Schlagwort: Russland

Russland ohne Europa? Auf der Suche nach der „russischen Idee“ – oder ist Russland nationalistisch?

 

Mit der vierten Amtszeit Wladimir Putins tritt Russland in eine neue Phase seiner nachsowjetischen Entwicklung ein. Zweifellos ist Putins Wiederwahl ein Ausdruck davon, dass die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nach wie vor Stabilität sucht. Und nicht zu Unrecht muss das Votum für ihn auch als Votum für eine stärkere Besinnung Russlands auf einen vom Westen unabhängigen eigenen Weg verstanden werden.

Putin wird sich alle Mühe geben, seinem Image als Stabilisator gerecht zu werden, innen- wie auch außenpolitisch. Ebenso klar ist aber auch, dass bloße Stabilität auf Dauer die Identitätslücke nicht füllen kann, in die Russland mit dem doppelten Bruch seiner Geschichte gefallen ist, einmal durch den Sturz des Zarismus in den  Revolutionen von 1905 und 1917, das zweite Mal siebzig Jahre später durch die Implosion der Sowjetunion 1991. 

Die Frage ist also: Was geschieht unter dem „westlichen Hut“, den Russland sich aufgesetzt hat? Was für ein Bewusstsein von der Rolle Russlands in der Welt wächst hinter den Fassaden der Modernisierung im Lande, in den Herzen und Köpfen der Menschen heran?

Anders gefragt, in welchen Verwandlungen erscheint heute das, was früher die „russische Idee“, danach siebzig Jahre lang die sowjetische Idee genannt wurde?

Noch anders: Was ist von westlichen Anwürfen zu halten, in Russland entwickle sich ein aggressiver Nationalismus?

Erlauben Sie mir zu diesen Fragen einen persönlichen Einstieg.

 

Ein Buch erscheint  

Passend zu der erneuten westlichen Medienkampagne gegen Russland nach den Wahlen zur russischen Präsidentschaft und wie gerufen zu meinem Text „Europa ohne Russland?“[1], der soeben erschienen war, wurde mir über meine Website ein Buch avisiert mit dem Hinweis, dass mich die in diesem Buch entwickelten Perspektiven eines eigenen russischen Weges vielleicht interessieren könnten.

Absender der Mail: Verlag Hagia Sophia mit dem Namenszusatz: „Philosophia Eurasia“;  Titel des Buches: „Das Zivilita-Gestirn“, Autor W.S. Milowatskij.[2]

Die Umstände, unter denen das Buch bei mir auftauchte, reichten aus, mich neugierig darauf werden zu lassen, ob aus ihm Hinweise für die zukünftigen Beziehungen Russlands zu sich und zu Europa und der Welt zu gewinnen sein könnten.

Das Buch, als es bei mir eintraf, erwies sich als Übersetzung aus dem Russischen mit einem extrem globalisierungskritischen Vor- und Nachwort des in Deutschland lebenden orthodoxen Erzpriesters André Sikojew, vor dem sich die hierzulande gewohnte Links-rechts-Radikalität fast pausbäckig ausnimmt. Das Buch erschien ursprünglich 2015 bei der „Gesellschaft zum Gedenken der Äbtissin  Taissija“, St. Petersburg, also bei einem kirchlichen russischen Herausgeber. Der Verlag „Hagia Sophia“, der das Buch jetzt in Deutschland herausbrachte, bezeichnet sich selbst als Nischenverlag, dessen Anliegen es sei, russische Philosophie, Tradition und die Ansätze zur Erneuerung russischer Identität aus orthodoxer Sicht deutschen Lesern bekannt zu machen und neue Wege der Krisenbewältigung aufzuzeigen.

Autor Milowatskij, von Haus aus Biologe, Philosoph und Historiker steht fest in der Denktradition des bekannten sowjetischen, international anerkannten  Naturwissenschaftlers und Ökologen Wladimir Wernadskij (1863 bis 1945), aus dessen Forschungen zur Biosphäre und der sich durch die geistige Tätigkeit des Menschen daraus erhebenden Noossphäre als sich selbst steuernder planetarischer Gesamtheit die in den sechziger Jahren im Westen entwickelte Gaia-Theorie des „New Age“ hervorging.[3] Ausführlich zitiert Milowatskij aus Wernadskijs Arbeit „Biossphäre und Noossphäre“ [4]:

„Der Mensch verstand zum ersten Mal  real“, schrieb Wernadskij, „dass er Bewohner eines Planeten ist, und unter einem neuen Aspekt denken und wirken kann – ja muss – nicht nur unter dem Aspekt einer Einzelpersönlichkeit, einer Familie oder eines Stammes, eines Staates oder seiner Bündnisse, sondern auch unter planetarischem Aspekt gerade im Lebensbereich, in der Biossphäre, in einer bestimmten irdischen Hülle, mit welcher er untrennbar, gesetzmäßig verbunden ist, und aus welcher er nicht heraustreten kann. Ihre Funktion ist seine Existenz. Er trägt sie überall mit sich.“ (Hervorhebungen von Milowatskij) (S. 70, siehe Anm. 2)

Weitere Bezugsgrößen Milowatskijs sind die Klassiker der “Russischen Idee“ von Fjodor Dostojewskij bis Leo Tolstoij. Das Buch stützt sich im Übrigen demonstrativ auf wissenschaftliche, historische und auch geistliche Quellen aus Ost und West. Leider geht gleich zu Beginn des Buches, wenn auch nur aus einer Fußnote in der Einführung durch den Erzpriester Sikojev auch hervor, dass die „eurasische Schule“ Alexander Dugins[5], die Sikojev  als „wichtigsten Gegenentwurf“ zu den „Exklusivgedanken“ Zbigniew Brzezinskis und Henry Kissingers benennt, ebenfalls zu Milowatskijs Bezugsgrößen gehört. ‚Leider‘ sage ich, weil dieser Einstieg mit einem im Westen als Putins Rasputin verschrienen Ideologen, sei dies berechtigt oder nicht, den Ausführungen Milowatskijs von vornherein einen Akzent mitgibt, der es schwer macht, die in dem Buch vorgestellten Inhalte unbelastet wahrzunehmen.  

 

Kritik der Globalisierung

Nichtsdestoweniger fordert das Buch fraglos zur Wahrnehmung und Auseinandersetzung heraus, wenn man verstehen will, was sich zur Frage der russischen Identität und der Rolle Russlands in der Welt heute in Russland, sagen wir, in traditionell orientierten Sphären des Landes entwickelt: Vorgestellt werden soll, auf Wernadskijs Forschungen aufbauend, eine zukünftige, ökologisch orientierte  „planetarische“ Welt, welche die gegenwärtig herrschende  Globalisierung und dadurch ausgelöste Nivellierung der traditionellen russischen Kultur durch neue Impulse ablösen könne.

Unter dem Ausdruck „Zivilita-Gestirn“, den Milowatskij an Stelle des von ihm als zu vieldeutig empfundenen Begriffes der Zivilisation einführt, wird Wernadskijs naturwissenschaftlich begründete Vision der Einbindung des Menschen in Biossphäre und Noossphäre zu einer Ordnung verschiedener Kulturräume auf Basis festen Glaubens an die sich selbst steuernde Göttlichkeit von Natur und Welt ausgeweitet. Dabei soll das „Gestirn“ für die Gesamtheit miteinander verbundener „Zivilitae“ stehen.

Unter „Zivilita‘ versteht der Autor eine kommunitäre Großgemeinschaft, in welcher der Einzelne unter der Voraussetzung eines gemeinsamen kulturellen Codes zum Bestandteil eines kollektiven Selbstbewusstseins werde, wo er sozusagen zu seiner ‚Volkheit‘ kommt; ausdrücklich lehnt Milowatskij dabei  eine Einengung der „Zivilita“ auf nur ethnische Kriterien ab. Die „Zivilita“ ist für ihn ein nicht ethnisch und nicht durch Staatsgrenzen definiertes Subjekt der Geschichte, in welchem der einzelne Mensch seinen Platz findet.

Bei all dem bewegt sich das ganze Traktat in Begriffen der Moderne, wie Geozivilisation, Globalisierung, Multipolarität, Modernisierung, Selbstorganisation und dergleichen mehr und macht seine Argumentation immer wieder auch an aktuellen politischen Ereignissen fest.  Soweit gekommen durfte man gespannt sein, ob sich da neue, zukunftsweisende Verbindungen auftun.

 

Das Wesen der „Zivilita“

Lassen wir den Autor selbst zu Wort kommen. Unter der Überschrift „Über das Wesen der Zivilita“ definiert er in einer langen Passage:

„Jeder lebendige Organismus ist notwendig  mit diesem oder jenem Öko-System, mit einer ökologischen Gemeinschaft ‚verbunden‘. Ebenso kann kein sozialer Organismus existieren, ohne zu diesem oder jenem sozialhistorischen oder kulturellen Supersystem zu gehören.

Das Hauptmerkmal der Zivilitae besteht darin, dass es sie gibt!

Das Menschengeschlecht kann nicht einfach ein Aggregat von einfachen Individuen sein; nicht eine triviale Masse oder irgendeine Herde, gesichtslos und amorph. Es (so im Buch! – ke) verfügt über viele Gesichter und hat seine besonderen Formen der Existenz. Die Zivilitae sind die größte und komplizierteste Form seiner Selbstorganisation. Etwas ausführlicher: Die Zivilita ist eine planetare kulturhistorische Gesamtheit, welche (oft informell) eine größere Gruppe von Ländern umfasst, die nach einem Paradigma leben. Diese Gesamtheit hat gewöhnlich keine exakten Grenzen, keine gemeinsame Verfassung und überhaupt keinerlei einheitliche Sammlung von Gesetzen. Sie ist eingefügt in eine bestimmte geographische Zone und in der Regel gebunden an diesen oder jenen Kontinent! Die ganze Menschheit ist organisiert in Gestalt von etwa fünf bis sieben Haupt-Zivilitae: In die Russische, Westeuropäische, Chinesische, Indische, Lateinamerikanische und die Afrikanische. Es existieren abgesondert einige Zivilisationen, welche nur ein Land darstellen: Die Japanische und Israelische. Wir rechnen sie nicht den Zivilitae zu: Sie haben keinen planetaren Charakter. Es gibt auch Länder, welche weder zu den Zivilitae noch zu den Zivilisationen gehören:  Sie sind dafür noch nicht reif.

Die Zivilitae werden durch ein persönliches Prinzip charakterisiert, man könnte sie auch katholische (griech. Gemäß dem Ganzen – allumfassende) Persönlichkeiten (Hervorhebung durch W.S. Milowatskij ) nennen, die in sich Millionen Personen bergen, die nur im Rahmen dieser Einheiten sich voll realisieren, darin schöpferisch fruchtbringend, geistig unbeirrt und wahrhaftig existieren können.

Diese allumfassenden Persönlichkeiten lassen sich nicht künstlich konstruieren – sie entstehen und entwickeln sich im Gang der Geschichte auf natürliche Weise, organisch wachsend, wie ein lebendiger Organismus. Wie jede Persönlichkeit haben sie ihr eigenes Gesicht, ihren eigenen Charakter und ihr Selbstbewusstsein.

Die Zivilitae sind untereinander unvermischt (Hervorhebung durch den Autor). Wie auch die Tierarten – das ist eine ihrer fundamentalen Eigenschaften. Sie müssen auch unvermischt bleiben, andernfalls verlöre  ihre Existenz den Sinn – der Kernpunkt liegt gerade darin, das sie abgesondert und unterschieden sind.“ (S. 35/36, siehe Anm. 2)

 

 Eingängige Worte…

Die Welt sei heute auf dem Weg, so Milowatskij weiter, sich zu einem Konzert der unterschiedlichen ‚Zivilitae‘ zu entwickeln, eben das „Gestirn“. Bei aller Verschiedenartigkeit seien die einzelnen Kultureinheiten doch nach gleichen Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die sich aus ihrem „planetarischen“ Wesen ergäben. Das sind nach Milowatskij, ohne hier ins Detail gehen zu wollen: „Verschiedenartigkeit“, „Selbstbewusstsein“ als besondere kulturelle Einheit, „Kontinentalität“, „gemeinsames Paradigma“ aller in einer „Zivilita“ lebenden Individuen, Vorrang des geistigen Kernbestandes vor der Ökonomie, dauernde „Entwicklungsdynamik“, Austausch und Kooperation über spezielle „Brücken“ bei bewusster Bewahrung des eigenen Charakters.

Jede „Zivilita“, so Milowatskij, verfüge über eine eigene Struktur: „Kern, Thesaurus, Korpus, Peripherie und Grenze.“: Im Kern werde „das Kulturelle, Religiöse, Politische und Industrielle zentriert“. Im Thesaurus seien „die sakralen Schriften enthalten, die das zivilitane Selbstbewusstsein formieren“. Der Korpus erstrecke sich „weit über die Grenzen des Kerns, wird aber durch den Thesaurus definiert. Die Peripherie stehe Wache „für die Ganzheit der Zivilita“. Ihre Grenzen, so Milowatskij schließlich, „fallen nicht mit  den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch  das Anziehungsvermögen des Kerns (Hervorhebung durch Milowatskij), durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

Für den russischen Thesaurus zählt Milowatskij auf: „Das Evangelium, die Heldensagen, das ‚Wort‘ des Ilarion, die Nestor-Chronik, die Stadt Kitesch, Sergij von Radonesch, das Kulokowo-Feld, die Entschlafungs-Kathedrale des Kreml, die Stadt des heiligen Apostels  Peter (Sankt Petersburg), Puschkin, ‚Krieg und Frieden‘ von L. Tolstoij, Stalingrad.“ Vieles mehr gehöre noch dazu, aber man müsse ja Maß halten. Der Korpus erstrecke sich vom Ladogasee, über Kiew, Dnjepr, Groß-Nowgorod, , Don und Wolga, Pskow,  Kasan und Ural, und Sibirien selbstverständlich – dies alles sind Namen unseres  heiligen russischen Korpus…Kamtschatka, Tundra, Asiatische Steppen usw. – das ist die Peripherie.“  Aber auch der Kaukasus, das Altai-Gebirge, Wladiwostok stünden Wache für die Ganzheit  der „Zivilita“. Schwierig sei es, Grenzen zwischen dieser und jener Zivilita zu ziehen. „Aber es gibt sie. Bei weitem fallen sie nicht mit den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch das Anziehungsvermögen des Kerns, durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

In gleicher Weise, wenn auch nicht so ausführlich werden die nichtrussischen „Zivilitae“ charakterisiert, die westeuropäische etwa durch die King-James-Bibel, die „Principia“ von Newton, die Werke von John Locke und Adam Smith, die Texte von Lincoln und Darwin, die chinesische Zivilita durch Konfuzius, die islamische durch den Koran usw.

Man könnte versucht sein, in diesem Ansatz – bereinigt von religiösen Überhöhungen und einseitigen Zuweisungen – eine Perspektive zu suchen, die über eine bloße Wiedergeburt russisch-orthodoxer, selbst eurasischer Traditionslinien hinaus tatsächlich in einen Raum des Miteinanders kultureller Großräume zielt – wenn, ja, wenn die berechtigte Kritik an den Auswüchsen der gegenwärtigen ökonomisch dominierten Globalisierung am Ende nicht unter Überschriften wie „Die sich überhebende Zivilita“ (gemeint ist Europa – mit Nordamerika und Australien) oder „Planetarität statt Globalismus“ als „Konfrontation zweier Strategien“ auf eine prinzipielle Ebene gehoben würde (Gemeint ist Eurasien ohne Westeuropa contra USA/‘Westen‘). Auf dieser Ebene reduzieren sich am Ende all die schönen Worte von gegenseitiger Anregung der Kulturen auf eine grobe Kampfansage gegen „den“ westlichen „Kulturimperialismus“, gegen „den“ Liberalismus, gegen ein von den USA geführtes „aggressives“ und „hedonistisches“ Europa und schließlich gegen „die Pest der Homoehen usw.“

Im „planetarischen“ Kampf gegen „den“ Liberalismus, wie er gegen Ende des Buches immer deutlicher hervortritt, mutiert der Mensch unversehens wieder zum Gefangenen eines dogmatischen Kollektivismus, von dem er soeben mit modernistischen Vokabeln befreit werden sollte. Vergeblich sucht man Aussagen dazu, wie das planetarische Selbstbewusstsein der „Zivilita“ sich zum Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen verhält. Von Selbstbewusstsein des Einzelnen ist keine Rede. Nicht die Befähigung des Menschen zu  freier Selbstbestimmung, eingebettet, versteht sich, in kooperative Gemeinschaft erweist sich als Ziel der „planetarischen“ Vision, wie man eingangs des Traktates als Lehre aus dem dogmatischen Kollektivismus der Sowjetzeit noch erwarten durfte, sondern die Einordnung des einzelnen Menschen in den Code seiner „Zivilita“, für deren Entwicklung und Erhaltung er eintreten müsse. „Das ist“, so fasst Milowatskij in den letzten Zeilen des Traktates sein „Fazit“ zusammen  „sozusagen unser planetarischer ‚Gehorsam‘.“ (Hervorhebung durch – Milowatskij)

 

Der Duginsche Kontext

Unverkennbar, wenn auch im Text nicht offengelegt, tritt hier nun auch der in der Anmerkung des Erzpriesters Sikojev eingangs nur angedeutete Duginsche Kontext hervor, allerdings weniger in seinen geopolitischen Dimensionen als in den ihnen zugrundeliegenden ideologischen Positionen. Schauen wir ein bisschen genauer, was das bedeutet: „Indem wir verstehen, was der Feind am meisten fürchtet“, schreibt Dugin in seinem ideologischen Hauptwerk „Die vierte politische Theorie“[6], in welchem er dem Liberalismus als der siegreichen Ideologie der Moderne den „eschatologischen“, also endzeitlichen Kampf ansagt, „schlagen wir die Theorie vor, daß jede menschliche Identität akzeptabel und berechtigt ist, außer der des Individuums. Der Mensch ist alles andere als ein Individuum. …Der Liberalismus muss besiegt und vernichtet, das Individuum  von seinem Piedestal  herabgeholt werden.“ (S. 53, siehe Anm. 5)

Und weiter fragt Dugin unter der Prämisse, dass die „Vierte politische Theorie“ das Brauchbare“ (S. 49, siehe Anm. 5) von Kommunismus, Faschismus und Liberalismus nach Eliminierung ihrer Fehler nutzen müsse: „Könnten wir irgendetwas dem Liberalismus entnehmen – eben diesem hypothetisch besiegten  und desorientierten Liberalismus?“ und antwortet: „Ja, es ist die Idee der Freiheit“, setzt aber gleich hinzu: ,Der Unterschied besteht darin, dass diese Freiheit als eine menschliche aufgefasst wird und nicht als Freiheit für das Individuum …  In die Gegenrichtung sich bewegend, kam das europäische Denken, zu einem anderen Schluss: „Der Mensch (als Individuum) ist ein Gefängnis ohne Mauern“ (Jean Paul Sartre); in anderen Worten, die Freiheit eines Individuums ist ein Gefängnis. Um eigentliche Freiheit zu erlangen, müssen wir die Grenzen des Individuums  überschreiten. In diesem Sinn ist die Vierte politische Theorie eine Befreiungstheorie, die jenseits des Gefängnisses in die Außenwelt vordringt, wo die Geltung der individuellen Identität endet.“ (S. 54, siehe Anm. 5)

Menschlich statt individuell – bemerkenswert! Aber es kommt noch deutlicher: Unter der Überschrift „Die neue politische Anthropologie: Der politische Mensch und seine Mutationen“ fügt Dugin hundert Seiten später hinzu: „Was der Mensch wird, wird nicht von ihm als Individuum, sondern von der Politik abgeleitet.  … Wir glauben, wir seien ‚causa sui‘, Selbstursache, und finden uns nur dann in der Sphäre der Politik. Es ist aber die Politik, die uns formt.“ Und weiter:  „Die anthropologische Struktur des Menschen wandelt  sich mit dem politischen Systemwechsel. … Am Pol der Moderne haben wir ja das rationale, autonome Individuum; am anderen Pol ein Teilchen eines bestimmten ganzheitlichen Ensembles.“ (S.185 …)

Hier wird der von Milowatskij zitierte Satz Wernadskijs, wonach die Biosphäre die „bestimmte irdische Hülle“ sei, aus welcher der Mensch nicht heraustreten könne, von Dugin noch weiter überdehnt als schon von Milowatskij und gleich darauf noch einmal weiter, wenn Dugin für die von ihm reklamierte „Post-Anthropologie“ schließlich die Vision einer „Angelopolis“ entwirft, in der „die Sphäre des Politischen beginnt, kontrolliert zu werden durch und begründet zu werden auf der Konfrontation zwischen übermenschlichen Wesen. Das sind Wesen“, so Dugin, „die weder menschlich noch göttlich sind (oder überhaupt nicht göttlich). ‚Angelopolis‘ besitzt ein enormes Potential, politische Rollen zu verteilen, ohne Menschenartige und Post-Menschenartige einzubeziehen. … Es gibt wirklich eine Kommandozentrale in der Post-Politik. Es gibt Akteure, und es gibt Entscheidungen, aber sie sind in der Postmoderne völlig entmenschlicht. Sie sind jenseits aller anthropologischen Rahmen.“ (S. 192)

Vor dem Hintergrund dieser Positionen gewinnt der von Erzpriester Sikojev nur unter dem Stichwort der Geopolitik erwähnte Duginsche Kontext eine nicht mehr zu übersehende ideologische Dominanz, unter deren Druck die Vision des „Zivilita-Gestirns“ endgültig ihre planetarische Unschuld verliert und auf schlichten orthodoxen antiliberalen Kollektivismus zusammenschrumpft, soweit sie nicht in den geopolitischen Feinderklärungen Duginscher Prägung steckenbleibt. Für eine Erneuerung  der russischen Identität in gegenseitiger Befruchtung verschiedener Kulturen, insbesondere der europäischen und russischen, und die gegenseitige Förderung unterschiedlicher Kulturräume wie im Ansatz versprochen war, bleibt da nichts übrig. Eher schon ist sie geeignet, wenn solche Ideen denn aufgegriffen werden sollten, zu einer wachsenden Entfremdung und zu Spannungen zwischen den Kulturen beizutragen.  

 

Der rationale Gegenentwurf

 Hier angekommen wird es Zeit nach rationalen Gegenentwürfen Ausschau zu halten. Auch hier möchte ich zunächst noch einmal persönlich einsteigen, diesmal allerdings mit einem Griff in die Erinnerung.

Zu sprechen ist von Prof. Igor Tschubajs, nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Anatoly Tschubajs, der als radikaler ‚Westler‘, als „Oberprivatisierer“ das absolute Hassobjekt der russischen Bevölkerung wurde.

Igor Tschubajs lernte ich im Jahr 2000 bei Forschungen nach der russischen Re-Orientierung als Professor an der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau kennen, wo er dabei war eine Fakultät für „russische Studien“ aufzubauen.  Er wollte „russische Studien“ als Unterrichtsfach in die neue Bildungspolitik zur Neu-Entwicklung der „russischen Idee“ einführen.

Tschubajs erklärte mir damals, dass die neue Macht, das war der soeben angetretene Wladimir Putin, nicht begriffen habe, worum es eigentlich gehe, nämlich, dass man sich heute mit dem Problem des doppelten Bruches beschäftigen müsse, der in der russischen Geschichte zum einen durch den Eintritt des Sowjetstaates, zum zweiten durch dessen Zusammenbruch vor sich gegangen sei. Er erklärte, dass man die Sowjetunion als Bruch der russischen Geschichte verstehen müsse, weil sie die Kontinuität der russischen Staatlichkeit grundsätzlich zerstört habe, dass man nach dem jetzigen erneuten Bruch also zurückgreifen müsse auf die staatlichen und kulturellen Wurzeln vor der Sowjetunion. Allerdings dürfe man dabei nicht in die Vergangenheit zurückgehen wollen, sondern müsse an den Entwicklungsimpulsen anknüpfen, die damals von den Bolschewiki abgerissen worden seien. Tschubais vertrat diese Theorie unter dem Stichwort der „Wiederherstellung der Kontinuität“ der russischen Entwicklung, die unter scharfer Kritik des durch die Sowjetpolitik verlorenen Jahrhunderts in die heutige Moderne geführt werden müsse.[7]

Nach Dugin befragt, der damals auch von „Wiederherstellung der Kontinuität“ sprach, antwortete Tschubajs: „Wenn Dugin und seine Parteigänger von ‚Kontinuität‘ sprechen, so wollen sie, soweit ich das verstehe, in vielem das alte Russland wiederherstellen, das damals existierte. Aber das zu bewirken ist nicht möglich und nicht nötig, denn Russland war ein Imperium, Russland war mit Eroberungen befasst. Russland betrieb eine expansive Politik bei gleichzeitiger Vereinheitlichung. Das ist heute absolut unnötig und unmöglich“[8]

Inzwischen hat Tschubajs sechs umfangreiche Bücher zu diesen Fragen veröffentlicht, die zum Teil im englischsprachigen Ausland herausgegeben wurden. Er ist auf einer schwer zu verstehenden Zwischenspur zwischen Rückwendung in die vorsowjetische Zeit und Übernahme der westlichen Moderne angekommen – unter Rückgriff auf die Spur der beginnenden kapitalistischen Entwicklung des zaristischen Russlands, die, so seine Sicht,  durch die Sowjets unterbrochen und geschädigt worden sei.

 

Definitionen

Lassen wir auch Igor Tschubaijs selbst zu Wort kommen. Die folgenden drei Statements, sind einem kleinen Traktat für den „Hausgebrauch“ entnommen, in dem er unter dem Titel „Wie wir unser Land verstehen sollen“ [9] versucht Begriffe zu klären und Bewusstsein für russische Kontinuität zu schaffen:

  • Zu den Grundlagen der „russischen Idee“:

„Die Werte, auf denen sich unser Staat im Laufe vieler Jahrhunderte ausformte, sind die Orthodoxie, die Sammlung der russischen Länder, und der dorfgemeindliche Kollektivismus. Bei jeglichem Volk gehört zur nationalen Idee auch seine Sprache, bei uns natürlich die russische.“

  • Zur Krise der „russischen Idee“:

„Wie wir sagten, hat Russland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem es das größte Staatsgebilde der Welt errichtet hatte, einen sehr günstigen entwickelten Zustand erreicht. Und in diesem Moment zeigte sich, dass das Fundament des Gebäudes von Erosion bedroht war. Alle drei Dimensionen der russischen Idee gerieten gleichzeitig in eine Krisenzeit und machten Reformen notwendig. Die Dorfgemeinde störte die Entwicklung des Agrosektors, die Sammlung der russischen Länder hatte sich erschöpft und die Orthodoxie geriet, wie das gesamte europäische Christentum, in Konflikt mit der Herausforderung des Atheismus.“ (Hervorhebung durch Tschubaijs)

  • Zur heutigen Situation:

„Siebzig sowjetische Jahre haben Russland aus der europäischen und Weltgeschichte herausgebrochen, aus dem natürlichen Fluss der Zeit gerissen. Und deshalb kommt der unsinnige Streit, ob wir Europa, ob wir Eurasien, ob wir Asiopa sind, nicht zur Ruhe. Tatsächlich ergänzen die beiden europäischen Traditionen einander, aber die Erben des Westlichen Roms und des Östlichen Roms haben ihre je eigene Besonderheit. Darüber kann man nachdenken.“

Aus dieser Position zwischen den Zeitbrüchen erklärt sich die ganz und gar zwittrige Lage, in die Tschubaijs gekommen ist, einerseits an die russische vorrevolutionäre Tradition anknüpfen, andererseits das heutige Russland an die heutige Westlichkeit anschließen zu wollen. Folgerichtig demonstrierte er anlässlich der Wahlen 2012 zusammen mit der liberalen Opposition gegen die Politik Putins, ging dafür sogar für 24 Stunden in Arrest. Damit steht er auf der Seite der liberalen Putingegner. Andererseits wurden seine Schriften auch von liberaler Seite aus ins Abseits gedrängt. Liberale Gazetten verweigerten Besprechungen zu seinen Büchern, liberale Lehrstühle  verschlossen sich ihm. Im Ergebnis all dessen wurde das von ihm begründete „Zentrum für Russlandforschung“ geschlossen. Ein Lehrbuch zur „Vaterlandskunde“ für den Schulunterricht und entsprechende Praxis blieb ein regionales Ereignis usw. Die Liste seiner immer wieder versuchten Ansätze ist lang.

Mit seinen Vorstellungen einer „Russischen Schule“ oder „Russlandkunde“ sitzt Tschubaijs zwischen allen Stühlen – nicht einverstanden mit der herrschenden Macht, nicht einverstanden mit romantisierenden, klerikalen Traditionalisten, nicht einverstanden mit rückwärtsgewandten neo-sowjetischen Nostalgikern, aber auch nicht mit der pro-westlichen liberalen Opposition. Aber zuversichtlich beschließt sein kleines Traktat für den „Hausgebrauch“ mit den Worten: „Die wiedererstandene und reformierte Russische Idee, das ist Historismus, Umgestaltung, Geistigkeit, Sittlichkeit und Demokratie. Kehren wir doch nach Russland zurück…Alles fängt erst an. Wir werden es schaffen.“

 

Bruchlinien

Betrachtet man die beiden hier skizzierten Ansätze, dann stellt sich die Frage: Wo ist die „russische Idee“ also heute gelandet? Da ist Tschubajs in einem vorbehaltlos zuzustimmen: Russland lebt gegenwärtig in Brüchen, mehrere Etappen der Geschichte existieren gleichzeitigen neben-  und miteinander. Für jeden ist etwas dabei, für die Vertreter eines „Zivilita-Gestirns“ ebenso wie für Sowjetnostalgiker, für Traditionalisten wie für „Westler“, für Machtpragmatiker wie für Anarchisten. Russland ist heute, entgegen dem äußeren Anschein, eine durch und durch uneinheitliche, plurale Gesellschaft, immer noch auf der Suche nach sich selbst – bis hinein in die neue Klassenwirklichkeit, die Spaltung zwischen Stadt und Land, die unterschiedliche Entwicklungen der Regionen und Religionen des Landes.

Insofern ist es vollkommen sinnlos von einem russischen Nationalismus, einer Gleichschaltung, einer Diktatur Putins oder dergleichen reden zu wollen.

Alle Versuche eine neue „russische Idee“, gar eine nationale Idee aus dem Boden stampfen zu wollen, sind bisher gescheitert: Das betrifft den von Jelzin seinerzeit eingerichteten „Wettbewerb“ zur Entwicklung einer „nationalen Idee“ ebenso wie die frühen Versuche Dugins und der mit ihm verbundenen nationalistischen Kreise. Allein Dugins „eurasischer“ Ansatz hat eine gewisse Basis in der Politik gefunden, allerdings von Putin pragmatisch reduziert auf die Reorganisation der russischen Staatlichkeit im eurasischen Raum, ohne die mystischen Ideologisierungen, die Dugin darauf aufgebaut hat.

So wundert es auch nicht, dass Dugin 2014 – nach vorübergehender Nähe zur Macht‘ – angestoßen von Protesten der universitären Öffentlichkeit gegen nationalistische Entgleisungen von ihm im Ukraine-Konflikt, von seiner Professur an der Lomonossow Universität suspendiert wurde

Tatsächlich ist Russlands Politik – nur scheinbar im Widerspruch zur  kollektivistischen Tradition des Landes – durch und durch personalistisch. Es ist eher so: Wenn sich etwas durch die russische Geschichte zieht, dann ist es diese personalistische Struktur, die Spontaneität und Zentralismus immer wieder in Polarität miteinander verbindet. Stichwort: Guter ‚Natschalnik‘, also: Chef, gute Sowchose, guter Zar, gutes Russland. Schlechter ‚Natschalnik‘, schlechte Sowchose, schlechter Zar, schlechtes Russland. Guter Putin, gutes Russland, schlechter Putin, schlechtes Russland. Auf den Westen fixierte Kritiker subsumieren das gern alles unterschiedslos unter Korruption. Die gibt es, zweifellos, und nicht zu knapp, und natürlich liegt hier auch die Gefahr der Willkür, bis hin zu despotischer Selbstherrlichkeit der ‚Macht‘, die sich aus der anarchischen Grundstruktur der Gesellschaft speist. In eben dieser anarchischen Grundstruktur liegen aber auch Russlands Qualitäten – die Priorität des Menschlichen vor dem Rechtlichen.

Wenn dieses Russland nun nach Europa schaut, dann sieht es dort einen Verfassungsstaat, eine Vertragsgesellschaft. Der Rechtsstaat, die deutsche Pünktlichkeit fasziniert die russische Bevölkerung – und schreckt sie zugleich ab. Russlands Stabilität, das Lebensgefühl der in Russland lebenden Menschen steht und fällt mit dem guten (oder schlechten) Natschalnik‘. Anders gesagt, russische Demokratie ist nicht formal; russische Demokratie kommt aus der Person, aus dem Herzen – oder sie kommt nicht.

In dieser Sphäre liegt auch die geradezu instinktive Ablehnung der von der EU oder einzelnen europäischen Staaten ausgehenden Menschenrechtsmahnungen als Menschenrechtelei. Das kann man gut finden oder nicht; es ist einfach ein Ausdruck der unterschiedlichen Paradigmen, in denen die Menschen leben. Darin ist den russischen Kritikern eindeutig zuzustimmen, auch wenn das orthodoxe Motto ‚Moral statt Recht‘ für Menschen mit europäischer Sozialisation schwer zu verstehen ist. Man könnte aber auch voneinander lernen und miteinander Fähigkeiten entwickeln, die über die starre Polarität hinausführen,  statt sich nur voneinander abzugrenzen und sich in feindlicher Frontstellung zu versteifen.

Die gegenwärtige Sanktionspolitik der EU mit Rückenwind der USA, die sich als menschenrechtlich darstellt, wird in Russland jedenfalls nicht als ein Zugewinn an Recht, sondern als das genaue Gegenteil, als die Zunahme von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, als Abbau persönlichen Vertrauens wahrgenommen. Da verkehren sich die Werte, und aus möglicher Kooperation zum gegenseitigen Nutzen wird eine schroffe Abwendung.

Blickt man von Moskau aus nach China, dann ist das entgegen dem, was vom  Westen aus gegenwärtig wahrgenommen wird, für die russische Mentalität, für die Menschen Russlands noch weniger akzeptabel als das, was sie von westeuropäischer Seite erleben. Die steife Ritualisierung und Dogmatisierung chinesischer Politik, chinesischer Kultur – auch in ihrer aktuellen Xi Jinping Variante – ist dem anarchischen, dem personalen Charakter der russischen Mentalität vom tiefsten Wesen her fremd. Insofern ist über ein strategisches Bündnis hinaus kein Zusammenwachsen der chinesischen und der russischen Kultur zu erwarten – wenn nicht über die Vermittlung durch die europäisch-westliche Kultur, die in ihrer Rechtsförmigkeit, aber zugleich doch auch Beweglichkeit das steife Chinesische und das anarchische Russische in einen Ausgleich bringen könnte.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu das Buch:

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

(zu beziehen über den Buchhandel oder den Autor: www.kai-ehlers.de)

 

[1] www.kai-ehlers.de: „Europa ohne Russland?“

[2] W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn. Traktat über die Planetarität der Menschheit und das Projekt Gottes in der Geschichte. Mit einer Einleitung und einem  Nachwort von Erzpriester André Sikojev, Edition Hagia Sophia, Philosophia Eurasia 3, Wachtendonk, 2018

[3] Peter Krüger, W.I. Wernadskij, Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 55, Teubner Verlagsgesellschaft, 1881

Außerdem: Kai Ehlers, Sowjetunion – mit Gewalt zur Demokratie?, Galgenberg, Hamburg 1991, Exkurs S. 39

[4] W.I. Wernadskij, Biossphäre und Noossphäre, Moskau 2013, S. 262 zitiert nach W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn, S. 70

[5] In der Anmerkung  zu Beginn seiner Einführung schreibt Sikojev u.a.:

Brzezinskis geopolitischer Klassiker The grand chessboard – American Primary  and its geostrategic  Imperatives (1977) trägt im deutschen Untertitel Amerikas Strategie der Vorherrschaft (2015) . Henry Kissingers „World Order“  ist demselben monopolaren  imperialistischen Raumdenken geschuldet, auch wenn  Kissinger  sich sehr viel mehr  als sein politischer Vorläufer wissenschaftlich fundiert  und kritisch reflektiert mit den eigenen Ansprüchen auseinandersetzt.  Beide Fundmentalwerke der Geopolitik  sind bis heute aktuell, zumindest  für das Verständnis  der zentralen  Euro-Atlantischen  Machtstrukturen und ihre Handlungsführer.

Den wichtigsten Gegenentwurf zu diesem anglosächsischen auf dem Exklusivgedanken  der Auserwähltheit  der westlichen Zivilisation  aufgrund des finanzökonomischen Erfolgs ihres Wirtschaftsmodells beruhenden – lieferte die Eurasische Schule A.G. Dugins mit den Grundlagen des Eurasiertums (Moskau 2002), Geopolitik (Moskau 2011) und Geopolitik Russlands (Moskau 2012)

[6] Alexander Dugin, Die vierte politische Theorie, ARKTOS, London 2013, S. 53/54

[7] Kai Ehlers, Themenheft 9, Sommer 2000: ‚Priemstwo‘ – Akzeptanz.  Russland auf dem Weg zu sich selbst. Gespräche über die russische Idee.

[8] ebenda

[9] Igor Tschubais, Wie wir  unser Land verstehen sollen, Shaker media, 2016, aus dem Russischen  Arsis Books, 2014. Zitate: S. 17, 29, 70

Deutschland – Neutral zwischen Ost und West. Unfertige Gedanken zum Mitdenken

Es wird Zeit, sich darauf zu besinnen, dass Neutralität die einzige sinnvolle Lehre aus den beiden Weltkriegen sein kann, die beide Male von deutschem Boden ausgingen, deren Folgen auch in unserem Land bis zum heutigen Tag noch spürbar sind.

Neutralität muss heute Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen deutscher Politik sein, damit Deutschland nicht ein drittes Mal zum Schauplatz der Konfliktaustragung zwischen  Ost und West im globalisierten Rahmen wird. Denn in Deutschland läuft – historisch gewachsen – die Scheide zwischen Ost und West.

Deutschland ist nicht Ost, Deutschland ist nicht West; Deutschland ist Mitte zwischen Ost und West. Deutschland hat intensivste Bindungen an Russland und den ganzen russischen Raum, den ganzen östlichen Raum, und Deutschland hat intensivste Bindungen an den westlichen Raum, insofern der westliche Raum, der angelsächsisch-amerikanische zu großen Teilen auch aus der mitteleuropäischen, nicht zuletzt auch aus der deutschen Entwicklung hervorgegangen ist.

Das alles gilt, wenngleich sich der amerikanische Raum selbstständig gemacht, die europäische Kultur hinter sich gelassen und sich extrem veräußerlicht hat. Auch der russische Raum hat seine europäischen Wurzeln hinter sich gelassen und sich auf einen eigenen Entwicklungsweg gemacht. Die Gefahr besteht, dass diese beiden polaren Tendenzen wieder einmal aufeinanderprallen, wie eben erst in der jüngsten Geschichte, jetzt noch verstärkt durch das chinesische, das asiatische Element im Osten und – wie es sich in letzter Zeit andeutet – durch das arabische Element auf ‚westlicher‘, genauer, das saudi-arabische auf amerikanischer Seite.

Wenn sich diese Frontlinie weiter entwickelt, wie gegenwärtig zu befürchten, wenn sie sich sogar verfestigt, dann geht die Welt, konkret Europa, Mitteleuropa, noch konkreter Deutschland einer ganz schweren Zeit entgegen. Sehr unwahrscheinlich ist jedenfalls beim Stand des gegenwärtigen Aufmarsches an den russischen Grenzen, speziell der Stationierung von NATO-Schalt- und Kommandostellen in Deutschland, dass die ballistischen Flüge den kurzen Weg über den Pazifik, statt, wie in der ‚Sicherheits‘-Planung der NATO angelegt, über den Atlantik nehmen.

Selbstverständlich ist eine Neutralität Deutschlands, glaubt man der herrschenden Politik, heute ganz und gar unrealistisch, nachdem sie in den Jahren nach 1945 durch die Alliierten erfolgreich verhindert wurde  Die Anbindung Deutschlands an das atlantische Bündnis gilt den atlantischen Planern heute als ‚alternativlos‘, um die ‚Sicherheit‘ Europas und Deutschlands zu garantieren. Tatsächlich erweist sich dieser ‚Realismus‘ aber als ganz und gar unrealistisch, um nicht zu sagen, als gigantische Lüge, wenn es darum geht, eine friedliche Zukunft Europas und darin Deutschlands zu sichern, wenn man sieht, wie eben diese ‚realistischen‘ Verhältnisse auf eine neuerliche Zuspitzung des Ost-West Konfliktes zulaufen, wenn man sieht, wie die Europäische Union, halb als Vasall, halb als Avantgarde der strauchelnden ‚einzigen Weltmacht‘ wieder zur Weltgeltung spurtet, und, mit einem Deutschland als Kern darin, schnurstracks auf die nächste große Konfrontation zusteuert.

So gesehen erweist sich der herrschende ‚Realismus‘ als Wahn, der Deutschland direkt in die nächste Katastrophe zu führen droht.  Eine realistische Perspektive, die diesen Namen  verdient, kann allein in der Entwicklung eines Deutschland liegen, das sich von einseitigen Bündniszwängen löst und stattdessen als neutrale  Mitte seine ganze Kraft in die Auflösung der kriegstreibenden Polaritäten legt.

‚Seine ganze Kraft‘, damit ist selbstverständlich nicht nur Deutschlands ökonomische Potenz als ‚Exportweltmeister‘ und Finanzier der Europäischen Union, schon gar nicht, versteht sich, seine militärische Stärke, gemeint, sondern sein nachimperialer, nachfaschistischer, demokratischer Kulturimpuls, der in der Welt heute, zunehmenden Einschränkungen zum Trotz, immer noch Seinesgleichen sucht. Diesen Impuls gilt es zu schützen, zu fördern und zum Wohl einer sich herausbildenden neuen Völkerordnung wirken zu lassen, in deren Aufgabenbuch die Förderung der Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen in kooperativer Gemeinschaft mit dem Blick auf das Ganze der heutigen Welt steht – unabhängig von ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschieden.  

Also noch einmal: Die Entwicklung der Idee der Neutralität als Raum zur Förderung gegenseitiger Hilfe ist das, was in Deutschland heute zu allererst angegangen werden muss, wenn wir die Chance haben wollen, den Übergang aus der unipolaren in eine multipolare Welt gestärkt zu überleben.

 

Kai Ehlers, 10.04.2018

www.kai-ehlers.de

 

 

Angst vor Russland, warum? Der genauere Blick auf die Putinschelte

Wird der Westen von Russland bedroht? Glaubt man den Kommentaren, die gegenwärtig rund um den `Fall Skripal‘ wieder einmal Konjunktur haben, dann müsste man das annehmen. Man kann allerdings auch die Frage stellen, die sich hinter all dem Getöse erhebt: Woher diese Angst? Wovor fürchten sich die USA – obwohl doch die ‚einzige Weltmacht‘? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der ‚höchsten zivilisatorischen Werte‘? Wovor fürchten sich all diese beflissenen medialen Brandbeschleuniger?

 

Russlands Autarkie

Die Antwort ist  umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie.

Die russische Autarkie ist dreifach begründet: Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen in der Weite Russlands: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Das ist zum dritten die Vielfalt des Völkerorganismus, aus der dem Land – bei allem unvermeidlichen Zentralismus – starke Kräfte zufließen.

 Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – unabhängig von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder es könnten. Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf  der jüngeren Geschichte bereits in die Lage, westlichen, konkret europäischen Eroberungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939.

Heute ist es wieder so: Trotz technischen Nachholbedarfs, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt auch nach 1991 wieder, nicht nur zu überleben, sondern, zwar noch geschwächt, aber doch mit neuer Stärke aus der Krise hervorzugehen.

 

Stabilisierung innen und außen

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht. Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte – soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind, um nur an die wichtigsten Stationen zu erinnern: Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin  2002 nach dem Niedergang in den 90ern, Auftritt gegen die Militarisierungspolitik der USA bei der Münchner Sicherheitstagung 2007, im Anschluss daran eine – so kann man es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen – konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. In ihrer Folge wurde Russland zum Impulsgeber einer sich aus der Dominanz der USA und des Westens allmählich lösenden multipolaren  neuen Welt,  während die ehemals ‚Neue Welt‘, die USA, sich in dem Versuch, die ihr 1991 zugefallene Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickte und immer verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

Wird Putins Politik unter diesen Gesichtspunkten sachlich überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, der Russland wieder auf den Weg zu sich selbst und als Großmacht wieder ins globale Spiel gebracht hat. 

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun mehr und mehr erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, weil auf dem Höhepunkt der amerikanischen Weltordnung angekommen, sondern das sie auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen werden könnte.

 

Great game – neu aufgelegt

Diese Kräftelage macht deutlich, worum es bei dem neuaufgelegten „Great Game“ geht, soweit es Russland betrifft: Es geht zunächst darum Russland von der Verfügungsgewalt über seine natürlichen Ressourcen zu trennen. Das trifft sogar dann noch zu, wenn nicht nur über Gas und Öl, sondern auch über erneuerbare Energien oder Energien aus Naturkräften wie Wind, Wasser, Sonne gesprochen wird. Selbst neue Verfahren der Energiegewinnung, wie OPV (Organische Photovoltaik), die heute am Horizont auftauchen, sind in diese Perspektive mit eingeschlossen, solange auch dafür eine Kunststoffbasis beruhend auf Öl gebraucht wird.

 Es geht dem Westen des Weiteren um politische Interventionen, die Russland daran hindern sollen, vom Impulsgeber der sich ausbildenden multipolaren Ordnung zu deren globaler Bezugsgröße zu werden. Konkret geht  es darum, Putin nicht weiter Statur als globaler Stabilisator und Krisenmanager gewinnen zu lassen. Dem dient die Dämonisierung Putins als neuer Hitler, neuer Stalin, als Aggressor usw., nach dem Motto: „Irgendetwas bleibt immer hängen“.

 

Schlechte Karten für den Westen

Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen: Sie können versuchen Russland über Sanktionen zu schwächen; sie können versuchen Russland in einen Rüstungswettlauf  zu treiben, sie können versuchen Russland in Kriege an seinen Grenzen zu verwickelt. Sie könnten davon träumen, Russland unter Ausnutzung von Widersprüchen in seinem Vielvölkergefüge nach dem Muster der Ukraine in einen Regimechange zu treiben oder schließlich gar direkt mit Krieg zu überziehen.

Letztlich ist keine dieser  Optionen realistisch, solange politische Vernunft das strategische Handeln bestimmt: Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Ein direkter militärische Angriff auf Russland, der mehr bewirken sollte als eine zeitweise Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung, wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, wenn sich die Feindpropaganda an ihren eigenen Ängsten hochzieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

Siehe auch die umfangreichere Analyse zur gleichen Frage aus dem Jahre 2008 auf der WEBsite des Autors. Darin  werden historischen Grundlagen und Entwicklung der russischen Autarkie ausführlich dargelegt.   

Russland – Weltmacht im Wartestand. Oder auch: Angst vor Russland, warum?

Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin

Auf: https://test.kai-ehlers.de/?s=Angst+vor+Russland%2C+warum%3F++

 

Salisbury – Hintergründe ohne Tatsachen

 

Die einzige zum Giftanschlag von Salibury bekannte Tatsache ist – dass es bisher keine Tatsachen gibt: Keine Fakten, wer, wie, wann das Gift nach Salisbury transportiert hat und wie es eingesetzt wurde.  Selbst die Opfer wurden bisher nicht befragt. Stattdessen eine „lange Liste bösartiger Aktivitäten Russlands“ seitens der britischen Regierung,  die beweisen soll, dass Russland „höchst wahrscheinlich … verantwortlich ist für diesen rücksichtslosen und verabscheuungswürdigen Akt.“[1]

Es geht offenbar gar nicht um die Fakten. Worum also dann?

Aufgezählt werden von Politikern und Medien unisono, kritiklos den Londoner Vorgaben folgend, die „Vergehen“, die Russland sich in den letzten Jahren habe zuschulden kommen lassen, so allen voran in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Das beginnt bei der „Annexion“ der Krim, führt über die „Invasion russischer Soldaten in die Ostukraine“, den „Abschuss des Passagierflugzeuges MH 17“, die „Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow in unmittelbarerer Nähe des Kremls“, „Russlands rücksichtsloses Vorgehen in Syrien“ bis in die „Dopingfälle russischer Athleten.“

Dazu kommen noch diverse angebliche Cyber-Attacken Russlands.

Mit diesen Aufzählungen wird das erste Motiv deutlich, um das es in dieser „Affäre“ geht: So wenig Fakten für den „Fall“ Salisbury vorgelegt werden, so wenig geht es bei der Aufzählung der russischen „Vergehen“ um Fakten. Vielmehr geht es hier um die gezielte Anwendung des alten römischen Prinzips ‚semper aliquid haeret‘, ‚irgendetwas bleibt immer hängen‘, anders gesagt, eine politische Rufmordkampagne gegen Russland, bei dem das ganze Instrumentarium der ideologischen Kriegführung bis hin zur konzertierten Ausweisung russischer Diplomaten  ausgefahren wird.

Die nächste Frage ist natürlich: Wofür, warum jetzt, wem nützt es?

 

„Solidarität“

 Im Vordergrund der Kampagne steht das Wort ‚Solidarität‘, für welche die Vertreter und Vertreterinnen des atlantischen Bündnisses sich gegenseitig beglückwünschen und bedanken. Theresa May dankte Jean-Claude Juncker, Juncker dankte May, alle zusammen dankten Trump. Schließlich trat sogar die NATO noch dem Solidaritätsbündnis bei. Man fühlt sich gestärkt.

Aber ist man wirklich gestärkt? Hier darf man Fragen stellen, die vielleicht ein bisschen zur Entwirrung der Motivlage beitragen können, zunächst der kleinen, um es so zu sagen, ohne dabei allerdings allzu sehr ins Detail gehen zu wollen: 

Theresa May hat wohl das offensichtlichste Motiv. Wenn sie die Position des kleiner gewordenen Britanniens als Weltmacht nach dem Ausstieg aus der EU halten möchte, dann braucht sie den atlantischen Rahmen, vor allem die Anlehnung an die USA.

Jean-Claude Juncker muss sich schon seit geraumer Zeit Sorgen um den Zusammenhalt der Europäischen Union machen. In der Frage der Sanktionspolitik nehmen die Differenzen zwischen den Mitgliedern erkennbar zu.

Donald Trump schafft sich mit seinem aktuellen Sprung in das atlantische Bündnis Bewegungsfreiheit gegenüber seinen Kritikern, die ihm seine Kontakte zu Russland und seine zu große Nähe zu Wladimir Putin vorwerfen.

Und nicht zu vergessen die NATO: sie ist angesichts einer sich entwickelnden globalen Multipolarität in eine Sinnkriese gekommen, in der sie sich nur durch neu entstehende Ost-West-Spannungen legitimieren kann.

Alles zusammen wird in der gegenwärtigen Kampagne gegen Russland zu einem aktuellen Befreiungsschlag gebündelt.

 

Hintergründe

Mit dieser Beschreibung des vordergründigen Nutzens ist die Frage nach den Hintergründen jedoch noch nicht beantwortet. Dazu muss  noch ein genauerer Blick auf die Liste der „Vergehen“ geworfen werden, die Russland vorgezählt werden.

Lässt  man die diversen nicht zu beweisenden Behauptungen über russische Cyber-Attacken auf atlantische Netze beiseite, dann bleiben in diesem Potpourri von Anklagen die wichtigsten Stichworte: Georgien, Krim/Ost-Ukraine und Syrien.

Diese drei Stationen bezeichnen die Marken, an denen der westliche, konkret der US-dominierte globale Hegemonieanspruch in den zurückliegenden Jahren an seine Grenzen stieß – durch Russlands Aufbegehren, um es in einer Formulierung zu sagen, die das Kräfteverhältnis realistisch beschreibt.

Erinnern wir uns:

  • Mit dem Einmarsch in Georgien 2008 warf Russland nicht nur den provokativen Versuch einer Annektion Michail Saakaschwilis gegenüber Nord-Ossetien zurück; mit der Zurückweisung Saakaschwilis zog Russland zugleich die unübersehbare Rote Karte gegen eine weitere Ost-Erweiterung von EU und NATO.
  • Mit der Aufnahme der Krim 2014 in den russischen Staatsverband zum einen, mit der Unterstützung der Ost-Ukraine um die Erhaltung und Entwicklung ihrer Autonomie nach dem Regimewechsel in der Ukraine zum Zweiten verhinderte Russland die Überführung der Ukraine in die EU und die NATO. Russland widerstand damit der strategischen Kastration, wie sie in den Plänen der US-Strategie vorgesehen war, nachzulesen bei Zbigniew Brzezinski.
  • Mit dem Eingriff zur Unterstützung Baschar al-Assads in Syrien seit 2016 stoppte Russland nicht nur den von den USA beabsichtigten Regimechange in Syrien, sondern darüber hinaus die Verwandlung des gesamten mesopotamischen Raumes in ein amerikanisches Protektorat und Aufmarschgebiet gegen Russland, Iran, Türkei und Nordafrika nach den Plänen des „new american century“.

Russland, konkret Putin hat in diesen Prozessen die Statur eines globalen Krisenmanagers gewonnen. Die aktuelle Kampagne hat das Ziel, Russland, Putin in dieser Rolle zu demontieren.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

[1] Siehe: Russland.news : http://www.russland.news/wp-content/uploads/2018/03/UK_Briefing.pdf

Putins Wahlsieg – Signal für ein Russland nach Putin?

In Russland wurde gewählt. Was zu erwarten war, ist eingetreten: eine überwältigende Mehrheit für Wladimir Putin.

In Zahlen: 76,69 % für Putin, 11,77 % für seinen sozialistischen Herausforderer Pawel Grudinin , 5,65 % für den ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski; die restlichen Kandidaten und Kandidatinnen fielen weit unter die 5% Marke. „Korruptionsjäger“ Alexei Nawalny scheiterte mit seinem Boykottaufruf. 

Die Botschaft der Wahl ist unüberhörbar:  Stabilität, Sicherheit, keine Revolution, nicht einen Weg zurück, keine Abenteuer voran, alles wie gehabt. Ruhe ist der erste Wunsch des nachsowjetischen Menschen. Wär‘s nicht  nachweislich ein russisches – es könnte ein deutsches Wahlergebnis sein.

Und doch, wer glaubt, dass alles so weitergehen werde wie bisher, irrt sich. Der Sieger selbst versprach Veränderungen für den Fall seiner erneuten Präsidentschaft: Entbürokratisierung, Wachstum der Wirtschaft, Reformen im Sozialen. Und er versprach diese Veränderungen nicht nur; mit rigider Umbesetzung von Ämtern traf er schon im Vorfeld der Wahl  Vorsorge dafür, das Notwendige auch durchsetzen zu können, was er jetzt vornehmen muss, denn das ist klar: das Votum des Wahlsieges bekam er zwar für die von ihm verfolgte Politik der Stabilität, aber ewige, zudem noch autoritäre  Stabilität muss letztlich enden – in Stagnation.

Die drohende Stagnation ist wohl die größte Herausforderung  für  den in seinem Amt bestätigten Präsidenten, außenpolitisch wie auch innenpolitisch.

Außenpolitisch sind weitere Erfolge wie die Eingliederung der Krim, die Teilbefriedung Syriens, das Bündnis mit China zurzeit kaum vorstellbar. Die Welt hat sich im Status quo festgefahren. Russlands,  konkret Putins Rolle darin ist die des Krisenmanagers. In dieser Frage kommt zurzeit niemand an ihm vorbei, aber Entwicklungsperspektiven sind darin kaum erkennbar, außer der von Putin in seiner kürzlich gehaltenen Rede an die Nation deutlich demonstrierten Bereitschaft Russland gegen jedwede zukünftige Angriffe zu verteidigen.

Innenpolitisch stehen für Russland lange vernachlässigte Reformen an. Das beginnt mit so banalen, aber drängenden Themen wie der nationalen Müllbeseitigung, geht über das Wohnungsproblem, die  Zweiklassenmedizin, marode Infrastrukturen bis hin zu einer krass auseinander klaffenden Schere zwischen arm und reich.

Mit Blick auf die innere Entwicklung hat Putin vor der  Wahl starke Aussagen gemacht, Kräfte der Selbstorganisation stärken zu wollen. Sein Aufruf an die Kandidaten nach der Wahl, die Kräfte zu bündeln, geht in die gleiche Richtung. Solche Töne in Verbindung mit der Ankündigung sozialer Reformen könnten von der russischen Bevölkerung als Versprechen auf Liberalität und wachsenden Wohlstand verstanden werden. 

Wenn andererseits Wachstum der Motor für Reformen sein soll, bedeutet das mehr sozialen Druck auf die Bevölkerung bis hin zu Vorschlägen aus den Beraterkreisen Putins, um nur ein Problem stellvertretend zu nennen, die Renten zu kürzen, indem das Rentenalter hinaufgesetzt wird.

Kurz gesagt: Putins Programm wird ein Spagat zwischen Modernisierung und sozialen Versprechungen, der auch von einem erfahrenen Kampfsportler, wie er es ist, schwer zu halten sein wird.

Im Land wachsen  zudem die Stimmungen, dass Russland sich nicht weiterhin einfach dem Prozess der kapitalisierenden Globalisierung unterwerfen dürfe, sondern wieder auf einen eigenen Weg finden müsse. Aber unklar ist immer noch, wie dieser aussehen könnte. Alle bisherigen Versuche, einen eigenen Weg zu definieren, sind auf halber Strecke stehen geblieben: So Gorbatschows ökologischer Aufbruch; so Jelzins nationale Idee. Ist Putins Weg nach Eurasien jetzt sinnstiftender?

Nein, es wird keine Ideologie helfen. Entscheidend wird sein, ob Putin es schafft, die Basiskräfte des Landes zu aktivieren – das heißt, Initiativen auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Daran wird er gemessen werden. Daran wird sich zeigen, wohin die russische Gesellschaft geht.

Kai Ehlers, www.kai- ehlers.de

 

Siehe das Buch:

Kai Ehlers, Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

Bezug über: www.kai-ehlers.de

 

(Dieser Artikel erschien am 22.03.2018 unter anderer Überschrift und leicht verändert in „Freitag“)

 

 

Europa ohne Russland? Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem zeitgemäßen Problem.

Kann es Europa ohne Russland geben? Die politischen Ereignisse der letzten Zeit, in der sich Europa und Russland immer weiter voneinander zu entfernen scheinen, lassen solche Fragen, die nach der „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ durch Michail Gorbatschow ganz unvorstellbar schienen, inzwischen immer drängender in den Raum treten. Aber so sehr die Frage sich inzwischen aufdrängt, so wenig ist sie mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten – nicht heute und bei genauem Hinsehen auch früher nicht.

Die europäische Politik hat Russland, wie schon mehrmals zuvor in der Geschichte, wieder zum Feindbild aufgebaut.  Putin wird als neuer Hitler, Russland insgesamt als unberechenbar hingestellt. Europa müsse vor russischen Aggressionen geschützt werden. Zugleich erklären europäische Politiker die Zusammenarbeit mit Russland für unerlässlich, schon aus ökonomischen Gründen, heißt es, aber selbstverständlich zu „unseren Bedingungen“. Mit Sanktionen und dem Aufbau militärischer Stärke möchte man Russland gefügig machen.    

Antworten, die man aus alltäglichen Gesprächen erhalten kann, sind ebenso widersprüchlich: „Europa ohne Russland? – das wäre doch wie Kopf  ohne Herz!“, sagen die einen, andere fühlen sich von Russland bedroht: 44% der Deutschen sind nach aktuellen Umfragen für restriktive Maßnahmen gegen Russland, 67% vertrauen Putins Russland nicht mehr. Die gleichen Befragten wünschen sich ein normales, friedliches Verhältnis zu Russland.

Kurz, die Beziehung Europas, speziell auch Deutschlands zu Russland sind durch und durch ambivalent. Gerade in der Ambivalenz liegt jedoch die Aufforderung  genauer hinzuschauen, ob Europa und Russland zu trennen sind oder ob nicht und welche Bedeutung ihre Beziehung zueinander für den Lauf der globalen Dinge heute hat.

 

Wovon reden wir?

 Zunächst ist zu klären: Was ist Europa? Was ist Russland? In welchem Umfeld steht ihre Beziehung zueinander oder gegeneinander heute?

Schauen wir als Erstes auf die Landkarte; da sehen wir, allem voran, die Botschaft, welche die Erde selbst gibt: Hier Europas Klein- und Vielgliedrigkeit als Appendix Eurasiens, dort Russlands schier unbegrenzt erscheinende kompakte Weite der eurasischen Landmasse.

Sodann: Wenn wir von Europa sprechen, sprechen wir natürlich nicht nur von der Europäischen Union.  Europa ist mehr als die Europäische Union. Europa, in seiner Gewordenheit und in seinem Werden umfasst auch Länder auf dem europäischen Kontinent, die nicht der Europäischen Union angehören, sehr wohl aber dem europäischen Kulturraum. Das betrifft Sprachen, Lebensart, Kunst, Religion und Geschichte. Das sind Länder auf dem Balkan, auf dem Kaukasus und eben auch Russland, zumindest Teile Russlands bis zum Ural.  

Offen ist auch, wie lange die Europäische Union in der heutigen Konstellation zusammen bleiben wird, ob, wie und wann sie sich möglicherweise in Kern- und Randbereiche neu gliedert, welche Rolle Mitteleuropa, konkret Deutschland in einem zukünftigen Europa zukommt.

Russland andererseits ist nicht einfach ein Teil Europas. Russland ist zwar geografisch – auch ökonomisch – nicht von Europa zu trennen, lässt sich jedoch seinerseits in seiner Gewordenheit und seinem Werden nicht auf Europa, auch wenn man es nur bis zum Ural betrachten wollte, schon gar nicht auf die Europäische Union reduzieren. Russland ist nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sogar ethnisch Teil Asiens, genau genommen ist Russland das Gebiet, die Kultur, die Realität zwischen Europa und Asien. Bildlich gesprochen: Russland kann man als Zwischenraum, Europa als Rand definieren.

Zusammen bilden Europa und Russland aber nicht nur einen untrennbaren geografischen Zusammenhang; sie sind auch nicht nur ökonomisch eng miteinander verbunden, im Kürzel gesagt: russisches Öl gegen europäisches Know how, sie bilden darüber hinaus miteinander auch den geopolitischen Raum, von dem aus die heutige Welt über eine Zeitspanne von 2000 Jahren christianisiert, kultiviert, zivilisiert und schließlich kolonisiert  wurde – arbeitsteilig, um es salopp, gleichberechtigt, um es provokativ zu formulieren: Europa als der ‚Nabel der Welt‘, Russland als das ‚Herzland‘ Eurasiens.

 

Koloniale Arbeitsteilung…

In dieser historischen Arbeitsteilung gibt es jedoch einen entscheidenden Punkt zu beachten, der Europa und Russland auf widersprüchliche Art trennt und zugleich verbindet: Heimat vieler Völker sind beide Räume, Russland als umfassender Vielvölkerorganismus in den Weiten Eurasiens, Europa als Pluralität von Staaten auf engstem Raum, aber:

  • Von Europa aus wurde die ganze Welt kolonisiert – bis auf Russland, das sich als einziges Gebiet der Erde der von Europa ausgehenden Kolonisierung bis heute immer wieder entziehen konnte.
  • Russland andererseits machte durch seine, zwar oft unterbrochene, aber unaufhaltsame Expansion im Eurasischen Raum bis hin zur Sowjetunion jegliche Kolonisierung des eurasischen Massivs durch Europa unmöglich.

Diese Konstellation schloss wechselseitige Übergriffe von Westen nach Osten und von Osten nach Westen selbstverständlich nicht aus, bedingte sie in nicht geringem Maße sogar.

Das sind von Westen nach Osten:

  • die deutsche Ostkolonisation um 1000 n. Chr.,
  • die Gründung des Deutschen Ritterordens in Livland im selben Zeitraum,
  • das Ausgreifen Polen-Litauens nach Süden nach dem Tod Iwan IV. 1584 ff,
  • die aufeinander folgenden Versuche Gustav Adolfs, danach Napoleons, Hitlers, der deutschen Wehrmacht Russland zu unterwerfen,
  • die Förderung der Oktober-Revolution durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und seine Gruppe im plombierten Wagen nach Russland einschleuste,
  • Und neuerdings die US-geführten Versuche des NATO-Westens, Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion klein zu halten – siehe Ukraine.

Von Osten nach Westen sind es:

  • die Zerschlagung Nowgorods, das als Mitglied der norddeutschen Hanse westorientiert, tendenziell sogar offen für die Reformation war, durch Iwan III./IV.,
  • die Vertreibung des Deutschen Ritterordens aus Livland durch Iwan IV.,
  • die politischen Übergriffe nach Westeuropa durch Alexander I. , der sich nach der Niederlage Napoleons als „Retter des christlichen Abendlandes“ verstand
  • und schließlich die Besetzung Ost-Europas und Ostdeutschlands durch die Sowjetunion.

In dieser Dichotomie zweier unaufhaltsam expandierender dominanter Kräfte gingen Europa und Russland als miteinander zu einem unlösbaren Konflikt verwachsene und zugleich zu unausweichlicher Kooperation verurteilte Zwillingsbrüder durch die Geschichte.

 

…bei diametral entgegensetzten Paradigmen

In der Art, WIE die Expansion vor sich ging, unterschieden sich Europa und Russland jedoch in diametraler Weise voneinander:

  • Europa expandierte in einem Prozess des Differenzierens, des Pluralisierens, des beständig um die Vormacht auf kleinstem Raum miteinander Kämpfens, der Konkurrenz, letztlich in einem sich steigernden Prozess der Individualisierung, der individuellen Emanzipation, im Kern eines tiefen, wenn auch produktiven Egoismus. Europa trug diesen Prozess als ununterbrochenen Krieg in die ganze Welt hinaus, vielsprachig, in ständiger Veränderung, ohne dauerndes Zentrum.
  • Russland expandierte nach dem Prinzip des Sammelns, des Zusammenführens, des Integrierens und Kollektivierens, der Vielfalt unter dem Dach einer Sprache, der Bildung von Gemeinschaftstraditionen unter einem autoritären Zentrum, Moskau. Das heißt nicht, dass die russische Expansion im Gegensatz zur europäischen gewaltlos vor sich gegangen wäre; es haben sich in der Geschichte nur zwei ganz unterschiedliche Prinzipien der Kolonisierung verwirklicht, deren Wirkung bis heute anhält: Integration im russischen Raum – Desintegration in Europa und von dort ausgehend in der Welt.

 

Geschichtliche Spurensuche

Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung? Paradox gefragt: Wo liegen die Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Entwicklung, die entgegengesetzter nicht verlaufen konnte? Welche Dynamik liegt heute noch darin?

Mit Hinweisen auf tagespolitische Ereignisse sind kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen zu gewinnen – Merkel, Macron, Putin, Poroschenko, Trump sind eher Getriebene als Treiber. Zu zeitgebunden sind die aktuellen politischen Manöver,  zu verschleiert die Motive der aktuellen Feind- oder Freunderklärungen, zu verwirrend die wechselnden Täuschungsmanöver im gegenwärtigen Des-Informationskrieg.

Auch aus der Ökonomie, die heute unter Schlagworten wie ‚Wachstum‘, ‚Fortschritt‘, ‚Konsumgesellschaft‘ etc. als der große zivilisatorische Gleichmacher rund um den Globus in den Vordergrund gerückt ist, der gewachsene kulturelle, religiöse und geistige  Unterschiede zunehmend nivelliert  und durch die Gemeinschaft williger Konsumenten ersetzt, lassen sich kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen gewinnen,

Der Blick muss tiefer, tief in die Geschichte gehen, um erkennen zu können, wie aus einem ursprünglich gemeinsamen Kulturstromstrom – indogermanisch-griechisch-römisch-christlich – die systemgeteilte Welt des 20. Jahrhunderts und nach deren vorübergehendem Übergang in die US-dominierte Globalisierung die sich heute andeutende erneute Ost-West-Teilung hervorgehen konnte und wo die Möglichkeiten der Überwindung dieser Dualität liegen.  

 

Mesopotamien – Wiege Europas

Beginnen wir ganz klassisch mit der Entführung Europas durch Zeus von den Stränden Phöniziens, erzählt aus griechischer Sicht zum ersten Mal von Homer ca. 800 vor unserer Zeitrechnung: Europa wurde die Mutter einer neuen, noch unentdeckten Welt.

Von Europas Landung an der kretischen Küste führt der Weg geradewegs durch die griechische Geschichte, ab 146 v. Chr. in die römische, von da durch die Zeitenwende, die von Christi Geburt, von der Geburt des Christentums in Palästina markiert wird, weiter über die Jahrhunderte der Christenverfolgung in Rom, bis das Christentum im Jahr 380 n. Chr. zur römischen Staatskirche ausgerufen wurde.

Über die ganze, sich über mehr als 500 Jahre  erstreckende Zeit dieser griechisch-römischen Geschichte zieht noch ein einheitlicher kultureller Strom ins frühe Europa.

 

Teilung der römischen Welt

Mit der Teilung Roms in Ostrom – Westrom im Jahr 395 n. Chr. setzt die unterschiedliche Entwicklung des europäischen Siedlungsraumes in ein östliches und ein westliches Europa ein. Ost-Rom, unter dem Namen Byzanz, später Konstantinopel wird zur Feste Europas, West-Rom zerfällt unter dem Ansturm germanischer Stämme  und hunnischer Reiterheere aus dem Inneren Asiens –  man erinnert sich an die Daten der Völkerwanderung: 410 n. Chr. Alarich vor Rom, 450 n. Chr. Attila vor Byzanz und vor Rom. Der Zerfall Roms setzt getrennte Reichsbildungsprozesse im Osten und im Westen Europas in Gang.

Als drittes Element neben den beiden christlichen Strömungen kommen die Wikingischen Handelskrieger hinzu, die im Osten entlang der Flüsse nach Süden bis Byzanz ziehen, im Westen vom Meer aus in die Küstengebiete eindringen. Die Gründung der Kiewer Rus durch den Wikinger Rurik 882 n. Chr., die Reichsbildungskriege der Karolinger im achten und neunten Jahrhundert, die ganz eigene Entwicklung der angelsächsisch-dänischen Besiedlung des heutigen England fallen in diese Zeit erster Differenzierungen des ursprünglichen mesopotamischen Kulturstroms.

Mit der Übernahme des orthodoxen Christentums durch den Fürsten Wladimir von Kiew im Jahr 988 n. Chr. bindet die Kiewer RUS sich an Byzanz. Mit diesem Schritt nimmt das Auseinanderdriften der religiösen Sphäre in Ost- und Westeuropa an Deutlichkeit zu. England geht zudem seinen eigenen Weg. Kiew bleibt aber zu der Zeit noch Handelsdurchgang von Osten nach Westen, unterhält auch noch höfische Beziehungen zu den französischen und anderen westlichen Fürstenhäusern.

 

Das Schisma:

Differenzierung im Westen…

Mit dem Schisma, der großen Kirchenspaltung von 1064 n. Chr., wird das Auseinanderdriften Europas auf einen oströmischen und einen weströmischen Entwicklungsweg manifest. Die Patriarchen von Byzanz und Rom exkommunizieren sich gegenseitig. Byzanz versteht sich als Hüter der Einheit von Staat und Kirche, betrachtet Rom als abtrünnig vom wahren Glauben. Roms Entwicklung führt dagegen sehr schnell auf einen dreigeteilten gesellschaftlichen Weg, der die differenzierte Zukunft des westlich Europa vorzeichnet, den politischen Bereich der Reiche und Staaten, den religiösen Bereich und eine unabhängige Philosophie und Wissenschaft.

 Ausgesuchte prägnante Daten mögen das verdeutlichen:

  • Nahezu zeitgleich zur Spaltung von Ost- und Westkirche setzen die von Rom ausgehenden Kreuzzüge ein – erster Kreuzzug 1095 n.Chr. Die Züge wenden sich, was heute kaum erinnert wird, auch gegen die Ostkirche. Die Ritter des 4. Kreuzzuges erobern sogar Byzanz. Als die Türken 1443 Byzanz belagern, kommt den Byzantinern aus dem Westen Europas keine Hilfe zu. Dieses Ereignis  treibt die Spaltung zwischen den Kirchen tief ins Unterbewusstsein der orthodoxen Bevölkerung, die sich vom Westen verraten fühlt.
  • Der Gang König Heinrich IV. nach Canossa 1076 n.Chr., mit dem er Papst Gregor VII. zwingt, die Bannbulle gegen ihn aufzuheben, besiegelt die Spaltung von Staat und römischer Kirche.
  • Dem großen Ost-West-Schisma folgt das kleine Schisma zwischen Rom und Avignon von 1378 bis 1417; in der Mitte des 15. Jahrhunderts erhebt sich noch ein weiterer Gegenpapst, dazu diverse Gegenbischöfe.
  • In den Klöstern entwickelt sich mit der scholastischen Philosophie das Bestreben, Religion rational zu begründen.
  • Nicht unerwähnt bleiben darf die Gegenbewegung der Inquisition, die Spaltungen und Abweichungen in Angelegenheiten des Glaubens als Häresien mit Folter und Tod einzudämmen versucht.  

Nur kursorisch benannt seien die bekanntesten Stationen der weiteren Differenzierung der westlichen Entwicklung:

  • die ‚Entdeckung Amerikas‘ durch Kolumbus 1492, die diesen Kontinent an Europa heranzieht,
  • die Renaissance im 15. Und 16. Jahrhundert,
  • die Konfessionalisierung der Westkirche durch Luther, Zwingli und Calvin,
  • der Dreißigjährige Krieg 1618 – 1648,
  • die Aufklärung ab 1700,
  • die Französische Revolution 1789 – 1799,
  • die Entstehung europäischer Nationalstaaten in der Folge der Revolution, durch Napoleon forciert.

Von der Neuzeit soll später gesprochen werden.

 

Ganz anders im Osten:

Das „Sammeln der russischen Erde“

Byzanz verschloss sich einer Entwicklung, wie sie von Rom ausging.  Im byzantinischen Raum, wie er sich im Kiew Wladimirs fortsetzte, entwickelten sich keine unabhängige Wissenschaft, keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung – und keine bürgerliche Revolution. Die Zerstörung Kiews durch die Mongolen im Jahr 1241 war ein weiterer entscheidender Impuls für die Entfernung Ost- und West-Europas voneinander.

Die Mongolen vernichteten Kiew, machten den südlichen und mittleren Osten abhängig; den Westen, obwohl sie dessen Heere bei Liegnitz vernichtend schlugen, verschonten sie, wandten sich stattdessen weiter nach Süden, wo sie das muslimische Kalifat Bagdad vernichteten. Im Schatten dieser Schonung konnte sich der Westen Europas anders als der Osten unabhängig von mongolischem Druck entwickeln. Die Zerschlagung Kiews löste dagegen eine Fluchtbewegung der Bevölkerung der RUS  nach Norden aus, wo die fürstliche Oberschicht als  Dienstadel, die Bauern als Siedler im Fürstentum Moskowien Zuflucht fanden, das von den Mongolen nicht besetzt und ihnen nur tributpflichtig war.

Mit diesen Ereignissen kommt zu der religiösen Spaltung zwischen Ost- und Westkirche die unterschiedliche Ausrichtung des zuvor noch offenen politischen Raumes hinzu. Ausgehend von Moskowien, noch unter der mongolischen Tributhoheit, beginnt mit dem  Moskowiter Fürsten Kalita (1325 – 1340), intensiviert durch Iwan III (1530 – 1584), dann Iwan IV. (1456 – 71) der Prozess des „Sammelns russischer Erde“, wie es in der russischen Geschichtsschreibung genannt wird. Nach dem Fall Konstantinopels erklärt Iwan IV. Moskau zum III. Rom. Dabei übernimmt er das Staatskirchentum des byzantinischen Modells, übernimmt auch den Titel Kaiser, also Zar des russischen Reiches. Mit der Unterwerfung Nowgorods und der Verdrängung des deutschen Ritterordens aus Livland schließt er die Grenzen nach Westen; zugleich forciert er die Kolonisation nach Osten auf der Spur des zerfallenden mongolischen Großreiches bis nach Sibirien.

Die Politik Iwans IV. zementiert die Trennung zwischen dem orthodoxen Osten und einem reformatorischen, protestantischen, aufklärerischen Westen bis in die Zeit Peter I. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ost und West, Russland und Europa sind für mehr als 200 Jahre getrennte Welten. In dieser Zeit festigt die christliche Orthodoxie ihr Verständnis von sich als Bewahrer des wahren christlichen Glaubens – ohne einschneidende Abspaltungen, ohne Protestantismus, ohne Religionskriege, ohne Aufklärung in despotischer Einheit von Staat und Kirche – bis auf die minoritäre Bewegung der „Altgläubigen“, die eine formale Kirchenreform im 17. Jahrhundert nicht mitmachen wollten.

 

Neue West-Ost-Begegnung,

Westlich orientierte Modernisierungsschübe Russlands

Vermischung, gegenseitige Übergriffigkeiten

Mit Peter I. 1682 bis 1725,  genannt der Große, beginnt eine neue Phase der Ost-West-Beziehungen. Den Beinamen ‚der Große‘, erhielt er dafür, das er das „Fenster nach Europa“ öffnete. Konkret hieß das: Er  unterwarf Russland einer Modernisierung und Industrialisierung nach westlichen Standards. Seine Modernisierung  war ein Gewaltakt, der die in ihrer traditionellen Orthodoxie lebende mehrheitlich bäuerliche russische Gesellschaft zutiefst erschütterte. Er ließ den Bauern Kaftane und Bärte gewaltsam beschneiden, um sie aus ihren orthodox-gläubigen Sitten herauszuholen. Er war sich nicht zu schade, eigenhändig die politische Opposition zu köpfen. Er ließ St. Petersburg in einem Gewaltakt aus den Newa-Sümpfen stampfen. Gleichzeitig führte er Expansionskriege nach Norden und nach Süden. Die sog. petrinischen Reformen hinterließen ein zwischen Orthodoxie und westlicher Modernisierung zerrissenes russisches Volk unter der Knute einer autoritären Zwangsmodernisierung. Im Westen wurde Peter I. natürlich gefeiert.

Zu beachten ist: Zeitgleich zu den petrinischen Reformen entwickelt sich im Westen die Aufklärung. Zeitgleich ziehen die antidynastischen Wolken der französischen Revolution auf, deren Ideologen ihre Impulse aus der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und der Bill of  Rights von 1797 beziehen, die das Recht auf Selbstbestimmung und Revolution verfassungsmäßig festschreiben. Europa und Russland sind, trotz Modernisierung Peters I., auf unterschiedlichen Wegen: Europa öffnet sich in Richtung Amerika, Russland expandiert, wenn man das Gebiet zu der Zeit noch so nennen kann, im ost- und süd-europäischen Raum.

Ein halbes Jahrhundert später, 1762  – 1796, intensiviert Katharina II., die ‚Deutsche auf dem Zarenthron‘, ebenfalls die Große genannt, die Beziehungen Russlands zum Westen. Sie pflegt intensivsten Umgang mit den französischen Aufklärern, insbesondere Voltaire. Sie fördert europäische Wissenschaft und Kunst. Der Enzyklopädist Diderot ist über längere Zeit Gast des Zarenhofes. Gleichzeitig setzt sie das Sammeln russischer Erde nach Süden, ebenso wie den autoritären Regierungsstil fort. Die Politik  Katharinas vertieft die  Durchmischung von Orthodoxie und westlicher Aufklärung erheblich.

 

Übergang in die Moderne:

Durchmischung, imperiale Konfrontationen, gegenseitige Zerstörung

 Auf die Westöffnung Peters I. und Katharinas II. folgt wie ein Donnerschlag der Feldzug Napoleons gegen Russland. Deutlicher als mit diesem Feldzug, der im russischen Winter von 1812 steckenblieb, konnte der Welt nicht mehr vorgeführt werden, dass Russland mehr war als nur Europa und wie weit sich Russland und der Westen inzwischen voneinander entfernt hatten. Napoleons Rückzug war nicht nur ein Rückzug Frankreichs, es war ein Rückzug Europas. Nur eins dazu: Mehr als die Hälfte des 500.000 Mann starken napoleonischen Heeres waren Mannschaften aus den von Napoleon besetzten Gebieten Europas.

Der Niederlage Napoleons folgte auf dem Fuße ein Vorstoß Russlands nach Westen. Auf dem Wiener Kongress von 1814, bei dem es um eine Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons gehen sollte, genauer, um die Wiederherstellung der von Napoleon zerstörten dynastischen Ordnung, war der russische Zar Alexander I. neben dem Vertreter Habsburgs, Fürst Metternich, die führende Stimme der Restauration. Sein im Zuge der „Heiligen Allianz“ unternommener Versuch die Auswirkungen der französischen Revolution zurück zu kämpfen warf den Schatten einer tiefen orthodoxen der Reaktion auf Europa.  

Der Schlagabtausch, der mit Napoleons endgültiger Niederlage  bei Waterloo 1816 endete, war das Vorspiel für die Konfrontationen des darauf folgenden Jahrhunderts, in denen die von Europa ausgehende Expansion über See und die von Moskau ausgehende territoriale Expansion an den Rändern Eurasiens, zum Beispiel in Afghanistan aufeinanderprallten, ergänzt durch Konfrontationen im süd-europäischen Raum, in dem Russlands panslawistische Ambitionen auf westeuropäische Grenzen stießen. Es entstand das, was uns bis heute unter dem Stichwort des ‚great game‘ begleitet und was sich in dem Jahrhundert der zwei Weltkriege entlud, die sich 1914 – bis 1918 und noch einmal 1939 bis 1945 im Kern um Verschiebungen der ins Globale gewachsenen Konkurrenz zwischen den von Europa und Russland ausgehenden Einflusszonen drehten.  

Einige Aspekte dieser konfrontativen Zeit, die Beziehung Europas zu Russland betreffend, fallen von heute aus besonders ins Auge:

Das ist vor allem die schon erwähnte Unterstützung der Oktoberrevolution durch den Westen im Zuge des 1. Weltkriegs, konkret durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und eine Gruppe russischer Revolutionäre in plombierten Waggons nach Russland einschleuste,  mit dem klaren Ziel den Zarismus zu stürzen und Russland damit zur Kapitulation zu zwingen. Anschließend bekämpfte der Westen die Ergebnisse der Revolution, um eine sowjetische Staatenbildung zu verhindern. Heute würden wir diesen Vorgang glatterdings einen ‚Regime change‘ nennen.

Aber wenn der Sturz des Zarismus, die Konfrontation mit westlichem revolutionären Gedankengut, nicht zuletzt mit dem Atheismus der Revolution Russlands Identität auch ins Herz traf, zerstörte Europa sich in diesem  Krieg doch andererseits selbst, während die von Russland, der entstehenden Sowjetunion sich ausbreitende kommunistische Internationale sich in der Gegenbewegung zu dem von Europa ausgegangenen Zersetzungsversuch praktisch über die gesamte westliche Welt verbreitete. Man ist versucht von einem paradoxen Vorzeichenwechsel zu sprechen: Russland übernahm den westeuropäischen Zivilisationsstrom der Desintegration in Gestalt einer modernen Einheitspartei, in den Westen floss in einer unaufhaltsamen Gegenbewegung der Strom des russischen Integrierens und Kollektivierens in Form einer Vielzahl kommunistischer Parteien hinein. Die Folge war, einfach gesagt, ein die Fronten übergreifendes Identitätschaos – in dem Atheismus und Orthodoxie sich zu monströsen Dogmatismen überkreuzten.

Im zweiten Weltkrieg versuchen die westlichen Alliierten – Hitler benutzend – den aus der Oktoberrevolution erwachsenen Einfluss der Sowjetunion/Russland wieder zurückzuschlagen. Hitler hatte sich einbilden können, England werde seinem Vorgehen gegen Russland stillschweigend zusehen. Aber anders als geplant, ging nicht Russland, sondern Europa in diesem Krieg zugrunde: Europa wird geteilt, West-Europa, Westdeutschland werden Satelliten der USA. Russland, die Sowjetunion dringt bis nach Mitteleuropa vor. Die Welt ist geteilt – bis die Sowjetunion 1991 implodiert und die USA als „einzige Weltmacht“ übrigbleiben, vorläufig jedenfalls, solange ihr keine neuen Rivalen erwachsen. 

 

Ergebnis im Rückblick:

Aus dem ursprünglich gemeinsamen Strom der beiden Kolonialmächte Europa und Russland wurde die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts:

  • Europas Expansion der Vielfalt explodierte:

Nach seiner Selbstzerstörung in dem zurückliegenden Weltkrieg des 20. Jahrhunderts (1. – und 2. Weltkrieg) braucht und sucht Europa heute eine neue nachkoloniale und nachnationale Identität und Form.  Die gegenwärtige Europäische Union ist eine Übergangserscheinung, bei der die Frage entsteht: was ist der Mitteleuropäische Raum in diesem ganzen Konzert.

  • Russlands Expansion des Sammelns implodierte:

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion braucht/sucht Russland heute eine post-expansive Identität als Entwicklungsland neuen Typs, in dem westliche Standards und durch den Sowjetismus gebrochene Tradition eine neue Verbindung suchen. Russlands gegenwärtige autokratische Form ist eine Übergangserscheinung.

  • Die USA übernahmen das Ruder der Weltentwicklung:

Sie haben ein erklärtes Interesse daran, die Verbindung eines erneuerten Russland mit einem erneuerten Europa, insonderheit Deutschlands als tragender Mitte Europas, zu verhindern.  

Aktuell tritt jetzt noch China als neue Größe vom Osten her in diese Konstellation mit ein.  Weitere Mächte melden ihre Ansprüche zur Teilhabe an. Es entsteht etwas, das als multipolare Weltordnung bezeichnet wird, bei dem aber vollkommen unklar ist, was die geistige Substanz dieser Weltordnung ist. Ohne verbindende Sinngebung droht diese Entwicklung in eine erneute Ost-West-Spaltung zu führen, jetzt lediglich ins Globale erweitert. Um es klar, und vielleicht auch ein bisschen provokativ zusammenzufassen: So wie Russland und Europa die Welt arbeitsteilig kolonisiert haben, so ist jetzt  die Zeit gekommen, sie ebenso arbeitsteilig unter Einbeziehung der inzwischen gewachsenen Außenflanken, China, und die USA zu transformieren.

 

Aber wie?

Wie kann es gelingen, die verschütteten Impulse der europäisch-russischen Beziehungen wieder freizulegen, sie miteinander in Austausch zu bringen, statt sie unerkannt, ins Lähmende oder ins Globale eskaliert, weiter gegeneinander wirken oder gar wüten zu lassen, nachdem die Versuche einer neuen Völkerordnung nach 1918 ebenso wie die russische Revolution damit in der Vergangenheit gescheitert sind und auch gegenwärtige Annäherungen jetzt wieder zu scheitern drohen?  

Ein interessanter Ansatz dazu lässt sich in einem Vortrag von Rudolf Steiner finden, dem Begründer der anthroposophischen Gesellschaft, den er zum Jahreswechsel 1918/1919 hielt, also noch unter dem unmittelbaren Eindruck des 1. Weltkrieges. Er spricht von drei Kulturströmungen, die sich aus den Tiefen des vorchristlichen Altertums entwickelt hätten. Deren Wirken müsse offen gelegt, verstanden und in neue Beziehung zueinander gebracht werden, so Steiner, wenn man das heutige Chaos und die heutige Entwicklungsdynamik verstehen wolle. Als die drei Strömungen benannte er:

  • Den aus dem Orient über Mesopotamien kommenden griechischen, christlichen Strom, der sich am Ende im russisch-slawischen Raum in besonderer Weise entwickelt und bewahrt habe.
  • Den aus Ägypten über Rom kommenden rechtlichen, politischen Strom, der sich über den ursprünglichen orientalischen gelegt und sich wesentlich in Mitteleuropa in der Herausbildung der Emanzipation des Einzelnen und rechtsstaatlicher Vorstellungen ausgeprägt habe.
  • Den später aus dem Norden kommenden pragmatisch, wirtschaftlichen Strom, der sich in der englisch-amerikanischen Welt entwickelt habe, der aber als jüngster Strom noch nicht voll ausgebildet sei.

Diese Grundströmungen, seien heute nicht mehr in Klarheit erkennbar, so Steiner weiter, sie  hätten sich auf dem  Weg durch die Geschichte zu einem chaotischen Knäuel einer geistlosen Zivilisation verwickelt, verfälscht und zum Teil pervertiert. Sie unter ihren Verformungen in ihrer jeweiligen Wertigkeit zu erkennen und im Zuge einer Entzerrung des heutigen sozialen Lebens nach geistigen, politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten, Steiner spricht von einer Dreigliederung des sozialen Lebens, so miteinander in Beziehungen zu bringen, dass die konfliktstiftende Dominanz des Ökonomischen überwunden werden könne, sei das Gebot der Zeit. Das habe der Krieg, der aus eben dieser Dominanz des Ökonomischen entstanden sei – um es mit Worten von heute zu sagen – der Menschheit nachhaltig vor Augen geführt.

Man muss kein Anthroposoph sein, um die Wahrheit dieser Aussagen zu erkennen und um weiter zu erkennen, dass wir seit dem ersten Weltkrieg ein weiteres Jahrhundert der „Verknäuelung“ und Nivellierung erlebt haben und im Zuge der Globalisierungskrise heute weiter erleben. Klar ist auch, wie sehr Europa und Russland – nämlich zentral, gewissermaßen als Kern, um die das Knäuel aufspult ist – in dieses Knäuel verwickelt sind:

  • Die Gemeinschaftskräfte Russlands kommen mit den vom Westen ausgehenden Modernisierungen unter existenziellem Druck. Er führt einerseits zu einer von Russland ausgehenden Hyperindividualisierung, lässt aber zugleich starke Tendenzen der Abschottung entstehen. In der Politik führt das dazu, dass Russlands europäische Nachbarn Russland als unberechenbar fürchten.
  • Die emanzipatorischen Impulse Europas verkehren sich zusehends in soziale Isolation, während sie zugleich einen aggressiven Export menschenrechtlicher Ideologie hervorbringen; der wird von Russland angesichts der realen Politik der Europäischen Union als hohl und übergriffig erlebt.
  • Die globalisierte Ökonomie bringt statt einer am Menschen orientierten Wohlfahrt, was ihre Aufgabe und Möglichkeit wäre, zunehmende Konfliktpotentiale und soziale Gewalt hervor.

Was könnte eine Besinnung auf die von Steiner genannten Kulturströmungen in der heutigen Situation für Europas Beziehung zu Russland also bedeuten?

  • Ganz sicherlich keine fraglose Unterordnung unter die Dominanz einer bloß ökonomisch orientierten Globalordnung nach amerikanischem Muster – auch dann nicht, wenn diese Ordnung in Zukunft unter anderen Namen, etwa dem chinesischen auftreten sollte. 
  • Ganz sicher keinen romantischen Rückfall auf den Traum von einem ungeteilten christliches Europa nach Art der deutschen Romantik oder gar auf eine von Europa und Russland gemeinsam gebildete eurasische Achse, die versucht ihre durch die Teilung verlorene abendländische Dominanz wiederherzustellen.    
  • Ganz sicher aber auch nicht den isolierten Rückzug auf eine „russische Idee“ oder eine „europäische Idee“, die sich voneinander abgrenzen oder gar bekämpfen. Das liefe nur auf eine Beschleunigung der nationalistischen Tendenzen hinaus, die sich gegenwärtig in der Welt des „Amerika first“ abzeichnen.

Eine Notwendigkeit der heutigen Zeit ist aber sicher, und das mehr und dringender als noch vor hundert Jahren, die russische und die europäische Idee, wie jede andere nationale Idee, die zurzeit lebt oder noch neu entsteht, einschließlich der amerikanischen, vorurteilslos daraufhin zu untersuchen, wie sich die genannten kulturellen Grundströmungen in der heutigen globalen gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellen und wie eine von nationalen Beschränkungen befreite  Wechselwirkung von geistigem Leben, Politik und Ökonomie so gefördert werden kann, dass die Dominanz der Ökonomie relativiert, tendenziell überwunden werden kann, bevor die Notwendigkeit dazu durch eine weitere Weltkatastrophe bewiesen wird.

Europa und Russland könnten dazu, wenn sie sich auf ihre historischen Wurzeln besännen, in ihrem gegensätzlichen Aufeinander-Bezogen-Sein von individueller Emanzipation und gemeinschaftlicher Tradition einen entscheidenden Beitrag leisten, in dem ‚Herz‘ und ‚Kopf‘ miteinander und nicht gegeneinander wirken – allerdings ohne dabei, das ist zu betonen, die Ökonomie zu vergessen, ohne dabei aber auch zu erneuter Expansion oder Dominanz aufsteigen zu wollen. Anders gesagt, die Ökonomie, konkret auch der „american way of life“, einschließlich seiner chinesischen Variante,  muss nicht bekämpft, sondern in diese Entwicklung integriert werden, wenn sich ein lebendiger Austausch zwischen den Kulturen entwickeln soll, der an der Förderung des Wohles, der Selbstständigkeit und Freiheit des einzelnen Menschen orientiert ist.   

In diese Richtung nach vorn zu schauen, um zu sehen, wie russische und europäische Art sich gegenseitig anregen können, ist wohl die optimale heutige Variante.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Lindenblatt auf Putins Schulter – oder warum Putin auf Wahlkampfreisen geht

In Russland wird demnächst  ein neues Staatsoberhaupt gewählt.  Das neue wird das alte sein, Wladimir Putin. Das ist die allgemeine Erwartung, der man wohl zustimmen muss: Putin hat das Land stabilisiert. Er hat den Schuldendrachen besiegt, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seinen Klauen hielt. Er hat die Zinsgier des internationalen Kapitals zurückgewiesen, als er bei seinem Amtsantritt weitere Kredite des IWF und der Weltbank ablehnte und die Altschulden der Sowjetunion gegen den Widerstand der westlichen Banken beglich. Er hat die vielköpfige Schar der Privatisierungsgewinnler gezähmt, die sich aus dem Chaos der Ära Jelzins  erhoben hatten und sie im Konsens um sich zum Nutzen der Stabilisierung Russlands gruppiert. Im Krieg mit den Tschetschenen hat er verhindert, dass der Zerfall der Sowjetunion sich als Zerfall Russlands entlang seiner Vielvölkerstruktur fortsetzte. Er hat einen Stabilitätsfonds geschaffen, mit dem er zwei Krisen und drei Amtszeiten überstand. Alle oppositionellen Angriffe, berechtigt oder nicht berechtigt, sind an ihm abgeprallt, ebenso wie Versuche aus dem Ausland, ihn als neuen Stalin oder Hitler zu diffamieren.  Am Ende wuchs er sogar, wenn auch getrieben von wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, über den innenpolitischen Stabilisierer zum außenpolitischen Krisenmanager[1] empor, der mit China an einer neuen multipolaren Weltordnung baut[2], welche die USA in die Schranken weisen könnte. Die internationale Rating-Agentur Forbes setzte ihn kürzlich zum vierten Mal hintereinander auf Platz eins der einflussreichsten Menschen unserer Zeit.[3]

Kurz, dieser Mann scheint vielen seiner Landsleute und nicht nur diesen und nicht wenigen auch zu ihrem Ärger, unverwundbar wie seinerzeit Siegfried, nachdem er im Blut des von ihm erlegten Drachen gebadet hatte. Herausforderer, die mit ihm jetzt um das Amt des Präsidenten konkurrieren, haben keine Chance, ihn zu  besiegen, es sei denn, sie treffen ihn dort, wo einst Siegfried getroffen werden konnte, als ein Lindenblatt zwischen seinen Schulterblättern die Aushärtung des Drachenblutes verhindert hatte.

 

Die Riege der Konkurrenten

Betrachten wir Putins Konkurrenten. Da ist zunächst der „ewige Zweite“, wie er im Lande genannt wird, der Chef der „Kommunistischen Partei Russlands“ (KPRF) Gennadij Sjuganow. Er ist zwar soeben zugunsten eines neuen unverbrauchten Kandidaten der KP, Pawel Grudinin[4] zurückgetreten. Grudinin ist als erfolgreicher landwirtschaftlicher Unternehmer auch über die traditionellen Kreise der alten Riege der KPRF hinaus eine angesehene politische Figur, die für eine mögliche Erneuerung der KP steht. Aber auch der jüngere und weltoffenere Grudinin wird, mit der sklerotisierten KPRF im Schlepptau, nicht mehr als einen Achtungserfolg einfahren können.

Ähnliches, wenn auch vielleicht nicht gerade von Achtung die Rede  sein kann, kann man von dem Kandidaten der „Liberaldemokratischen Partei“ (LDPR), Wladimir Schirinowski[5] sagen. Er ist als provokativer Rechtsaußen ebenfalls Dauerkandidat bei Wahlen zur Präsidentschaft seit Beginn der nachsowjetischen neuen russischen Staatlichkeit. Meinungsumfragen, wie auch aktuell ‚gefühlte‘ Wahrnehmungen im Lande, die aus der Tatsache resultieren, dass die LDPR ein besseres ‚Händchen‘ für die Nöte der Bevölkerung zeige als die übrigen Parteien, besonders  die ‚Partei der Macht‘, „Einheitliches Russland“, geben ihm die Chance zur KPRF aufzuschließen. Eine ernste Konkurrenz für den Amtsinhaber wird aber auch er nicht werden.

Bleiben neben Grudinin und  Schirinowski noch Kandidaten und Kandidatinnen aus der zweiten Reihe, die nicht dem etablierten Parteiengefüge entstammen, sondern mit persönlichen Unterstützerkreisen antreten. Sie nehmen nach eigenen Aussagen durchweg allein deswegen an der Wahl teil, weil sie Putin nicht allein das Feld überlassen wollen. Keine/r von ihnen kann, sofern sie zur Wahl zugelassen werden, mit mehr als zwei, drei, höchstens fünf Prozent der Stimmen rechnen. Alles andere wären Überraschungen.

Da ist zunächst Grigori Jawlinski, ein aus der Zeit Jelzins übrig gebliebener Veteran der Liberalen, von dem kaum jemand noch etwas anderes erwartet als die Befriedigung von dessen persönlichen politischen Ambitionen. Weiterhin Oligarch Boris Titow, Chef der „Wachstumspartei“, als neo-liberaler Vertrauter Putins ein eher unglaubhafter Konkurrent. Weiter Anton Bakow, Unternehmer, Antikommunist,  Vorsitzender der Monarchistischen Partei der Russischen Föderation, der das Zarentum wieder errichten will. Sodann Maxim Suraikin, Chef der „Kommunisten Russlands“, einer seit 2012 begründeten Konkurrenzorganisation zur KPRF.

Dieses Mal sind auch einige Frauen dabei: Xenia Sobtschak, die Tochter von Putins Ziehvater Anatoly Sobtschak, dem verstorbenen Bürgermeister von St. Petersburg, parteilos, die sich mit ihrer Wahlkampfparole „Gegen alle“  allerdings von vornherein aus dem Rennen geschossen hat. Sodann Katja Gordon, Journalistin, Menschenrechtsaktivistin, die sich für Frauenrechte einsetzt und – unübersehbar im mehrfachen Sinn  des Wortes – Elena Berkowa, ehemalige Pornodarstellerin aus Murmansk, die in high-heels und Dessous posiert.

Als bisher Letzte  meldete Alina Gamzatova, Muslimin aus Dagestan ihre Kandidatur an. Als Ziel gab sie an, ihr gehe es nicht darum mit Putin zu konkurrieren, sondern die radikalen Islamisten in ihrer Republik zu bekämpfen.[6]

Offen ist, ob Michail Prochorow, Unternehmer und Sergej Mironow, Vorsitzender der Partei „Gerechtes Russland“, die 2012 mit zur Wahl standen, auch dieses Mal antreten werden und ob sich noch weitere Kandidaten melden.

Der nach früheren Umfragen und umtriebigen Aktivitäten möglicherweise aussichtsreichste Konkurrent, Alexei Nawalny, der sich in den letzten Jahren als ‚Korruptionsjäger‘ zu einer beachtlichen politischen Figur hinaufgearbeitet hat[7], wurde auf Grund des gegen ihn verhängten Urteils wegen Unterschlagung Ende Dezember von der Wahl ausgeschlossen. Er versucht jetzt eine Wahlboykottkampagne im Land in Gang zu setzen.

So wie die anderen mit ihrer Kandidatur, hat Nawalny allerdings auch mit seinem Boykottaufruf keine Chance Putins Wiederwahl ernsthaft in Frage zu stellen. Erst recht wird er kaum so etwas wie einen russischen Maidan inszenieren können, wie es sich nicht wenige westliche Beobachter erhoffen.[8] Wird doch seine aktuelle Kampagne selbst von Putins Intimfeind Michail Chodorkowski abgelehnt, der die russische Bevölkerung aufruft, für jeden „annehmbaren Kandidaten“ zu stimmen, nur nicht für den „vorherbestimmten Gewinner“.[9]

Werfen wir einen Blick auf die Marge, an der Putins Herausforderinnen und Herausforderer sich messen lassen müssen: Lässt man die vorangegangenen Wahlen beiseite, die abgesehen von Putins Einstieg im Jahr 2000 mit 52,94% der Stimmen, mit ihren hohen Werten von 71,31% für Putin 2004, mit 70,88% für seinen Ersatzmann Dimitri Medwedew 2008 schon außerhalb des politischen Horizontes von heute liegen, dann kann auch die Präsidentenwahl von 2012, an der sich 65 Prozent der russischen Wahlberechtigten beteiligten, schon eine Ahnung davon geben, welchen Abstand Putins Konkurrenten aufzuholen hätten, wenn sie ihn jetzt im Amt des Präsidenten ablösen wollten: Putin kam 2012  auf 64,35 Prozent der Stimmen, Sjuganow auf 17, 38, der liberale Oligarch Prochorow auf 8,00, Schirinowski  auf 6,30, der eher linke Konservative Sergei Mironow auf 3,90 Prozent. Weitere Kandidaten, u.a. Jawlinksi, waren erst gar nicht zur Wahl zugelassen worden.[10]

Bei einer Umfrage vom April 2017, wen die Menschen zu dem Zeitpunkt der Befragung wählen würden, entschieden sich 48% für Putin, je 3% für Sjuganow und Schirinowski; alle anderen blieben bei einem Prozent.[11]

 

Vorsprung mit Einschränkungen

Der Vorsprung Putins ist offensichtlich. Aber etwas, nur eine Kleinigkeit, wie es scheinen mag,  ist dieses Mal anders: Dieses  Mal könnten mehr Kandidaten auf der Liste stehen als 2012. Zwar mindert das nicht den Vorsprung Putins vor allen anderen Bewerbern und Bewerberinnen, aber alle anderen zusammen könnten die Zustimmungsrate zu Putin unter das Niveau senken, das die russische Führung mit der Zielmarke 70/70[12], soll heißen, bei 70 prozentiger Wahlbeteiligung 70 Prozent der Stimmen für Putin, vorgeben möchte.

Und noch etwas ist neu: Erstmals traten in den vorangegangenen Kommunalwahlen vom September  2017 in Moskau jüngere Kräfte auf einer Liste an, die nicht aus der Konkursmasse der Alt-Liberalen à la Jawlinksi oder aus den Reihen der provokativen Parteigänger des ermordeten Boris Nemzow, aber auch nicht aus der Spur Nawalny´s hervorgingen. Sie fanden vielmehr in der praktischen Selbstorganisation auf Bezirksebene zusammen.

Der Initiator der Liste, ein ehemaliger Abgeordneter der Moskauer Duma, Dimitri Gudkow schaffte es, unter dem Motto „unabhängige Kandidaten“ die zerstrittenen oppositionellen Kräfte von unten  her zu bündeln und zu einem beachtlichen Erfolg zu führen, auch wenn Nawalny, wie der ‚Spiegel‘ anmerkt, „es nicht fertig brachte, Gudkow und seinem Team zu gratulieren.“[13]  Bei insgesamt 1502 kommunalen Abgeordneten brachte die Liste 262 Kandidaten in die Moskauer Kommunalvertretungen ein. Sie wurden damit zur zweiten  Kraft neben den kommunalen Vertretern der bisher unangefochten herrschenden Partei „Einheitliches Russland“, welche die  Mehrheit im kommunalen Bereich hält.

Gudkow hält sich bereit, als Kandidat zu der für 2018 anstehenden Bürgermeisterwahl in Moskau anzutreten. Die Vorgänge in Moskau könnten Initiator für eine von unten entstehende, echte Opposition in anderen Großstädten Russlands werden.[14]   

Dies alles, der Andrang von Kandidaten und Kandidatinnen, die Putin nicht besiegen, aber einengen wollen, der Boykottaufruf Nawalny’s, die Botschaft, die von dem Erfolg der Opposition in den Moskauer Wahlen ausgeht, macht erkennbar, warum Putin, obwohl sein Wahlsieg absehbar ist und er sich ruhig zurücklehnen könnte, um die Ergebnisse abzuwarten, dennoch den aktiven Wahlkampf betreibt, bei dem er gegenwärtig zu beobachten ist. Vorzugsweise will er vor jugendlichen Auditorien, in Betrieben, generell mit sozialen Themen und erklärtermaßen als unabhängiger Kandidat auftreten.[15] Bezeichnend dafür ist, wie er die Ankündigung seiner Kandidatur vor 15.000 Jugendlichen des 2015 nach der Übernahme der Krim in den russischen Staatsverband ins Leben gerufenen „Allrussischen Freiwilligenforums“[16], in der Jugendliche sich für Flüchtlingshilfe und Katastrophenschutz einsetzen, und gleich danach vor Veteranen und Arbeitern des Autowerks GAZ in Nischni Nowgorod inszenierte. Zwar lässt er sich von der Partei „Einheitliches Russland“ unterstützen, ist aber sichtlich bemüht, sich von deren schlechtem Image als ‚Partei der Macht‘ abzusetzen, der von der Bevölkerung die Verantwortung für Bürokratismus,  Korruption und sinkendes materielles Lebensniveau angelastet wird.

Einfach gesagt, es geht nicht darum, ob Putin für eine vierte Amtszeit gewählt wird, sondern wie. Mit einem Ergebnis, das deutlich unter seinem bisherigen Ranking und den Zielvorgaben für die kommende Wahl bliebe, bekäme Russland zwar keinen neuen, aber einen geschwächten Präsidenten. Damit tritt das Lindenblatt auf Putins Schultern deutlich hervor: Es heißt Legitimation. Ohne einen eindeutigen neuen Vertrauensbeweis, der erkennbar über den 52, 94 Prozent aus seiner Antrittswahl 2000 liegt, wenn schon nicht über der 70ger Marke der Wahlen von 2004 und 2008, wird er die kommende Legislaturperiode nicht ohne Entstehung innerer Unruhen bewältigen können.

 

Die Last der Stabilität…

Es ist ja eine widersprüchliche, wenn nicht gar eine fatale Situation, in der Putin sich befindet: Die Stimmen, die ihn erneut ins Amt des Präsidenten führen sollen, wenn alles so läuft, wie zur Zeit absehbar, erhält er für seinen siebzehnjährigen Stabilitätskurs, der ihn zum unersetzbaren Kapitän auf dem russischen Schiff hat werden lassen, ohne den nichts läuft. Erhält er den gewünschten Zuspruch, selbst wenn nicht ganz in gewünschter Höhe, kann er ihn durchaus als Aufforderung zur Fortsetzung seines bisherigen Kurses annehmen. Zugleich ist aber  klar, dass er den Kurs angesichts wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die seine dritte Amtszeit seit der Krise 2014/2015 begleiten, nicht zuletzt der Verschuldung, die das Land jetzt wieder eingeholt hat, nach der Wahl nur halten kann, wenn es ihm gelingt, den Impuls der Modernisierung zu erneuern, mit dem er im Jahr 2000 angetreten ist – und wenn er sich zugleich der Lösung der überfälligen sozialen Fragen zuwendet.

Nach Lage der Dinge, die durch seinen autoritären Führungsstil entstanden ist, bedeutet das, eine Stabilität, die auf Basis eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber einem allmächtigen Zentrum, das heißt, Putin, zunehmend in Stagnation überzugehen droht, erneut in Bewegung bringen zu müssen. Es bedeutet privates Unternehmertum wieder von staatlicher Bevormundung zu befreien, private unternehmerische Aktivitäten wie auch generell Initiativen der Selbstorganisation von der Basis der Gesellschaft bis in die Verwaltungsorgane hinein nicht nur wieder zuzulassen, sondern zu fördern, ohne dabei die Autorität des Zentrums, seine eigene Machtbasis zu schwächen.

Zugleich muss Putin aber Korruption und Eigenmächtigkeiten von Gouverneuren, Oligarchen, bürokratischen Korruptionsgemeinschaften, die ihren eigenen Interessen zum Schaden des Landes nachgehen, die Kapital angesichts der Erosion des Modernisierungskurses zunehmend „off shore“ auslagern, aktiv, ggfls. sogar repressiv an die Leine nehmen, dabei aber vermeiden, von einer autoritären Modernisierung in eine Diktatur abzugleiten. Die massiven Umbesetzungen leitender Posten, die in letzter Zeit im russischen Machtapparat vorgenommen wurden, lassen das Ausmaß dieses Problems erkennen.[17]

Paradox formuliert, muss Putin autoritäre Wege einschlagen, um eine autoritäre Erstarrung der politischen Strukturen wieder in Bewegung zu bringen. Das ist eine Aufgabe, die nicht ohne Widerstände durchführbar ist.

Zugleich muss es ihm gelingen, die im Zuge der Konfrontation mit dem Westen seit der Krise 2014/15 gewachsenen, aber vernachlässigten sozialen Probleme mit Blick auf Befriedung einer unruhig werdenden Bevölkerung aufzugreifen. Das Land ist gespalten in eine superreiche Oberschicht, eine kleine konsumorientierte Mittelschicht und eine große Mehrheit von Menschen, die heute nur knapp über der Armutsgrenze leben, heute erkennbar knapper als in den Aufbaujahren nach 2000, als der Öl-Preisboom der Regierung eine lockere Sozialpolitk ermöglichte, welche die vom Zusammenbruch der Union gebeutelte Bevölkerung zu befrieden vermochte.

Zunehmende lokale und überregionale Proteste im Lande sind ein deutlicher Ausdruck dieser veränderten Lage im Lande – das sind Aktivitäten der Transportarbeiter gegen die Einführung eines Mautsystems, das ihre Selbstständigkeit stranguliert. Das sind verzweifelte Bauernproteste gegen Landraub und Korruption durch eine kleptokratische Landoligarchie. Es sind lokale Lohnkämpfe, Mieterproteste gegen korrupte Spekulation mit Immobilien und Bauprojekten zu Lasten der Wohnung suchenden Bevölkerung, es sind Unruhen im Bildungsbereich, Mängel im Gesundheitswesen und in der Justiz usw., von den Zuständen in Sozialhilfestationen oder gar Gefängnissen ganz zu schweigen.[18]

 

… aber kein russischer Maidan

Ein russischer Maidan, wie manche im Westen unken, wird sich daraus allerdings zurzeit kaum entwickeln. Das muss hier noch einmal betont werden: 94 % der Bevölkerung erklärten bei einer entsprechenden Umfrage im März 2017, dass sie eine solche Entwicklung wie in der Ukraine nicht für möglich halten.[19] Auftritte Putins, bei denen er vor ‚Unruhestiftern vom Schlage Saakaschwilis‘ warnt, sind zurzeit eher als Wahlkampfagitation einzuordnen. Vor dem Hintergrund, dass die Ukraine Saakaschwili zum Agenten Moskaus stempeln will, sind sie möglicherweise auch noch als Botschaft an die Ukraine zu verstehen, dass Russland mit Saakaschwili nichts zu schaffen habe.

Dass hinter der aktuellen Wahlkampfagitation Putins selbstverständlich die innenpolitischen Strategien stehen, auf die Putin und sein ’Kommando‘ gegebenen Falles bereit sind zurückzugreifen, wenn sie es für nötig halten möglichen inneren Unruhen zu begegnen, ist ebenso klar. Nach den Vorgängen in der Ukraine 2014 liegt das Schwergewicht russischer Sicherheitsstrategien bis hinauf in die 2017 vorgelegte  neue Version darauf, mögliche Unruhestiftung von außen nach dem Muster des Kiewer Maidan präventiv zu verhindern und gegebenen Falles repressiv zu ersticken. Eine Nationalgarde, die dem Präsidenten direkt unterstellt ist, steht seit ihrer Gründung 2016 für solche Fälle bereit. [20]

Zurzeit aber, um darauf zurück zu kommen, geht es um mögliche Reformen. Beide Aufgaben, ein erneuter Privatisierungsschub zum einen, verbunden mit sozialen Einschnitten, dirigistische Maßnahmen zur Disziplinierung der Wirtschaft zum anderen, verbunden mit einer Sozialpolitik im Interesse der  Mehrheit der Bevölkerung stehen konträr zueinander. Der ungelöste Widerspruch ist geeignet, den bisherigen Konsens Putinscher Politik, in welcher der Präsident als oberster Wächter einer halb liberalen, halb autoritären Politik Balance hielt, platzen zu lassen.

Wenn das bisher noch nicht geschehen ist, ist das der Tatsache zu verdanken, dass diese Schwierigkeiten, angesichts der empfundenen Bedrohung des Landes durch äußere Mächte sowohl in den oberen Etagen, als auch an der Basis der Bevölkerung bisher als notwendig und unvermeidlich für die Verteidigung der Sicherheit des Landes hingenommen wurden. Die Eingliederung der Krim, die erfolgreiche Kriseneindämmungspolitik Putins in Syrien, Russlands neue Rolle als Weltmacht im Verbund mit China haben dem durchlässig gewordenen wirtschaftlichen begründeten Konsens aus den Anfangsjahren der Putinschen Ära noch einmal einen neuen, einen politischen Halt in der gemeinsamen Abwehr der äußeren Feinde verliehen. Zugleich belasten die enormen Kosten, welche die außenpolitischen Einsätze nach sich ziehen, auch diesen Konsens zunehmend. Länger ist deshalb eine Reform, die sich den seit 2014 gewachsenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsproblemen zuwendet, auch durch weitere außenpolitische Erfolge nicht mehr oder nur unter der Gefahr von Illoyalität in den Führungsetagen und zunehmenden sozialen Unruhen in der Bevölkerung aufzuschieben.

 

Polare Programme 

Eine Ahnung von der Zerreißprobe, die Russland bevorsteht, lassen die Programme erkennen, die im Vorfeld der Wahlen, zuletzt auf dem Wirtschaftsforum im Juni 2017, öffentlich diskutiert wurden. Sie sind verbunden, um in aller Kürze nur die Extreme zu nennen, mit den Namen Alexei Kudrin zum einen und Sergei Glasjew zum anderen. Beide sind informelle, aber enge Berater Wladimir Putins.

Kudrin, von 2000 bis 2011 Finanzminister, ist Träger der Modernisierungspolitik Putins aus den ersten beiden Amtsperioden. Nach vorübergehendem Zurücktreten von diesem Amt, wurde er 2016 zum Vorsitzenden des Wirtschaftsrates beim Präsidenten ernannt. Putin beauftragte ihn, ein Programm für eine nach der Wahl 2018 einzuleitende Wirtschafts- und Strukturreform vorzulegen. Kudrin sieht die Lösung der Krise in einer radikalen neo-liberalen Öffnung der russischen Wirtschaft für den Weltmarkt auf vornehmlich privatwirtschaftlicher Grundlage. Sie soll den Modernisierungskurs aus den ersten Amtsjahren Putins wieder aufgreifen. Zur Ankurbelung wirtschaftlicher Gesundung schlägt Kudrin den Verkauf, also die Privatisierung von Staatsfirmen vor, allen voran die großen Öl- und Gaskomplexe. Dies alles soll von Einschränkungen staatlicher Sozialausgaben flankiert werden, allem voran durch Erhöhung des Rentenalters und Kürzung der Renten. Bildung und Gesundheit will Kudrin dagegen fördern; das liegt durchaus in der neo-liberalen Logik des Programms, denn diese Sektoren werden für eine effektive Modernisierung gebraucht.[21]

Dem Programm Kudrins steht das Konzept Sergei Glasjews gegenüber. Nach einem bewegten Lebensgang durch die konservative politische Landschaft Russlands, einschließlich vorübergehender Mitgliedschaft in der KPRF wurde Glasjew 2009 Leiter des Sekretariats des „einheitlichen Wirtschaftsraumes“ von Russland, Weißrussland und Kasachstan. 2012 ernannte Putin ihn zu seinem Berater für die Integration der eurasischen Wirtschaft. Glasjew fordert eine staatliche Regulierung, der Wirtschaft, genauer deren entschlossene Fortsetzung nach Regeln, die eher an sowjetische Strukturen und Methoden anknüpfen.

Schon 2014, gleich nach den Maidan-Ereignissen, hatte Glasjew mit einem Plan von sich reden gemacht, wie Russland auf die westlichen Sanktionen regieren solle: mit klaren dirigistischen Maßnahmen müsse der russische Staat, vertreten durch die russische Zentralbank, russisches Kapital aus dem Ausland zurückholen, statt sich westlichem Kapital weiter zu öffnen, wie Kudrin es vorschlage. Mit einer Politik der „Entdollarisierung“ müssten russische Guthaben auf Banken in neutralen Ländern außerhalb des NATO-Bereiches transferiert werden. Der radikalste Vorschlag Glasjews besteht darin, den russischen Schuldendienst gegenüber  internationalen Gläubigern angesichts der durch die Finanzsanktionen entstandenen, nicht einlösbaren Verschuldung Russlands einzustellen, das heißt, Russland, wenn die Sanktionszange weiter geschlossen gehalten werde, mit der Begründung, dass Zahlungsverkehr unter Sanktionsbedingungen ohnehin nicht möglich sei, praktisch für Bankrott zu erklären, gleichzeitig aber, die Finanzbeziehungen mit China zu stärken. Die Umsetzung dieser Vorschläge käme einer radikalen Abkoppelung Russlands vom Westen gleich.

Innenpolitisch fordert Glasjew eine harte Besteuerung der oligarchischen Superprofite, um damit ein soziales Sicherungssystem in Russland und den Schutz russischer Minderheiten in den ehemaligen sowjetischen Republiken aufzubauen. Das wäre eine Sozialpolitik vom Zuschnitt der KPRF.[22]

Putin hat sich bisher nicht entschieden, welcher Seite er den Zuschlag geben will, außer, dass er im Wahlkampf erklärt, sich in Zukunft den sozialen Fragen zuwenden zu wollen. So oder so stehen jedoch, wenn er das Amt des Präsidenten erneut antritt, Entscheidungen an, die die bisherige politische Konstellation ablösen werden, in der Putin als ‚Zar‘ über den unterschiedlichen Fraktionen der Gesellschaft den überparteilichen, quasi neutralen Konsens halten konnte, in welchem Liberalismus und Traditionalismus, neo-kapitalistisches Laissez faire und rigide Staatskontrolle des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens einander die Waage hielten. Das Wahlergebnis wird den Ausschlag geben, wofür Putin sich entscheidet, wie das neue ‚Kommando` im und um den Kreml herum aussehen, nach welchen Regeln es arbeiten wird – und welche Veränderungen für Russlands Zukunft aus dieser  Entscheidung folgen werden. Vorab verbietet sich jede Spekulation.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zwei Bücher zum Thema:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte Entwürfe, 2005. Knapper Blick auf Russland nach dem Antritt Putins 2000, 85 Seiten.

Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg,  2014/5. Band I: Gorbatschow und Jelzin, Band II: Putin, Medwedew, Putin

Authentischer, chronologisch verfolgbarer Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika und im heutigen Russland.

Weitere Titel unter: www.kai-ehlers.de

Eine interessante Bearbeitung des Textes findet sich unter http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/das-lindenblatt-auf-putins-schulter-oder-warum-putin-auf-wahlkampfreisen-geht

 

[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Globales Zwischenhoch:  Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum? https://test.kai-ehlers.de/2016/06/globales-zwischenhoch-putin-krisenmanager-chande-oder-irrtum/

[2] Siehe dazu:  Kai Ehlers, „Globaler Farbwechsel –Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien.  https://test.kai-ehlers.de/2017/12/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien/

[3] The guardian, 14.12.2016

[4] Sputnik news, 26.12.2017

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wolfowitsch_Schirinowski

[6] rt deutsch, 03.01.2018

[7]Kai Ehlers: „Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki.  https://test.kai-ehlers.de/2017/08/was-kommt-nach-putin-kai-ehlers-im-gespraech-mit-boris-kagarlitzki/

[8] Dazu diverse Internetberichte 25. Und 26.12. 2017

[9] rt deutsch, 25.10.2017

[10] Alle Zahlenangaben nach Wikipedia: Präsidentschaftswahlen in Russland 200,2004,2008, 2012

[11] Dazu Daten in Russland Analysen, 334 vom 12.05. 2017, S. 18

[12] Epoch times, 27.03.2017

[13] Spiegel Online,  11.09.2017

[14] Siehe dazu: Russland Analysen 340 vom 22.09.2017S. 2 ff

[15] Russland news:  http://www.russland.news/putin-gab-seine-kandidatur-fuer-das-amt-des-praesidenten-bekannt/

[16] Siehe dazu :Russland Analysen 291 vom 27.02.2015, S.15

[17] Siehe dazu: Russland Analysen 334 vom 12.05.2017, S. 10 ff, Stichwort: „Elitenwechsel“

[18] Siehe dazu: Russland Analysen 333 vom 31.03.2017

[19] Ebenda, Grafiken S. 18 ff

[20] Siehe dazu: „Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich“ auf der Website von Kai Ehlers: https://test.kai-ehlers.de/2017/12/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

[21] Siehe dazu u.a.: Spiegel Online, 3.06.2017

[22] Siehe dazu: diverse Einzelberichte unter dem Stichwort: der Glasjew-Plan,

    außerdem: Peter W. Schulze, Wohin steuert Russland mit Putin? Campus, 2004, S. 172 ff.

 

Revolution oder Revolte (jetzt auf deutsch)

Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie Du mit Deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semi-kapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie Du ihn nennen würdest bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die ‚Verdammten dieser Erde‘ heute eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland in dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?

Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht Deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun. Dieser Mangel ergibt sich aus objektiven Bedingungen, nicht aus unseren politischen Überzeugungen. Gleichgültig, was wir oder Leute wie wir in den 1980er-Jahren dachten: Sozialismus oder Revolution hatten damals keine Chance. Als wir glaubten, dass eine theoretisch hergeleitete Alternative wesentlich sei, hatten wir Unrecht. Alternativen haben in der Vergangenheit niemals Revolutionen hervorgebracht und werden das auch in der Zukunft niemals tun. Im Gegenteil: Nur andauernde Revolutionen bringen reale (nicht falsche, utopische oder imaginierte) Alternativen hervor.
Es ist seltsam, dass Du Russland »semi-kapitalistisch« nennst. Was ist falsch am russischen Kapitalismus? Warum soll ein russischer Oligarch ganz anders sein als ein amerikanischer, deutscher oder peruanischer? Das Weltsystem integriert alle Länder, und es gibt spezifische Nischen für die deutsche verarbeitende Industrie wie für russische, lateinamerikanische oder saudische Ökonomien, die den globalen Kapitalismus mit Rohstoffen und anderen Ressourcen versorgen. Dies macht die Kapitalismen jeweils besonders. Aber dieses Modell der Arbeitsteilung, das im Neoliberalismus entstand, ist nun in einer Krise, die uns über Kriege und Revolutionen in eine andere, sich radikal von der gegenwärtigen unterscheidenden Gesellschaft führen wird.
Der ökonomische Zerfall ist die Ursache der Krisen, die wir rund um uns herum erleben, einschließlich des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der wenig zu tun hat mit Demokratie oder Nationalismus. Trump, Brexit, Nawalny, der Krieg im Donbas und die Kapitulation von Syriza in Griechenland, die unerwarteten Erfolge von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind nur einige weitere Symptome dafür. Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten? Sowohl als auch. Viel hängt davon ab, wie wir entstehende Möglichkeiten nutzen und die Gefahren meistern, die auf uns zukommen.

Kai Ehlers: Zweifellos stehen wir am Beginn einer globalen Krise des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Form. Ich meine auch, dass Russland Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft ist – allerdings auf eine spezifische Weise, die Du als »peripher« bezeichnest, die ich als »hybrid« beschreibe. Wir sind uns auch einig, dass Erscheinungen wie Trump, Brexit, sogar Syrien etc. Symptome einer Entwicklung sind, die uns zu einer völlig anderen Gesellschaft führen wird.
Aber was meinst Du damit, wenn Du sagst, dass viel von unserem Handeln abhängt? Also was nun: Hängt ein Prozess, der objektiv abläuft, dennoch vom subjektiven Eingreifen ab? Wenn Revolutionen nicht von erdachten Alternativen erzeugt werden, sondern von objektiven Prozessen, mehr noch: wenn Alternativen erst von diesen Prozessen erzeugt werden – dann müssen wir klären, wie dies geschieht, was unsere Rolle dabei ist, wer überhaupt dieses »Wir« ist.
Auch was Deine Einschätzung über Krieg und Revolution anbelangt, liegen wir vielleicht nicht auf einer Linie. Muss die globale Erhebung, die wir erwarten, notwendig mit einem globalen Krieg einhergehen? Sie ist sicherlich nicht mit der Französischen, Russischen oder irgendeiner früheren Revolution vergleichbar, die sich von einem Land aus in der Welt ausgebreitet haben. Und ein globaler Krieg ist heute nicht wie der Erste oder Zweite Weltkrieg als Nebeneffekt radikalen sozialen Wandels oder zu dessen Verhinderung führbar. Er würde beide Seiten – Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus etc. ebenso wie Ansätze sozialer Befreiung – in einem einzigen dreckigen Aufwasch zerstören.
Natürlich haben wir heute eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt: lokale Proteste und Revolten, verschiedene Arten des Terrorismus, die von den Härten der Endphase des Kapitalismus hervorgebracht werden. Das ist der aktuelle Prozess, von dem Du sprichst. Aber bisher führt er nicht zu dem einen großen Knall, der einen globalen Revolution oder dem einen globalen Krieg, sondern radikalisiert sich Stufe um Stufe. Und solange dies so ist, kann es nicht unsere Rolle sein, mit aller Kraft Revolten anzuheizen, wie es gerade ein paar vereinzelte Militante, aus deren Sicht Gewalt eine ausreichende Botschaft darstellt, beim G20 in Hamburg versucht haben. Wir müssen Wege und Bilder zeigen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können und wie diese aussehen könnte.
Und daher ist es wichtig, die Widersprüche und Unterschiede zwischen den kapitalistischen Staaten zu sehen, zwischen entwickeltem und peripherem Kapitalismus, zwischen Kulturen, bis hin zu verschiedenen Formen von Widerstand oder möglichen Alternativen für unterschiedliche Völker mit unterschiedlichen sozialen und historischen Hintergründen. Das gilt auch für die gegenwärtige russische Gesellschaft, die von der besonderen sowjetischen Geschichte und Strukturen der Dorfgemeinschaft geprägt ist, auch wenn diese heute vom Kapitalismus überlagert sind.
Ich bin mit Dir einer Meinung, dass Alternativen immer konkret sind. Doch brauchen sie eine Leitidee; keine geschlossene Ideologie, aber Gedanken und Visionen, wie das Leben sein könnte. Um dies auf unser Thema zu beziehen: Die Revolution der heute Ausgestoßenen wird nicht über Revolten oder schlimmstenfalls faschistische Tendenzen hinauskommen, wenn sie sich nicht statt auf bloßen Aufruhr auf Ideen einer humanen Zukunft stützt, die auf überlieferten Werten beruht.

Boris Kagarlitzki: Anscheinend sind wir immer noch auf eine Vorstellung von Revolution fixiert, wie sie der stalinistische »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)« präsentiert. Als wären die Bolschewiki, sagen wir 1916, bereits eine verankerte Kraft gewesen! Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung aber existierten sie tatsächlich nicht. Alternativen, die naheliegend schienen, hatten wenig mit dem zu tun, was dann tatsächlich geschah. Wenige Wochen, bevor Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ihre Kampagnen begannen, gab es sie politisch nicht. Und genau darin war ihr Erfolg begründet. Gegenwärtig haben nur Bewegungen, Anführer, Ideen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, Aussicht auf Erfolg. Alles, was da ist und sichtbar, ist entweder bereits oder wird schnell diskreditiert. Und das hat keine ideologischen Gründe, sondern liegt daran, dass nichts von dem, was innerhalb des Bestehenden unternommen wird, funktionieren kann. Das ist ein objektiver Vorgang. Für mich ist nicht relevant, ob die Leute den Neoliberalismus mögen oder nicht. Tatsächlich mochten sie ihn nie. Aber Privatisierung und Deregulierung kamen, weil sie funktionierten. Nicht für die Mehrheit, aber für die Eliten. Nun aber führt die neoliberale Hegemonie ins Nichts, weil das System seine Potentiale erschöpft hat. Es kann sich einfach nicht mehr reproduzieren, seine Erträge können nicht einmal mehr die herrschenden Klassen zufriedenstellen – und das ist es, was Leute wie Trump oder Nawalny hervorbringt.
Die Ironie heute liegt darin, dass uns nicht die Möglichkeiten fehlen, sondern die Ziele. Die Linke ist zu einer Gemeinschaft liberaler Intellektueller geschrumpft, die sich für Tierrechte, Schwule und Feminismus interessieren (aber nicht für die real existierenden Tiere, homosexuellen Paare oder Frauen aus der Arbeiterklasse). Die Linke hat sich vollständig von der Klassenpolitik entfernt; auch wenn sie sich der Klassenrhetorik bedient, so bleibt diese inhaltsleer. Ironischerweise sind es heute im Westen einige Teile der radikalen Rechten, die der Arbeiterklasse zuhören und – wenn auch verworren und inadäquat – versuchen, deren Alltagsinteressen zu vertreten.
In Russland ist im Moment die radikale Rechte sehr schwach. Das macht die Sache für die Linke einfacher. Unsere Aufgabe ist: eine neue Linke zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht eher wie die originale alte sein wird. Zurück zu den Vor-60ern, zu den 1920ern. Das klingt etwas nach der hegelianisch-marxistischen Negation der Negation. Aber überlassen wir das den Philosophen, wir müssen praktisch sein.
Wer sind »wir« heute? Als eine politische Kraft existieren wir noch nicht. Wir müssen uns selbst erschaffen. Mit sehr einfachen Gedanken – Gemeinwirtschaft, Regulierung, Wohlfahrtsstaat, demokratische Partizipation. Können wir auf das Erbe der Sowjetunion zurückgreifen? Ja, warum nicht! Nur sollten wir nicht versuchen, die Sowjetunion zurückzubringen. Das wäre unmöglich.
In dem großen Fundus von Ideen und Methoden, den die Linke lange Zeit besessen hat, können wir finden, was wir brauchen. Die aktuelle Ausgestaltung wird von der Situation und den aktuellen Bedürfnissen abhängen. Versuchen wir aber gar nicht erst, etwas Neues zu erfinden. Das hat keinen Sinn. Wir brauchen keine neuen Ideen. Wir haben ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die meisten haben sich als falsch oder nicht praktikabel erwiesen. Wir brauchen Politik. Das heißt nicht, eine Organisation aufzubauen, sondern Leute zu schulen, die in der Lage sind, bei Bedarf sehr schnell Strukturen aus dem Boden zu stampfen. Diese Arbeit wird schon heute und nicht ohne Erfolg geleistet. Die Politik wird kommen, wenn es eine Gelegenheit gibt. In einem Jahr, einem Monat, in einigen Wochen. Oder niemals.

Kai Ehlers: Nichts Neues erfinden: Ja! Schulung: Ja! Aber der Teufel steckt im Detail: was, wie und wann! Zuallererst müssen wir uns vor Augen führen, dass der Glaube an bloße Effizienz und wirtschaftliches Wachstum auf Basis von Konkurrenz die Menschheit in eine Krise geführt hat. Diese kann nur durch Kooperation in selbstgewählten Gemeinschaften überwunden werden, die sich, statt am alltäglichen Krieg aller gegen alle, an der kulturellen Entwicklung jedes menschlichen Wesens und jedes Volkes orientieren. Stichworte: Liebe, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sonst werden künftige Erhebungen nur das wiederholen, was wir heute haben – und zwar in einem schlimmeren Grad. Und was die Frage der sozialen Ertüchtigung anbelangt: lokal wie global, in der Organisation der Arbeit wie des Alltagslebens. Wir müssen Wege suchen, wie wir uns selbst, wie der wachsenden Zahl von Außenseitern körperlich, wie geistig helfen, uns und sich selbst als Individuen zu finden, »ich« sagen zu lernen, und ebenso als Kollektivmacht zu entfalten, die sich selbst in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen organisiert. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach dem Wann: Jetzt natürlich, immer jetzt, weil jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt. ‚Morgen‘ würde niemals bedeuten. Und jede Betätigung in diese Richtung ist, denke ich, eine Art von Vorbereitung. Jeder Revolution ging eine solche Vorbereitung voraus, bei der Bevölkerung, den Minderheiten, mit sozialer Fantasie und der Hoffnung auf etwas Besseres, die dazu beitrugen, die unvermeidliche Gewalt einzugrenzen. Und ich hoffe, dass es dies auch heute gibt.

Boris Kagarlitzki: Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Werte zu verkünden, während die andere Seite Politik gemacht hat. Wir müssen sehr konkret werden. Jeremy Corbyns Kampagne ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr Erfolg beruhte auf praktischen Vorschlägen. So moderat die meisten davon auch sind, wirken sie nach 30 Jahren Neoliberalismus doch radikal oder sogar revolutionär. Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen, den Öffentlichen Dienst wieder in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen, oder staatliche Investitionen, um Wachstum zu erzielen, wenn Marktanreize erschöpft sind: Das ist alles sehr einfach.
In Russland liegen die Dinge noch mehr auf der Hand. Eine große Mehrheit möchte Öl- und Gaskonzerne und andere Firmen, die die Oligarchen der Bevölkerung gestohlen haben, wieder verstaatlichen. Trotzdem kämpft keine politische Kraft für diese populären Forderungen. Warum? Weil das Volk selbst nicht für seine eigenen Interessen und Rechte eintritt. Das Problem liegt nicht bei der Linken – es liegt bei den Massen. Solange sie passiv bleiben, spielt es keine Rolle, welche Werte wir verbreiten. Die Frage ist, ob sie sich bewegen. Wenn nein, verdienen wir alle eine düstere Zukunft. Aber mir scheint ein Wendepunkt sehr nahe zu sein. In diesem Moment müssen wir die praktische Bedeutung unserer Ideen beweisen. Wenn sie hier und jetzt in ein konkretes Programm eingehen und in Handlungen, die zu einer Transformation führen, dann werden sie funktionieren, und unsere Existenz hat einen Sinn.

(Dieser Text erschien zuerst in „Melodie und Rhythmus“, Heft 4/2018)

(Eine ungekürzte englische Version auf der Website: www.kai-ehlers.de unter „Revolution or Revolt“

Siehe dazu auch: Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzky, Band I und II, laika diskurs 2013/14

 

Kleiner Service zur aktuellen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA vom Dez. 2017

Soeben stellten die US-Behörden ihren diesjährigen 68 Seiten umfassenden Bericht zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vor. Es wird niemanden verwundern, dass die Strategie ganz nach dem von Trump ausgegebenen Motto „Make Amerika great again“ und „America first“ ausgerichtet ist, dem internationale Abkommen ohne Rücksicht auf Folgen in der Praxis der Trump´schen Administration bereits untergeordnet wurden. Im Trumps mündlichem Vortrag gehen die wenigen inhaltlichen Inseln möglicher Kooperation zudem in einer Flut Trump´scher und Amerikanischer Größe unter. Ein paar Kernaussagen sollten jedoch nicht übersehen werden.

Im ersten Kapitel „Frieden erhalten durch Stärke“ heißt es:

„Eine zentrale Kontinuität in der Geschichte ist der Kampf um die Macht. Die gegenwärtige Zeit unterscheidet sich davon nicht. Drei Hauptpunkte der Herausforderung – die revisionistischen Mächte Chinas und Russlands, die Schurkenstaaten  Iran und Nordkorea, und die transnationalen terroristischen Organisationen, besonders die djihadistischen Gruppen – treten aktiv gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten auf.  Obwohl unterschiedlich von Natur und Umfang, konkurrieren diese Rivalen auf politischen, ökonomischen und militärischen Feldern und nutzen Technik und Information, um die Konkurrenz zu verschärfen und damit die Machtbalance zu ihren Gunsten zu verändern.  Darin liegen fundamentale politische Unterschiede zwischen repressiven Systemen und solchen, die freie Gesellschaften bevorzugen.

China und Russland wollen eine zu den US-Werten und Interessen antithetische Welt.  China will die USA in der Indisch-Pazifischen Welt verdrängen, den Einfluss seines staatwirtschaftlichen Modells ausweiten und die Region in seinem Sinne reorganisieren. Russland will seinen Großmachtstatus wiederherstellen und die Einflusssphären an seinen Grenzen reorganisieren.  Die Intentionen der beiden Nationen sind nicht unbedingt festgelegt. Die USA stehen bereit mit beiden Ländern im gegenseitigen Interesse zu kooperieren.

Für Jahrzehnte  war US-Politik darauf begründet, dass Unterstützung für Chinas Entwicklung  und seine Integration in die internationale Nach-Kriegs-Ordnung China liberalisieren werde. Entgegen unseren Hoffnungen weitete China seine Macht auf Kosten der Souveränität von anderen aus.  China sammelt und nutzt Daten in Konkurrenzlosem Maße und weitet sein autoritäres System aus, einschließlich Korruption und Kontrolle. Es baut die fähigste und bestausgerüstete Streitmacht der Welt auf, nach der unsrigen. Sein nukleares Potential wächst und differenziert sich. Ein Teil seiner Modernisierung und ökonomischen Expansion verdankt China seinem Zugang zur innovativen US-Wirtschaft, einschließlich Amerikas Welt-Klasse Universitäten.

Russland zielt darauf den US-Einfluss in der Welt zu schwächen und uns von  unseren Verbündeten und Partnern  zu trennen. Russland betrachtet die NATO  und die EU (im Original engl. ausgeschrieben)  als Bedrohung. Russland investiert in neue militärische  Fähigkeiten, einschließlich  nuklearer Systeme, welche die existenziellste Bedrohung für die Vereinigten Staaten bilden. Durch modernisierte Formen subversiver Taktik greift Russland in die inneren politischen Angelegenheiten von Ländern rund um die Welt ein. Die Kombination von russischen Ambitionen  und wachsenden militärischen Fähigkeiten schafft eine unstabile Front in Eurasien, wo das Risiko zu Konflikten auf Grund  russischer Miss-Kalkulationen wächst.“

(Es folgen zwei Absätze zum Iran, Nord-Korea, IS, sowie Al-Kaida, danach der Satz: )

„Die Vereinigten Staaten werden Kooperationsfelder mit ihren Herausforderern auf der Basis der Stärke suchen.“

Unter der Überschrift „Regionales“ heißt es am Schluss unter dem Stichwort „Europa“:  

„Ein starkes und freies Europa ist von vitalem Interesse für die Vereinigten Staaten.  Wir sind verbunden durch unser Eintreten für die Prinzipien von Demokratie, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Zusammen haben wir Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und die Institutionen geschaffen, die Stabilität und  Reichtum auf beiden Seiten des Atlantiks brachten. Heute ist Europa eine der reichsten Regionen  der Welt und unser hervorstechendster Handelspartner.

Obwohl die Bedrohung des Sowjetischen Kommunismus vorbei ist, wird unser Wille durch neue Bedrohungen getestet. Russland setzt subversive Mittel ein, um die Glaubwürdigkeit  von Amerikas Eintreten für Europa zu schwächen, die transatlantische Einheit zu unterminieren  und europäische Institutionen  und Regierungen zu  schwächen.  Mit seinen Invasionen nach Georgien und in die Ukraine  hat Russland seinen Willen demonstriert die Souveränität der Staaten in der Region zu verletzten.  Russland fährt fort seine Nachbarn  in bedrohlicher Art durch nukleare Positionierung und durch die Aufstellung offensiver  Kapazitäten an den Grenzen einzuschüchtern.“

(Folgt, dass auch China Fuß in Europa fassen wolle, und zudem eine Bedrohung durch islamistischen Terror in Europa zunimmt)

„Die Vereinigten Staaten  sind sicherer, wenn Europa prosperiert und stabil ist und helfen kann unsere gemeinsamen Interessen zu verteidigen.  Die Vereinigten Staaten bleiben fest verbunden mit unseren Europäischen Verbündeten und Partnern.  Das NATO Bündnis freier und souveräner Staaten ist einer unserer großen Vorteile  gegenüber unseren Gegnern und die Vereinigten Staaten treten weiterhin für den Artikel V des Washingtoner Vertrages ein.“

Das gesamte Papier (englisch) gibt es hier: zur Ansicht und ggf. zum Download

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Revolution or Revolt – Ein Dialog zwischen Boris Kagarlitzki und Kai Ehlers

Dear Boris, now we know each other for roughly 30 years. We got to know each other, when M. Gorbatschow tried to reform Soviet socialism – and when we thought to build up a socialistic Alternative in Germany. You have tried hard to cause with friends a socialist turn of the perestroika. Our common book „25 years of talks with Kagarlitzki“[i] files of it a well-spoken report. We have tried ours here in the FRG. Today we know that there did not come a reform of socialism in Soviet Union, but a semi-capitalistic Russia and some Americanization of the so called social state in Germany and Europe, a neoliberal globalization all over the world. A revolution in Russia is hardly conceivable at the moment. People are fed up with Revolution. At best another neo-liberal pseudo revolution à la A. Nawalny against the ’system Putin could be imagined ‚,against it´s ‘peripheral capitalism’, as you call it, it´s ‘hybrid structures’, as I call it,. And Germany is far from any revolutionary movement. The world is moving towards a final crisis of capitalism in many respects, but revolutionary forces which would be comparable to the forces from the beginning of the previous century are not to be seen in in the centers of capitalism. There is no determined movement beyond capitalism, no alternative floating to revolution. The center of change has moved from greater Europe, let´s say from the ‘West’ into global dimensions. I think, the possible subject of future change is lying in the global Millions of  the worldwide increasing number of ‘Marginalisierten’, of  ’superfluous‘ in earlier 3. Aand 4. world, like I call them, although, of course, the process of precarisation is not restricted to the new world. However, do they have more perspective today than a restless, aimless and permanent revolt? Which could be the role of Europe and Russia in this oncoming worldwide evolution into a post-capitalistic future?

***

Dear Kai, there are all sorts of reasons to be upset about the past failures of the left and many more reasons to worry about the future. However I don’t agree with the way you see current situation in Russia or in Europe. The lack of formulated alternative has nothing to do with the question about possibility or impossibility of a revolution. It is produced by an objective process and conditions not by our political convictions. In 1980s there were no chances for socialism or revolution no matter what you or me or other people like us used to think. We were simply wrong thinking that having an ideologically conceived alternative was essential. Alternatives never produced revolutions in the past and never will produce them in the future. On the contrary, only ONGOING revolutions produce real (not false, utopian or imaginable) alternatives. And now the revolution is becoming a real or maybe even inevitable perspective, even if nobody on the left believes in it.

On the other hand, it is very strange that you call Russia “semi-capitalist”. What is wrong with Russian capitalism? Why do you think that Russian oligarch is so different compared to American, German or Peruvian one? The world-system is quite integrated and there are different niches in it for German economy of manufacturing and Russian, Latin American or Saudi extractionist economies providing global capitalism with raw materials and other resources. This makes these capitalisms quite specific. But this very model of division of labour which was created under neoliberalism is in crisis. And there is no way it can overcome this crisis unless we have wars and revolutions that will somehow lead us to a different society. To which extent this society will be socialist or will bring us close to socialism is another matter. But it will be radically different from the current one.

This economic disintegration is the deep cause of major event we see around us, including the crisis between Russia and the West which has very little to do with issues like democracy or nationalism. Crimea is no more important that the Austrian prince unfortunately assassinated in Sarajevo in 1914. Was First World War about it. Of course not! It was about the crisis of then existing model of imperialism.

Trump, BREXIT, Naval’ny, war in Donbass and the surrender of Siriza in Greece, unexpected successes of Jeremy Corbyn or Bernie Sanders are nothing more than just a few of the INITIAL symptoms of a massive upheaval, which is in its very beginning. Is it good news or bad news? A bit of both. But much will depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers.

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Dear Boris, let’s first get clear in what we seem to agree. There is no doubt, that, as You call it, a massive upheaval against the current economic system and life order is in its very beginning. And I should add, that we are talking about a global dimension, of course, following out of the fundamental crisis of capitalism in its present neoliberal form. And of course revolutions result out of objective processes. And I agree, that today’s Russia is part of this world wide process, although in a specific way, which you call peripher, which I call semi-capitalistic or hybrid. This is a topic of it´s own, of course. I agree, too, that current political topics like Trump, Brexit, Nawalny, Donbass, even Syria etc. pp. are symptoms  of this upcoming development, and there can be no doubt, that this development, as you say, will lead us to a “somehow different society, but in any case radically different from the current type of society”. Definitely, yes!

But questions, which may be controversial, rise, when you are stating – virtually just by the way –, that this can happen by war or revolution and questions rise further on, when You finish Your statements with the sentence, that much would depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers. So what? Is the objective process, nevertheless, depending on subjective interfering?

These, I think, are just those questions, which should be set clear: If revolution is not roused by alternatives, but by objective processes, moreover, if alternatives are produced by the ongoing process, so how is this proceeding, what is our part in this process, and who are “we”?

Is revolution and war a necessary, provoking asked, a ‘как бы‘ (somehow) natural connection? Couldn’t it be, that revolution under today’s conditions of a strongly linked up world does not necessary mean war, more exactly said, that the global upheaval, which is to be expected, is not necessarily bound to a global war?

It seems to me, that this is the main question, if we won’t understand history and social processes as mere, quasi natural outbreak of spontaneous power, but ask for the historical subject on the historical level of evolution.

I think the outstanding global upraise is not comparable to French or Russian or any other earlier revolution, which spread out of one country into the world in each case. And I think, a global war is not leadable in the kind of the first and second world war today as side effect or maybe even prevention of radical social changes, without destroying both, capitalism, imperialism, neo-liberalism etc. and social freeing impulses in one big dirty washing-up.

Of course we have a growing readiness for violence today, local protest, local revolts, different sorts of terrorism, produced by the cruelty of the final crisis of capitalism. This is the ongoing process, about which You are talking. But as far as this process is not bursting out in one big bang, neither the one global revolution nor the one global war, but amplifying step by step, our part can’t be just heating up revolts by force or too provoke upraises, like tried by some lonely militants just now in Hamburg, to whom violence as violence was already a sufficient message. We have to look for, to find and to show ways and images, how another world could look like – if the power shall not only „blow up“.

And in this sense – to come back to this question here – I think it important, to see the contradictions and differences between the capitalistic states, between  developed and peripheral capitalism, between cultures, as far as different forms of opposition or possible alternatives with different people with a different social and historic background arising from them. This is valid also to the Russian society of today, which I called a hybrid capitalism, as it implies special Russian-Soviet history and structures of communitarism (общинность), even if at the moment in capitalistic covered form. You remember, we have been talking about this often as a specific Russian-Soviet heritage, wondering in what way it will change.

I agree with you again completely – alternatives are always concrete, but they need a leading idea; that does not mean a closed ideology, but ideas, images like life could be. To sharpen it on the title of our dialogue revolt or revolution: the possible revolution of today’s outcasts will stuck in revolts, or even in fascistic tendencies, if it does not rise from the bare clamour to the image of a more human future, based on the esteem of traditional values.

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Dear Kai! It seems that we are still obsessed by the vision of revolution presented in Stalinist Краткий курс истории партии. (Kurze Geschichte der Partei) As if Bolsheviks were from an already existing popular force, say, in 1916. In fact, from the point of view of public opinion they didn’t exist. And alternatives that were actually visible “on the table” had very little to do with what actually happened. Jeremy Corbyn or Bernie Sanders politically didn’t exist a few weeks before they launched their campaign. And that was exactly the secret of their progress. In the current situation only a movement, a leader, an idea, coming from almost “nowhere” is going to have a chance. Everything that is present and visible is either discredited or going to be discredited. And not because of ideological reasons, but because nothing, that can and will be tried within current system would work. This is an objective process. I don’t care whether people like neoliberalism or not. In fact they never did. And no matter how much people subjectively disliked privatization or de-regulation, it happened because it was working – not for the majority but for the elites. Now it is the other way round. Even if they managed to establish neoliberal hegemony in many ways, that leads nowhere because the system exhausted its potential, it simply can’t reproduce itself, it can’t (in its practical results) satisfy even the ruling classes – and that’s where people like Trump or Naval’ny are coming from.

So what should we do, and who are “we”?

Political success depends on understanding the objective situation, opportunities, provided by it and on adequately using these opportunities to reach your goals. The irony is that we do not lack opportunities, but the left lack goals. The left became no more than a community of liberal intellectuals interested in animal rights, gays and feminism (but not interested in actually existing animals, single-sex couples or working class women). It completely abandoned class politics even if it reproduces class rhetoric without thinking of its content. Ironically, it is now some sectors of the Far Right in the West we really listen to what working class people say and try to represent their daily interests. However their represent these interests in confused and inadequate form.

It is interesting that at this moment Russian Far Right is very weak, so in many ways the task for the left is easier. What do we have to do: we have to create yet another new left. Which will be in many ways more like the original old one. Back to the pre-60th. Back to the 1920th. Seems a bit like Hegelian-Marxist Negation of Negation (Отрицание отрицания – I don’t know the original German term). Anyhow, let philosophers conceptualize this, we have to be very practical.

Who are “WE” now? We don’t exist yet – as a political force. We have to create ourselves politically. With very simple ideas – public sector, regulation, welfare state, democratic participation. Can we use Soviet heritage? Yes, why not. What we should do – we shouldn‘ try to bring back the Soviet Union. For the same reason, for which we can’t sustain a current system. It’s not because we like or dislike it. Simply because it is impossible.

There is a huge store of ideas and methods the left possessed for a long time. We should find there what is necessary. Actual configuration will depend on the situation and public needs.

Don’t even try to invent something new. It makes no sense. We don’t need new ideas. We spent half a century on ideas, most of which proved to be either wrong or dysfunctional. As an intellectual I’m fe up with discussing ideas or abstract alternatives. We need politics. Not just building an organization but rather educating people who will be able to build it very fast when there is an opportunity. This work is being done right now and not without success. Because the generation, that will bring about new politics, is already here. Politics will come when there is an opportunity. In a year, in a month, in a few weeks. Or never.  

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Dear Boris! Very short, because place is finishing: Not to invent something. Yes! Education. Yes! But here the devil is lying in detail: what, how and when! I think, at first there is to show, as far as to talk about objective facts, that the one very objective fact, which has to be understood today, is this: The credo in mere efficiency and economic growth, based on priority of competition as principle is leading into an evolutionary crisis of mankind, which can only be overcome by a lifeserving (lebensdienlich) way aiming towards cooperation based on self-chosen communities orientated on cultural growth of any human being and any people., instead of every day war. Keyword: love, mutual help and solidarity. This, of course, is a very principle orientation, but this must be understood first of all, otherwise future upraises will be a repetition of what we have now, only on more extreme level. And as to the question how, we ought to find answers in, let’s say, social exercises – local and global, which means, in organization of work and everyday life, by searching and finding ways, how to help oneself and the growing number of outcasts to find themselves, physically and mentally, how to find oneself and themselves as individual person, who knows to say: I, and to find as a collective power, organizing itself in conflict with the existing conditions. No power with claim to future without individual consciousness! And here, dear Boris, I find the answer to the question ‘when’, too: Of course, now – always now, as any journey begins with the first step. Tomorrow would mean, never. Any exercise of this kind is sort of preparation, I think. Any revolution had some preparation of that kind in the people itself, in minorities, in some social fantasy and hope for the better, which helped channeling the inevitable violence – and so today, I hope. And with this extremely short summery I surrender the last round to You.  

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Dear Kai! Of course we have to insist on the importance of love and solidarity, but we spent too much time on discussing and promoting values while the other side was practicing politics. We have to be very concrete. I think of Jeremy Corbyn’s campaign as an example of success not because he brought about a lot of enthusiasm and achieved a real progress electorally, but first of all because he did so on the basis of very concrete proposals.

In fact, most of these proposals are quite moderate but after 30 years of neoliberalism they seem radical or even revolutionary. Bring back railways into public ownership, relaunch public sector to provide necessary services to people and generate public investment to achieve economic growth in the situation when market incentives are exhausted. This is all very simple. Speaking about Russia, things are even more clear. There is a great majority demanding nationalization of oil, gas and other corporations that were stolen from the people by the oligarchs. At the same time there is no political force fighting for these demands no matter how popular they are. Why? Because the people themselves are passive and they are not fighting for their own interests and rights. The problem is not with the left. It is with the people. As long as masses are passive it doesn’t matter which values and ideas we spread. It all makes no sense except for a tiny group of activists and intellectuals which has to be sustained and reproduced. But he question is whether people will say passive forever? If so, we all deserve the kind of future, which is anything but bright. However I think that there will be a turning point, which seems to be very close. At this moment we must show that our ideas are relevant – not in abstract but in practical terms. Can they be transformed into a practical political program and transformative action HERE AND NOW? Then they will work and our existence makes sense…   

[i] Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, laika diskurs 2013/2014

 

Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki

Russland geht auf die nächsten Präsidentenwahlen im Jahr 2018 zu. Es gibt eine Stimmung im Lande, die befürchtet, dass den Zeiten der relativen Stabilität nunmehr Zeiten sozialer Probleme folgen könnten, dass Putin die von ihm betriebene Politik des Krisenmanagers, des Lavierens im Konsens zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nicht mehr in der gleichen Weise wie bisher halten könne, dass eine Zeit der Instabilität bevorstehe, die entweder Putin selbst oder einen Nachfolger zwingen könne, zu einer „wirklichen Diktatur“ überzugehen, um die von ihm auf dem Weg der „gelenkten Demokratie“ nach Ansicht seiner Kritiker in Korruption steckenbleibende Kapitalisierung  nunmehr mit Gewalt sauber durchzusetzen. Alexei Nawalny ist hier der Stichwortgeber.

Die provokanteste Position zu diesen Fragen vertritt Boris Kagarlitzki, Russlands prominentester Neulinker, Direktor des Institutes für Erforschung der Globalisierung und der Sozialen Bewegungen. Das Gespräch wurde unmittelbar vor der letzten großen Massendemonstration vom 12.Juni geführt. Continue reading “Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki” »

Russland 2017 – Impressionen einer Sommerreise

Bericht im Forum integrierte Gesellschaft

Liebe Freunde, liebe Freundinnen des Forums integrierte Gesellschaft

Das war doch wieder einmal ein gelungenes Treffen, in dem unsere gute alte Jurte erneut ihre volle Kraft zeigen konnte, nachdem das letzte Treffen zum Thema Europa mangels Beteiligung praktisch nicht stattfinden konnte. Meine Lebensgefährtin Frederike von Dall `Armi und ich, Kai Ehlers hatten eingeladen, um über unseren kürzlich in Russland verbrachten Aufenthalt zu berichten, präzisiert unter der Frage, ‚Was kommt nach Putin? ‘.
Es ging um die gegenwärtig sich in Russland entwickelnden oppositionellen Proteste zum Einen, um Impressionen aus dem kulturellen und sozialen Alltagsleben in der ‚Provinz‘, genauer in der Tschuwaschischen Republik an der Wolga zum Zweiten – zusammengefasst, wenn man so will, zu der sachlichen Frage, was in nächster Zeit – und schließlich überhaupt – von Russland zu erwarten ist und wie die Beziehungen zu Russland gestärkt werden können. Continue reading “Russland 2017 – Impressionen einer Sommerreise” »

Krieg oder Frieden? Dem Treffen der 20 zum Geleit.

In Hamburg treffen sie just zusammen, um zu beraten, wie es in der Welt politisch weitergehen soll – in einer Zeit, in der kaum jemand weiß, wie es weitergehen kann. Hier finden Sie den Video-Mitschnitt eines Vortrags, der sich passend zu den Vorgängen in Hamburg mit den anstehenden Fragen befasst: Stichworte zur gegenwärtigen Lage, Stichworte zu möglichen Alternativen, sowie Einschätzungen zu der Rollneverteilung zwischen den großen ‚Playern‘ in diesem großen Spiel.

Hier anklicken: https://youtu.be/5i3nMlX6Ydk

Opposition in Russland: Nawalnyaufruf im nationalen Feiertag untergegangen

Zum 13. Juni hatte Moskaus Korruptionsjäger Alexei Nawalny zum zweiten großen Protestmarsch gegen Korruption aufgerufen. Nach seinem ersten Aufruf vor anderthalb Monaten, dem rund hunderttausend, vor allem junge Menschen im ganzen Lande gefolgt waren, waren die Erwartungen groß. Hier können Sie einen spontanen Bericht hören, wie diese Demonstration ablief.

Näheres auf russland.NEWS

Endlich eine Opposition in Russland?

Mehr als sechzigtausend Menschen auf Russlands Straßen gegen Korruption und Bürokratismus, davon die Hälfte unter dreißig Jahre alt – ist das eine neue Opposition?

Wünschenswert wäre es ja, wenn in Russland eine Opposition heranwüchse, die der Staatsführung das Recht auf Selbstbestimmung, basierend auf einer für alle gleichermaßen gesicherten Existenz abfordern könnte, denn das ist, bei allen Erfolgen, auf die Wladimir Putin verweisen kann, unverkennbar die Schattenseite der von ihm eingeführten vertikalen Stabilität.

Aber ist das, was nach den gegenwärtigen Protesten gegen Korruption als Opposition in den westlichen Medien dargestellt wird, dazu angetan, einen solchen Impuls in die Wirklichkeit zu bringen? Darin sind sich selbst diejenigen, die jetzt das Hohelied eines nach Freiheit verlangenden Jugendprotestes singen, keineswegs einig.

 

Kaum soziale Parolen

Auffallend, wie schon bei früheren vergleichbaren Massenprotesten, zuletzt denen anlässlich der Wahlen 2012,  ist auch jetzt wieder, dass neben Forderungen wie  „Nieder mit …“ kaum weiterführende politische oder gar soziale  Forderungen laut wurden. Dieses Mal wurde der Ruf „Nieder mit Putin“ sogar noch durch den quasi stellvertretenden Ruf „Nieder mit Medwedew“ ersetzt. Dies alles geschieht zudem zu einer Zeit, in der Putin von einem Rating zwischen 70 und 80, aktuell sogar 81 Prozent getragen wird.

Auffallend ist in der Tat, dass  überraschend viele Jugendliche an diesen jüngsten Protesten teilnahmen. Aber wie russische Soziologen durchaus richtig bemerkten, könnten die aktuellen Straßenaktionen Strohfeuer sein, die heute aufleuchten und morgen so schnell zurückfallen, wie sie hochgekommen sind, mit einem Wort, sie könnten sich als Facebookproteste erweisen, die keine über den Moment hinaus gehende Basis und über das bloße Treffen hinausgehende Zielvorstellungen haben.

Zudem stehen die Proteste auf dem sehr fragwürdigen Boden einer Kampagne, die mehr Indizienketten als Tatsachen für die Verfehlungen liefert, die Medwedew angelastet werden. Wie fragwürdig die Kampagne letzten Endes ist, muss darüber hinaus jedem deutlich werden, der bedenkt, dass Alexei Nawalny, ihr Initiator – durch ihn selbst mit dem Hinweis bestätigt, dass anders eine solche Kampagne im autoritären Russland nicht möglich sei – wesentlich von den USA unterstützt wird. Das ist Hilfe ausgerechnet von der Seite, die in der Person Donald Trumps als neuem Präsidenten Korruption und Clanwirtschaft öffentlich zum Prinzip erhebt.   

Was sind denn – selbst wenn man der Spur des von Nawalny vorgelegten Materials folgen könnte – ein paar über Mittelsmänner gehaltene Villen Dimitri Medwedews in Sotschi oder Italien, was ist selbst die Putin nachgesagte Begünstigung seiner früheren Petersburger Seilschaft gegen das offen zur Schau getragene globale Beziehungsgeflecht des Trump-Clans, der jetzt die USA regiert? Da könnte die Kampagne, wenn die von ihr Aufgerufenen den Kampf gegen Korruption nicht nur lokal, sondern prinzipiell  angehen, den Aktivisten Nawalnys sehr schnell auf die eigenen Füße fallen.

 

Event oder soziale Bewegung?

Aber wie auch immer – das eigene Land ist nicht Amerika, also äußert sich der Unmut über die heutigen Verhältnisse zunächst einmal in der eigenen Realität.  Das gilt vor allem für die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der aktuellen Proteste. Wenn sich  daraus mehr entwickeln sollte als ein paar spannende Events,  wäre das gut; kaum etwas wäre wichtiger für Russlands weitere Entwicklung als eine politisch erwachende Jugend.

Nach allen Erfahrungen mit bisherigen Protesten in Russland ist es allerdings eher ungewiss, ob aus der gegenwärtigen Anti-Korruptions-Kampagne mehr entsteht als ein kurzfristiges Aufschäumen,  auch wenn es Nawalny, unterstützt vom Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, von dem ehemaligen Schachweltmeister Garry Kasparow und anderen vom Ausland her agierenden, ihrem Verständnis nach liberalen langjährigen Putin-Gegnern gelingen sollte über kurzfristige Mobilisierungen hinaus langfristig eine oppositionelle Bewegung zustande zu bringen –– es sei denn, die Staatsmacht bliese die Funken der gegenwärtigen aktuellen Proteste durch Repression zu einem offenen Brand auf. Hier ist natürlich Raum für Provokationen von allen Seiten.

Basis für einen solchen Brand wäre allerdings durchaus gegeben, wenn sich die eher spielerischen Facebook-Proteste gegen Korruption mit existenziell begründeten sozialen Protesten in verschiedenen Gegenden Russlands verbänden.  Zu nennen ist da genug. Da sind die Bereiche Bildung – zu geringe Bezahlung der Lehrkräfte, schlecht ausgerüstete Schulen; Gesundheit – trotz immer noch garantierter Grundversorgung eine Zweiklassenmedizin; Justiz – Willkürurteile im Interesse der Reichen; Wohnungswesen – mangelnder zu teurer Wohnraum, aktuell die geplante Zwangssanierungen großen Stils in Moskau, die zu Lasten der Bewohner zu gehen drohen;  seit Jahren landesweit streikende Fernfahrer; Kleinbauern, die gegen Landraub protestieren; Rentner, die Renten fordern, von denen sie leben und nicht nur vegetieren; Arbeiter, die immer wieder für die Auszahlung ausstehende Löhne kämpfen müssen.

Kurz, viele Dutzend Einzelaktionen und –proteste finden zur gleichen Zeit im Lande parallel  zu der von Nawalny  und seinen ausländischen Freunden mobilisierten Kampagne statt. Wenn die Nawalny-Kampagne und diese sozialen Proteste sich miteinander verbänden, dann könnte daraus ein Flächenbrand entstehen – wenn, dann.  

 

Verschiedene oppositionelle Wellen

Die so entstandene Situation gibt Anlass darüber nachzudenken, was in Russland Opposition ist, wenn man nicht schematisch für den Westen geltende Verhältnisse und Vorstellungen auf Russland übertragen will. Da kann ein Blick zurück in die neuere russische Geschichte helfen. In deren Verlauf gingen sehr verschiedene Wellen von Opposition durch das Land und es macht Sinn sich diese Wellen in ihrer Unterschiedlichkeit in Erinnerung  zu rufen.

Da haben wir – noch im Übergang von der Sowjetunion  in das nachsowjetische Russland – die Opposition Michail Gorbatschows, das heißt, der unteren Parteiebene gegen die konservativen Kräfte des Politbüros. Das war der Versuch, jene Kräfte im Lande an die Schalthebel kommen zu lassen, die unzufrieden waren mit der Knebelung der Initiative, und diese Unzufriedenheit in Politik umzusetzen. Diese Opposition hatte eine breite, historisch gewachsene Basis in der Bevölkerung und sie wurde unterstützt von Kräften an der Spitze der Partei, die die Krise des Landes erkannt hatten. Es ging um die Befreiung  der persönlichen Handlungsfreiheit vom Joch der kollektivistischen Bevormundung. Von interessierter Seite wurde diese Opposition sogar Revolution genannt. Ihr Ergebnis ist bekannt. Sie führte die Sowjetunion zuerst in die Euphorie, dann ins Chaos.

Die nächste oppositionelle Bewegung war die von Boris Jelzin geschürte im Jahr 1991, die zur Ablösung Gorbatschows durch Jelzin führte. Als die erste Welle der Reformen aus dem Ruder zu laufen begann und Gorbatschow sich zum Bremser wandelte, trat Jelzin auf das Gaspedal. Unter den Parolen „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“ mobilisierte er die Unzufriedenheit der Bergarbeiter, die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Republiken, die Ungeduld der Städter, denen die Umwandlung nicht schnell genug gehen konnte.  Das „Programm der 500 Tage“ mobilisierte eine breite Opposition, vor allem in den größeren Städten,  gegen die Mächte der Beharrung. Ergebnis war der Zerfall des Landes, des Imperiums als Ganzem wie auch der inneren staatlichen und sozialen Strukturen der gesamten Gesellschaft.

Dagegen erhob sich 1993 eine dritte Welle der Opposition, diesmal ganz anderer, konservativer Art:  Eine stark motivierte, allerdings äußerst heterogene Bewegung verschiedenster Kräfte wandte sich gegen die Zwangs-Privatisierung der Jelzin-Administration, forderte zumindest eine langsamere Gangart, vermischt mit national-patriotischen Tönen, die sich gegen eine Okkupation des Landes durch den Westen wandten. Der Widerstand war aber kein allgemeiner mehr wie in den Jahren zuvor; die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf den Kongress der Volksdeputierten, das halbdemokratische, noch aus der sowjetischen Parteistruktur entstandene Volks-Vertretungs-Organ, das Gorbatschow eingeführt hatte. Jelzin ließ diesen Widerstand im Haus des Deputiertenkongresses, heute ‚Weißes Haus‘ genannt, von Panzern zusammenschießen. Mindestens 120 Menschen fanden dabei den Tod.

 

Präsidialverfassung statt Opposition

Nach diesen Ereignissen war der Widerstand gegen die Auflösung der Sowjetunion, insbesondere gegen die Privatisierung im Lande gebrochen, die Bevölkerung müde. Die von Jelzin eingeführte Präsidialverfassung fixierte die neu entstandene Lage. Er regierte  von da an über Verordnungen. Weder auf alltäglicher, im weitesten Sinne gewerkschaftlicher Ebene noch in der von Jelzin entmachteten kommunistischen Linken konnte sich eine nennenswerte Gegenkraft bilden. Opposition  reduzierte sich auf kommentierende Parteiauftritte in dem neugebildeten Parlament, der Duma, die an die Stelle des Deputiertenkongresses getreten war. Neu-Sozialistische und radikaldemokratische Reformansätze blieben Splittergruppen außerhalb der Duma. 

Eine Opposition, wenn man es so nennen möchte, fand Jelzin allein in den strukturellen Machtkonstellationen des Landes, den eigenmächtig agierenden Oligarchen, die zu Ende seiner Amtszeit mit dem einflussreichsten von ihnen, Wladimir Beresowski, als Sicherheitsberater an der Spitze faktisch eine Schattenregierung bildeten, mit den von Moskau aus kaum zu kontrollierenden Gebietsfürsten in den Republiken, mit den Tendenzen der Sezession, in denen sich  der Zerfall der Sowjetunion auf dem Gebiet des neuen Russland fortzusetzen drohte. In den zwei Tschetschenienkriegen (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) fand dieser Konflikt seinen exemplarischen und für das neue Russland existenziellen Ausdruck.

 

Putins Einstieg: Tschetschenien

Die Tschetschenienkriege kennzeichnen aber zugleich auch den Übergang aus der Phase des Zerfalls in die der Konsolidierung. Der zweite Tschetschenienkrieg ist mit dem Namen Wladimir Putins untrennbar verbunden. Die Beendigung der tschetschenischen Sezession gab ihm die stabile Machtposition, von der aus er die Kräfte des Landes neu zusammenzuführen konnte. Das war die Disziplinierung der Oligarchen, die Einführung vertikaler Verwaltungsstrukturen in den in Republiken auseinanderstrebenden Organismus des Landes und nicht zu vergessen die Unterwerfung der Gewerkschaften unter ein rigides Arbeitsgesetz. Damit war die strukturelle Opposition aus der Zeit Jelzins in einen Konsens eingebunden, der Modernisierung und Wiederaufbau zusammenführte. Putin war und ist der Manager dieses Konsenses.

Ergebnis war, allgemein gesprochen, eine Differenzierung der nach-sowjetischen russländischen Gesellschaft, in welche die raue Klassenwirklichkeit wieder einzog. Die Schroffheit dieser Entwicklung wurde dadurch gemildert, dass es Putin gelang die Oligarchen dazu zu veranlassen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen und in bescheidenem Maße wieder in die sozialen Verpflichtung einzutreten, die sie zuvor im gewerkschaftlichen, kommunalen und regionalen Bereich wahrgenommen hatten, als das gesellschaftliche Leben noch von den Betrieben her organisiert war.

 

Jelzins alte Garde in der Opposition

Solange diese Entwicklung zu einem allgemeinen Ansteigen des Lebensniveaus führte, verhielt die Bevölkerung sich ruhig,  weil sie – wenn auch auf niedrigem Niveau – einen gewissen Anstieg der sozialen Sicherung gegenüber der Zeit Jelzins erlebte.

Als neue Opposition entwickelte sich jetzt aber die aus den Ämtern verdrängte liberale Schicht der Jelzinzeit, allen voran mit Vertretern wie Boris Nemzow, groß geworden als Privatisierungsspezialist in Nischni Nowgorod, daraufhin Minister unter Jelzin, Gary Kasparow und anderen Liberalen. Finanziert wurden ihre Kampagnen anfangs von Beresowski, der sich nach London abgesetzt hatte, später von Chodorkowski im Lande selbst. Chdorkowski steht erklärtermaßen jetzt auch wieder hinter den aktuellen Protesten, inzwischen vom Ausland her wie seinerzeit Beresowski.

Die Liberalen entwickelten eine Daueropposition gegen Putin, fanden aber in der Bevölkerung keinen Rückhalt,  bis dahin, dass sie selbst in der Duma nicht mehr vertreten waren. Sie gingen stattdessen zu einer außerparlamentarischen Provokationsstrategie über, in der sie sich bemühten, den ‚Putin-Staat‘ mit Gesetzesübertretungen, vor allem mit Durchführung nicht genehmigter Demonstrationen zum Eingreifen zu veranlassen und so als autoritär vorzuführen.  

So dümpelten die Kräfte während der ersten Amtszeit Putins vor sich hin, auf der einen Seite eine mit dem sozialen Gesunden, teils auch nur Überleben beschäftigte Bevölkerung, auf der anderen die kleine liberale Minderheit, die sich mit einer nicht abreißenden Serie von provokativen Straßenaktionen den Rücktritt Putins forderten – ohne ihrerseits ein anderes Programm als den Ruf nach dem Wiedereintritt der Jelzinschen Verhältnisse, ohne irgendein Programm zur Lösung der sozialen Probleme anzubieten.   

Eine Zäsur brachte das Jahr 2005/2006, als die Regierung Putin einen entscheidenden Schritt in der Monetarisierung von Sozialleistungen vorangehen wollte. Rentner, Schüler und Lehrer gingen dagegen auf die Straße, sodass die Regierung es vorzog, diese Maßnahmen als ganzes Paket zurückzunehmen und in ein Programm der schrittweisen Umsetzung umzugießen. Eine Bewegung konnte so nicht entstehen.

Eine weitere Zäsur wurde das Jahr 2011/12. Mit ihren Protesten gegen Wahlfälschungen trat erstmalig die neu entstandene Mittelklasse Russlands aktiv in Erscheinung. Auch zu der Zeit jedoch nicht mit sozialen Forderungen, sondern über die Kritik an Wahlfälschungen hinaus vor allem mit Forderungen nach mehr persönlicher Freiheit auf unterschiedlichsten Gebieten. Russische Analytiker – wie der Reformsozialist Boris Kagarlitzki – erklärten damals, dass man die Ursache für  diese Orientierung darin sehen könne, dass diese Mittelklasse, vor allem die städtische, zu der Zeit zu einem gewissen Wohlstand gekommen, nunmehr nach mehr politischer Bewegungsfreiheit, Reisefreiheit etc., verlangte, aber die soziale Lage im Lande überhaupt nicht im Blick hatte.

Putin trat dem seinerzeit mit einem Programm entgegen, das einen „Zukunftsdialog“ zwischen Regierung und Bevölkerung vorschlug. Endlich aufgegriffen würden jetzt, ließ er verlauten, die schon nach den Protesten von 2005 verkündeten, aber nicht durchgeführten, „nationalen Programme“, also Maßnahmen zur Förderung „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie  der Landwirtschaft. Darüber hinaus sollte die Verwirklichung der ausstehenden Rentenreformen endlich eingeleitet werden. Dies alles müsse zugleich mit einer Stärkung Russlands gegen die äußeren Bedrohungen durch die aus dem Gleichgewicht geratende Weltordnung verwirklicht werden.

Das außenpolitische Ziel Russland wieder stark zu machen und als Krisenmanager in die Weltpolitik einzubringen, konnte Putin weitgehend verwirklichen. Innenpolitisch sind die meisten Dinge, die er damals versprach bis heute offen. Ja mehr noch, nach dem Fall des Ölpreises ist die innenpolitische Situation merklich schwieriger geworden, besonders auf dem Lande. Die Übernahme der Krim, die Unterstützung des ukrainischen Ostens, die Einsätze in Syrien sowie die Sanktionen, mit denen Russland vom Westen belegt wurde, sind weitere Faktoren, die das Land unter Druck gebracht haben und weiter bringen.

Zwar zeigt das Rating von 81 Prozent für Putin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung dem Präsidenten noch immer, mehr sogar als nach den Wahlen 2012 vertraut, auf Dauer lassen sich die bisher  nicht eingehaltenen Versprechungen auf innenpolitische Reformen jedoch nicht durch äußere Erfolge kompensieren.

Wenn nach der relativen innenpolitischen Ruhe der letzten Jahre jetzt die Perspektive aufscheint, auch wenn darin nur eine blasse Möglichkeit liegt, dass die aktuellen Proteste der Navalny-Kampagne sich mit den sozialen Unruhen zu einer Bewegung verbinden könnten, sieht Putin sich vor die Herausforderung gestellt, sich den vernachlässigten innenpolitischen Problemen jetzt  erkennbar zuzuwenden. Jetzt muss er definitiv ein Programm vorlegen, das sich der so lange offen gebliebenen Fragen annimmt, wenn er soziale Verwerfungen in der nächsten Amtsperiode, für die er sich inzwischen  erneut zur Wahl gestellt hat, überstehen will.

Es scheint, dass er sich dessen bewusst ist, denn er hat bereits die Erarbeitung eines umfassenden Reformprogramms für die Zeit nach der Wahl 2018 in Auftrag gegeben. Wohin dabei sein Würfel rollt, in Richtung des ehemaligen Finanzministers Alexei Kudrin, eines erklärten Liberalen mit entsprechenden neo-liberalen Perspektiven oder zu Sergei Glasjew, der eher konservative Vorstellungen vertritt, oder zu einem Mittelweg zwischen beidem, und wie das konkret aussehen kann, ist dabei allerdings noch ganz offen. Die letzte Entscheidung liegt möglichweise entgegen allen öffentlich zurzeit vorgebrachten Vermutungen nicht bei Putin allein, sondern in der Frage, wie sich die Protestkultur im Lande weiter entwickelt. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die ‚Macht‘, auch hier nicht nur Putin, klug genug und bereit ist, Repressionen zu vermeiden, konkret auch Nawalny als Kandidaten in der Reihe der Prätendenten für die bevorstehende Präsidentenwahl zu akzeptieren und den versprochenen offenen Dialog zu suchen, der nach 2005 und auch nach 2012 noch nicht wirklich stattgefunden hat.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Siehe hierzu die beiden Bände:

  • Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, Laika, 2014/15
  • Kai Ehlers, Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte, 2005

Bezug über den Buchhandel oder direkt über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

Trump und Co – Unberechenbarkeit als Prinzip? Die andere Osterbotschaft

Donald Trumps unberechenbare Wendemanöver beunruhigen die Weltgemeinschaft. Der Kampf um die Erhaltung der US-amerikanischen Vorherrschaft nimmt irrationale und existenzielle Formen an: Raketenangriff auf Syrien, Megabombe in Afghanistan, Interventionsdrohungen gegen Nordkorea. Was demnächst? Eine strategische Linie ist nicht erkennbar außer Demonstrationen von „Entschlossenheit“.

Fragt sich, Entschlossenheit wozu? Sind die USA unter Trump bereit, den von vielen Menschen befürchteten finalen Crash zu riskieren, um ihre Vormacht zu halten? Sind die Europäer und die übrigen Staaten der Welt bereit, das Risiko mit zu tragen? Wofür? Gegen wen? Was gibt es zu retten?

Betrachten wir die entstandene Situation  aus der Sicht der frühen Kritiker des Kapitalismus, dann finden wir vielleicht einen Zugang zur Beantwortung dieser Fragen:

„Der moderne Arbeiter,“ schrieben die Verfasser des Kommunistischen Manifestes, Karl Marx und Friedrich Engels dem entstehenden Kapitalismus 1848 als Schlusswort ihrer Analyse ins Stammbuch, „statt sich mit dem Fortschritt der Industrie  zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus  entwickelt sich  noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.  Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die beherrschende Klasse  der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen  ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen, Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb  seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“

Es folgt das bekannte Schlusswort: „Die Bedingung  des Kapitals ist die Lohnarbeit.  Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz  der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung  der Arbeiter durch die Konkurrenz  ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwickelung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“[1]

 

Absehbare Revolten

Nun vereinigt die heutige industrielle Entwicklung die Arbeiter und die Belegschaften von Betrieben immer weniger in revolutionären Assoziationen, sondern bringt stattdessen in steigendem Maße individualisierte Arbeitsprozesse hervor, die zugleich immer Menschen als nicht mehr benötigte ‚Überflüssige‘ freisetzen, als Subproletariat aussondern. Zugleich wächst die Erdbevölkerung von jetzt bereits acht Milliarden Menschen um rund achtzig Millionen Menschen jährlich.  Daraus erwächst für  die herrschenden Verhältnisse eine noch fundamentalere Gewissheit ihres drohenden Unterganges, wenn anstelle der von Marx prognostizierten „revolutionären Assoziation“ Revolten atomisierter, entwurzelter  Individuen treten, in denen sich die blanke Überlebensnot gewaltsam Bahn bricht – nicht zuletzt in Formen eines hilflosen, ziellosen Terrorismus.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Donald Trumps Poltern als Vertreter der Vormacht des an seine Grenzen stoßenden Kapitalismus seine Bedeutung. Vor diesem Hintergrund werden auch die ‚verständnisvollen‘ Kommentare zu den ‚entschlossenen‘ Maßnahmen seiner Politik wie etwa die der deutschen Kanzlerin, aber auch die zurückhaltenden Reaktionen anderer westlicher Staaten als das transparent, was sie ihrem Wesen nach sind: als Versuch, den absehbaren Untergang der herrschenden kapitalistischen Weltordnung mit allen Mitteln und sei es militärisch aufzuhalten. Zweimal ist dieser Versuch unter ungeheuren Opfern gelungen; erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg. Stehen wir jetzt vor dem nächsten, vielleicht letzten Versuch?

 

Die Offenbarungen Trumps

Die Aktivitäten des neuen US-Präsidenten lassen solche Befürchtungen in die Wahrscheinlichkeit treten. Aber es ist nicht  etwa so, dass Donald  Trump, wie manche Zeitgenossen meinen, durch seine Unberechenbarkeit eine völlig neue Qualität der US-Politik präsentierte, indem er die Kriterien, nach denen diese Politik betrieben wird, undurchschaubar macht. Nein, im Gegenteil, er offenbart nur den tatsächlichen Charakter der US-Politik in ihrer nackten nationalistischen Egozentrik.

Fraktionierung der Weltgemeinschaft nach dem Prinzip ‚teile und herrsche‘, Politik des ‚Regime Changes‘, all dies ist ja nicht neu. Auch die Willkür, mit der die US-Politik ihre Ziele durchsetzt, ist nicht neu. Es ist nur so, dass unter Trump die Rücksichten, die unter Obama noch genommen wurden, jetzt fallen gelassen werden, sei es weil Trump keine Ahnung davon hat, wie Diplomatie funktioniert, ja, nicht einmal als Demagoge geschickt genug ist, sich zu verstellen, sei es, dass es ihm vollkommen gleich ist oder weil er einfach provozieren will.  

Der entscheidende Punkt ist, dass unter Trump Weltpolitik nach dem Prinzip einer US-Unternehmensführung betrieben wird,  ‚hire and fire‘. Wer mir nicht nützt, wird gefeuert. Das war schon das Prinzip unter George W. Bush. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das  war unter Barack Obama im Grunde nicht anders, nur leicht verdeckt, weil die USA durch die Politik, die Bush angelegt hatte, zu stark in die Isolation gekommen waren.

Im Prinzip wurde das Durchstechen, der Alleingang der US-Politik von Obama nur auf eine technische Ebene gehoben, weg von der sichtbaren und demonstrativ vorgeführten plumpen Intervention auf die Ebene des weniger sichtbaren, heimlichen, ‚sauberen‘ Drohnenkrieges. Mit dem Drohnenkrieg ging die amerikanische Politik unter verbindlichem Lächeln ihres Präsidenten zu direkter Liquidation der von ihr zu Gegnern erklärten Personen über, klar gesagt, zu globaler Lynchjustiz unter Missachtung jeglicher völkerrechtlicher Regeln.

 

Neue Formen des Krieges

Lassen wir also die moralische Empörung, die sich an Trumps persönlichen Mängeln als ‚unerhört‘, ‚unverantwortlich‘ und dergl. abarbeitet, beiseite und schauen wir, was konkret passiert.

Konkret passiert nichts anderes, als dass die USA in ihrer Situation der niedergehenden Weltmacht wie ein wildes Tier um sich schlagen, so wie, um ein altes Bild aus der chinesischen Politik zu gebrauchen, der Tiger, der in die Enge getrieben wird, um sich schlägt. 

Aber was bedeutet das? Bedeutet das, dass wir morgen den großen, den dritten Weltkrieg zu erwarten haben? Vermutlich trotz allem nicht, nicht in der Art jedenfalls, die wir von den beiden großen vorangegangenen Weltkriegen kennen. Nur kann dies keine Entwarnung sein. Unsere Vorstellungen vom Krieg müssen neu gedacht werden. Es muss neu wahrgenommen werden, wie Krieg heute geführt wird. Heute geht es nicht mehr um Landnahme, wie noch im zweiten Weltkrieg, wie selbst noch unter Bush, der in den Irak einmarschieren ließ. Alles Gerede, von wegen ‚einmarschieren in Syrien oder nicht einmarschieren‘, kann man getrost als hohle Propaganda beiseitelassen. Darum geht es nicht. Heute geht es darum, die möglichen Gegner zu diffamieren, klein zu machen, einzudämmen, zurück zu drängen, zu schwächen, seine Gesellschaft lahm zulegen und zu spalten, Unfrieden zwischen ihnen zu schüren, damit  sie sich möglichst gegenseitig bekämpfen etc. pp.

Den großen Krieg zu führen, das hieße den Atomkrieg zu riskieren. Das wäre der totale Widersinn auch für die, die einen solchen Krieg beginnen sollten. Widersinnig bleibt es selbst unter der Voraussetzung, dass heute ‚nukes‘ existieren, deren Einsatz örtlich begrenzbar ist. Ein solcher Einsatz müsste in jedem Falle eine Eskalation nach sich ziehen.  

Schauen wir genau hin: Das Gerede um die Modernisierung der NATO:  Was wird da modernisiert? – Modernisiert wird die NATO als Kriseninterventionsinstrument im globalen Maßstab, auf der Ebene des Cyberkrieges, des Internetkrieges, des Weltraumkrieges, des sog. ‚hybriden Krieges‘, das heißt, des  entgrenzten, vielstufigen Krieges. Was sich heute entwickelt, ist der unerklärte Krieg, in dem Krieg oder Frieden fließend ineinander übergehen, in dem nicht mehr klar zu unterscheiden ist, wo Frieden aufhört und wo Krieg schon begonnen hat. Der Krieg beginnt bereits im Kindergarten, in der Schule, in den Medien, in der Propaganda, in der Wirtschaft. Er steigt über all diese Ebenen hinein bis in die sog. „Innere Sicherheit“, bis in die Generalprävention gegenüber einer täglich beschworenen globalen Bedrohung.

 

Irreführende Feinderklärungen

Von wo kommt die Bedrohung? Von Russland? Von China? Vom Islam? Von Korea? Vordergründig mag das so scheinen. Langfristig gesehen kommen die Bedrohungen jedoch nicht von Russland, nicht von China, erst recht nicht von Korea. Jedenfalls nicht primär. Diese Konflikte sind konjunkturell und können geregelt werden, wenn man sich einig ist in der Hauptsache. Die Hauptsache aber heißt: Die eigentliche Bedrohung kommt aus der Masse der Menschen, die heute aus den Industriegesellschaften ausgegrenzt werden. Hier hat denn auch die Kritik ihre tiefere Ursache, die von den wichtigsten der heutigen ‚player‘, also von Russland, ebenso wie von China gegen die US-Politik vorgebracht wird, nämlich, dass die USA nicht bereit seien, gemeinsam gegen ‚den‘ Terrorismus vorzugehen.

‚Gemeinsam gegen den Terrorismus‘ heißt im Kern eben nichts anderes, als gemeinsam gegen die Unterprivilegierten, die Ausgestoßenen, die in ihrer Ohnmacht, Wut  und Verblendung zu Terror greifenden  Minderversorgten und zivilisatorisch Zurückgestauten vorzugehen, um sie niederzuhalten, sie wenn nötig nieder zu bomben. Da liegt das Ziel der NATO, die sich anschickt eine Weltorganisation zur Krisenprävention werden zu wollen. Da liegt die eigentliche Struktur, um die es heute geht – lokal wie global. Hier sei nur an Sbigniew Brzezinskis Warnungen vor dem „awakening of people“, dem Erwachen der Völker und Personen  erinnert.[2] Alles andere sind vordergründige Techtelmechtel, sind Ablenkungen, Ersatzkämpfe, auch wenn sie brutal daherkommen und immer wieder die Schlagzeilen der Presse füllen.

Was heute heranwächst, sind Stellvertreterkriege einer ganz neuen Art, Abwehrkämpfe einer zum Untergang verurteilten Ordnung, die nach dem Gießkannenprinzip weltweit  inszeniert werden. Im Kern geht es um die Millionen, besser wohl sogar zu sagen, die Milliarden der ‚Überflüssigen‘. Milliarden Menschen, die nach Teilhabe verlangen, welche ihnen in zunehmendem Maße verwehrt ist, lassen sich ja nicht einfach mit einem großen Krieg auslöschen, bei dem das Risiko besteht, dass die herrschenden Kreise selbst mit untergehen. Nein, die Ausgegrenzten müssen propagandistisch so eingelullt, so in Angst versetzt, so eingeschüchtert werden, dass sie eine manipulierbare Masse werden, in der sich die ‚Überflüssigen‘ möglichst noch gegenseitig dezimieren. Die dazu langfristig angelegten Präventionsstrategien in ihrer Abstufung von der Indoktrination bis zur Bombe sind die eigentliche Kriegführung von morgen – und schon heute erkennbar. [3]

Der Wunsch nach Grundversorgung, nach Selbstbestimmung, nach Autonomie, nach anderen als den kapitalistischen Beziehungen ist der eigentliche Gegner der gegenwärtigen Großmächte. Diese Bestrebungen unten zu halten, darin sind sich die Führungen der Großmächte, bei aller Unterschiedlichkeit der dazu verfolgten Strategien einig. Die einen, wie Trump, wollen das durch die Dominanz eines bewaffneten großen Nationalstaates erreichen, eben der USA als Weltpolizist, die anderen wie Russland oder China über die Stärkung einer Völkerordnung, wie sie die gegenwärtige UNO darstellen könnte, wenn sie als Vertretungsorgan mehr Macht hätte. Das sind erhebliche Unterschiede, die Stoff für aktuelle Konflikte enthalten. Unter dem Strich aber steht die als gemeinsame Bedrohung ausgemachte Geahr: die Unkontrollierbarkeit möglicher Revolten rund um den Globus gegen die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen.

 

Es ist Zeit aufzustehen

Lassen wir uns also nichts vormachen. Lassen wir uns nicht erfundene Feindbilder aufdrängen, nicht in eine Angstpsychose jagen, die einzig und allein auf Wohlverhalten, auf Stillhalten der Bevölkerung zielt, damit  die Herrschaften, die heute noch das Sagen haben, weiterhin das Sagen haben können.

Es ist Zeit den Ursachen der heutigen Probleme wirklich an die Wurzel zu gehen. An die Wurzel gehen heißt, es ist Zeit, die kapitalistische Produktionsweise, die katastrophentreibende Priorität der Ökonomie zu durchbrechen zugunsten einer Weltordnung, einer Menschenordnung, einer Völkerordnung, die den Menschen, jeden einzelnen, das Individuum und seine Bedürfnisse, wirtschaftliche, geistige und rechtliche in den Vordergrund stellt in einer Welt, die geleitet wird von gegenseitiger Hilfe statt einer Welt, in der Konkurrenz als Leitwert gilt.

Es wird Zeit, sich nicht weiter in die Ohnmacht pressen zulassen, es wird Zeit sich zu wehren, es wird Zeit aufzustehen, es wird Zeit, da, wo wir leben, jede und jeder an seinem und ihrem Ort, die Prinzipien, nach denen diese kapitalistische Gesellschaft heute funktioniert – genau gesagt, eben nicht mehr funktioniert – in Frage zu stellen, dem Krieg da  entgegenzuwirken, wo er im Alltag bereits als Ellbogengesellschaft beginnt. Zäune gegen Armut, Bomben gegen den Terror – das wird die sich abzeichnende Entwicklung nicht aufhalten. Krieg gegen den‘ Terror ist nichts anderes als eine Eskalationsspirale.

Man muss sich dieser Eskalationsspirale entziehen. Wenn es bei Marx heißt, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendig zum Untergang bestimmt ist, dann ist das unter ökonomischen Gesichtspunkten eine unbestreitbare Wahrheit, zumal, wenn sie durch die heutige Entwicklung des Kapitalismus zur roboterisierten Gesellschaft zugespitzt wird, aus der kein rettendes Proletariat mehr herauswächst, sondern die Perspektive weltweiter Revolten von marginalisierten ‚Überflüssigen‘ am Horizont auftaucht. Dennoch, ja, gerade deswegen, muss gesagt werden, dass zwischen die Pole von Krieg oder Nichtkrieg immer noch die Entscheidung des Menschen, einzelner wie die von Staatsführungen gestellt ist, ja, dass mehr noch als je zuvor jeder einzelne Mensch an dem Platz, an dem er oder sie steht, die Möglichkeit hat, ja zu sagen, zu einer anderen als der bloß ökonomischen Priorität. Dieses Recht dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Es ist unsere einzige Chance, aber die gibt es.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema:

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, (erweiterte Neuauflage von „Die Kraft der ‚Überflüssigen‘ – Der Mensch in der globalen Perestroika“ )

Eigenverlag, Erschienen bei „Verein zur Förderung der deutsch-russischen  Medienarbeit e.V.“, Hannover, Dezember 2016, ISBN 9783-7412-98066, 10.99 €

    Das Buch zeigt, wer die „Überflüssigen“ sind und welche Kräfte in ihrem „Überflüssigsein“ liegt, welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien ihr Aufbruch ausgesetzt ist, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte. (Bestellungen über: info@kai-ehlers.de)

 

[1] Manifest der Kommunistischen Partei, Ende von Teil I, Bourgoisie und Proletariat, in Kröner, Frühschriften, S. 538

[2] Zbigniew Brzezinski, Strategic vision, America and the crisis of Global power, basic Books, New York, 2013, S. 30 ff

[3] Siehe dazu: Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell füssli, Zürich, 2003

Ausserdem: Kai Ehlers, die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen“, erweiterte Neuauflage, 2016

 

Vortrag beim Kieler Friedensforum vom 1. April 2017: „Russland und die Logik des neuen kalten Krieges“

 

Votrag Ortsgruppe Ottersberg  der anthroposophischen Gesellschaft vom 7. April 2017:

„Krise des Nationalstaats und Perspektiven der Dreigliederung heute.“

Europa verteidigen? – ja, aber gegen wen und wofür? Föderalistisches Pro gegen nationalistisches Contra

In letzter Zeit ist viel davon die Rede, Europa verteidigen zu müssen. Allen voran schlägt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ vor. In ihrem Schlepptau folgt die Verteidigungsministerin Ursula v. d. Leyen mit Aufrüstungsphantasien für die Bundeswehr. Der Kommissionspräsident der Europäischen Union Claude Juncker fordert die Mitglieder der Union zur Diskussion einer „Effektivisierung“ der Gemeinschaft durch deren „Differenzierung“ auf, lässt dabei allerdings ebenfalls seine Präferenz für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchblicken.  

Die Reihe derer, die in diesen Kanon einstimmen, ließe sich mühelos bis in die europäischen Stammtische fortsetzen. Selbst EU-Skeptiker, die eher eine fortschreitende Zentralisierung beklagen, lassen sich von diesen Tönen mitreißen.

Und ja, es gibt viel zu verteidigen. Es gibt sogar etwas zu gewinnen, nämlich ein demokratischeres Europa, eine gerechtere Zukunft, eine Wiederbelebung europäischen Geistes. Die Frage ist allein: Von welchem Europa ist die Rede, von welcher Bedrohung und wie soll diese gerechtere Zukunft aussehen?  Und was, schließlich, ist der europäische Geist? Darüber besteht ganz offensichtlich kein Konsens. 

Für die einen reicht Europa schlicht vom Nordkap bis Gibraltar, einschließlich Britanniens und Russlands bis zum Ural. Die anderen verstehen darunter die Europäische Union in den Grenzen ihrer Osterweiterung mit Optionen auf weitere Ausdehnung auf Kosten Russlands. Dies gilt vor allem für die nach dem Zerfall der Sowjetunion hinzugekommenen Mitglieder der EU. Sie „warnen“, wie die Polen,  vor einem „Kerneuropa“. Der Austritt Britanniens aus der Gemeinschaft dagegen stellt die EU als verbindlichen politischen Vertreter Europas offen in Frage. Andere wie die Griechen, denken über ihren möglichen Austritt nach.

Aus dem ganzen Wirrwarr taucht am Ende die Frage nach der Rolle Mitteleuropas aus der Vergessenheit der Geschichte wieder auf. Aber auch hier steht die Frage: Was wäre heute Mitteleuropa? Etwa Italien, Deutschland, Frankreich? Oder Deutschland, Polen und Frankreich? Oder Österreich, Deutschland und die Schweiz, also der  deutschsprachige Teil Europas? Oder schließlich einfach nur Deutschland als unerklärte Hegemonialmacht, wie man aus Auftritten deutscher Politiker in letzter Zeit schließen könnte?

 

Kurzer Rückblick in die neuere Geschichte

Angesichts dieses Chaos‘ ist ein kurzer Blick zurück in die neuere Geschichte unerlässlich, allerdings nicht etwa nur bis zu den Kinderschuhen der Europäischen Union nach dem zweiten Weltkrieg 1948/49, zu ihrer ersten Gestalt als Montanunion 1950 oder zu allen darauf folgenden Zusammenschlüssen  der EWG,  EG und schließlich der Europäischen Union; auch nicht nur bis zur Gründung des Völkerbundes nach dem ersten Weltkrieg 1920, sondern zurück in die Zeit vor diesen Versuchen gesamteuropäischer Zusammenschlüsse – in die Zeit,  als Europa noch nicht nach Nationalitäten, sondern in der Tradition des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“, also nach Fürstentümern gegliedert war.

Fixpunkt, bei dem ein solcher Rückblick in die neuere europäische Geschichte andocken kann, dürfte der Westfälische Friede von 1648 sein, mit dem der Dreißigjährige Krieg, der die Mitte Europas in eine Wüste verwandelt hatte, in eine erste, das ganze europäische Land umfassende Friedensordnung überging.

Was der Krieg 1648 hinterließ, war dennoch aber nicht etwa ein gesamt-europäischer Zusammenschluss, sondern eine Vielfalt der Fürstentümer und Kleinstaaten. Dynastische, auch religiöse, nicht ethnische Zugehörigkeiten waren die Basis dieser Ordnung.

Anders gesagt, die Entmischung des Vielvölkerraums  Europa nach ethnischen nationalen Kriterien hatte noch nicht stattgefunden,  was – dies sei hinzugefügt, um Kurzschlüssen zu begegnen – Pogrome gegen Andersgläubige, vornehmlich gegen Juden, aber auch andere wie die Hugenotten nicht ausschloss.

Mit Napoleons Eroberungen fand diese Zeit eine erste Wende. Die Reichsordnung des „Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation“ musste dem Code Napoleon weichen. Durch die Auflösung der alten Reichsordnung 1806 und nach der Niederlage Napoleons wurde, wie in Wikipedia richtig angemerkt, die staatliche Gestaltung Mitteleuropas zu einer zentralen Frage des 19. Jahrhunderts.

Die Frage stand: wie?  Würde sich aus dem Erbe des aufgelösten Reichsverbandes unter Aufnahme der Impulse, die aus der Krise der Habsburger Vielvölkertradition zur Lösung anstanden, ein föderales Mitteleuropa herausbilden oder der von Napoleon initiierte Nationalstaatsgedanke die Oberhand gewinnen?

Mit der Entscheidung der Revolutionäre der deutschen Revolution von 1848 für die damals so genannte „kleindeutsche Lösung“ anstelle der möglichen „großdeutschen“ wurden die Weichen auf nationalstaatliche Entwicklung Europas gestellt. Die Versammlung in der Paulskirche, in der über die Ergebnisse der Revolution entschieden wurde, stimmte für eine deutsche Einheit unter preußischer Führung  ohne Einbeziehung Österreichs. Österreich wurde damit aus der deutschen Entwicklung abgekoppelt.  

Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck vollendete diese Teilung Mitteleuropas in Kriegen Preußens gegen Dänemark, Hannover und die verbliebenen Kleinfürstentümer des deutschen Raumes, vor allem aber mit dem Sieg über die Habsburger 1866, also Österreich, und schließlich über die Franzosen. Am Ende dieser Politik, die als Bismarcks Politik von „Blut und Eisen“ in die Geschichte einging, stand die Gründung des deutschen einheitlichen Nationalstaats unter Kaiser Wilhelm in Versailles 1871.

Damit war der historische Moment für die Entstehung eines vielgliedrigen Mitteleuropa verstrichen, das die slawischen, deutschen und weitere Völker der alten Fürstenordnung Mitteleuropas in eine föderale Ordnung hätte überführen können. Sie hätte den Osten und den Westen, die südlichen und nördlichen Teile Europas als ausgleichende Mitte verbinden können. Was jetzt entstand, war ein ethnisch orientierter preußisch-deutscher Nationalstaat, ein expansiver Machtstaat anstelle eines möglichen föderalen und pluralen sich selbst genügenden Mitteleuropa, der seine Hegemonie gegen die revolutionären Forderungen der 48er Bewegung nach liberalen und föderalen Reformen und auf Kosten Österreichs mit Gewalt nach außen und Repression nach innen durchsetzte. Für seine Nachbarn, die mit der Kleinteiligkeit des mitteleuropäischen Vielvölkerraums gut hatten leben können, wuchs dieses wilhelminische Deutschland sehr schnell zu einer beängstigenden Bedrohung heran.

 

Zerstückelung Mitteleuropas

Das Ende dieser Entwicklung ist bekannt. Im ersten Weltkrieg entluden sich die Spannungen zwischen den noch bestehenden Strukturen der herkömmlichen europäischen und mit Europa verbundenen Reichsordnungen, also  zwischen Habsburg, Russland, im weiteren Sinne auch dem mit Europa über den Balkan sowie den Mittelmeerraum verbundenen Ottomanischen Reiches und den neuen Nationalstaaten Frankreich und dem Aufsteiger Deutschland. Besondere Spannungen ergaben sich zwischen Deutschland und Großbritannien, das als führende Kolonialmacht nach dem Niedergang Frankreichs zum unbestrittenen Hegemon Europas geworden war.

Weniger bekannt, genauer weitgehend aus der allgemeinen politischen Erinnerung verdrängt, ist das entscheidende Ergebnis dieses Krieges: Eine neue, über Europa hinausweisende Konstellation war durch den Kriegseintritt der USA an der Seite des Westmächte entstanden. Die Vielvölkerreiche der Habsburger und der Ottomanen verwandelten sich unter dem Diktat der Sieger, konkret durch das Programm der 14 Punkte, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson für eine Nachkriegsordnung vorlegte, in eine Vielzahl von Nationalstaaten. In der Folge ging die gewachsene europäische Völkersymbiose unter dem gutgemeinten Leitwort der Selbstbestimmung der Völker in ethnische Säuberungsansprüche und –kriege zwischen den neu geschaffenen Nationen über. Deutschland und Österreich wurden auf nationale Rumpfstaaten reduziert. Das alte Mitteleuropa war als politische Größe faktisch nicht mehr vorhanden.

Eine Sonderentwicklung nahm Russland ein. Zwar ging das zaristische Russland in den  Fluten der Februar- und dann der Oktoberrevolution von 1917 unter, die den Weltkrieg in Russland begleiteten, büßte auch seinen direkten Einfluss auf die slawischen Volksbewegungen Ost- und Südeuropas ein, der russische Vielvölkerorganismus aber blieb in der Gestalt der Sowjetunion als russisch dominierter Großraum erhalten.

Vom Ergebnis her hieß das alles: Das auf Deutschland  reduzierte Mitteleuropa war, scharf gesprochen, zur geopolitischen Geisel zwischen den  Westmächten und Russland geworden, hier repräsentiert durch die USA,  dort in der Gestalt der Sowjetunion.

Hitlers Versuch, das alte Mitteleuropa mit Gewalt, als groß-deutsches Reich, als deutschen Machtstaat, als deutschen Totalstaat, gestützt auf ethnische Säuberungen, die mit den gewachsenen Strukturen mitteleuropäischen „undeutschen“ Volksgutes endgültig aufräumen sollten, wiederherzustellen, endete mit der weiteren Zerschlagung der europäischen Mitte, mit der Teilung Deutschlands, mit einem geteilten Europa, eingekeilt im beginnenden Kalten Krieg zwischen West und Ost, dem atlantischen und dem sowjetischen Block. Das war eine nochmalige Zuspitzung der bereits nach dem 1. Weltkrieg entstandenen Situation. Die Gründung der Europäischen Union war der politische Ausdruck davon. Mit der Systemteilung der Welt trieb diese Entwicklung auf ihren Höhepunkt.

 

Und heute?

Auf die Öffnung der Mauer folgte die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, auf die Wiedervereinigung Deutschlands die Wiedervereinigung Europas, auf das Ende der Systemteilung der Welt die Globalisierung.

Aber ist damit die europäische Mitte wiederentstanden? Mitnichten. Entstanden ist ein deutscher Nationalstaat in einer Europäischen Union der Nationalstaaten. Miteinander suchen sie ihre Identität in dieser globalisierten Welt.

Die Europäische Union ist heute ohne Charakter – nicht West, nicht Ost, aber auch nicht Mitte.  Hin und her gerissen zwischen dem amerikanischen und dem Eurasischen Kontinent. Aber diese Polarität ist, obwohl noch vorhanden und gegenwärtig propagandistisch äußerst strapaziert, doch schon beinahe Vergangenheit. Die Konstellationen sind komplizierter geworden.

Da sind, über den aktuellen Anschein hinaus, nicht nur die USA und Russland, zwischen denen sich die EU entscheiden müsste. Hochgekommen ist, neben den USA und Russland, inzwischen auch China, für das sein Präsident Xi Ping soeben beansprucht hat, als Führungsmacht steuernd ins Weltgeschehen eingreifen zu wollen. Er möchte eine multipolare Weltordnung entstehen lassen. Da ist weiterhin die Türkei, die unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf eine Wiedergeburt Ottomanischer Größe im Mesopotamischen Raum orientiert. Da sind der Iran, Indien, Südamerika, da ist Afrika, da ist schließlich noch der politisch noch offene pazifische Raum – sie alle sind Größen, die Achtung erfordern.

 

Verteidigen?

Dies alles sind Herausforderungen – ja! Existenzielle Bedrohungen, wie sie in letzter Zeit in EU-Kreisen beschworen werden, gehen von dieser Konstellation für Europa allerdings nur dann aus, wenn nicht Kooperation im Zuge einer entstehenden multipolaren Ordnung, sondern Konkurrenz von Blöcken zur Leitschnur des Handelns gemacht wird, wenn mögliche Partner, seien es die USA, seien es Russland oder China zu Feinden und Un-Kulturen aufgebaut werden.

Auch die Migration aus dem Süden des Globus muss nicht in die Katastrophe führen, weder für die „entwickelten“ Industrieländer des globalen Nordens insgesamt, noch im Besonderen für die Europäische Union, wenn die Staaten der „noch nicht entwickelten“ Länder, zumeist ehemalige Kolonien, zuallererst durch einen allgemeinen Schuldenerlass, sodann durch gleichberechtigte Handelsbeziehungen anstelle der gegenwärtigen Knebelverträge aus den Fesseln der Abhängigkeit tatsächlich, nicht nur formal entlassen und als gleichberechtigte Partner akzeptiert und gefördert werden.

Zu verteidigen ist Europa aber entschieden gegen diejenigen, die von einer Überwindung des Nationalismus sprechen, während sie unter dem Stichwort eines „Kerneuropa“ die kriselnde Europäische Union real unter das Diktat eines Supra-Nationalstaates EU bringen wollen, der in Konkurrenz zu den bestehenden Großmächten Anspruch auf Weltführerschaft erhebt.

Noch klarer gesprochen, zu verteidigen ist Europa gegen eine erneute deutsche Dominanz in einem solchen „Kerneuropa“, die die Fehler eines deutschen Nationalstaates nach Bismarck, Wilhelm II. und dem „Dritten reich“ zum vierten Mal wiederholen könnte.

Wohin gehört unter diesen neuen Bedingungen heute Europa? Im Grunde wäre die Antwort klar, wenn die Europäische Union, allen voran darin Deutschland als deren Mitte, es schaffte, sich auf seine Geschichte vor den großen nationalen Katastrophen im zweiten, im ersten und noch vor den Kriegen Bismarcks zu besinnen: Europa gehört nicht in einen Block mit den USA, aber auch nicht in einen anderen mit Russland, ebenso wenig in einen dritten mit China. Die Entstehung solcher Blöcke wäre ein gefährlicher Brandsatz.

Ein Europa, das sich auf seine Vergangenheit besinnt, könnte die Kräfte entwickeln, die solchen Blockbildungen entgegenwirkt. Die heute entstandene globale Lage fordert geradezu einen Rückgriff auf jene damals nicht zur Entwicklung gekommenen föderalen Kräfte, die durch die Nationalstaatsordnung des 19. Und 20. Jahrhunderts abgewürgt wurden, die durch die gegenwärtige Organisation der EU jetzt noch weiter abgewürgt zu werden drohen. Europa muss sich an seine ur-eigenen Kräfte der Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen erinnern.

Allerdings geht es jetzt nicht mehr nur um Mitteleuropa zwischen dem Osten und dem Westen Europas, generell nicht mehr nur um Grenzgänge zwischen Osten und Westen. Jetzt geht es um ein föderal organisiertes Gesamteuropa, das seinen Platz als Vermittler in einer globalisierten Welt der Vernetzung und Kooperation findet. Dieses neue Europa muss nicht als alternativer Weltpolizist auftreten, der die USA in dieser Rolle ablöst, sondern als Botschafter, der den Geist des Ausgleichs am eigenen Beispiel einer funktionierenden föderalen Demokratie in die Welt zu tragen versucht.  Das wäre eine Antwort auf die Fragen, die am Anfang dieses Artikels gestellt worden sind. Das wäre, was europäischer Geist genannt werden könnte. 

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:

Kai Ehlers, Themenheft 19: Europa wohin? Ausgewählte Texte.

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Putin und Trump – ein Gespann? Ein Versuch hinter die Worte zu blicken

Ja, möchte man sagen – und doch nein. Ungeachtet unterschiedlicher persönlicher und politischer Profile sind Donald Trump und Wladimir Putin ein Gespann, notgedrungen, ob sie es wollen oder nicht. Und sind es doch nicht.

Beide sind vor einen Wagen gespannt, dessen Räder im Sumpf ungelöster globaler Probleme und Aufgaben zu versinken drohen. Sie selbst und die hinter ihnen stehenden „Eliten“ sind ratlos, wie sie mit der aus allen Fugen schießenden globalen Expansionsdynamik und der wachsenden Ungleichheit zwischen den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung und der bedrohlich wachsenden Zahl Benachteiligter, Ausgegrenzter, „Überflüssiger“, Marx würde sagen, überflüssig gemachter Paupers umgehen oder sich ihrer entledigen können. Immer ungeduldiger fordern diese Milliarden ihren Anteil am Reichtum der Welt, global und lokal. Eine Elitendämmerung kündigt sich an, wenn keine Vernunft einkehrt.

Die unipolare Weltordnung, die mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war, ist in wilder Bewegung.  Syrien ist dafür der aktuelle Brennpunkt, wo Kämpfe um lokale Souveränität, regionale Einflusszonen und globale Vorherrschaft sich an der Grenze zum globalen Krieg überschneiden.  

Denkbar wäre natürlich, dass die „Eliten“ in dieser Krisensituation, ungeachtet ihres Herkommens und ungeachtet der persönlichen Profile ihrer Vertreter und Vertreterinnen gemeinsam an einer Lösung dieses Knotens arbeiten, um ihre Ratlosigkeit zu überwinden, ja, sich vielleicht gar bereitfinden Ratschläge und Hilfe von „unten“ zu akzeptieren,  statt Milliarden von Menschen zu ohnmächtigen Zuschauern  oder zu Opfern ihrer Entscheidungen zu machen.

In Einzelfragen, die gegenwärtig in ersten Telefonaten zwischen dem neuen Mann in Washington und seinem schon länger amtierenden Kollegen in Moskau verhandelt werden, könnte tatsächlich Einiges möglich werden. Die Rede ist von der Einrichtung geschützter Zonen für Flüchtlinge in Syrien, von einem Ende der  Sanktionspolitik gegen Russland, von  einer Beilegung der Krim- und Ukrainekonflikte. Schließlich sogar von einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Terror – wobei allerdings schon zu fragen ist, was unter „dem“ Terror jeweils verstanden wird.  

Das alles klingt nach Frontbegradigungen – und wäre auch zu begrüßen, wenn es zu Entspannung auf überfälligen Konfliktfeldern führen, wenn es dazu beitragen könnte, die weitere Ausbreitung des Terrorismus zu verhindern. Allerdings muss hier über die Frage hinaus, was jeweils unter Terror verstanden wird, festgehalten werden, dass Terrorismus nicht mit Waffengewalt, auch mit einer russisch-amerikanisch kombinierten Militäraktion nicht zu beseitigen sein wird, sondern nur mit einer grundlegend anderen Politik der „entwickelten“  gegenüber der sich entwickelnden Welt, die den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben vor Ort zu gestalten.

Im Übrigen sind schon die ersten außenpolitischen Dekrete des neuen US-Präsidenten, die ein willkürliches Einwanderungsverbot aus einer Reihe von muslimischen Ländern in die USA verfügen, eher geeignet, dem Terrorismus weltweit neue Kämpfer und Kämpferinnen aus diesem Feld zuzuführen als ihn zu dämpfen. Auch flackern in der Unsicherheit des neuen Frontverlaufs ungelöste Konflikte wieder auf wie in der Ukraine, andere sind zu erwarten. 

 

Unterschiedliche Perspektiven

Obwohl gleichermaßen eingespannt und trotz möglicher Kompromisse in Einzelfragen streben Putin und Trump doch in entgegengesetzte Richtungen. Der eine, Putin, strebt seit seinem Amtsantritt 1999/2000 in die Richtung einer kooperativen Weltordnung, aus wohlverstandener eigener Schwäche  und aus bitterer historischer Erfahrung, wohin eine Überdehnung der eigenen Kräfte führt.

Der andere, Trump, getrieben von dem Bestreben, von globalen Verpflichtungen nicht länger, wie er sagt,  „ausgebeutet“ zu werden, setzt unter dem Motto „America first“ auf Parzellierung  gewachsener globaler Strukturen – bei gleichzeitiger Überhöhung seines und des US-Machtanspruches. Das setzt autoritäre und nationalistische Impulse frei.

Weit entfernt also davon in eine Richtung zu ziehen, obwohl in einem Gespann, gehen die Dynamiken Russlands und der USA extrem auseinander. Putin  orientiert auf Stabilisierung und Reform der nationalstaatlichen Ordnung, wie sie sich in den Vereinten Nationen herausgebildet hat und in ihrer Charta fixiert ist. Trump forciert bilaterale Beziehungen unter Führung der USA.

Damit setzt sich ins Extrem fort, was schon die Politik der letzten Jahre bestimmt hat. Sollte man die Situation, die so entsteht, in ein Bild bringen, so müsste man das einer Waage wählen, deren eine Seite sich senkt, während die andere sich hebt. Schauen wir im Detail.

 

Schrumpfen mit Trump?

Seit Jahren zielt die US  Strategie darauf die globale Vorherrschaft der USA nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ zu bewahren – und kann doch deren Verfall nicht  aufhalten. Bester Zeuge dafür ist der bekannte US-Stratege Zbigniew Brzezinski, in dessen Büchern die Stufen des Verfalls der US-Vormacht umso deutlicher hervortreten, je stärker er die Vorzüge dieser Macht hervorzuheben bestrebt ist – darin ein unfreiwilliger Vorbote Trumps, der jetzt auf den unteren Sprossen dieser Stufenleiter als Erbe erscheint:

Den Zusammenbruch der Sowjetunion begrüßt Brzezinski mit dem  Fanfarenruf des Siegers in dem Buch: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“[1]. Es erschien erstmals 1997, avancierte danach zum Weltbeststeller. In dem Buch wird das strategische Szenario entworfen, wie die USA die ihr in den Schoß gefallene Weltherrschaft  bewahren könnten, wenn sie dafür sorgten, dass in der Welt, insbesondere in Eurasien in Zukunft kein neuer Rivale sein Haupt erheben könne. Auf dieser Linie entwickelten die USA nach 1990/91 ihre Politik der Einkreisung Russlands.

Zehn Jahre später, 2006, schon wesentlich gedämpfter, folgt Brzezinskis erste Bilanz unter dem Titel: „The second chance“[2]. In diesem Buch schaut er auf die Präsidentschaften von Bush I, Clinton und Busch II zurück (so Brzezinskis Schreibweise).  Bush I – in Brzezinskis Charakteristik ein mittelmäßiger Verwalter, der nichts aus dem Sieg von 1990/91 gemacht habe, Clinton – ein Parvenü, der der Welt zu viel versprochen und dadurch amerikanisches Potential  leichtfertig verschleudert habe, Bush II  – ein politischer Hasardeur, der mit seinem brachialen, alleingängerischen „Krieg gegen den Terrorismus“ amerikanisches Ansehen in der Welt und dessen Vormachtstellung in krimineller Weise geschädigt habe. Zugleich habe er die Bildung der Bevölkerung sträflich vernachlässigt. Mit dem von ihm zurückgelassenen Bildungsniveau der US-Bevölkerung, so Brzezinski, sei keine Weltpolitik zu machen. 

Eine zweite  Chance für die in der Folge dieser drei Präsidenten geschwächte Weltmacht könne es nur geben, so Brzezinski, wenn das Land einen neuen Anlauf nähme, den „American way of life“ durch eine Bildungsoffensive im Innern und eine Bündnisoffensive nach außen zu erneuern. Barack Obamas Politik des „Yes we can“ war ein Kind dieser Kritik, eine Offensive des Lächelns bei gleichzeitiger Eskalation der US-Interventionen im Selbstmandat.

Noch ein Intervall später, 2013, im Vorjahr zum Ukrainischen Maidan, unter dem Titel „Strategic Vision, America and the crisis of global Power“[3]  sieht Brzezinski sich zu der Aussage gezwungen: „Angesichts des neuen dynamischen,  und international komplexen und politisch erwachenden Asien ist die neue Realität die, dass keine Macht versuchen kann – in Mackinders Worten[4] – Eurasien ‚zu beherrschen‘ und so die Welt zu ‚kommandieren‘.  Amerikas Rolle, besonders  nachdem es zwanzig Jahre vergeudet  hat (having wasted), muss jetzt sowohl subtiler als auch verantwortlicher gegenüber Asiens neuen Machtrealitäten sein. Herrschaft durch einen einzigen Staat, wie mächtig auch immer, ist angesichts des Hochkommens neuer regionaler Spieler (player) nicht länger möglich“. Nur unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, wiederholt Brzezinski beschwörend, könne dem  weiteren Niedergang der US-Vormacht entgegengewirkt werden.

Wie die Entwicklung zeigt, hat eine breiter angelegte Bündnispolitik  unter Obama auch nach Brzezinskis zweiter Ermahnung den weiteren Niedergang der US-Vormacht nicht aufhalten können, sondern mit der Politik des Regime Changes und der gezielten Tötung durch Drohnen noch tiefer in die Sackgasse des US-Alleingangs geführt. Darüber konnte auch Obamas aggressive Propaganda gegenüber dem angeblichen Kriegstreiber Russland nicht hinwegtäuschen. Das Ukrainische Abenteuer, wie auch der vorläufige Rückzug der USA aus Syrien haben vielmehr die zunehmende Schwäche der USA klar erkennen lassen.

Trump ist der Erbe  dieses innen- und außenpolitischen Niedergangs. Statt sich in ein erweitertes Bündnis der von Brzezinski beschworenen „Newcomer“ zur Herausbildung einer kooperativen Kraft einzugliedern, sucht er den Weg in die weitere Fraktionierung der internationalen Ordnung, die er, wie gesagt, als Last empfindet – in der irrigen Annahme Amerika auf diese Weise wieder groß machen zu können. Das geschieht ohne erkennbares Programm nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.

Im Gegensatz zu den zurzeit vor allem in Europa grassierenden Klagen, mit Trumps brachialem Motto werde die demokratische Tradition der „Pax Americana“ gebrochen, findet der unter diesem Schild bisher verdeckte Nationalismus der USA mit Trump lediglich seine unverhüllte Zuspitzung und Offenbarung. Die irritierte Empörung der atlantischen Partner der USA angesichts dieser Offenbarung des tatsächlichen Charakters der US-Politik lässt vor allem anderen eine Sorge erkennen, nämlich die, mit der Demaskierung der US-Politik zugleich selbst demaskiert zu werden.

 

… und wachsen mit Putin?

Demgegenüber Putin – ebenfalls Erbe, allerdings einer gegenläufigen Entwicklung. Sie steigt von Michail Gorbatschow, der ins europäische, über Boris Jelzin, der gleich ins amerikanische Haus einziehen wollte bis zu Putins und Medwedews immer aufs Neue wiederholtem Angebot auf, gemeinsam mit der NATO eine „Sicherheitsarchitektur“ von Wladiwostok bis Lissabon schaffen zu wollen . 

Auf dieser Linie ging es darum Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zu Kräften zu bringen. Dafür brauchte das Land eine Stärkung der internationalen Ordnung, wie sie von den Vereinten Nationen repräsentiert und in ihrer Charta beschrieben wird. Wohlverstanden im eigenen Interesse Russlands, aus eigener Schwäche, zum Schutz gegen die übermächtige Dominanz der USA.

Die Stationen dieses spät- und nachsowjetischen Restaurationsprozesses folgten nicht aus einem Programm der Revanche und der Re-Imperialisierung, wie vom Westen unterstellt, sondern aus den Tatsachen des für die Bevölkerung lebensbedrohlichen Zusammenbruchs der Sowjetunion und den blanken Notwendigkeiten einer Restauration der russischen Staatlichkeit, sprich fundamentaler sozialer Strukturen.   

Gorbatschow bat den Westen 1991 um Hilfe für die Verwirklichung seiner Reform des Sozialismus – die er, versteht sich, von den potentiellen Geldgebern nicht erhielt. Man schickte ihn vom Londoner G7-Treffen zum Scheitern nach Haus, während man Jelzin zu gleicher Zeit ermutigte und half, das Land für eine ökonomische und kulturelle Kolonisierung durch den Westen zu öffnen.

Erst mit Wladimir Putin kehrte so etwas wie die Besinnung Russlands auf sich selbst in die russische Gesellschaft zurück. Putin formulierte bei seinem Amtsantritt zwei grundlegende Ziele, die er danach beharrlich verfolgte und bis heute verfolgt: Russlands Staatlichkeit wieder aufzubauen und Russland entsprechend seiner gewachsenen historischen Rolle wieder zum Integrationsknoten Eurasiens zu machen.

Mit diesem Arbeitsprogramm, seinerzeit unprätentiös als einfache Internetmeldung der Öffentlichkeit bekanntgegeben, wandte er sich zunächst der  Stabilisierung der inneren Verhältnisse des Landes zu, verpflichtete die Oligarchen ihren im Zuge der Privatisierung des Volksvermögens gegeneinander geführten Krieg einzustellen und sich dem Wiederaufbau des Landes zuzuwenden. Das bedeutete für die neuen Reichen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, wieder in minimale kommunale und soziale Verpflichtungen einzusteigen, ihre privaten Vermögen in eine korporative Führung zu überführen, die sich staatlichen Regeln zu unterwerfen hatte. 

Kurz, es war ein Aufbauprogramm. Wer nicht wollte, wurde  beiseite gedrängt. Man erinnere sich an die Namen Wladimir Gussinski, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, die unter Jelzin – neben dem IWF – zu den unerklärten Herrschern Russland aufgestiegen waren.

Der eigentliche Befreiungsschlag Putins bestand jedoch in der Aufkündigung der von Jelzin eingegangenen Abhängigkeit von den Milliardenkrediten des IWF, darauf folgend auch noch in der Rückzahlung der sowjetischen Altschulden an die westlichen Gläubiger, die an der Rückzahlung überhaupt kein Interesse hatten, sondern es lieber gesehen hätten, die Schulden wachsen zu lassen.

Nach der inneren Konsolidierung trug Putin den Anspruch seines Krisenmanagements in die Außenpolitik, um dort der Einkreisung zu begegnen. Von da an ging es Zug um Zug entsprechend den allmählich wachsenden Kräften des neuen Russland.

2007: Putins Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“, bei dem er der aggressiven Militarisierung der Weltpolitik durch die USA, sowie der ebenso aggressiven Ost-Erweiterungspolitik der EU und der NATO erstmals weltöffentlich entgegentrat – ohne dass er zu der Zeit ernst genommen worden wäre. Die westlichen Medien ließen ihn vielmehr als Möchtegern Kraftprotz erscheinen.

Dann aber 2008: Nach der Serie „bunter Revolutionen“ und angesichts neuer Ansätze der Ost-Erweiterung von NATO und EU in die Ukraine, über Georgien und darüber hinaus, zieht Russland die gelbe Karte gegen die Provokationen des Georgischen Präsidenten Saakaschwili, der sich Ossetien einverleiben will.

In der Folge der Georgischen Krise, ebenfalls 2008, entstehen erste Ansätze zur Gründung der Eurasischen Union – übrigens nicht von Putin, sondern vom Kasachischen Präsidenten Nasarbajew angestoßen. 2010 folgt die aktive Erneuerung des Angebotes an die NATO zur Bildung einer gemeinsamen „Sicherheitszone“. 2013 schlägt Russland vor, das Problem der Ost-West-Gespaltenheit der Ukraine zwischen europäischer und eurasischer Union einvernehmlich in Gesprächen zu lösen. Keines dieser Angebote erschien dem Westen wert darauf einzugehen.

Mit dem vom Westen betriebenen Regimewechsel in der Ukraine 2014 ging Russland vom passiven Widerstand gegen die westliche Einkreisungspolitik zum aktiven über, indem es das Referendum der Bevölkerung der Krim zur Frage einer Rückkehr der Halbinsel nach Russland aktiv unterstützte und die Krim in den russischen Staatsbestand aufnahm. Zugleich förderte Russland die Bestrebungen im Osten der Ukraine nach Autonomie – lehnte von dort ausgehende Beitrittswünsche allerdings ab, ja, unterband sogar den Aufbau einer eigenen Staatlichkeit des Gebietes als „Novo Rossia“.

Mit dem Eingreifen  russischer Bomber auf Seiten Baschar al Assads in Syrien und gegen den „Islamischen Staat“ , das zum vorläufigen Rückzug der USA aus deren Interventionsreihe in Mesopotamien führte, fand das russische Krisenmanagement seinen vorläufigen Höhepunkt. Ergebnis ist das gegenwärtige Krisenpatt zwischen den USA und Russland, wie es sich in den von der Türkei, Russland und Iran initiierten Waffenstillstandsverhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana niederschlug, an denen die USA nur als Beobachter teilnahmen. Was daraus folgt, ist offen.

 

Patt – aber gemeinsame Interessen?

So stehen sich diese beiden globalen „Partner“ heute gegenüber. Wenn jedoch von gemeinsamen Interessen, wenn gar von gemeinsamer Sprache der Präsidenten die Rede ist, wenn gesagt wird, Trumps  „America first“ bedeute das Gleiche wie Putins seinerzeit erklärte Absicht, Russland wieder aufbauen zu wollen,  wenn gar gesagt wird, beide seien gleich unberechenbar, oder auch, jetzt würden die USA genauso unberechenbar wie vorher Putin, dann ist das nichts weiter als Augenwischerei, im harmlosesten Fall einfach Unkenntnis historischer Tatsachen oder Dummheit. 

Fakt ist die unübersehbare Kontinuität der Putinschen Politik, der seit seinem Amtsantritt vollkommen berechenbar Schritt für Schritt von der Stabilisierung der innenpolitischen Situation Russlands zur Stabilisierung der globalen Beziehungen fortgeschritten ist – während die USA im gleichen Maßstab ihre Berechenbarkeit verloren haben und mit Trump jetzt gänzlich zu verlieren sich anschicken.

Ergebnis ist, dass die beiden großen Mächte, die heute – neben China als bisher stillem Begleiter – die Weltpolitik wesentlich bestimmen, auf polaren Seiten ein und derselben gegenwärtigen Entwicklung stehen, eben als ein Gespann. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, wenn Trump die Weltordnung in nationale Fragmente zerlegen, der andere, Putin,  die Souveränität des Nationalstaates als Voraussetzung für Stabilität erhalten will.

Putin und Trump treffen an ein und demselben kranken Punkt der gegenwärtigen internationalen Weltordnung aufeinander, beide allerdings letztlich, wenn auch auf gegensätzlichen Seiten, auf löcherigem Boden, denn die heutige Form der globalen Nationalstaatsordnung, manifestiert in den vereinten Nationen, die der eine erhalten, der andere noch weiter als bisher beiseiteschieben will, ist angesichts der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technik und Kultur so oder so überlebt. Sie bedarf nicht nur der Reform, sie bedarf einer zeitgemäßen Weiterentwicklung.

Unter nationalstaatlicher Grundorganisation des heutigen Staatenlebens, um das hier in aller Kürze zu verdeutlichen, ist das im 19. Jahrhundert entstandene Credo zu verstehen, nach dem alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens von der Wirtschaft bis zur Kultur durch den nationalen Einheitsstaat unter staatlichem Gewaltmonopol zusammengefasst und verwaltet und gegenüber allen anderen Staaten zur Geltung gebracht werden, mit denen jeder Staat für sich Arbeitskräfte, Ressourcen und Märkte mit anderen teilen muss.

Kurz gesagt: was des einen Staates Gewinn, ist  zwangsläufig des anderen Verlust. Kriege sind bei dieser Ordnung umso unvermeidlicher, je größer die Anzahl der Nationalstaaten wird, die sich in dieser Weise den globalen Kuchen teilen müssen.

Beim Stand der Dinge ist die Politik, die Trump einzuschlagen gedenkt allerdings die gefährlichere, insofern sie die schon von seinen Vorgängern betriebene Fraktionierung dieser Ordnung unter dem Slogan „America first“ ohne Rücksicht auf zukünftige Folgen, nur getrieben vom spontanen Abwärtstrend der US-Supermacht, wie er sich in dem Weckruf „America first“ ausdrückt, ins Extrem zu treiben antritt. Putins Strategie, insofern sie das eigene Überleben nur im Rahmen eines globalen Krisenmanagements begreift, beinhaltet demgegenüber immerhin die Chance, so etwas wie einen vorübergehenden globalen Stabilitätsrahmen herzustellen,  der ein Sprungbrett für eine Ordnung bilden könnte, die über den Nationalstaat als Grundorganisation  des heutigen Staatenlebens hinausweisen – könnte.

 

Vom Zweier- zum Dreierpatt

Dass die Frage der heute anstehenden Neuordnung letztlich nicht allein zwischen den beiden Polen USA und Russland ausgetragen wird, ist dem bisher Gesagten schließlich noch hinzuzufügen. Zwar treten gewisse historische Linien aus der Vergessenheit der Geschichte wieder hervor, so die anglo-amerikanische, die aus der Tradition des Britischen Commonwealth heraus einem eigenen Kurs gegenüber Mitteleuropa und Eurasien folgt. Das ist eine Spur, die sich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über den zweiten bis zu den jetzt wieder hervortretenden Konstellationen  zieht. Sie  zielt auf eine Schwächung Europas, genauer der europäischen Mitte, insbesondere Deutschlands, noch  genauer und aktuell gesagt auf die Verhinderung einer möglichen deutsch-russischen Achse. Der Austritt Britanniens aus der EU und seine neue Nähe zu den USA unter Trump lässt diese Linie nach Brexit und US-Präsidentenwechsel unmissverständlich hervortreten.

Die historischen Parallelen sind allerdings nur noch bedingt gültig, eine einfache Wiederholung historischer Konstellationen wird es nicht geben können, weil inzwischen – wie schon von Brzezinski unter dem Stichwort der tendenziellen West-Ost-Verschiebung der globalen Machtzentren richtig beschrieben  – andere Kräfte in der Welt aufgetreten sind, insbesondere China. Damit ist der historische Impuls des Commonwealth nicht mehr das einzige bestimmende Element in der Weltgeschichte und auch nicht in der Beziehung zwischen den USA und Britannien und kann es, wenn kein Wunder geschieht, auch nicht wieder werden.

Ein Dreiecksverhältnis ist entstanden, bestehend aus Russland plus China, Europa und den USA, in das sich alle anderen Länder der Welt einfügen müssen. Das könnte dem zwischen Russland und USA entstandenen Patt vorübergehend  eine festere Haltbarkeit geben.

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Könnte,  wenn …

Allerdings kann selbst in einer solchen Dreiecksbeziehung nicht mehr entstehen als eben ein vorübergehendes Stillhalteabkommen. Warum? Weil die Grundfragen der gegenwärtigen Entwicklung, durch Krisenmanagement allein nicht zu lösen sind, solange die drei, und nicht nur die drei, sondern alle Mächte der Welt, alle heute herrschenden Kräfte der Welt, an der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Expansion festhalten, die ja ihrerseits letztlich Ursache der Krisenerscheinungen ist, wie wir sie heute haben.

Nicht oft genug kann wiederholt werden: Wir leben in einer Welt, in der alle bisherigen Versuche das Paradies auf Erden herzustellen gescheitert sind. Das betrifft das Glücksversprechen des Kapitalismus ebenso wie das des realen Sozialismus. Die bisherige Form der Globalisierung erweist sich darüber hinaus auch nicht als Lösung, sondern als Verschärfung dieser Ergebnisse. Die Frage stellt sich also, wie wollen wir leben, wenn nicht so, aber auch nicht so?

Solange eine Antwort auf diese Frage nicht über die Reduzierung des Menschen auf einen „Homo Konsumentis“ hinauskommt, der nur in Kategorien beständiger Expansion, wirtschaftlich gesprochen „Wachstum“ denken und leben kann, solange keine andere Weltorientierung, kein anderes Verständnis vom Menschen in der Welt entwickelt worden ist, das ihn wieder als kosmisches Ganzes begreift, solange ist eine weitere Zuspitzung der genannten Widersprüche unumgänglich, in welcher Konstellation auch immer.  

Das betrifft auch die nationale Frage. Zwar könnte die Achtung der internationalen Ordnung, wie sie die Charta  der Vereinten Nationen enthält, einen Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen abgeben, wenn sich alle Länder darauf als zur Zeit noch verbindlichen Rahmen einigen könnten, und niemand total quer schösse, aber – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – angesichts der globalen Verflechtung unserer heutigen Weltwirtschaft, Technik und Kultur ist die nationale Ordnung des Völkerlebens, ist die nationale Organisation, konkreter gesprochen, der nationale Zugriff auf das Feld der Ressourcen etc., ein auslaufendes Modell.

Die heute anstehenden Aufgaben, allen voran die Bewirtschaftung von Ressourcen – als Beispiel seien nur Öl und Internet genannt – können nur dann befriedigend und friedlich gelöst werden, wenn dies in nicht national begrenzter gemeinschaftsdienlicher Verwaltung  geschieht. Das allein kann eine Entwicklung öffnen, die im Rahmen der allgemeinen Nutzung zugleich zu der existenziell notwendigen Wiederbelebung lokaler Räume durch miteinander verbundene größere oder kleinere Bedarfsgemeinschaften führt.

Gebraucht wird eine Differenzierung gesellschaftlicher Aktivitäten, bei welcher der einzelne Mensch zugleich selbstorganisiert und in kooperativer Gemeinschaft leben kann, ohne von einem Staatsmonopol oder gar einem globalen Hegemons auf einen bloßen Konsumenten reduziert und zum Schräubchen fremder Interessen erniedrigt  zu werden.  

Mögliche Ansätze zu Entwicklungen in diese Richtung gibt es viele – globale,  regionale und lokale. Nach dem ersten, ebenso nach dem zweiten Weltkrieg und heute. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und wird viel ausprobiert . Eine Verwirklichung im großen Maßstab steht jedoch noch aus. Ein vorübergehendes Patt der heutigen Großmächte und ihrer politischen wie auch persönlichen „Follower“ könnte eine Chance sein, einen neuen Anlauf zur Förderung solcher Alternativen zu entwickeln. Klar ist jedoch: Die Rückführung der jetzigen globalen in bi-nationale Beziehungen unter der Dominanz eines Hegemons, wie das von der amerikanischen Politik, genauer von ihrem gegenwärtigen Präsidenten zurzeit anvisiert wird, ist nicht dazu geeignet, Alternativen auch nur ansatzweise zu fördern. Sie läuft auf eine Zertrümmerung solcher Ansätze hinaus. Möglicherweise ist das auch ein Weg zur Erkenntnis, aber es ist der schlechtere Weg.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu  das Video:

http://www.russland.news/putin-und-trump-ein-gespann-video

 

 

und das Buch:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Eigenverlag, Bestellung über: www.kai-ehlers.de

 

Außerdem Vortragsangebote, die Sie buchen können:

Siehe dazu auf der Eingangsseite: VORTRÄGE BUCHEN

[1] Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht, 1996 bei Fischer, neu herausgegeben bei Kopp Verlag, 2015

[2] Brzezinski, Zbigniew, Second Chance, 2006, English, Basic books, 2007

[3] Brzezinski, Zbigniew, Strategic vision, America and the crisis of global power, English, S. 131, Basic Books,

[4] Mackinder, Halford, 1861 – 1947, britischer Geopolitiker, Begründer Theorie des „Herzlandes“

Aleppo – apropos Scham

„Das Versagen“, so lautete der Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Niederlage der „Rebellen“ in Aleppo am 17. Dezember.

„Dass wir alle etwas sehen im 21. Jahrhundert“, erklärte die deutsche Bundeskanzlerin auf dem zurückliegenden Gipfel der „Europäischen Union“, „was zum Schämen ist, wo das Herz bricht,  was zeigt, dass wir politisch nicht so handeln konnten, wie wir gerne handeln würden.“ (ebendort)

Ja! kann man dazu nur sagen! Ja! Es ist eine Schande, was dort in Aleppo, was heute noch in Syrien geschieht, was weiterhin dort zu geschehen droht .

Aber worin besteht das Versagen? Und wer sind „wir“, die sich schämen müssten, weil sie nicht so handeln konnten wie sie wollten?

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Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen. Erweiterte Neuauflage

Was bei Erscheinen des Buches vor drei Jahren noch als auf uns zukommende, möglicherweise  eruptive Tendenz erscheinen konnte, nämlich der Aufbruch der „Überflüssigen“ aus der Südhalbkugel des Globus, hat sich im Zuge der „Flüchtlingskrise“ zur manifesten Herausforderung Europas entwickelt, die dem Problem der hiesigen „Überflüssigen“ die explosive globale Dimension unübersehbar hinzufügt.

Aber weit entfernt davon, das akute Ansteigen des Migrationsdrucks als Aufforderung zu verstehen, den Ursachen dieser Entwicklung jetzt endlich an die Wurzel zu gehen, indem zumindest Ansätze  gemacht würden, die dahinter stehenden Ausplünderung des Südens durch den „entwickelten Norden“ zu korrigieren, werden nur die Symptome der Krise bekämpft, um die Flüchtlinge abzudrängen, werden die Zäune noch höher gezogen, wird inzwischen zur militärischen Abwehr der nach Norden drängenden „Flüchtlingsströme“  übergegangen.

Insofern war der Analyse von der Grundtendenz her nichts hinzuzufügen. Leichte statistische Schwankungen der Arbeitslosenstatistik in den „entwickelten Ländern“ sowie der Zahlen der nach Norden strebenden        Menschen aus dem Süden haben demgegenüber bloß konjunkturellen Charakter. Ergänzt habe ich die Neuausgabe lediglich um die Korrektur einiger Druck- und Satzfehler sowie um einen Text von mir, der im Vorfeld der Arbeiten zu den „Überflüssigen“ aus Gesprächen mit dem Künstler und Kulturökologen Herman Prigann entstanden ist, dessen Projekt „Terra Nova“ am Schluss des Buches vorgestellt wird. Der Text findet sich im Anhang unter der Überschrift „Die Krise nutzen“.

Eine Bemerkung schließlich noch zur Kritik eines Lesers der ersten Auflage, ich hätte den eugenischen Tendenzen, die sich heute abzeichnen, zu viel Platz eingeräumt. Ich gebe zu, es ist mühsam, diese Tendenzen wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber anders als der kritische Leser, dem ich sehr dankbar für seinen Einwand bin, sehe ich mich durch die tatsächliche Entwicklung eher bestätigt – nur treten die heutigen eugenischen Tendenzen natürlich nicht in der historisch bekannten Form auf; sie erscheinen heute als Präventionsstrategie im Namen globaler, sogar „ganzheitlicher“  Sicherheit. Die Form dieser Präventionslogik reicht heute von Peter Sloterdijks in schöner Sprache formulierten „Menschenzucht“, über die Verwandlung des individuellen Wunsches nach Gesundheit, über den Druck zum Nutzen der Gemeinschaft nicht krank sein zu    dürfen, bis hin in das  beständig ansteigende Niveau der über den ganzen Globus sich ausbreitenden Ideologie des Terrors, die letztlich nichts anderes propagiert als die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Dabei spielt es schon keine Rolle mehr, wer Terrorist, wer Anti-Terrorist ist.

Um aber zu  erkennen, woraus auch die „moderne Eugenik“ wieder     hervorgeht, ist es wichtig sich ihres historischen Kerns zu erinnern: Sie war Ausdruck des totalisierten  nationalen Einheitsstaates, der den Zugriff auf sämtliche Lebensbereiche, die vollkommene geistige und physische Verfügungsgewalt über den einzelnen Menschen hatte. Die Ideologie und die Realität dieses Einheitsstaates aus der Kraft selbstbewusster Individuen zu überwinden, die sich mit anderen in kooperativer Gemeinschaft für eine lebensförderliche Welt souverän verbinden, steht heute auf der Tagesordnung und wird mit jedem Tag aktueller.

Entwickeln und sortieren wir die möglichen Alternativen.

Ich wünsche ihnen nunmehr eine ertragreiche Lektüre.

 

Kai Ehlers, bestellen direkt beim Autor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neu: Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen. Ethischer Aufschrei aus den Sprachenkriegen am Ende der UdSSR am Beispiel Moldawiens

Geleitwort des  Herausgebers

Geschichte wiederholt sich nicht. Und wenn sie sich doch wiederholt, dann nur als Farce, wie wir heute zu sagen gewohnt sind. Manches Mal offenbaren sich die Ereignisse von gestern allerdings auch als die embryonale Form nachfolgender Kataklysmen. 

So ist es mit dem moldauischen Sprachenkrieg, über den der Moskauer Schriftsteller und Poet, Jefim Berschin, der als Korrespondent der „Literaturnaja Gazeta“ direkt in die Geschehnisse hineingezogen wurde,  in  seiner dokumentarischen Erzählung Zeugnis ablegt.

Mit Gewalt versuchte eine moldauisch sprechende Mehrheit, der nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion soeben in die Unabhängigkeit  taumelnden sozialistischen Sowjetrepublik Moldau, im Sommer 1992 der Bevölkerung des seit Jahrhunderten vielsprachigen Moldauer Raumes im Namen einer nationalen Einigung die moldauische Sprache als einzige aufzuzwingen.

Der Versuch führte zu einem eruptiven Gemetzel, kurz, aber extrem brutal und blutig, das mehr als 1500 Menschen das Leben kostete. Eine Einigung wurde nicht gefunden. Die jenseits des Dnjestr lebenden Teile der Bevölkerung Transnistriens, die die gewaltsame Verengung ihrer Vielvölkerkultur auf das Moldauische nicht akzeptieren wollten, erklärten sich zur unabhängigen Republik. Völkerrechtlich wurde sie bis heute von niemandem anerkannt. Die unentschiedene Beziehung zwischen Moldau und der Dnjester-Republik schwelt, um es paradox zu formulieren, heute als einer der „eingefrorenen Konflikte“ im Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen. Russland, unterhält dort eine Friedenstruppe von ca. 1000 Mann.

Was damals in einer kurzen Eruption geschah, wiederholt sich mehr als 20 Jahre später in einem um Vieles erweiterten Maßstab im ukrainischen Krieg, in dem wieder versucht wird in diesem extrem pluralistischen Raum des süd-östlichen Europa, zudem in unmittelbarer Nachbarschaft zum moldauischen Schauplatz von 1992 eine nationale Einheit, diesmal die ukrainische mit Gewalt gegen sprachliche und kulturelle Minderheiten zu erzwingen.  Mindestens 10.000 Menschen fanden bei diesem gnadenlosen Schlachten bisher den Tod, nicht gerechnet die ungezählten die Opfer von Unterernährung, von Krankheit und die mehr als eine Million Flüchtlinge, die Zerstörung der Potenzen eines von Natur aus reichen Landes, die die Bevölkerung ins Elend gestürzt hat.  

Der ukrainische Krieg erscheint wie ein in überdimensionales aufgeblasenes Déjà vue des Moldauer Sprachenkrieges. Continue reading “Neu: Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen. Ethischer Aufschrei aus den Sprachenkriegen am Ende der UdSSR am Beispiel Moldawiens” »

Syrien – Regime Change der globalen Art?

Syrien, das Land des mesopotamischen Halbmonds – Wiege der europäischen, der westlichen Kultur. Wird es auch ihr Sterbebett sein, wie manche Zeitgenossen und Zeitgenossinnen schon fürchten? Oder gibt es andere Aussichten?

Vieles wurde dazu schon gesagt. Das Unbestreitbarste sei hier vorangestellt, nämlich: Dass es sich bei dem, was gegenwärtig in Syrien geschieht, nicht um einen Bürgerkrieg, sondern um einen Stellvertreterkrieg handelt. Diese Tatsache bedarf keiner neuen Beweise mehr. Berichte und Analysen wie die der Ethnologin, Islam- und Politikwissenschaftlerin Karin Leukefeld, die seit 2000 als freie Journalistin aus dem Nahen Osten, direkt aus Syrien berichtet, sind für jeden verfügbar.[1] Mehr als ein Dutzend Kriegsparteien, 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land, das dem Terror preisgegeben ist, das sind Tatsachen, die für sich sprechen. Dass es nicht um das Wohl der dort lebenden Menschen, sondern um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist ebenfalls klar.

Wichtig zu erkennen sind aber auch die inneren Probleme Syriens, die aus der Lage des Landes zwischen europäischer Orientierung als jungem säkularem, aus der Willkür nachkolonialer Grenzziehungen hervorgegangenem Nationalstaat und seinem traditionellen, nach umfassender geographischer und ideologischer Ganzheit strebenden arabisch-muslimischen Umfeld, speziell den Aktivitäten der über Syrien hinaus organisierten Muslimbrüderschaft erwachsen.

Es waren diese Widersprüche, die Bashar al-Assads Reformansatz, mit dem er seine Regierung im Jahre 200O antrat, in bewaffnete Auseinandersetzungen abgleiten ließen. Die eben zugelassene Opposition spaltete sich schon auf ihrem ersten legalen Kongress 2011 in einen gewaltfreien Teil und militante Widerständler aus dem fundamentalistischen Milieu, die von Anfang an von außerhalb Syriens unterstützt wurden. Die Regierung Assads sah sich in Kämpfe verwickelt und griff hart durch.  Zu einem Krieg, der das Land zerfetzt, hätte die Situation ohne Interventionen von außen jedoch nicht führen müssen.

Dazu noch einmal Karin Leukefeld, die aus intimer Kenntnis des Landes versichert: „Während die regionalen und internationalen Akteure Syrien nach ihren Vorstellungen und Interessen aufteilen, wollen die Syrer ihr Land und ihre Gesellschaft  heilen und wieder aufbauen. Ließe man sie gewähren, könnten sie in einem halben Jahr viele Fronten beruhigen, ist ein UN-Diplomat überzeugt, mit dem ich mehrmals gesprochen habe. Es sind die ausländischen Einflüsse, die sie daran hindern.“

Dies alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden, zumal Regierung und Medien, einschließlich Wikipedia die Version des Syrischen Krieges als Bürgerkrieg  entgegen jeder inzwischen nicht mehr zu leugnenden Offensichtlichkeit weiter aufrechterhalten. Selbst die kürzlich erfolgte öffentliche Anweisung Obamas, die Nußra-Front, also eine der aktivsten „Rebellen“-Gruppen, wie sie in westlichen Medien genannt werden, nicht weiter zu unterstützen, führt nicht zu einem Eingeständnis, dass diese Gruppe und mit ihr andere „Rebellen“ bisher als Instrumente der Interventionen  benutzt wurden. Und unerwähnt bleibt, dass diese Politik zu einer Ausbreitung des Terrorismus bis in die Zusammenrottung des „Islamischen Staates“ auf der halben Fläche des syrischen Landes und Teilen des Irak geführt hat. 

 

Die andere Dimension

Etwas Drittes rückt jedoch in den aktuellen Absprachen zwischen den gegenwärtigen Hauptantagonisten USA und Russland um einen Waffenstillstand in Syrien inzwischen mehr und mehr zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde dieses Andere durch einen demonstrativen öffentlichen Auftritt Bashar al-Assads im September 2016. Unmittelbar, nachdem die USA und Russland ihre Absicht öffentlich gemacht hatten, ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen, erklärte er, der syrische Staat sei „entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die Syrischen Streitkräfte würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“ fortsetzen.[2]

Der Auftritt verblüffte.  Bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass in den  Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt worden war,  welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende zugedacht ist,  obwohl in den Jahren und noch in den Wochen zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten worden war.

Die russische Position war bis dahin eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen. Alles andere muss notwendig ins Chaos führen.

Ebenso eindeutig war die amerikanische, in ihrem Gefolge westliche Position: Assad muss zurücktreten, um Raum zu geben für eine demokratische Neuordnung  und Stabilisierung Syriens und darüber hinaus des mittleren Ostens.    

Weniger bekannt war, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier überraschte ein von der „Deutschen Welle“ in die Öffentlichkeit gebrachtes Interview, das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung,  zu der Frage gegeben hatte, wie er zu der zu erwartenden Annäherung stehe.

Assads Antwort war deutlich, als er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf einen Nenner brachte, den er „value and deal“ nannte – „Value“ als Motivation für die russische, „Deal“ für die amerikanische Intervention.

Anders als die Politik der USA, so erläuterte die „Deutsche Welle“ Assads Sicht, beruhe  Russlands  Politik nicht darauf, „Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten“. Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne.

Die Russen, so Assad selbst, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.[3]

 

Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Wladimir Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Schon beinahe gebetsmühlenartig klang das, sich in Aufritten führender russischer Politiker wiederholende Angebot zur gemeinsamen Schaffung einer „Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis Lissabon“.  Putin „schockierte“ damit 2007 die sog. Sicherheitskonferenz von München; Dimitri Medwedew wiederholte das Angebot auf der NATO-Konferenz von Lissabon 2010. Kern war immer die Stärkung der UNO und der KSZE als organisatorisches Rückgrat einer solchen Sicherheits-Struktur auf der Basis einer Anerkennung  der Souveränität von Nationen als verbindliche globale  Grund-Ordnung – mit dem Ziel einer Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen.   

In seiner letzten großen Rede auf dem 13. Waldai-Forum vom 27. Oktober 2016 unterstrich Wladimir Putin diese Position Russlands noch einmal: „Für uns gibt es keinen Zweifel, dass die Souveränität die zentrale Idee des gesamten Systems der internationalen Beziehungen ist.  Ihre Anerkennung und  ihre Festigung  wird helfen Frieden und Stabilität zu sichern  sowohl  auf internationaler wie auf nationaler Ebene.“

Er beließ es nicht bei dieser allgemeinen Feststellung, sondern konkretisierte: „Man muss  der internationalen Agenda die Aufgabe hinzufügen den Ländern des Mittleren Ostens dabei zu helfen, eine nachhaltige Staatlichkeit, Ökonomie und soziale Sphäre wieder aufzubauen. Das  ungeheure Ausmaß an Zerstörung erfordert die Aufstellung eines langfristigen Programms, eine Art Marshall-Plan, um die von Krieg und Konflikten zerrissenen Gebiete wieder zu beleben. Russland ist unbedingt willens sich aktiv an solchen gemeinschaftlichen Bemühungen zu beteiligen.“[4]

 

USA: Spiegelverkehrt

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nahmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung  zu betreiben.

Diese Politk ist durch das unter G.W. Bush entwickelte „Project of a new American century“[5] und das daran anschließende weiterführende Projekt eines „Greater Middle East“ [6] mit dem darin nicht misszuverstehenden Aktionsterminus der „kreativen Zerstörung“, schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden.

Beide Projekte entstanden nicht etwa aus politischer Not, etwa um ein Chaos im Nahen Osten zu befrieden, sondern gingen aus der Schule des bekannten US-Strategen Zbigniew Brzezinski hervor,  der den nah-östlichen zusammen mit dem zentralasiatischen Raum in seinen Skizzen zur Erhaltung der US-Vorherrschaft als „Eurasischen Balkan“ definiert hatte. Die schwächeren Länder darin bezeichnete er als „Brückenkopf“ für den Zugriff der USA auf die Rohstoffvorkommen dieses Gebietes und zur Stabilisierung der US-Vorherrschaft, insbesondere zur Eindämmung russischen Einflusses.[7] Auch dies ist sattsam bekannt.

 

Syrien letzte Station

Syrien war auf dieser Line die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Am 18. August 2011 forderte Obama Assad öffentlich zum Rücktritt auf: „Die Vereinigten Staaten werden vom Streben der syrischen Bevölkerung nach einem friedlichen Übergang zur Demokratie inspiriert… Die  Zukunft Syriens muss von seiner Bevölkerung bestimmt werden, aber Präsident Bashar al-Assad steht ihr im Weg. … Die Vereinigten Staaten können und werden Syrien diesen Wandel nicht diktieren. Es liegt nun in der Hand der syrischen Bevölkerung, ihre Politiker selbst zu wählen, und wir haben den starken Wunsch der Menschen vernommen, dass es in ihrer Bewegung keinen Eingriff von außen geben soll. Die Vereinigten Staaten werden Bestrebungen vorantreiben, die ein demokratisches und gerechtes Syrien für alle Bürgerinnen und Bürger des Landes hervorbringen. Wir werden einen derartigen Ausgang der Ereignisse unterstützen, indem wir Präsident Assad dazu drängen, diesem Wandel nicht mehr im Wege zu stehen, und indem wir uns zusammen mit der internationalen Gemeinschaft für die allgemeinen Rechte der syrischen Bevölkerung einsetzen.[8]

Zu  welchem Wandel die Unterstützung der USA geführt hat, muss hier nicht noch einmal ausgeführt werden.  Festzuhalten ist nur, dass Obama sich bis heute nicht von dem Aufruf gelöst hat. Was sein Nachfolger tun wird, ist offen.

 

Wendepunkt Libyen

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war das für Russland Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht,  Russland ist inzwischen auch soweit wieder zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegen zu treten.

Dahinter werden selbstverständlich auch neue Konstellationen im globalen Kräfteverhältnis sichtbar: China, Indien, Iran, Türkei, Südafrika, Südamerika, Saudi-Arabien, die Staaten der EU, Kanada und kleinere Mitläufer – alle interessiert an der  Ausweitung ihrer Spielräume durch eine Zähmung der USA, nicht wenige von ihnen wie die Staaten der EU, wie Iran,  die Türkei, Saudi-Arabien, Quatar, Israel direkt oder indirekt in die Kriegshandlungen auf dem syrischen Boden involviert.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende„ herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder schwenken die USA auf die Linie Russlands ein, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und  Syriens erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt würde. 

 

Noch einmal Assad

Unter dem Eindruck der Verunsicherung, die von dem Ergebnis der US-Wahl ausging, bekräftigte Assad im Gespräch mit dem Portugiesischen  Fernsehens (RTP TV) im November 2016 noch einmal seine Position.[9]

Drei Passagen dieses äußerst lesenswerten Interviews sollen hier vorgestellt werden:

Erstens: Was er dazu sage, dass Russland, der Iran und die Hizbollah an der Seite der syrischen Armee im Einsatz seien.

Assad: „Sie sind hier, weil sie wichtige Hilfe anbieten konnten, denn in der Situation, der wir uns jetzt gegenübersehen, geht es nicht nur um ein paar Terroristen innerhalb Syriens: es ist wie ein internationaler Krieg gegen Syrien. Diese Terroristen sind von zig ausländischen Staaten unterstützt  worden, so dass Syrien nicht in der Lage gewesen wäre ohne Hilfe seiner Freunden dieser Art des Krieges zu begegnen.“[10]

Zweitens: Ob er nicht fürchte in Abhängigkeit von Putin zu geraten:

Assad: „Nein, erstens, wir sind vollkommen frei, nicht teilweise, vollkommen frei, in Bezug auf alles, was Syrien betrifft. Zweitens, was wichtiger ist oder wenigstens so wichtig, wie der erste Teil oder der erste Faktor, ist die Tatsache, dass die Russen  ihre Politik immer auf Werten aufbauen, und diese Werte sind die Souveränität anderer Länder, das internationale Recht, der Respekt für andere Völker, oder Kulturen, so dass sie in nichts intervenieren, was die syrische Zunft oder das Syrische Volk betrifft.“ [11]

Drittens: Ob er der Ansicht des designierten neuen UN-Generalsekretärs António Guterres zustimmen könne, dass Frieden oberste Priorität für Syrien habe:

 

Assad: „Unbedingt. Natürlich. Es  ist seine Priorität, und natürlich ist es unsere Priorität, das ist selbstverständlich. Es ist nicht nur unsere Priorität; es ist eine Priorität des Mittleren Ostens, und wenn der Mittlere Osten stabil ist, ist der Rest der Welt stabil, denn der Mittlere Osten ist das Herz der Welt, geografisch und geopolitisch, und Syrien  ist das Herz des Mittleren Ostens, geografisch und geopolitisch. Wir sind die Bruchlinie; wenn man diese Bruchlinie nicht beachtet, wird man ein Erbeben bekommen, das ist das, was wir immer gesagt haben. Darum ist diese Priorität  aus unserer Sicht hundertprozentig korrekt, und wir sind bereit  in jeder Weise zu kooperieren, um Stabilität in Syrien zu erreichen, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Interessen des Landes und des Willens des Syrischen Bevölkerung.“ [12]

 

Treffender lässt sich die Bedeutung des syrischen Krieges kaum noch beschreiben.

 

 

Souveränität für alle?

Hier erhebt sich allerdings die weiter führende Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe oder eines Volkes von den Vertreten des Souveränitätsprinzips die gleiche  Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das vor allem die Kurden, die heute in drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Rojawa“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Rojawa“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre kommunitäre Verfassung, die auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, insbesondere auch der Frauen  aufbaut, nicht nur zu einem zukunftsweisenden Modell für ganz Syrien werden. Es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für „Rojawa“ gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, sie vorübergehend dulden wie Russland  oder sie gar, wie die Türkei,  als „Terroristen“ bekämpfen.

 

„Islamischer Staat“ als Teil des Problems

Zum Nachdenken in diesem Zusammenhang fordert heraus, was Ibrahim al Dschaafari, Außenminister des Irak gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ äußerste, als er dieser Tage zu den „Fortschritten bei der Befreiung Mossuls“ befragt wurde:

„Es ist Hass entstanden bei den jungen Menschen in der Dritten Welt, „erklärte er. „Sie glauben, sie leben in einer Welt, die sehr reich ist, sie aber leben in armen Verhältnissen. Und sie sehen den Wohlstand,  und alle die Rechte der Europäer und Amerikaner.  Es gibt eine ‚Nordwelt‘, wo 20 Prozent der Menschen leben, denen 80 Prozent des Vermögens gehört. Und eine ‚Südwelt‘, wo 80 Prozent der Menschen leben, denen aber nur 20 Prozent gehören.“ 
Und er mahnt: „Wir müssen alle zusammen gegen den Terrorismus kämpfen. Nicht jeder allein für sich, sondern  alle Menschen dieser Erde. Alle  Länder sind vom IS-Terror  betroffen. Wenn die Dschihadisten  aus dem Irak oder aus Syrien oder Ägypten  vertrieben werden, dann werden sie woanders hingehen, wo es stabil ist. Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu einem Weltkrieg geworden. Im ersten Weltkrieg bekämpften sich nur die Militärs, im Zweiten Weltkrieg gab es große zivile Opfer. Dieser dritte Weltkrieg ist ein neuer Krieg. Er richtet sich allein gegen Zivilisten.“[13]

 

Und, darf man zustimmend ergänzen, auch wenn manches in Dschaafaris Text Kritik herausfordert, etwa seine Sicht auf die Weltkriege: Hass ist nicht nur in der islamischen Welt entstanden und die Welle des Aufruhrs, die auf die „entwickelte Welt“ zurollt, kommt nicht nur von außen, sondern auch von innen.

Der Krieg in Syrien, heißt das, ist nicht nur mehr als ein Bürgerkrieg, er ist aber auch nicht nur ein Stellvertreterkrieg, er ist ein Weltordnungskrieg.  Es geht um nicht weniger als um die Frage: Wie wollen und wie können wir morgen in einer Welt leben,  die immer mehr Menschen, hervorbringt, die sich nicht als Überflüssige an den Rand drängen lassen wollen.

 

Kampf um eine neue Ordnung

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität,  Selbstbestimmungsrecht der Völker und Selbstbestimmungsrecht des Individuums in ein neues Verhältnis zueinander bringt.

In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht, klar gesprochen, dem Modell des amerikanisch dominierten Finanzkapitalismus unterworfen ist.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiter führende Frage, WIE das geschieht.  Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation oder gar – darüber hinaus – durch neue Formen des Arbeitens und miteinander Lebens, die über   die heute noch herrschenden Ausbeutungsverhältnisse hinausführen.

Vor diesem Hintergrund ist die Zurückweisung der von den USA betriebenen „kreativen Zerstörung“ und deren Ablösung durch eine Orientierung auf Stabilität und strikte Einhaltung der nationalen Souveränität im Rahmen einer reformierten UN heute die rationalste Alternative, eine Art Minimalkonsens in Form eines globalen Stabilitäts- und Entwicklungspaktes – wenn sich nicht nur eine gewaltsame Ablösung des bisherigen Hegemons durch einen anderen vollziehen soll.  Ein solcher Pakt könnte den Rahmen für die Bearbeitung der anstehenden Fragen abgeben. Eine Lösung ist er noch nicht.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

 [1] U.a. Kasseler Friedensforum, 30.11.2015,  siehe auch ihr Buch: “Flächenbrand: Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat“, Papyrossa, (Neue Kleine Bibliothek) 20. Februar 2016

[2] Zitiert nach FAZ, 13.09.2016

[3] https://www.google.de/?gws_rd=cr&ei=bpvZV-vPLq-W6QSL8KbADw#q=DW+USA+wollen+in+Syrien+mit+Russland+zusammenarbeiten

[4] Präsident Russlands, Protokoll des 13. Waldai-Treffens: http://en.kremlin.ru/events/president/news/53151 (Englisch)

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fraum_Mittlerer_Osten

[7] Brzezinski, Zbigniew: „Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, Fischer tb 14358, 1999, Darin insbesondere der Abschnitt „Geostrategische  Akteure und geopolitische Dreh- und Angelpunkte“, sowie das Kapitel “Eurasischer Balkan“.

[8] http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien/obama.html

[9]  Portugiesisches Fernsehen, RTP TV, 16. November2016 , Syrien Arab News Agency (SANA), http://sana.sy/en/?p=93484

[10] ebenda, Frage 5

[11] ebenda, Frage 7

[12] RTP TV Channek, 16. November,  2016

[13] FAZ, Montag, 21.11.2016 , S. 2: „Wir brauchen einen Marshallplan für Mossul“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in „Hintergrund“ 1/2017

 

Putins Notruf – und kaum einer hört hin. Betrachtungen im Schatten des US-Wahlkampfes

Waldai 2016: Unüberhörbar deutlich, und doch im Westen unter dem Getöse des amerikanischen Wahlkampfes nahezu ungehört, schickte der russische Präsident Wladimir Putin als Hauptredner der dreizehnten Waldai-Konferenz vom Ende Oktober, die inzwischen als östliches Gegenstück zur Münchner Sicherheitskonferenz gesehen werden muss, einen Notruf in die Welt: Nichts habe sich seit der letzten Konferenz zum Besseren gewendet, so leitete er seine Rede ein, tatsächlich, wäre es ehrlicher zu sagen, nichts habe sich geändert.[1]

Noch „ehrlicher“ wäre es, in Fortsetzung des Putinschen Komparativs festzustellen, dass genau dieses „nichts“, so paradox es klingen mag, das ist, was die Lage verändert hat – und zwar zum Schlechteren hin.

Ein kurzer Rückblick auf die Reden, die Putin bei den Konferenzen 2014 und 2015 hielt, mag das verdeutlichen und damit den Ton der Rede von 2016 verständlicher werden lassen.

 

Vom Angebot zur Mahnung

Die Rede vom elften Treffen  2014 stand unter der Frage „Weltordnung: Neue Regeln oder ein Spiel ohne Regeln?“. Die Rede  enthielt, bei aller unüberhörbaren Kritik an der Einkreisungspolitik des Westens, die alle Reden Putins seit seinem Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“ transportieren, ein klares Angebot. Angeboten wurde von Putin die aktive Beteiligung Russlands an der Stabilisierung der internationalen Ordnung durch gezielte gegenseitige Achtung und Stärkung der Souveränität aller Nationen auf Basis des für alle gleichermaßen geltenden Völkerrechtes  im Rahmen ihrer Kooperation in der UNO. In dieses Angebot war die Wahrung der eigenen russischen Interessen ausdrücklich mit eingeschlossen:

„Russland hat seine Wahl getroffen“, erklärte Putin damals in voller Zuwendung zu Russlands „Partnern“, wie er seine westlichen Gegenüber nannte, „unsere Prioritäten bestehen in einer weiteren Vervollkommnung der demokratischen Institutionen und einer offenen Wirtschaft, in einer beschleunigten inneren Entwicklung unter Berücksichtigung aller positiven derzeitigen Tendenzen der Welt und der Konsolidierung der Gesellschaft auf Grundlage traditioneller Werte und des Patriotismus. Auf unserer Tagesordnung steht die Integration, diese Tagesordnung ist positiv und friedlich, wir arbeiten aktiv mit unseren Kollegen in der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der BRICS und anderen Partnern zusammen. Diese Tagesordnung zielt auf die Entwicklung von Beziehungen der Staaten untereinander und nicht auf Absonderung. Wir haben nicht vor, irgendwelche Blöcke zusammenzuzimmern oder uns in einen Schlagabtausch ziehen zu lassen. Jeder Grundlage entbehren auch Behauptungen, Russland sei bestrebt, irgendein Imperium wieder zu errichten oder verletze die Souveränität seiner Nachbarstaaten. Russland verlangt nicht nach irgendeinem besonderen, außerordentlichen Platz in der Welt, das möchte ich betonen. Indem wir die Interessen der anderen achten, möchten wir einfach, dass man auch unsere Interessen berücksichtigt und unsere Positionen achtet.“ [2]

In einer Rede die er am 29. September 2015 vor der UN-Vollversammlung zum  70. Jahrestag der Organisation, hielt, bekräftigte Putin übrigens dieses Angebot noch einmal: „Russland glaubt an das riesige Potential der UNO, das uns helfen sollte, eine globale Konfrontation  zu vermeiden und zur Strategie der Kooperation überzugehen. Zusammen mit anderen Staaten  werden wir konsequent  auf die Stärkung  der zentralen und koordinierenden  Rolle der UNO hinarbeiten.“

2015, bei der 12. Waldai-Konferenz schlug Putin einen wesentlich besorgteren Ton an. Hintergrund war die Ausweitung der Konflikte von der Ukraine auf Syrien, der anhaltende Sanktionskrieg  gegen Russland und die ausufernde Dämonisierung Russlands in den westlichen Medien. Unter dem Thema „Krieg und Frieden: Mensch, Staat und die Gefahr eines großen Konflikts im 21. Jahrhundert“ ging Putin die aktuellen Krisen-Schauplätze durch: Ukraine, Syrien, IS, der Sanktionskrieg. Er betonte die Legitimität des russischen Militäreinsatzes in Syrien, die im Einklang mit der Souveränität des Landes stehe, im Gegensatz zur illegitimen Intervention der USA und der von ihr geführten Koalition. Er warnte vor einer Teilung Syriens als „schlimmstem Szenario“ und wurde schließlich sehr deutlich, als er erklärte, nach der Entwicklung von Atomwaffen könne es in einem globalen Konflikt keine Sieger geben. Es liege klar auf der Hand, dass ein solcher Konflikt mit einer gegenseitigen Vernichtung zu Ende gehen würde. „In dem Versuch, eine Waffe mit immer höherer Zerstörungskraft zu entwickeln“, so Putins Fazit zum Thema der Tagung, „machte der Mensch einen groß angelegten Krieg sinnlos.“[3]

In der westlichen Berichterstattung mutierte diese Passage selbstverständlich – so muss man es leider sagen – umgehend zur Drohung.

 

2016: Bemerkenswerte Obertöne

Die aktuelle Rede vom Oktober 2016 unterscheidet sich von den zuletzt vorausgegangenen in bemerkenswerter Weise. Genau betrachtet zerfällt sie in drei Teile, von denen der erste und der letzte, so kann man es inzwischen schon sagen, im konventionellen Rahmen des gegenwärtigen Konfliktmanagements bleiben und deshalb hier nur kurz gestreift werden sollen.

Im ersten Teil der Rede führt Putin die bisherige Kritik an der Politik des Westens zu einer offenen Anklage gegen die von den USA betriebene Politik des Regime-Change. Die USA gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten hätten die Chance einer globalen Verständigung, welche in den späten 80ern und frühen 90ern bestanden habe, bewusst ausgeschlagen. Im Ergebnis befinde sich das „System der internationalen Beziehungen“ in einem „fiebrigen Zustand“, könne die globale Ökonomie ihre „Systemkrise“ nicht überwinden. Im Schlussteil der Rede geht es Putin um aktuelle Maßnahmen des Krisenmanegements. Er bekräftigt die bekannte Position Russlands, „dass Souveränität die zentrale Idee des gesamten Systems der internationalen Beziehungen sei“, um die herum allein Stabilität auf nationaler und internationaler Ebene entwickelt werden könne. Als möglichen Schritt in diese Richtung schlägt er die Entwicklung einer „Art Marshall Plan“ für die Staaten des mittleren Ostens vor, darüber hinaus auch gleich den Übergang zu Entlastungen und Aufbauhilfe für andere schwache Staaten,

 

Mahnungen an die „Eliten“

Zwischen der konventionellen Einleitung, in der Putin die Systemkrise konstatiert, und dem pragmatischem Schlussteil des Minimalprogramms zur Stabilisierung des Mesopotamischen Raumes,  führt der Hauptteil der Rede, anknüpfend an seine Charakterisierung der globalen Lage als „fiebrige Situation,  in eine ganz andere Dimension:

Die Frage stelle sich, so Putin, „was erwartet die Welt, wenn die Dinge sich in dieser Weise fortsetzen? Was für eine Welt werden wir morgen haben? Haben wir Antworten auf die Fragen, wie Stabilität, Sicherheit und eine nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu gewährleisten sind?“

Und er beantwortet diese Frage im nächsten Atemzug gleich selbst: „Traurig zu sagen, es gibt keinen Konsens zu diesen Fragen in der heutigen Welt. Mag sein, dass Sie in Ihren Diskussionen zu einigen allgemeinen Schlüssen gekommen sind, und ich wäre natürlich interessiert, sie zu hören. Aber es ist sehr klar, dass es einen Mangel an Strategie und Ideen für die Zukunft gibt. Das lässt ein Klima der Unsicherheit entstehen, das direkte Folgen auf die öffentliche Stimmung hat.“

Soziologische Studien rund um die Welt zeigten, so Putin, dass die Menschen in  verschiedenen Ländern  und auf verschiedenen Kontinenten dazu tendierten, die Zukunft trübe und öde zu sehen. Dies sei bedauerlich. Die Zukunft verlocke sie nicht, sondern ängstige sie. Zugleich sähen sie keine realen Möglichkeiten, irgendetwas zu ändern, Einfluss zu nehmen und Politik zu gestalten. Selbst in den entwickeltsten Demokratien habe die Mehrheit der Bürger keinen wirklichen Einfluss auf die politischen Prozesse und auf die Macht. Die Menschen fühlten eine zunehmende Kluft zwischen ihren Interessen und den Vorstellungen der „Eliten“ vom  „einzig richtigen Weg, einem Weg, den die Eliten selbst bestimmen.“ Ergebnis: Referenden und Wahlen brächten immer öfter Überraschungen für die Autoritäten hervor. Diese Entwicklung könne nicht einfach als „populistische“ Radikalisierung abgetan werden vielmehr gehe es hier um „gewöhnliche Menschen, normale Bürger, die ihr Vertrauen in die herrschende Klasse verlieren.“!

Es stelle sich schließlich die Frage: „Wer ist tatsächlich die Randgruppe? Die expandierende Klasse der supranationalen Oligarchie und Bürokratie, die in der Tat oft nicht gewählt ist und die nicht durch die Gesellschaft kontrolliert werden kann, oder die Mehrheit der Bürger, die einfache und klare Dinge wollen – Stabilität, freie Entwicklung ihrer Länder, Aussichten für ihr Leben und das ihrer Kinder, Bewahrung ihrer kulturellen Identität und, schließlich, Sicherheit für sich und ihre Lieben.“

Es folgen noch Ausführungen zum internationalen Terrorismus, der von einer fernen Bedrohung zu einer alltäglichen geworden sei. Man solle denken, so Putin, dass nach langen Verhandlungen nun eine gemeinsame Front gegen den Terrorismus zustande gekommen sei. Aber leider zeigten die westlichen Länder  das „unerklärliche und ich würde sagen irrationale Verlangen“, immer wieder dieselben Fehler zu machen wie zuvor schon in Afghanistan, Irak, Libyen, jetzt in Syrien, zu glauben nämlich, man könne Terroristen in gemäßigte, die man für eigene Ziele benutzen könne, und radikale unterscheiden.

Aber dies, so Putin sei ein sehr gefährliches Spiel, und er wende sich noch einmal an die „Spieler“: „Die Extremisten sind in diesem Falle schlauer, cleverer, und stärker als ihr, und wenn ihr diese Spiele mit ihnen spielt, werdet ihr immer verlieren.“

Unüberhörbar schwingt hier die Warnung vor möglichen Unruhen und Revolten mit. Als Präsident Russlands, das von Revolutionen mehr als jedes andere Land geschüttelt wurde, weiß Putin, wovon er spricht.

 

Und dazu die USA: Koinzidenz des Unvereinbaren

Putins mahnende Worte zur Abgehobenheit der „Eliten“, zum schwindenden Vertrauen der Bevölkerungen in ihre Regierungen, zu den daraus hervorgehenden Tendenzen der Selbstorganisation kamen zu einer Zeit, in der die USA sich in einem erschreckend inhaltlosen Wahlkampf  selbst zerfleischten.

Lassen wir hierzu eine Stimme aus der Zahl der besten Freunde der USA zu Wort kommen, der „Frankfurter Allgemeine Zeitung.

In einem Kommentar kurz vor der Wahl kam sie zu folgendem Fazit: „Schlammschlachten um das Weiße Haus  gab es in der langen Geschichte  der amerikanischen Demokratie auch früher.  Doch steht zu befürchten, dass die jüngste nicht am Wahltag endet.  In Amerika tobt ein neuer, ein politischer Bürgerkrieg, in dem nicht nur schwarze Bürger gegen weiße Polizisten und die Demokraten gegen die Republikaner kämpfen, sondern auch die Angehörigen einer sich um den amerikanischen Traum betrogen fühlenden Unter- und Mittelschicht gegen das politische und ökonomische `Establishment´. Dieses ist auch selbst gespalten. In ihm tritt der Isolationismus gegen den Interventionismus an und der Überrest des amerikanischen Missionsglaubens gegen ‚America First“. (…) Die Führungsmacht des demokratischen Westens (…) droht in einer Zeit an sich selbst zu scheitern, in der sie in der Weltpolitik als ein den Werten der liberalen Demokratie verpflichteter Stabilitätsanker und global agierender Ordnungsfaktor gebraucht würde wie selten zuvor.“ ‘…[4]

„Der russische Präsident“, heißt es dann zu Begründung der aus dem Zustand der USA resultierenden Gefahr, „betreibt eine aggressive, remilitarisierte Außenpolitik unter Missachtung internationaler Regeln und Prinzipien, um sein Regime  zu sichern und um von den Missständen im Inland abzulenken. Er nutzt für seine Zwecke nun auch das Machtvakuum und das Chaos, das Washington  nach dem Abzug aus dem Irak im Nahen Osten  hinterließ.“ Auch China wolle Supermacht werden. Die Türkei drohe  zu einer islamistischen Präsidialdiktatur zu werden.  Die EU stecke in der schlimmsten Krise ihrer Geschichte. Kurz: „Die freie Welt wird von Lähmung und Spaltung und Zerfall geplagt und nicht nur in Moskau, sondern auch in den westlichen Völkern  finden manche, das geschehe ihr recht.“

 

Führungswechsel?

Was, fragt man sich, hat dies alles zu bedeuten? Was kann aus dem Zusammentreffen dieser von Putin in Waldai beschworenen und von den USA in ihrem irren Wahlkampf vorgeführten großen Leere bei den „Eliten“ und der wachsenden Unzufriedenheit der „Menschen“  entstehen? Ist das amerikanische Zeitalter mit einem Donald Trump als zukünftigem Präsidenten nun an ihren Tiefpunkt gelangt? Wird Russland neue globale Führungsmacht, die zusammen mit Europa ein eurasisches Zeitalter eröffnet? Steht China vor der Tür? Oder gar die Türkei als Wiedergeburt osmanischer Größe?

Mitnichten. Spekulationen dieser Art verbieten sich. Sicher ist allein, dass die Grundfragen der gegenwärtigen Übergangsepoche die herrschenden politischen Mächte an eine Grenze führen, die zu überschreiten, nicht nur neue Formen der Politik erfordert, sondern auch neue Orientierungen nötig macht, über die heute in keinem der herrschenden Länder, genauer bei keiner ihrer „Eliten“ eine Vorstellung besteht.

Deutlich tritt die Frage zutage, auf die es bisher keine Antwort gibt: Wie will, wie kann die Menscheit leben in einer Welt, die durch profitorientierte Automation und bei gleichzeitigem Wachstum der Weltbevölkerung immer mehr Menschen hervorbringt, die als „Überflüssige“ an den Rand der Gesellschaften gedrängt werden?

Angesichts dieser Lage ist Putins Stimme zurzeit die vernünftigste, wenn er zur Einhaltung des geltenden Rahmens internationaler Beziehungen und zu „wahrer Führungskraft“ aufruft, die darin bestehe, konkrete Wege der Friedenssicherung aufzuzeigen. Was eine von Trump angeführte US-Regierung bringt, wird sich bald  zeigen.

Eine nachhaltige Lösung liegt allerdings auch in Putins Notruf nicht. Bloßes Krisenmanagement muss letztlich in Stagnation enden, solange die Perspektiven nicht über die „Sicherung des Wachstums“ hinausweisen – denn das heute herrschende Verständnis von Wachstum ist ja gerade die Ursache der Konflikte.

Bleibt also nur die Hoffnung, dass die von  Putin genannten weltweiten Impulse aus den unruhig werden Bevölkerungen, selbst die Dinge in die Hand nehmen zu wollen, die „Eliten“ zwingen neue Wege zu gehen – oder selber zu gehen. Ob das auch seine eigene Perspektive ist, ließ Putin in seiner Rede offen.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Erscheint demnächst:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, Neuauflage, hrsg. vom Verein zur Förderung der deutsch-russischen Medienarbeit e.V., Dezember 2016,

Bestellungen über www.kai-ehlers.de

[1] Dieser Absatz wie alle folgenden  Passagen der Waldai-rede Putins werden zitiert nach der englischen Übersetzung aus sott.net: https://www.sott.net/article/332371-Putin-2016-speech-at-Valdai-Discussion-Club

[2] Siehe dazu auch: Kai Ehlers, “Wladimir Putins Botschaft an den Westen – ein Zeitfenster für Alternativen“, nachzulesen u.a. auf www.kai-ehlers.de

[3] https://de.sputniknews.com/politik/20151022305127363-garantierte-gegenseitige-vernichtung/

[4] Dieses und die folgenden drei Zitate aus „Selbstmörderische Supermacht“, Kommentar in der FAZ vom 5.11.2016

„Values and deals“ – Anmerkungen zu einem verborgenen Aspekt des syrischen Krieges

Dass es in Syrien nicht um das Wohlergehen der dort lebenden Menschen geht, bedarf keiner Beweise: 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land. Diese Tatsachen sprechen für sich. Dass dem Terrorismus mit Bomben nicht beizukommen ist, gleich, wo sie produziert, von wem sie abgeworfen werden und wie entschlossen sich alle Beteiligten geben, ist ebenso offensichtlich. Dass es um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist auch klar. Das alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden.

Aber etwas Drittes rückt in den aktuellen Absprachen zwischen USA und Russland um einen Waffenstillstand zurzeit in Syrien zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde das durch einen irritierenden Auftritt Bascha al Assads unmittelbar nach Bekanntgabe der zwischen den USA und Russland getroffenen Absichtserklärungen ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen:

„Der syrische Staat“, ließ Assad bei einem, wie die FAZ zu Recht als besonders bemerkenswert hervorhebt, „seltenen öffentlichen Auftritt“ demonstrativ verlauten, „ist entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die Syrischen Streitkräfte, so Assad  weiter,  würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“  fortsetzen. (Zitiert nach FAZ, 13.09.2016)

Was war das? Die Ansage eines unverbesserlichen „Schlächters“? Eine Provokation? Verzweiflung? Eine Dummheit? Ein abgesprochener Auftritt? Wenn abgesprochen, dann mit wem und wofür?

 

Schweigen zu Assad

Bei genauerem Nachforschen fällt auf, dass in den aktuellen Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt wird, welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende spielen soll, nachdem zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten wurde.

Die russische Position war bisher eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen.

Die amerikanische Position war ebenso eindeutig. Sie ist durch das schon unter G.W. Bush entwickelte „Project of a new American century“[1] unmissverständlich und schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden. Auch dies ist sattsam bekannt.

Weniger bekannt ist, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier lohnt ein Blick auf ein von der „Deutschen Welle“ gezeigtes  Interview[2], das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung,  zu der Frage gab, wie er zu dieser Annäherung stehe.

Assads Antwort verblüfft, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf den frappierenden Nenner bringt, den er „value and deal“ nennt – „value“ als Motivation für die russische, „deal“ für die amerikanische Intervention.

In den Worten der „Deutschen Welle“ klingt das so: „Anders als die Politik der USA fuße die russische Politik nicht darauf, Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten.  Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne, so Assad.“

Die Russen, so Assad weiter, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.

 

Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nehmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung  zu betreiben. Syrien war auf dieser Line, wie gesagt, die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war für Russland das Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht,  Russland ist inzwischen auch soweit zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegenzutreten.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was jetzt mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende„ herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder sind die USA auf die Linie Russlands eingeschwenkt, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und des Landes erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt werde.

 

Souveränität für alle?

Hier erhebt sich die weiterführende prinzipielle Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe, eines Volkes die gleiche  Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das die Kurden, die heute drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Roschawa“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Roschawa“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre Verfassung nicht nur zu einem Modell für ganz Syrien werden, es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als internationales,  als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für „Roschawa“ gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, oder gar, wie die Türkei, sie als „Terroristen“ bekämpfen.

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität  und Selbstbestimmungsrecht der Völker in ein neues Verhältnis zueinander bringt. Das könnte geschehen, indem als drittes Element das Selbstbestimmungsrecht des Individuums mit in den Zusammenhang eingeht – eine Aufgabe der Zukunft.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiterführende Frage, WIE das geschieht.  Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation und darauf beruhende Vereinbarungen. In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht unterworfen ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century

[2] https://www.google.de/?gws_rd=cr&ei=bpvZV-vPLq-W6QSL8KbADw#q=DW+USA+wollen+in+Syrien+mit+Russland+zusammenarbeiten