klar, ein solches Vorgehen entspräche voll und ganz den Vereinbarungen, die in Minsk II getroffen wurden. Zur Erinnerung hier die entsprechenden Passagen der Minsker Vereinbarungen, die das Prozedere für die oben beschriebene Entwicklung unmissverständlich benennen (zitiert nach der „Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Ukrainekrise“, die dort am 19. Februar 2015 in Übernahme der Minsker Vereinbarungen beschlossen wurden):

 

Aufnahme eines Dialogs

Punkt 1 des Minsker Maßnahmenpaketes:

„Aufnahme eines Dialogs am ersten Tag des Abzugs (der schweren Waffen – ke) über die Modalitäten  von lokalen Wahlen  in Übereinstimmung mit ukrainischem Recht und dem Gesetz der Ukraine über  das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk  sowie über die künftigen Regelungen  für diese Regionen auf der Grundlage dieses Gesetzes. Unverzügliche Verabschiedung eines Beschlusses des Parlaments der Ukraine spätestens 30 Tage nach der Unterzeichnung dieses Dokuments, in dem das Gebiet, das einen Sonderstatus genießt, nach dem Gesetz der Ukraine über das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk festgelegt wird, und zwar auf der Grundlage der Linie des Minsker Memorandums vom 19. September 2014.„[i]

Kompliziert formuliert – aber doch klar: Nach Rückzug der schweren Waffen soll der direkte Dialog zwischen der Kiewer Führung und den selbstverwalteten  Gebieten Donezk und Lugansk aufgenommen werden, um den Status dieser Gebiete, auch den territorialen, im Verbund des ukrainischen Staates zu klären. Es werden keine Vorgaben über die Form und den Charakter dieses Status gemacht.

Noch deutlicher wird die Forderung nach einem Dialog in den Punkten 9 und 11 des Abkommens; diese Punkte sollen hier, wiewohl auch etwas mühsam zu lesen, ebenfalls zitiert werden, um Einseitigkeiten, Missverständnissen oder sei es auch nur einer allgemeinen Amnesie entgegenzuwirken:

 

Absprache und Einvernehmen

Punkt  9 und 11 des Maßnahmenpakets:

 „Wiederherstellung der vollen Kontrolle über die Staatsgrenze durch die ukrainische Regierung im gesamten Konfliktgebiet, die am ersten Tag  nach den lokalen Wahlen und nach der umfassenden politischen Regelung (lokale Wahlen in den gesonderten Regionen und Verwaltungsgebieten Donezk und Lugansk auf der Grundlage des Gesetzes der Ukraine und einer Verfassungsreform) endet; diese Regelung soll bis Ende 2015 finalisiert werden, vorausgesetzt, dass Absatz 11 in Absprache und im Einvernehmen mit Vertretern der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe umgesetzt wird.“

 

Punkt 11 lautet, um das gleich anzuschließen:

„Durchführung einer Verfassungsreform  in der Ukraine, wobei die neue Verfassung  bis Ende 2015 in Kraft treten soll und die Dezentralisierung  als Schlüsselelement vorsieht (einschließlich einer Bezugnahme auf die Besonderheiten  in den gesonderten Regionen Donezk und Lugansk, und  zwar in Absprache mit den Vertretern dieser Regionen), und Verabschiedung dauerhafter Rechtsvorschriften über den Sonderstatus der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  bis Ende 2015 in Übereinstimmung mit den in der Fußnote dargelegten Maßnahmen. (Anmerkung)“

Ist schon mit diesen Punkten klar, dass NICHTS gehen kann, ohne die Aufnahme eines direkten Gespräches zwischen Kiew und den „gesonderten Regionen“, so beseitigen die Fußnoten („Anmerkung“) jeden Zweifel, was der Geist von Minsk II, der so oft beschworen wird, eigentlich ist – oder sein könnte.

 

Möglichkeit zu Initiativen

„Anmerkung: Nach dem Gesetz über das Sonderverfahren für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  handelt es sich um folgende Maßnahmen:

– Verzicht auf Bestrafung, strafrechtliche Verfolgung und Diskriminierung von Personen, die in die Ereignisse verwickelt waren, die in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk stattgefunden haben;

– Recht auf sprachliche Selbstbestimmung;

– Beteiligung von Organen der lokalen Selbstverwaltung an der Ernennung der Leiter  der Staatsanwaltschaften und Gerichte in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk;

– Möglichkeit für zentrale Regierungsstellen, Vereinbarungen mit Organen der lokalen  Selbstverwaltung betreffend die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der gesonderten  Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk zu initiieren;

– Staatliche Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk mit Regionen der Russischen Föderation  durch zentrale Regierungsstellen;

– Schaffung von Volkspolizeieinheiten durch Beschlüsse der lokalen Räte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Die Befugnisse der in vorgezogenen Wahlen  und von der Werchowna Rada der Ukraine nach diesem Gesetz ernannten Abgeordneten von lokalen Räten und Amtsträgern können nicht vorzeitig beendet werden.“

 

Im Mittelpunkt der direkte Dialog

Auch wenn hier wieder kompliziert  formuliert wird und ohne an dieser Stelle auf  Einzelheiten eingehen zu können, geht doch auch aus den Anmerkungen eins klar hervor: Im Mittelpunkt der Absprachen steht die Einleitung eines direkten Dialoges zwischen den Konfliktparteien – und in diesem Zuge selbstverständlich auch mit anderen Regionen der Ukraine – um die Frage, welche Form eine Dezentralisierung der Ukraine annehmen kann. Über die konkrete Ausgestaltung soll miteinander gesprochen werden.

Merke: eine bestimmte Form wird in der Vereinbarung nicht vorweggenommen. Zu verhandeln wäre also über unterschiedliche Vorstellungen von der Föderalisierung, über Autonomie, lokale Sonderrechte bis hin zu einfacher Dezentralisierung von Verwaltungsbefugnissen. Die ganze Bandbreite steht zur Debatte.

Als Gesprächspartner werden die „Vertreter dieser Regionen“ zum einen und „zentrale Regierungsstellen“ zum anderen benannt. Den zentralen Regierungsstellen wird in den Anmerkungen (Satz vier) die „Möglichkeit“ eingeräumt, Vereinbarungen mit Organen der lokalen Selbstverwaltung zu „initiieren“, wohlgemerkt, nicht etwa zu verordnen oder zu befehlen, sondern ausdrücklich als Möglichkeit zu initiieren. Auch hier wieder keine Vorgabe einer bestimmten oder gar nur einer Lösung.

 

Politische Grundfrage lösen

Die Erfüllung weiterer Punkte des Minsker Abkommens – wie: Rückzug schwerer Waffen,  Amnestie, Gefangenenaustausch, humanitäre Hilfe, Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Landesteilen der Ukraine, „Entwaffnung illegaler Gruppen“, Rückzug aller „ausländischen bewaffneten Formationen“ wird dann möglich, kann dann einen Sinn machen und dann entspannende und aufbauende Folgen haben, wenn dieser Dialog um die grundsätzlichen politischen Fragen der Beziehung zwischen dem Kiewer Zentrum und als Statthalter des Staates und seiner einzelnen Subjekten effektiv im direkten Gespräch der Konfliktparteien aufgenommen wird.[ii]

Der Bevölkerung der Ukraine täte es zweifellos mehr als gut, wenn diese Gespräche endlich begonnen würden. Das gilt für die westliche Ukraine ebenso wie für die östlichen Teile, insbesondere natürlich für die „gesonderten Gebiete“ von Donezk und Lugansk, deren soziale und technische Infrastruktur durch den inzwischen einjährigen Krieg soweit zerstört ist, dass ein Leben dort auf ein Vegetieren unter dem Existenzminimum heruntergekommen ist.

Gut wäre die Aufnahme des Dialoges zweifellos auch für die Völker Russlands und die der Europäischen Union, denen die, in immer neue Milliarden gehenden, Lasten für den sinnlosen Sanktionskrieg des Westens gegen Russland und für die Kriegswirtschaft der Ukraine aufgebürdet werden.

Kommt noch das Aufatmen dazu, das durch die Welt ginge, wenn nicht Säbelrasseln, sondern Dialog, Verständigung und Kooperation die internationale Agenda bestimmte.

 

Falsches Spiel

Tatsächlich hat die erste Sitzung der ukrainischen Verfassungskommission, die eine Dezentralisierung der Ukraine einleiten soll, inzwischen stattgefunden –  allerdings gerade n i c h t  im Geiste der Minsker Vereinbarungen, sondern in dessen glatter Verkehrung: Föderalisierung sei eine „biologische Waffe“, die man der Ukraine „von außen aufzwingen“ wolle, „um unsere Einheit zu zerstören“, erklärte Präsident Poroschenko gleich zu Beginn der ersten Sitzung der Kommission. Damit schloss er eine offene Aussprache um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Dezentralisierung von vornherein aus. „Die Ukraine ist und bleibt ein Einheitsstaat“, postulierte er.

Zwar setzte Poroschenko, an die Kommission gewendet, noch hinzu: „Für diejenigen, die über Föderalisierung sprechen, schlage ich ein Instrument namens ‚Referendum‘ vor. Ich bin bereit für ein solches Referendum, wenn Sie das für notwendig halten.“ Den eigentlichen Punkt aber setzte Ministerpräsident Jazenjuk mit dem Statement: „Eine neue Verfassung müsse die Interessen des gesamten Landes berücksichtigen – von West nach Ost. Der Dialog mit dem Osten kann erst dann stattfinden, wenn es dort rechtmäßig gewählte Abgeordnete  gibt.  Wir verhandeln nicht mit russischen Kriminellen oder Terroristen.“[iii]

Der ukrainische Parlamentsvorsitzende Wolodymyr Hroisman erklärte im TV-Sender ‚Inter“, die Zentralregierung werde nach Abhaltung freier Lokalwahlen mit den Gewinnern  einen politischen Dialog führen. Anführer von Banditengruppen und Kämpfern  der sog.  „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ an künftigen Wahlen schieden jedoch aus. Und wörtlich: „Es können keine Mörder, keine Bandenführer und alle anderen gewählt werden. Das sind Verbrecher, die bestraft werden müssen.“[iv]

 

Autonomie von Kiews Gnaden

Voraufgegangen war diesen Auftritten die Verabschiedung eines „Gesetzes über die Autonomie in den Separatistengebieten“ in der Werchowna Rada Kiews. Nach diesem Gesetz soll über einen Autonomiestatus der Gebiete Donezk und Lugansk erst nach den gesonderten Kommunalwahlen vom 25. Oktober 2015  entschieden werden. Außerdem legt das Gesetz eine Liste von Ortschaften fest, für die künftig eine Autonomie gelten soll. Diese Territorien werden in dem Gesetz zu „vorübergehend  besetztem Gebiet“ erklärt.

Alle diese Änderungen wurden ohne Beteiligung der Vertreter von Donezk und Lugansk getroffen. Vorschläge, für den Verfassungsprozess, darunter auch solche zu den Kommunalwahlen, die die Vertreter von Donezk und Lugansk nach Kiew geschickt hatten, wurden von dort nicht beantwortet.[v]

Mit dem Gesetz über die Autonomie in den Separatistengebieten und den darauf folgenden Weichenstellungen des Verfassungskongresses ist das Minsker Abkommen faktisch vom Tisch. Die Konsequenz des Gesetzes wäre vielmehr, wenn es umgesetzt  werden könnte, dass die „gesonderten Gebiete“ ihren blutig erkämpften Sonderstatus erst aufgeben müssten, um ihn sich von Kiew dann wieder gewähren zu lassen. Es ist klar, dass die politischen Körperschaften, die durch die Referenden und die unabhängig von Kiew durchgeführten lokale Wahlen n Donezk und Lugansk im Lauf des Jahres 2014 legitimiert worden sind, sich darauf nicht einlassen können. Was jetzt kommt, wenn keine Korrektur erfolgt, kann unter diesen Umständen nur auf eine Fortsetzung der bisherigen „Anti-Terror-Aktion“ hinauslaufen, die sich wahlweise  als Verfassungsreform, Dezentralisierung oder Demokratisierung tarnt. Dass die so ins Visier genommenen „Terroristen“, dies nicht widerstandslos hinnehmen werden, ist ebenso klar. Offen ist allein, wie weit sich die hinter den Konfliktparteien stehenden Schutzmächte in die neue Runde der Konflikte aktiv mit einmischen oder mit in sie hinein ziehen lassen wollen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                             Freitag, 1. Mai 2015

Bücher zum Thema:

Peter Strutynski (Hg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, Papyrossa

 

Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.), Ukraine m Visier, Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, Selbrund Vlg.

 

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte

 

 

 

[i] Wortlaut von Minsk 1: http://www.bpb.de/internationales/europa/ukraine/192488/dokumentation-das-minsker-memorandum-vom-19-september

[ii] Vollständiger Wortlaut der UN-Resolution: http://www.russland.ru/resolution-des-un-sicherheitsrates-zur-ukrainekrise/

[iii] http://de.euronews.com/2015/04/06/poroschenko-ja-zur-dezentralisierung-nein-zum-foederalismus/

 

[iv] http://www.ukrinform.ua/deu/news/hroisman_von_einer_fderalisierung_der_ukraine_kann_keine_rede_sein_14829

[v] http://www.dw.de/keine-chance-auf-frieden-f%C3%BCr-ostukraine/a-18323459

Globales Zwischenhoch: Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum?

Die Augen müsse man sich reiben, alles werde auf den Kopf gestellt, konnte man dieser Tage in dem führenden Blatt der deutschen Konservativen, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.06.2016 lesen.

Empörung breitete sich auf den Bonner und Brüsseler Etagen aus. Einen „ungeheuerlichen Vorwurf“  erkannte der  Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Eckpfeiler der deutschen, der europäischen Außenpolitik, gar der NATO-Strategie sah man bedroht. Man wolle doch nur die Sicherheit an Russlands Grenzen sichern; ein anderes Interesse als Friedenserhaltung verfolge die NATO nicht, schob Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag darauf nach.

 

Putins Angebot: Weg mit den Sanktionen

Was war geschehen? Auf dem 20. Petersburger Wirtschaftsforum vom 17.06.2016, zu dem rund 500  Vertreter und Vertreterinnen von ausländischen Unternehmen aus 60 Ländern, vornehmlich aus dem Nahen Osten und Asien, aber auch aus den USA und der EU angereist waren, unter ihnen auch der Präsident der Europäischen Kommission der EU, Jean-Claude Juncker, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Gäste aus der EU mit dem Angebot überrascht, die von Russland als Reaktion auf die vom Westen nach den Krim-Ereignissen gegenüber Russland verhängten Sanktionen von Russlands Seite her aufzuheben. Gemeinsam könne  man an den Aufbau einer eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft  gehen  – wenn Russland sich darauf verlassen könne, anschließend nicht (man konnte das feine ‚wieder‘ mit heraushören) betrogen zu werden.

Und nicht nur das: Nicht nur lobte UN-Präsident Ban Ki-Moon Gastgeber Putin für seinen mutigen Schritt und dankte für sein Engagement in Syrien, nicht nur kniff sich Juncker eine Zustimmung zu dieser Perspektive ab, vorausgesetzt, dass  Russland sich weiter kooperativ zeige, nein, allen voran nutzte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Gut-Wetter-Lücke zwischen dem Treffen in St. Petersburg und der für den 8. und 9. Juli bevorstehenden NATO-Tagung,  mit Hinweis auf das zur Zeit in Polen durchgeführte  Nato-Groß-Manöver „Anaconda“ in der „Bild am Sonntag“ öffentlich zu mahnen: „Was wir jetzt nicht tun sollten, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeschrei  die Lage weiter anzuheizen.“

 

Aber war denn nicht alles ganz anders …

Aber die  so Ermahnten können es einfach nicht glauben. War denn nicht alles ganz anders? Werden damit nicht alle Tatsachen auf den Kopf gestellt? War es nicht so, wie man es in der FAZ vom 20.Juli lesen konnte ? „Ursache für die Eiszeit  ist der Verstoß Russlands gegen Prinzipien,  die jahrzehntelang für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt hatten. Es war nicht die Nato, sondern der Kreml, der die Krim okkupierte und der in der Ostukraine einen (Sitz-)Krieg führt. Es ist nicht die Nato, sondern Moskau,  vor dem sich  die baltischen Republiken und Polen fürchten,  weswegen sie aus freien Stücken der atlantischen Allianz beitraten. Bis zur Annexion der Krim spielte die Nato militärisch in diesen Ländern keine Rolle. Auch die vier Bataillone, die dort stationiert werden sollen,  stellen keine Bedrohung für Russland dar, das auf seiner Seite der Grenze Divisionen stehen hat.  Steinmeier spricht zu Recht  von ‚symbolischen Panzerparaden‘. Die Nato-Verbände haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, das der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe.  Und dass die NATO einen Angriff  auf eines ihrer Mitglieder  als Angriff auf alle betrachten würde.“

Bemerkenswert! Wirklich bemerkenswert diese Sicht! Man kann die Welt doch von sehr verschiedenen Seiten betrachten. Aber man muss sich hier nicht bei den gröbsten Verdrehungen aufhalten, wie etwa der, Russland habe die Krim „besetzt“, man  muss auch nicht den Versuchen Steinmeiers und seiner Parteigänger erliegen, das Schwanken zwischen Verlängerung der Sanktionen gegen Russland und zögernder Anerkennung für dessen Einsatz in Syrien für eine „neue Entspannungspolitik“ auszugeben, es gar noch „im Geiste Brandts“ verstehen. Zu offensichtlich ist die Hilflosigkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit dieser Politik, wenn man wahrnehmen muss, wie in strategischen Hinterstuben zugleich Pläne für die nächste Phase geplanter Aggression geschmiedet werden:

  • Die Forderung von 51 US-Diplomaten aus dem Mittelbau des außenpolitischen Establishments, die in einem offenen Brief verlangen, die Politik des „Regimechange“ in Syrien durch Bombardierung von Assads Truppen wieder aufzunehmen. Dies würde den Krieg mit Russland zumindest in Kauf nehmen.
  • Das Offenhalten des Ukraine-Konfliktes, indem die ukrainische Regierung sich – trotz verbaler Kritiken seitens der EU, Steinmeiers, und selbst seitens der USA von ihnen dennoch geduldet – weigert, den Donbas-Republiken ihren im Minsker Vertrag vereinbarten Autonomiestatus zuzuerkennen – die Schuld dafür aber der andauernden „Aggressivität“ der Russen zuschiebt.
  • Die nochmalige Verlängerung der Sanktionen seitens der USA und der EU gegen Russland, sogar Forderungen nach weiterer Verschärfung, so dass es Millionen wirklich wehtue, weil nur so an einen Sturz Putins gedacht werden könne.

 

An einem Wendepunkt angekommen

 Man muss auch Russland nicht in Schutz nehmen als wäre es ein Neugeborenes, das den  Härten der US-, EU-, Nato-Welt und überhaupt den imperialen globalen Realitäten, den Verleumdungen Russlands als Reich des Bösen mit einer Widergeburt Hitlers als Präsidenten noch nicht gewachsenen sei, dem also schon einmal Fehler unterlaufen könnten, ohne dass man es dafür kritisieren müsste. Aus der zweiten und dritten Reihe werden auch in Russland durchaus dumpfe Töne laut.

Nein, man muss jetzt vor allem erst einmal die Tatsache erkennen, dass Russland 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder in die Weltpolitik eingetreten, dass sein Präsident Putin ungeachtet aller Anwürfe als Wiedergänger Hitlers zum anerkannten globalen Krisenmanager aufgerückt ist. Und man muss dies nicht nur konstatieren, um sich dann darauf auszuruhen, es ist auch wichtig zu erkennen, wie es dahin kam, welche Elemente in diesem Krisenmanagement wirksam sind und wo seine Grenzen liegen, um zu verstehen in welcher Etappe der Neuordnung wir uns 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der systemgeteilten Welt, die den Kriegen des vorigen Jahrhunderts folgte, heute befinden.

Denn ungelöst sind die aus dem letzten Jahrhundert herüber gewachsenen Grundfragen, die über ein vorübergehendes Krisenmanagement durch eine charismatische Figur wie den gegenwärtigen russischen Präsidenten weit hinausführen.

Wer diesen Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre richtet, erkennt, dass die globale Konstellation mit Putins neuerlichem Angebot an die Europäische Union an einem Wendepunkt angekommen ist.

 

Drei Etappen des  russischen Aufstiegs

Drei Etappen lassen sich bei dem Aufstieg Russlands in seine gegenwärtige Rolle des globalen Krisenmanagers benennen:

Das ist zunächst das  Wegbrechen jeglicher Staatlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und dem Kniefall vor dem Westen unter Boris Jelzin in den Jahren 1985 bis 1998.

Das ist darauf folgend die Wiederherstellung rudimentärer Staatlichkeit und einer mühsamen inneren Stabilisierung unter Putin  im Inneren des Landes seit 1998 bis heute (allerdings schon begonnen unter Primakow 1998, was in der Regel unterschlagen wird).

Das ist, aus dem inneren Krisenmanagement erwachsen, der Übergang in ein Wiedereintreten des Landes in seine Rolle als Integrationsknoten Eurasiens, der für die Newcomer aus den ehemaligen Kolonien zum wichtigsten Partner in ihrem Streben nach einer Ablösung der von den USA allein und militärisch dominierten Weltordnung wurde.

Aber nicht Diktat und Repression, wie westliche Propaganda es immer wieder nahelegt,  hat diesen Weg des inneren und danach äußeren Krisenmanagements getragen, nicht imperiale Stärke,  sondern im Gegenteil eine von Putin aus dem geschwächten eurasischen Zentrum heraus entwickelte Politik des Konsenses.

Aus dem Konsens heraus ist Russlands Wiederherstellung seiner Staatlichkeit im Inneren erfolgt, zweifellos „vertikal“, nicht demokratisch, aber gestützt auf die Struktur realer Vielfalt im Lande. Aus dem inneren Konsens heraus hat Russland seine Rolle als Motor einer internationalen Gegenbewegung der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion Union entwickelt – letztere immer mit Blick auf Kooperation, nicht zuletzt mit der EU, statt auf Konfrontation.

Die Angebote Putins, Medwedews und anderer russischer Politiker zur Kooperation in einer „Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok“ waren die immer wiederkehrende Essenz dieser Politik, bis Russland sich angesichts der zügellosen Ost-Erweiterung von EU, NATO und dem frechen Vordringen der USA auf den eurasischen Kontinent, ihrem schrittweisen, systematischen Einkreisen der russischen Grenzen seit der Auflösung des Warschauer Paktes, gezwungen sah,  aus der Duldung dieser Einkreisung  in die Verteidigung seiner Grenzen zugehen.

 

Übergang zur offensiven Verteidigung

Das geschah erstmalig mit der deutlichen Antwort auf die georgischen Provokationen von 2004, die Russland militärisch zurückwies.

Das wiederholte sich gegenüber den Versuchen, die Ukraine 2008, dann endgültig seit dem Maidan 2013/14 ins westliche Bündnis zu ziehen, indem Russland den Austrittswillen der Krim in einem schnellen Referendum aufgriff und den Osten in seinen Autonomiebestrebungen personell und sachlich unterstützte.

Das steigerte sich schließlich in dem Einsatz von Kampffliegern in Syrien, nachdem alle Versuche, eine friedliche Beilegung des von der US-Allianz betriebenen gewaltsamen „Regimechanges“ auf dem Verhandlungswege mit der US-geführten „westlichen Allianz“ zu erreichen, auch im fünften Jahr dieses unerklärten Krieges noch am Widerstand der USA gescheitert waren. Erst  der Einsatz der russischen Bomber erzwang jetzt den – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.

Ähnliches gilt für die Ukraine, deren „eingefrorener Konflikt“ nur deshalb nicht heiß weiter läuft, weil Russland nach wie vor als Garantiemacht hinter den selbsterklärten Republiken des Donbas steht.

Dies alles sind bekannte Tatsachen, die hier nicht zum hundertsten Male neu im Detail ausgebreitet werden müssen. Dadurch werden sie für die, die sie leugnen, nicht wahrer. Diese Menschen sehen die Dinge schlicht von der anderen Seite. Es dürfte wichtig sein, ihre Motive und Aktivitäten nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen.

 

Erkennbare Grenzen

Aber hier werden selbstverständlich auch schon die Grenzen des russischen Krisenmanagements sichtbar, das nach der Ausdehnung seiner Sicherheitspolitik  in den globalen Raum nunmehr wieder in verstärktem Maße mit der  Sicherung seiner inneren, hauptsächlich der sozialen und „nationalen“ Fragen, d.h., der Entwicklung seiner Republiken konfrontiert ist. Darüber hinaus stellt sich für Russland auf längere Sicht die Frage, ob und wie es unter diesem Druck die Kraft hat, dem Kulturimpuls als „Entwicklungsland neuen Typs“ gerecht zu werden, der in der Überwindung von sowjetischem Sozialismus und heutigem Turbo-Kapitalismus neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen könnte, die sich auf die tausendjährige (zweifellos auch sehr widersprüchliche)  Gemeinschaftskultur Russlands stützen  könnten – ohne dass daran nach dem Niedergang des Zarismus, danach dem des sowjetischen Imperiums, nunmehr auch der als zentralisierte Föderation übriggebliebene  Vielvölkerorganismus des neuen Russland zerbricht.

Dies alles muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass die grundlegenden Konflikte der sich heute entwickelnden globalen Übergangsordnung in keiner Weise gelöst, ja, zum Teil noch nicht einmal richtig erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, dann leichtfertig oder sogar wissentlich – ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen der globalen Bevölkerung – beiseitegeschoben werden.

Es sind dies Fragen, die das ganze globale Feld heute betreffen, aber eben auch Russland in seiner Dynamik als aus der Asche des Sozialismus auftauchendem potentiellen Protagonisten einer möglichen Neuordnung, dem die widersprüchliche Aufgabe zufällt, sich als „Hybrid“ neu zu erfinden, der sich in die „Moderne“ einfügen muss, der sich aber in seiner undefinierten, in Bewegung befindlichen Mischung aus gemeinschaftsorientierten und neo-kapitalistisch orientierten Lebensweisen nicht in die „normalen“, sprich zerstörerischen Krisenzyklen der kapitalistischen Welt einfügen kann – und es auch nicht will.

Die Grundfragen, deren Lösung ansteht, sind nicht zu umgehen – so oder so nicht. Fassen wir sie zusammen, dann lauten sie so:

  • Wie wollen wir leben, wenn nicht sozialistisch nach Art der Sowjetunion, aber auch nicht im nach-sozialistischen Turbo-Kapitalismus? Wie wird die soziale Frage der „Überflüssigen“ gelöst, die aus der ungebremsten Automatisierung bei gleichzeitiger rasanter Vermehrung der Weltbevölkerung erwächst?
  • Wie wird die „Nationale Frage“ in einer Welt gelöst, auf der unter dem Prinzip „Teile und Herrsche“ bei gleichzeitigen globalen Zentralisierungstendenzen immer mehr „eingefrorene Konflikte“ als Minenfelder für zukünftige Politik zurückbleiben?
  • Wie sind die zerstörerischen Folgen des immer noch wachstumsorientierten Expansionismus ohne Krieg zu bewältigen?

Wie lange und wie weit Russland zur friedlichen, kooperativen Lösung dieser Fragen beitragen kann, ist eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende Frage der nächsten Etappe.

 

Kai Ehlers, 21.06.2016

www.kai-ehlers.de

 

 

 

Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

Aus der Befassung mit dem soeben in deutscher Fassung erschienenen Tschuwaschischen Nationalepos: „Ylttanbik – der letzte Zar der Wolgabolgaren – Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts“ sowie dem schon 2011 erschienenen Epos „Attil und Krimkilte – das Tschuwaschische Epos zum Sagenkreis der Nibelungen“ auf dem zurückliegenden Treffen des „Forum integrierte Gesellschaft“, blieb – über den Lesegewinn hinaus – die Frage zurück, welchen Sinn und welche Funktion „nationale Wiedergeburt“ in einem Staat wie Russland heute, welche Rolle genereller Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung in der gegenwärtigen Krise hat.
Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
Und weiter: Als Nationalstaaten galten und gelten auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings der EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine Gültigkeit mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Mißachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

Über diese Frage soll beim nächsten Treffen des Forums gesprochen werden und zwar ausgehend von der – zugegebener Maßen – provokativ gestellten Frage, die uns direkt ins Herz des Problems hineinführen wird:

„Islamischer Staat“ – eine Herausforderung zur geistigen Erneuerung?

Treffen: Sonntag, den 13. 03. 2016, Beginn 16.00 Uhr

Anmeldung erwünscht unter info@kai-ehlers.de
Und wie immer mit Kleinigkeiten zum Knabbern.

Kai Ehlers, Christoph Sträßner

Link zu den oben genannten Büchern: in www.lai-ehlers.de

  1. Ylttanbik – letzter Zar der Wolgabolgaren…
  2. Attil und Krimkilte …

Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

Ukraine, Syrien, Libyen, Irak, Türkei, Afghanistan – unter dem Druck der Flüchtlingsströme von Süden in den Norden des Globus jetzt auch die Europäische Union: das Kampffeld, auf dem nationale Souveränität in Frage gestellt wird und wo sie umso radikaler behauptet wird, weitet sich zusehends aus. Die großen Mächte schieben nationale Souveränität beliebig beiseite, kleine Völker wie die Kurden, wie die Uiguren Chinas, wie Indigene Südamerikas ringen um Autonomie oder „nationale Widergeburt“, arbeiten vergessene Geschichte in eigenen Epen auf. So etwa die Tschuwaschen Russlands, deren neuestes „Nationalepos“ soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Bei all dieser nationalen Selbstbesinnung und ihrer gleichzeitigen Zerstörung stellt sich die Frage, welche Bedeutung Autonomie, nationale Wiedergeburt, genereller nationale Souveränität, Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung, die heute als Norm gilt, in der gegenwärtigen Krise hat.
Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
Und weiter: Als Nationalstaaten galten und werden faktisch auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings die EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien gehandelt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine „nationale“ Gültigkeit, genauer, keine nationalen Grenzen mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Missachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Screenshot Syrien – Vom Schachspiel zum Poker

Die Schärfe der globalen Spannung, die zurzeit über Syrien lastet, fordert über die Tagespolitik hinaus mehr Beachtung der langfristigen Wirkungen der dortigen Vorgänge. In Kurzem:

„The Grand Chessboard…“ nannte Zbigniew Brzezinski sein bekanntestes Buch, in dem er die Strategie der US-Regierung Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts vor aller Welt offenlegte. Essens der Strategie war: Es dürfe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, durch den die USA zur einzigen Weltmacht geworden seien, kein neuer Rivale auf dem Globus heranwachsen, der die Vorherrschaft der USA in Frage stellen könne.

An dieser Zielvorgabe ließ sich die US-Politik bis in den Ukrainischen und auch bis in den Syrischen Krieg hinein messen: Unruhe schaffen, um mögliche Rivalen zu schwächen. Hauptadressat dieser Politik war und ist das nachsowjetische Russland als Impulsgeber einer multipolaren Welt.

CIA-Vorgaben aus den Jahren 90/91 des letzten Jahrhunderts, die empfahlen, dem absehbaren Bevölkerungswachstum der ehemaligen Kolonialgebiete wirksam entgegenzutreten, bildeten den nicht-öffentlichen, aber keineswegs geheim gehaltenen Hintergrund dieser Strategie. In den Vorgaben wurde vorgeschlagen dafür zu sorgen, dass die in den ehemaligen Kolonialländern heranwachsenden „Überflüssigen“ (in der Fachsprache der Dienste „Youth-Bulge“, Jugendüberschuß genannt) sich in lokalen Kriegen und Bürgerkriegen gegenseitig dezimieren.

 

Die Partie stagniert

Diese 91er Strategien, sagen wir es vorsichtig, haben sich überlebt. Die Jahrzehnte der einsamen US-Vorherrschaft wie auch der ebenso einsamen multipolaren Opposition Russlands dagegen gehen ihrem Ende entgegen. Eine neue Lage hat sich herausgebildet: Vergangen ist die unipolare Welt der scheinbar unaufhaltsamen neoliberalen Globalisierung, die sich nach Ende des Kalten Krieges unter der Dominanz der USA entwickelte hatte. Auch die der Globalisierung vorangegangene systemgeteilte Welt mit ihren leicht erfassbaren Freund-Feind/Sozialismus-Kapitalismus-Schablonen liegt weit zurück und ist nicht wiederholbar – auch nicht als Krieg der Kulturen.

Entstanden ist eine globale Gemengelage gegenläufiger, sich auf vielfältigste Weise überschneidender Interessen, die sich in wachsender Rivalität gegenüberstehen. Die langfristigen strategischen Optionen der systemgeteilten, ebenso wie die der unipolaren und auch der multipolaren Welt sind nicht vergessen, aber sie schrumpfen zurzeit auf kurzatmige taktische Manöver zusammen. Im Kampf um Ressourcen, globalen Einfluss und mögliche Vorherrschaft ist das Schachspiel aktuell zum Poker verkommen, in dem sich die ‚Spieler‘ in wechselnden Bündnissen gegenseitig belauern, einander zu übervorteilen und ins Risiko zu ziehen versuchen.

 

Eine neue Etappe

Man mag vielleicht einwenden, dass Poker gewissermaßen die natürliche, die ‚normale‘ Form des politischen ‚Spiels‘ sei, dem gegenüber die Regeln der system-geteilten Welt nach 1945 und selbst noch jene der US-Alleinherrschaft nach 1991 die entwickeltere, die rationalere, weil Stabilität bewirkende Form des globalen Konflikt- und Friedensmanagements gewesen seien, dass die heutigen globalen Beziehungen dagegen von der vorübergehenden Ausnahme sozusagen zur historisch Regel zurückkehrten. Mit dieser Sicht ginge man jedoch an der inzwischen erreichten Eskalationsstufe der globalen Beziehungen vorbei, die man, um es paradox aber realistisch zu formulieren, als zunehmende Fragmentierung der Globalisierung charakterisieren kann. Die führt entweder ins Chaos oder auf bisher nicht beschrittene zukunftsoffene, lebensdienlichere Wege der gesellschaftlichen, man darf ruhig sagen, der kulturellen Entwicklung.

In dem Maße, in dem die Weltbevölkerung technisch-logistisch als globale zusammenwächst, im dem Maße, in dem territoriale Entfernungen an Bedeutung abnehmen, steigt weltweit zugleich der Grad der Individualisierung, der Atomisierung und der Sektoralisierung der Gesellschaften in sich selbst genügende Einheiten, die ihre Beziehungen zu anderen Einheiten neu definieren müssen.

Der Nationalstaat, wie er im letzten Jahrhundert als Zentralstaat definiert wurde, erst recht der ethnisch dominierte, sowie der mit dem Lineal ohne jede Rücksicht auf historische Gewordenheiten gezogene, verliert in diesem Prozess seine bindende Kraft. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass der Nationalstaat heute nicht mehr als Ausdruck eines Volkes, sondern als bloßer Rahmen für eine in viele Sektoren gegliederte Bevölkerung verstanden wird, deren Teile nicht selten mit der Außenwelt enger verbunden sind als mit den Menschen innerhalb der nationalen Grenzen.

Zugleich verlieren die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten ihre Verbindlichkeit als grundlegende völkerrechtliche, besser gesagt globalrechtliche Ordnungseinheit. Auch sie sind, real betrachtet, in zunehmendem Maße nur noch Sektoren einer überstaatlichen, aber deshalb nicht etwa definierten und nicht etwa legitimierten allgemeinen Ordnung. Für die internationalen Beziehungen heißt das: Es herrscht das Recht des Stärkeren.

All dies sind Indikatoren der Krise des Nationalstaats und der mit ihm verbundenen gegenwärtigen Völker-Ordnung in seiner bisherigen Form und Bedeutung. Die Krise kann kurzschlüssige Rückwendungen zu nationalistischen Exzessen wie in der Ukraine und als Gegenstück dazu Weltherrschaftsphantasien wie die des „IS“ hervorbringen. Sie kann aber auch zur Weiterentwicklung des Nationalstaates in Richtung souveräner, miteinander in föderalem Verbund gleichberechtigt kooperierender autonomer Regionen, politischer Großkollektive und länderübergreifender Korporationen führen. In dieser Entwicklung wird auch der Nationalstaat als rechtlicher Rahmen seine neue Bedeutung finden.

Es stellt sich die Frage, welche Karte im globalen Poker um Syrien als nächste gespielt wird. Wenn Russland darauf besteht die Souveränität des syrischen Nationalstaates zu achten, ist das selbstverständlich noch nicht der endgültige Weg in die Zukunft, aber vermutlich ist es die Karte, die das geringste Risiko nach sich zieht, die ganze Runde zu sprengen und die Raum lässt für weitere Runden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Syrien – Gipfel der Souveränität.

So wie es vom Gipfel aus abwärts geht – oder im hohen Flug in ungesicherte Gefilde, so geht es vom Krieg in Syrien aus in die endgültige Beseitigung des Prinzips des souveränen Nationalstaats – oder zu deren grundlegender Neubestimmung.

Schauen wir, was da auf dem syrischen Schlachtfeld zusammenläuft: Continue reading “Syrien – Gipfel der Souveränität.” »

Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?

Wenn die deutsche Bundesregierung der deutschen Bevölkerung erzählen will, es gebe keine Alternative zum Kriegsbeitritt der Bundeswehr in Syrien – was ist das? Dummheit? Lüge? Schamloser Opportunismus?

Man mag es kaum zum x-ten Mal wiederholen, was selbst die Strategen des von George W. Bush 2001 losgetretenen „Krieges gegen den Terrorismus“ inzwischen eingestehen mussten: dass der von den USA geführte „Krieg gegen den Terror“ den Terror erst zur globalen Geißel hat werden lassen, und zwar in doppelter Weise: als staatlichen Terror und in der Entstehung dessen, was sich heute „IS“ nennt sowie anderer verstreuter Milizen. Continue reading “Alternativlos in den syrischen Krieg? Den Terrorismus besiegen?” »

Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?

Wieder einmal will man uns einnebeln: Dem Demokratisierungsprozess in der Ukraine stehe nur noch Russlands Unterstützung für die nicht anerkannten Republiken Donezk und Lugansk entgegen. Eine Befriedung Syriens und damit ein Ende des Terrors wie auch der Flüchtlingsbewegungen würden nur durch Russlands Festhalten an Präsident Baschar el-Assad verhindert. Continue reading “Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?” »

Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

Schriftliche Fassung eines Vortrags
auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »

Apropos Sanktionen: Ein Blick auf Russlands Ressourcen

Nach vorübergehender Annäherung zwischen Russland und dem Westen, speziell der EU, lautet die herrschende Frage des Westens heute wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse.

Wer glaubte, Russland fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder auf die Knie zwingen und zu einer Erdöl liefernden Regionalmacht, gar Kolonie herabstufen zu können, sieht sich getäuscht. Wieder einmal, muss hinzugefügt werden. Schon Napoleon, später Hitler unterlagen dieser Täuschung. Jetzt hat Russland den Erweiterungs-Offensiven der EU und der NATO ein klares Njet entgegengesetzt, verwandelt die vom Westen gegen das Land verhängten Sanktionen und Isolierunsversuche in neue eigene Entwicklungsschübe und festigt sein Bündnissystems mit den aus der US-Hegemonie heraustretenden Neuen Welt.

Woher nimmt Russland die Kraft der „Weltgemeinschaft“ auf diese Weise zu trotzen? Wie erklärt sich die Russland-Phobie der USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte?
Doppelt gestaffelte Autarkie

Die Antwort ist umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Die russische Autarkie ist doppelt begründet. Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen der eurasischen Weite: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Dazu gehört als besonderes Element auch noch die Vielfalt der in Russland lebenden Völker, die zusammen einen Organismus bilden, in dem Zentrum und Autonomie sich noch einmal unterhalb der staatlichen Verwaltungsstrukturen in besonderer Weise ergänzen.

Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder.

Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf der neueren Geschichte – wie oben schon angedeutet – bereits in die Lage, europäischen Kolonisierungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939. Heute ist es wieder so: Trotz Krise, trotz technischer Rückständigkeiten, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern auch dieses Mal wieder stärker aus der Krise hervorzugehen.

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte und von ihm abhängige – soziale Befriedungspolitk gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind: Beschluss einer neuen Militärdoktrin seit 2002, Auftritt gegen die USA bei der Münchner NATO-Tagung 2006, dazu eine, so möchte ich es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen, konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Es folgte das erste Njet gegen die NATO-Erweiterung 2008 im sog. Georgischen Krieg, in dem Russland sich gegen die weitere Ausdehnung der NATO in die Ukraine und nach Georgien wandte; gegenwärtig erleben wir die Aktualisierung dieses Njet im verdeckten Ukrainischen Stellvertreterkrieg zwischen EU/USA und Russland.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde Russland zum potentiellen Führer einer aus den ehemaligen Kolonien hervorgehenden neuen Welt, die sich aus der US-Hegemonie lösen will, während die frühere Neue Welt, die USA, sich im Versuch, ihren überhöhten Energiebedarf zu decken und ihre Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, sondern auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen wird.
Basis der Autarkie – extreme Bedingungen

Die russische Autarkie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch, Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden können. Diese Kombination von Reichtum und extremer Härte hat eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen Entwicklung, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch Privateigentum an Produktionsmitteln entstand, waren es lokale Ausnahmen und vorübergehende Erscheinung von kurzer Dauer, wie gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als neben den der staatlich initiierten Industrialisierung aus den dörflichen Strukturen zusätzlich private Industrie entstand, deren private Rechtsformen jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt wurden.

Das heißt, vor Ort, in den Weiten des russischen Landes, im Bewusstsein des Volkes war Eigentum „schon immer“ gemeinschaftlich organisiert. In der westlichen Geschichtswahrnehmung sind diese Verhältnisse als russische Dorfgemeinschaft, als Dorfdemokratie (MIR), russisch Òbschtschina bekannt; in Sibirien und im Süden Russlands waren es Genossenschaften freier Bauern, aber auch diese waren aufeinander angewiesene Gemeinschaften.

Die russischen Dörfer waren in ihrer Mehrheit ihrerseits Gemeineigentum des Zaren, der herrschenden Schicht, das heißt, des Hofes, der Kirche, des dem Zaren hörigen Dienstadels, alles zusammengefasst unter der Führung der zaristischen Selbstherrschaft, zu der Kirche und Staat sich verbunden hatten. Autarkie und Autokratie sind in dieser Geschichte untrennbar miteinander verbunden. Man hat es im Ergebnis im traditionellen Russland mit einer Wirtschafts- und Lebensweise zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit als „asiatische Produktionsweise“ charakterisierten. Damit waren Verhältnisse gemeint, wie sie auch aus dem alten Mesopotamien, aus Ägypten, von den Inkas, aus China, Indien usw. bekannt waren. . In der Industrie setzte sich diese Realität als staatlich initiierter Kapitalismus fort.
Asiatische Produktionsweise

Marx und Engels kategorisierten die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entlang zweier von ihnen angenommener Linien. Auf der Hauptlinie sahen sie, noch ganz einem ungebrochenen eurozentristischen Verständnis verhaftet, die Entstehung der abendländisch-europäischen Produktionsweise: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus – Kommunismus, die sich, basierend auf der Entwicklung des Privateigentums an Produktionsmitteln, dynamisch, unaufhaltsam, eskalierend von Revolution zu Revolution aus einer Formation in die nächst höhere bewege. Für Marx/Engels war Europa das Zentrum dieser Bewegung, heute sind es von Europa ausgehend die USA, allgemeiner der euro-amerikanische Westen. Auf der Nebenlinie verorteten sie die asiatische Produktionsweise, anders von Marx auch als gemeineigentümlicher Despotismus bezeichnet, die aus dem Zusammenwirken von dörflicher Selbstversorgung und einer ihr übergeordneten Bürokratie entstehe und von den Dörfern lebe (Priesterkaste, Gelehrtenhierarchie, Beamtenapparat…).

Prinzipiell formuliert: Die europäische Produktionsweise entwickelte Privateigentum als Motor der Selbstverwertung des Geldes, aus welcher der privatwirtschaftliche Kapitalismus hervorging. In ihr sind Staat, Kirche und Kapital getrennt und müssen sich immer wieder neu verbinden. Ihre Krisen tragen dynamischen Charakter. Die asiatische Produktionsweise entwickelt Gemeineigentum als Basis einer stabilen individuellen und allgemeinen Selbstversorgung unter der Herrschaft einer verwaltenden Klasse. Krisen entstehen periodisch aus der Schwäche der Bürokratie, nicht aus der Dynamik des Kapitals.

Marx bezeichnete diese asiatischen Formen der Wirtschaft im Gegensatz zur griechisch/römischen Sklavenhaltergesellschaft, in welcher einzelne Menschen zum Privatbesitz einzelner Menschen wurden, als eine „allgemeine Sklaverei“, weil in ihnen der Einzelne zwar frei, im Kollektiv aber dem Staat unterworfen oder gar hörig sei. Einen wesentlichen Unterschied der asiatischen Produktionsweise zur europäischen sahen Marx und Engels auch darin, dass die asiatische Produktionsweise keine innere Dynamik aufweise, die zum Kapitalismus dränge, sondern eine im Wesen sich immer gleich bleibende Gesellschaftsordnung sei, die als Krise der herrschenden Bürokratie zwar auch periodisch zusammenbreche, sich aber immer auf demselben Niveau wiederherstelle.

Marx und Engels entwickelten ihre Analyse am Beispiel der indischen Gesellschaft und bezogen auch die alten Hochkulturen mit ein. In Russland erkannten sie eine besondere Form der asiatischen Produktionsweise, die sich aus einer immer wieder erfolgten Mischung mit europäischen Elementen ergeben habe; eine Entwicklung billigten sie Russland jedoch nur im Kontext mit dem Kapitalismus und der Revolution im Westen zu.

Aber Marx und Engels irrten. Ausgelastet mit der Aufarbeitung der Entwicklung des europäischen Kapitalismus konnten sie die Analyse der asiatischen Produktionsweise nicht zu Ende führen. So konnten sie nicht erkennen, dass auch diese Gesellschaftsform, insbesondere in ihrer russischen Variante, periodische Modernisierungskrisen erlebte, die nach Zeiten des Zerfalls regelmäßig in eine Effektivierung des Systems von bürokratischem Zentralismus und Peripherer Autonomie übergingen, nur dass die Ursachen ihrer Krisen nicht in wirtschaftlicher Dynamik, sondern in bürokratischer Stagnation lagen.

Kurz, sie erkannten nicht, dass euro-amerikanische und asiatische Produktionsweise zwei Wege der Entwicklung sind, die nicht aufeinander folgen, sondern in Wechselwirkung neben- und miteinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen, sodass auch immer wieder neue Zwischenformen entstanden. Das gilt für die russische Geschichte, einschließlich ihrer sowjetischen Periode.
Russlands Besonderheiten

Schauen wir deshalb noch ein wenig genauer auf die russische Entwicklung: Russland entstand im offenen Niemandsland zwischen mongolischen Chanaten und westlichen Städten, in reicher Natur, aber der Weite und der Wildnis ausgesetzt. Ergebnis war die Selbstherrschaft der Moskauer Zaren als Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die polare Doppelstruktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau – autonome Versorgung im Lande. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Hinzu kamen die auf sich selbst bezogenen kollektiven Traditionen der in den zaristischen Organismus integrierten Völker, die eine Dynamik der Selbstbestimmung innerhalb des Gesamtorganismus bildeten – wenn auch zweifellos nicht immer ohne Konflikte.

Die Modernisierungswellen gingen über das Land, ohne die Grundstruktur von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen; Veränderungen vollzogen sich letztlich als Revolutionen von oben, als Teilimport westlicher Elemente, aber immer nur mit dem Ergebnis der Auswechslung von Personen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin provozierte als Reformer den bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus.
Modernisierungsetappen: Stolypin, Lenin, Stalin…

In den Umwälzungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts prallten asiatische und europäische Produktionsweise in Gestalt des von Europa ausgehenden Imperialismus und der bäuerlichen Realität Russlands besonders hart aufeinander. Die Revolution von 1905, ebenso wie die von 1917 waren Ausdruck dieser Entwicklung. In seinem Feldzug gegen die Selbstgenügsamkeit der Obschtschina wollte Stolypin im vorrevolutionären Russland die Fortsetzung der von Peter I. begonnenen Industrialisierung erzwingen. Die Dorfgemeinschaften sollten in Wirtschaften privater Großbauern überführt werden, die „überflüssigen“ Mitglieder der Dorfgemeinschaft sollten als Arbeiter in die Städte gehen. Am „Stolypinschen Kragen“, wie der Strick des Galgens von der Bevölkerung damals getauft wurde, endeten tausende von Bauern, die dieser Politik nicht folgen wollten – aber ihr Opfer dokumentierte auch das Scheitern der Stolypinschen Politik.

Lenin wiederholte den Stolypinschen Ansatz zur Industrialisierung der Landwirtschaft – aber nicht durch Auflösung der Dorfgemeinschaften, sondern indem er sie – Sowchosen und Kolchosen (Staatswirtschaft und kollektive Wirtschaft) – zu staatlichen Grundeinheit des neuen Staatswesens erhob. Ihre Struktur wiederholte sich im sowjetischen Aufbau der Verwaltung. Lenins Sieg über den Zarismus lebte einerseits von seinem Versprechen, jedem Bauern ein Stück Land zu geben. Gleichzeitig leitete er die Verstaatlichung der Landwirtschaft ein; Stalin setzte sie gewaltsam fort und verwandelte die kollektive Tradition des Landes zugleich in einen allgemeinen Zwangskollektivismus auf dem Lande wie in der Industrie. Wer sich weigerte oder angeblich im Wege stand, wurde deportiert und liquidiert. Aus dem agrarischen Despotismus des Zarentums wurde so ein planmäßiger industrieller Despotismus. Enteignung der Bevölkerung von ihrer gewachsenen Gemeinschaftstradition könnte man diesen Vorgang nennen.

Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa nur einfach den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde.

Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele. Diese Konstellation, wie schon frühere Konstellationen der russischen Lebensweise, wäre auf langfristige Stabilität, in westlicher Diktion „Stagnation“, angelegt gewesen, wenn sie nicht – dies allerdings stärker als früher – mit dem europäischen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase zusammengestoßen wäre. So ergab sich eine Konfrontation von prinzipiellem Charakter und historischen Ausmaßen: Selbstversorgung, auch auf industriellem Gebiet gegen Selbstverwertung des Kapitals und Selbstgenügsamkeit gegen konsumistische Expansion.

Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: für die Entwicklungszyklen der russischen Produktionsweise gelten offensichtlich andere Regeln als die europäischen. Sie lassen sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: Zusammenbruch nach langer Stabilität, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht, Stagnation. Phase zwei: Eintritt einer „verwirrten Zeit“, russisch: Smuta. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses in der herrschenden Schicht unter Hinzunahme von einzelnen Elementen der europäischen/westlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt jedoch erhalten. So war es nach dem Tod Iwans Iv. , im Westen besser bekannt als Iwan der Schreckliche, so nach den großen Bauernaufständen im 16. und siebzehnten Jahrhundert, so nach Peter I., so nach dem 1. Weltkriegs und danach, so ist es heute.
Heute

Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 – gegliedert in mehrere Etappen, versteht sich, die hier nicht im Detail auszuführen sind – individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“) und „Glasnost“ waren nicht die Ursache für neue Initiativen, sie waren der Ausdruck, das grüne Licht für eine schon lange befahrene Straße, auf der sich der Verkehr bereits gefährlich staute. Nach dem 17. Juli 1953 in der DDR, dem Aufstand in Ungarn 1956, dem Bau der Mauer 1961 war der Prager Frühling 1968 schließlich ein unübersehbares Zeichen; er zeigte aber auch, dass die sowjetische Staatsbürokratie noch nicht reif für die Smuta war. Einen theoretischen Reflex auf diese Entwicklung konnte man 1977 in Rudolf Bahros „Alternative“ nachlesen; einen zweiten in der Sowjetunion selbst am Ende der 70er in den Untersuchungen der Nowosibirsker Schule unter ihrer Leiterin Tatjana Saslawskaja.

Das Auftreten Michail Gorbatschows Anfang der 80er Jahre signalisierte die Bereitschaft der Führung der KPdSU zu einer der in der russisch-sowjetischen Geschichte üblichen Reformen von oben: Perestroika zielte auf eine gelenkte Befreiung der herangewachsenen Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese insgesamt aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung dieser Ordnung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung, nicht um die Einführung einer privatwirtschaftlichen Ordnung, auch nicht um die Verwandlung des asiatischen Typs der Produktion in den europäisch-westlichen.

Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung und Privatisierung des Denkens und Wollens, sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem sich beschleunigenden allgemeinen Zerfall führte. Der Druck der Anpassung an die umgebende Welt war einfach zu groß, um ihn kanalisieren zu können, die technische Revolution der neu entstehenden globalen Kommunikationsstruktur als Einwirkung von außen nicht – von heute aus gesehen: noch nicht – wieder beherrschbar. Mittel der Abschottung und Kontrolle der neuen Medien waren noch nicht zur Hand. Man könnte sagen, die Moskauer Bürokratie wurde von der Computerisierung überrannt. Boris Jelzin und seine ganz an den äußeren Einflüssen orientierten Reformer waren der Ausdruck dieser Dynamik – die sich dann im Schockprogramm Luft machte, das die Umwälzung innerhalb von zwei Jahren schaffen wollte.
Putin

Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand und besteht, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Nicht Nachvollzug, nicht Übernahme der europäisch-westlichen Produktions- und Lebensweise ist der Inhalt der nach-sowjetischen und heutigen russischen Transformation, sondern die Effektivierung des bürokratischen Kapitalismus auf privatwirtschaftlicher Basis.

Was dabei bisher herausgekommen ist, ist keine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus mit der ihm immanenten Selbstverwertungslogik des Kapitals, auf keinen Fall nur ein Nachvollzug westlicher Muster, sondern die Entstehung eines bürokratischen Zentralismus, der westliche und die russische Gemeinschaftstradition zusammenführt, eine Entwicklung also, die Elemente der zentralistisch gelenkten gemeineigentümlichen Ordnung mit privateigentümlichen Freiheiten zu verbinden sucht – das, was man im Westen ohne viel Verständnis für die innere Struktur des Landes „gelenkte Demokratie“ nennt.

Ihre widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Angleichung an die Standards der WTO sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite; dem auf der anderen Seite steht die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht, Subventionen für die eigene Landwirtschaft beizubehalten und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung gegenüber. Klar gesprochen: Russland wird sich auch in Zukunft nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, weil es aus seiner Geschichte die doppelt begründete Autarkie mitbringt: die Unabhängigkeit in den natürlichen Ressourcen und die Tradition der Eigen- und Selbstversorgung in der Bevölkerung, und autonomer Völker in einem übergreifenden zentralisierten Organismus.

 

Internationale Kraftlinien
Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen. Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Eine direkte militärische Zerstörung Russlands, die mehr bewirken sollte als nur eine vorübergehende Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

DEUTSCH – EUROPÄISCHE SCHWANENGESÄNGE: Der Tag als die Einsicht kam …

Deutsch-Europäische Schwanengesänge
Der Tag als die Einsicht kam …
Das muss man gelesen haben. Das reißt sogar Kranke vom Lager:
In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem deutschen Kampfblatt der EU-Kampagne gegen die „Bedrohung aus Russland“, vorgetragen von einem der schärfsten Vollstrecker dieses Kurses, Reinhard Veser, war am. Freitag, d. 25.09.2015 auf S. 10, unter der Überschrift „Eine Misserfolgsgeschichte – Ukraine-Konflikt und Flüchtlingskrise: Die EU formuliert ihre Nachbarschaftspolitik neu“ Folgendes zu lesen.Ich zitiere:

 

„Ich wünsche mir einen Ring von Freunden um die Europäische Union und ihre engsten Nachbarn herum, von Marokko bis Russland und zum Schwarzen Meer“, sagte der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi im Dezember 2002. Damals, kurz vor der Aufnahme der Staaten Ostmitteleuropas, begann die EU, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die Beziehungen zu ihren Nachbarn langfristig und systematisch gestalten könnte. Das Schlüsselwort von Prodis Rede war Stabilität: Die von der EU innerhalb ihrer Grenzen geschaffene Stabilität solle auf die benachbarten Regionen ausgedehnt werden. Es sollte freilich nicht eine beliebige Form der Stabilität sein, sondern eine, die aus der Förderung von Demokratie und Rechtsstaat, aus wirtschaftlicher und politischer Kooperation entsteht. Einigen Nachbarn wurde langfristig der EU-Beitritt in Aussicht gestellt, andere sollten so nahe wie möglich an sie herangeführt werden.
Heute ist die EU von so viel Instabilität umgeben wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Russland ist mehr Feind als Freund, in der Ukraine herrscht Krieg, die Türkei entfernt sich immer weiter von demokratischen Verhältnissen und schlittert in eine neue gewaltsame Eskalation des Konflikts mit den Kurden, aus den zerfallenden Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas strömen in bis vor kurzem unvorstellbaren Massen Flüchtlinge nach Europa – durch Balkanstaaten, in denen zwölf Jahre, nachdem ihnen feierlich eine Beitrittsperspektive eröffnet worden war, mehr Hoffnungslosigkeit als Fortschritt zu erkennen ist. Von den Zielen der Nachbarschaftspolitik wurde so gut wie keines erreicht. Die 2008 gegründete „Union für das Mittelmeer“ hat nie politische Bedeutung gewonnen. Das ist bei der im Jahr darauf ins Leben gerufenen „Östlichen Partnerschaft“ zwar ganz anders, doch mit Folgen, die nicht beabsichtigt waren: Russland verstand die Initiative als geopolitische Kriegserklärung – der Krieg in der Ukraine ist seine Antwort.

Angesichts dieser Bilanz wird in Brüssel derzeit an einem neuen Konzept für die Nachbarschaftspolitik gearbeitet, das im November vorgestellt werden soll. Ein von der Kommission im Frühjahr dazu veröffentlichtes Papier besteht vor allem aus vielen Fragen und einigen wenigen Erkenntnissen: Es sei eine „klarere Analyse der Interessen sowohl der EU als auch ihrer Partner“ nötig, außerdem müsse das Verhalten „der Nachbarn der Nachbarn“ bedacht werden.
Spricht man in Brüssel mit EU-Diplomaten, benennen sie bereitwillig vor allem eine Schwachstelle der bisherigen Nachbarschaftspolitik: Man habe zu wenig berücksichtigt, dass die potentiellen Partnerländer unterschiedliche Bedürfnisse haben, unterschiedlich entwickelt sind und verschiedene Grade und Formen der Annäherung an die EU wünschen. Das habe in diesen Ländern zu dem Eindruck geführt, dass es sich weniger um eine Partnerschaft als vielmehr um eine einseitige Beziehung handle, in der die EU Vorgaben mache – und das obwohl die EU, so ein ranghoher Diplomat, ihre eigenen Interessen eigentlich zu zurückhaltend verfolgt habe. Auch das soll sich ändern: Die Formulierung der eigenen Interessen soll künftig in der Nachbarschaftspolitik mehr Raum einnehmen. Ein Beispiel dafür liegt angesichts der Flüchtlingskrise auf der Hand – die Sicherung der Außengrenzen.

So versuchen manche EU-Diplomaten noch immer, die russische Wahrnehmung, die „Östliche Partnerschaft“ diene der Schaffung einer gegen Russland gerichteten westlichen Einflusszone, mit dem Mantra wegzubeten, sie sei gegen niemanden gerichtet. Doch das wird nicht nur im Kreml niemanden überzeugen, sondern geht auch an der osteuropäischen Wirklichkeit vorbei, denn sowohl in Georgien, Moldau und der Ukraine als auch in den baltischen Staaten und Polen wird die „Östliche Partnerschaft“ sehr wohl als Mittel zur Zurückdrängung des russischen Einflusses betrachtet.
Eher hilflos wirken auch die Erklärungen, mit welchen Mitteln den Nachbarn geholfen werden soll, auf dem rechten Pfad von Demokratie und Marktwirtschaft voranzuschreiten. In Brüssel weiß man sehr wohl, dass die bisherigen Aktionspläne zur Förderung von Reformen an einer harten Realität gescheitert sind, in der Korruption, Klientelismus und eine politische Kultur vorherrschen, in der Kompromisse als Zeichen von Schwäche verstanden werden. Dass die europäischen Kooperationsprogramme nur ineffizient sind, wie auf dem Balkan, ist dabei nicht der schlimmste Fall. In der Republik Moldau etwa erscheint die EU heute in den Augen vieler Bürger als Komplize korrupter Seilschaften, die in den vergangenen Jahren im Gewand „proeuropäischer“ Parteien auftraten: Auf dem Papier trieben sie viele Reformen voran und wurden dafür von Brüssel gelobt, während sie gleichzeitig die staatlichen Institutionen unter sich aufteilten und als Privateigentum behandelten und die Banken des Landes ausplünderten. Sollte die Ukraine nicht an der russischen Aggression, sondern wie nach der orange Revolution an den eigenen Eliten scheitern, besteht die Gefahr, dass sich dieser Ansehensverlust der EU in einem viel größeren Maßstab wiederholt.

Allerdings steht die EU auch vor einem kaum lösbaren Dilemma: Sie muss mit den in diesen Ländern vorhandenen Kräften zusammenarbeiten, wenn sie überhaupt etwas tun will – und dass sie im eigenen Interesse wenigstens versuchen muss, die Nachbarschaft zu stabilisieren und wirtschaftlich und politisch voranzubringen, ist unbestreitbar. Die dürftigen Ergebnisse von gut zehn Jahren Nachbarschaftspolitik selbst in kleinen europäischen Ländern zeigen indes, dass die Chancen, Fluchtursachen in den arabischen Bürgerkriegsstaaten oder in Afrika wirksam zu bekämpfen, nicht besonders groß sind.

Über allem der Leitkommentar des Tages
unter der Überschrift „Applaus aus Moskau“
Vorausgegangen war der aktuellen Ausgabe der FAZ vom 25.09.2015 eine Erklärung der Bundeskanzlerin Merkel bei dem aktuellen Gipfeltreffen der EU in Brüssel in der Nacht vom 24.09. auf Donnerstag, den 25. Und tags darauf die Regierungserklärung in Berlin, dass angesichts der „Flüchtlingskrise“ nicht nur über deren Integration, auch nicht nur über deren Eindämmung nachgedacht, sondern auch mit Assad gesprochen werden müsse.
Die Bundeskanzlerin, habe in ihrer Regierungserklärung viele Punkte genannt, an denen die Politik des Westens ansetzen müsse, wenn er nicht von den Millionen Flüchtlingen überrannt werden wolle, heißt in dem Kommentar der in der gleichen Printausgabe erschien, in dem auch Vesers „Misserfolgsschichte“ zu lesen ist.
In der von mir gelesenen FAZ-Printausgabe hat der Kommentar von Berthold Kohler den Titel „Applaus aus Moskau“.
Den Kommentar zu diesem Schwanengesang wird die Wirklichkeit schreiben.

Pressefassung bei russland.ru

Dort lesen unter dem Stichwort: Analysen, Hintergründe:

Kai Ehlers: Deutsch-Europäische Schwanengesänge …

 

Jefim Berschin, Kai Ehlers – Gespräch zur Lage in der Dnesterrepublik

Im Juli erklärte der ukrainische Präsident Poroschenko den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnesterrepublik „lösen“ zu wollen. Seitdem ist „Prednestrowien“ (so im Russischen) als neuer Krisenherd, der den ukrainischen Konlikt um eine gefährliche Dimension erweitert, ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Bei seinem Aufenthalt in Russland führte Kai Ehlers ein Gespräch mit Jefim Berschin über die Lage in der „Dnjesterrepublik“. Jefim Berschin wurde dort geboren, hat als Journalist der „Literaturnaja Gasjeta“ an den Kämpfen teilgenommen, die 1991/2 zur Abspaltung dieses Gebietes von Moldawien geführt haben. Er lebt heute als Journalist, Schriftsteller und Poet in Moskau. Das Gespräch wurde in Tarussa (kleine Stadt 200 Kilometer südlich von Moskau, im Sommergarten des dort wohnenden Herausgebers der Internetueitung „russland.ru“ Gunnar Jütte, geführt.

Das Gespräch kann russisch und deutsch gehört werden, es findet in simultaner Übersetzung statt.

http://www.russland.ru/sommergespraech-ueber-moldawien-video/

 

Sommergespräch über Russland in Tarussa: Rückblick und Ausblick

Hallo allerseits! Ich bin wieder einmal in Russland unterwegs.

Im Folgenden können Sie sich in ein Gespräch einklinken, das der Herausgeber der Internetzeitung russland.ru und ich in seinem Wohnort in Tarussa geführt haben. Das Gespräch beginnt mit einer Rückschau auf touristische Annäherungen an Russland noch vor Perestroika und endet bei der Frage, warum die Sanktionspolitik desWestens Russland nicht wird in die Knie zwingen können. Nachfolgend das mit mir geführte Sommergespräch in Tarussa als Video:

Dazu die beiden erwähnten Bücher:

  • Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer – bestellen
  • Kai Ehlers, Jenseits von Moskau, 186 und eine Geschichte von der inneren Kolonisierungn- bestellen

Ein Wort zu Europa: Ethnologische Korrekturen …

Aus gegebenem Anlaß:

Auszug aus meinem Buch: „Die Kraft der Überflüssigen“

Sicher wird die Welt auch an sieben, acht oder neun Milliarden Menschen nicht ersticken – aber sie wird sich anders organisieren müssen – und nicht nur müssen, sondern auch können. Der Zuwachs der Millionen führt zur Erschütterung autokratischer und totalitärer Strukturen. Etablierte, vom Westen gestützte Diktatoren müssen dem Ansturm junger Menschen weichen, die an den Reichtümern der Erde teilhaben und ihre Vorstellungen eines selbstbestimmten, menschenwürdigen Lebens verwirklichen wollen.

Diese Kräfte sind nicht mehr unter den bisherigen Deckeln zu halten. Ein einziger Blick auf die gegenwärtigen Unruhen in den arabischen Staaten könnte schon reichen, das zu erkennen. Dazu kommen noch, wie wir wissen und wie sich jeden Tag in wachsendem Maße aufs Neue bestätigt, Impulse in China, Indien, Pakistan, Iran usw. bis hin zu den afrikanischen Völkern.

Die verzerrte Bevölkerungsstruktur kommt in Bewegung, die sich im Laufe der letzten 500 Jahre herausgebildet hat, seit Europäer sich im Zuge der Kolonisierung der Welt durch europäische Staaten über alle Kontinente so ausgebreitet haben, daß sie am Anfang des 20. Jahrhunderts die zu der Zeit besiedelbare Welt unter sich aufgeteilt hatten. Continue reading “Ein Wort zu Europa: Ethnologische Korrekturen …” »

Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?

Das Aktuelle ist schnell benannt: der ukrainische Präsident Poroschenko möchte zusammen mit dem rumänischen Präsidenten Johannis den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnjesterrepublik (Transnistrien) auftauen, „damit ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität wiedererlangen und Transnistrien re-integrieren kann.“ Er will damit zugleich die von ihm immer wieder beschworene territoriale Einheit der Ukraine wiederherstellen, versteht sich.

Wenige Tage vor dieser Ankündigung hatte Poroschenko den ehemaligen Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, bekannt für seinen provokativen Kriegskurs gegen Russland 2008, als dessen Ergebnis die Enklaven Südossetien und Abchasien zurückblieben, zum Gouverneur des Bezirks Odessa ernannt. „Ich kam nach Odessa, um Krieg zu verhindern“, erklärte Saakaschwili in einem Interview der Deutschen Tagesschau vor wenigen Tagen, konnte sich aber nicht bremsen, sofort dazu zu setzen: „Es gibt den klaren Plan Russlands, die Region zu zerstören.“ ‚Krieg verhindern‘, das heißt für Saakaschwili also unmissverständlich, Russlands ‚klaren Plan‘ zu verhindern. Continue reading “Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?” »

NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel

Erinnern wir uns: Die Ukraine wurde von der EU im Herbst 2013 in die Alternative des Entweder-Oder getrieben: entweder mit der eurasischen oder mit der Europäischen Union. Das Ergebnis liegt offen vor aller Augen: Spaltung der Ukraine in drei Teile: Kiew, Osten und die an Russland übergegangene Krim. Ein weiterer Zerfall des Landes droht, wenn nicht endlich der Dialog zwischen den nach Autonomie strebenden östlichen Gebieten Donezk und Lugansk, sowie anderer nach mehr lokaler Selbstverwaltung verlangender Teile der ukrainischen Bevölkerung aufgenommen wird, wie in den Minsker Vereinbarungen beschlossen, wenn stattdessen die Bestrebungen nach Autonomie von Kiew mit dessen „Anti-Terror-Aktion“ beantwortet werden. Continue reading “NATO, Steinmeier, Poroschenko und das Friedensgerassel” »

NATO, Russland, Ukraine – ein Versuch Rote Linien zu erkennen

(Überarbeiteter und gekürzter Vortrag von der Konferenz:
„1955 – 2015: 60 Jahre BRD in der NATO – 60 Jahre Herausforderung für Friedenspolitik und Friedensbewegung“)

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Siebzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, im zweiten Jahr des ukrainischen Krieges findet die Moskauer Parade zum Sieg über den Faschismus in Abwesenheit der damaligen Alliierten und heutigen westlichen Partner, dafür in demonstrativer Gegenwart des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping statt. An der Parade auf dem Roten Platz beteiligen sich anstelle westlicher Abordnungen wie in den Jahren zuvor dieses mal Paradetruppen aus China, Indien, Kasachstan, Weißrussland, Tadschikistan, Kirgisien und der Mongolei. Demonstrativ führt Russland sein modernisiertes Waffenarsenal vor. In seiner die Parade begleitenden Rede fordert Putin allerdings nicht etwa die Weltherrschaft, wie manche Medien ihm andichten, sondern die Schaffung eines weltweiten Sicherheitssystems ohne Blöcke.

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Warum schützt die EU sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA?

Die Tatsachen sind unübersehbar: Europa, genauer die Europäische Union schützt sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA. In der Unterstützung der aktuellen Kiewer Politik, im Sanktionskrieg gegen Russland, in der Aufrüstung der NATO zu erneuter „Abschreckungsfähigkeit“ lässt sich die EU, darin insbesondere Deutschland, ungeachtet einzelner kritischer Stimmen, zur Speerspitze US-geführter Angriffe gegen Russland machen. Kritiken ... verhallen in der spärlichen Bundestagsopposition – oder bilden eine Art neuer außerparlamentarischer Opposition im Internet. ...

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Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum

Wer die Welt beherrschen will, muss Eurasien beherrschen. Wer Eurasien beherrschen will,  muss das eurasische Herzland, Russland beherrschen. Wer Russland beherrschen will, muss die Ukraine  aus dem Einflussbereich Russlands lösen, denn – wiederholen wir die Feststellung  Zbigniew Brzezinskis, die angesichts der Vorgänge um die Ukraine nicht oft genug wiederholt werden kann: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“[1]

Nach diesem, dem Britischen Commonwealth nachempfundenen Credo, haben die USA ihre Weltpolitik seit Auflösung der bipolaren Systemteilung 1989/90/91 entwickelt – einmal enger, einmal weniger eng am Drehbuch. Autor Brzezinski war immer wieder zur Stelle, um die Einhaltung der Grundausrichtung, die er nach dem Zerfall der Sowjetunion mit seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ 1996 skizzierte, mit öffentlichen Kritiken und Interventionen aus dem strategischen Soufflierkasten einzuklagen. Continue reading “Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum” »

Keine Provokation, eine Botschaft: Text von Boris Kagarlitzki

Übersetzung und Vortext von Kai Ehlers

Am 5.3.2015 veröffentlichte die Internet-Plattform „Rabkor“ (Moskau) den Kommentar von Boris Kagarlitzki, Leiter des Moskauer Instituts für die Erforschung  der Globalisierung und sozialer Bewegungen (IGSO) in Moskau, unter dem oben stehenden Titel „Keine Provokation, eine Botschaft“. Wie dem Artikel klar zu entnehmen, skizziert Kagarlitzki darin den Gedanken, dass der Mord an Boris Nemzow als Botschaft regierungsnaher Kräfte an den russischen Präsidenten zu verstehen sei, dass es Zeit für einen Führungswechsel an der Spitze der russischen Regierung sein könnte.

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Nemzow und Putin – Opfer und Täter?

Boris Nemzow wurde erschossen. Wurde Wladimir Putin damit gestärkt oder  geschwächt? Spekuliert wird, was das Zeug hält. Es ist ein Strudel, der abwärts zieht. Es ist ein Ereignis, das einen Punkt setzt, dessen weitreichende Folgen aber zugleich nicht absehbar sind. Man muss sich fragen, was das alles bedeutet.

Die Mehrheit der Kommentare bewegt sich auf der Ebene geiler Neugier, auf der Ebene von Gerüchten, von Spekulationen und auch von haltlosen Anschuldigungen gegen Putin. Das alles ist traurig, langweilig, hysterisch und im Kern unklar, unwahr und alles in allem „irgendwie“ auch bedrohlich. Continue reading “Nemzow und Putin – Opfer und Täter?” »

Mord an Boris Nemzow – Absage an Pawlowsche Reflexe – eine fast persönliche Erklärung

Der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow wurde soeben nachts auf offener Straße gemeuchelt. Eine schändliche Tat! Ich verurteile sie ohne jede Einschränkung! Seiner Familie, seinen Freunden, allen, die durch den Mord schockiert sind, gehört mein uneingeschränktes Mitgefühl. Soweit bisher erkennbar, waren Leute am Werk, denen an einer Aufheizung der politischen Situation im Lande und in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen gelegen ist. Denkbar ist auch, dass Kräfte mit ihm abgerechnet haben, die er sich im Laufe seines geschäftlichen Lebens zu Feinden gemacht hat. Bisher sind alle Versionen offen. Continue reading “Mord an Boris Nemzow – Absage an Pawlowsche Reflexe – eine fast persönliche Erklärung” »

Alternativen für eine selbstbestimmte Gesellschaft – können wir und was können wir dazu aus den Vorgängen in der Ukraine lernen?

Zugegeben, die Fragestellung ist vermessen. Während in Kiew mit einem „Marsch der  Würde“ der demokratische Erfolg des Maidan beschworen wurde, allen voran unter Teilnahme des gegenwärtigen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, während sich in Moskau, organisiert von aktiven Vaterlandsverteidigern,  Zehntausende unter aufgebrachten Rufen „Kein Maidan in Russland“, „Keine Ukrainisierung in Russland“ zum Protest gegen die „Faschisten“ in Kiew versammelten, während in Sewastopol tags darauf der 23. Februar zum Tag des „Russischen Frühlings“ erklärt wurde, hörte man aus Lugansk und aus Donezk nichts dergleichen. Weder Pro noch Contra wurde demonstriert – Donezk lag stattdessen weiter unter Beschuss seitens der Ukrainischen Truppen, wie selbst regierungsnahen deutschen Medien zu entnehmen war. Continue reading “Alternativen für eine selbstbestimmte Gesellschaft – können wir und was können wir dazu aus den Vorgängen in der Ukraine lernen?” »