Schlagwort: Putin

Ukraine: Kritischer Impuls in Brüssel

Schon fast überrollt von den sich überstürzenden Ereignissen  fand am 26.02. in Brüssel unter dem Thema „Krise der Ukraine – Gefahren und Möglichkeiten“  eine Konferenz linker Aktivisten, Publizisten und Analytiker zur Krise der Ukraine statt. Initiatoren waren das Moskauer „Institut für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen“ (IGSO) und die ihm angeschlossen  „Post Globalisation Initiative“  (pglobal) in Zusammenarbeit mit der „Vereinigten Linken/Nordisch-grün-Linke-Allianz“ (GUE/NGL) des Europäischen Parlamentes.  Die Teilnehmer/innen kamen aus der Ukraine, aus Russland, Rumänien, Österreich, Frankreich, Belgien, Deutschland, Irland,  sowie aus den USA und Uruguay. Kostenträger war – ein Novum auf diesem Gebiet – das Moskauer Institut.

Die Konferenz stand unter dem unmittelbaren Eindruck  des  Machtwechsels in Kiew.  In der Einschätzung, dass berechtigte soziale Proteste durch westliche Intervention in den gewaltsamen Umsturz getrieben worden sind, gab es keine Differenzen. Die unvollendete „orangene Revolution“ wurde mit der „Maidan-Revolution“ im zweiten Anlauf durchgezogen. Mit ihrer nationalistischen, in Teilen offen faschistischen Radikalisierung  ist sie allerdings, je mehr sie angeheizt wurde, der Kontrolle ihrer Förderer entglitten Die Übergangsregierung ist schließlich durch nichts anderes als die unmittelbare Gewalt der bewaffneten Maidan-Rechten legitimiert  und es besteht die Tendenz, dass sie ihre Macht mit Duldung oder gar Förderung seitens der EU/USA weiter ausbaut und verfestigt. 

Differenzen und tendenziell  Ratlosigkeit gab es zu der Frage, was zu tun sei. Die ukrainischen Teilnehmer/innen bewerteten die entstandene Situation äußerst negativ. Die Wahl bestehe nur zwischen rechts und extrem rechts. Die Linke, auch in ihren radikaldemokratischen Rändern, habe keine Strategie und keinerlei konkreten politischen Einfluss, weder auf dem Maidan, noch im Parlament, noch in den Gewerkschaften oder Betrieben. Wenn nicht von außen Hilfe komme, sondern wie im bisherigen Verlauf der Maidan-Revolte, die Radikalisierung von außen angeheizt, die Rechten verharmlost, sogar unterstützt würden, drohe Chaos und Bürgerkrieg. Die Linke werde unter diesen Umständen praktisch  – auf jeden Fall in der Ukraine – in den Untergrund gedrängt.

Keine Begeisterung löste am Ende der Konferenz die  Aussicht aus, daß Russland nach langem Zögern nun doch versucht sein könnte, in das politische Geschehen innerhalb der Ukraine einzugreifen. Die ukrainischen Probleme von den Ukrainern gelöst werden. Hilfe von außen könne nur darin bestehen, im Medienkrieg um die Ukraine die Verharmlosung und Unterstützung der Rechten aufzudecken und zurück zu weisen und im aktiven Dialog bei der Entwicklung  von Alternativen mitzuwirken. Als eine solche mögliche Perspektive wurde am Ende der Konferenz vorgeschlagen, darüber nachzudenken, wie eine Föderalisierung in der Ukraine aussehen könnte, die  das Land nicht spaltet, sondern durch intensive Kooperation ihrer mit mehr Rechten demokratischer Selbstverwaltung herausgebildet wird.

Die Konferenzteilnehmer vereinbarten eine Dialogplattform  einzurichten, über die Austausch von Informationen in russisch und englisch laufen soll:

Volodmyr  Ishenko: https://www.facebook.com/vishchenko Boris Kagarlitzkij  www.IGSO.ru     http://www.pglobal.org

Bericht von Kai Ehlers

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Communique: Round Table «Ukrainian Crisis: Dangers and Opportunities».

February 28, 2014

 

On February 27th a group of experts and activists from Ukraine, Russia and from the EU visited Brussels hosted in the European Parliament by GUE/NGL for a one-day round table «Ukrainian Crisis: Dangers and Opportunities».

 

Ukrainian society needs radical social and economic changes but not more neoliberal austerity. The Association Agreement with the EUin the form in which it is proposed now,is not providing answers to the problems of the country. We stress the need for a peaceful solution of the crisis which can only be achieved if the external forces do not support irresponsible policies from either side. While international media blames the former government for theviolence that occured in Kiev, this violence is continuing, and is in fact many sided.

 

We call on the EU to have a stronger stand on the far right and theirgroups and recognize the fact that they pose a serious danger to democracy in the country.

 

We likewise call for the cancellation of the debt accumulated by all previous governments.

 

We recognise that Ukraine needs financial support but this should go hand and hand with system change towards citizen paricipation in decision making processes and social justice.

Russisch – Ukrainische Optionen

Einstimmig haben Moskauer Duma und Föderationsrat gestern Wladimir Putins Antrag zugestimmt, russisches Militär auf dem Gebiet der Ukraine, präziser, auf der Krim, einsetzen zu dürfen... Wer jetzt Invasion, Besetzung oder gar Annexion ruft, hat den Text nicht richtig gelesen und auch die darauf folgenden Ereignisse nicht richtig verfolgt oder will es nicht...

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Ukrainische Perspektiven

Was geschieht heute in der Ukraine? Antworten auf diese Frage fallen schwer. Die Stimmen der Aktivisten auf dem Majdan, die abseits gelegenen, aber nicht minder wichtigen Schauplätze regionaler Proteste, die über die Ereignisse gezogenen medialen, diplomatischen und politischen Schleier internationaler Akteure bilden ein chaotisches, kaum überschaubares Feld.  Wer verstehen will, sieht sich gezwungen zu sortieren.

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Ukraine: Pragmatische Lösung oder Zeitreise in die Vergangenheit?

Die Ereignisse in der Ukraine treiben einer Eskalation entgegen. Eine friedliche Lösung  des Konfliktes zwischen der Majdan-Opposition und Präsident Janukowytsch scheint kaum noch möglich, nachdem das überraschende Angebot des Präsidenten, zwei  der drei  führenden Vertreter der Opposition, Arseni  Jazenju und Vitali Klitschko in die Regierungsverantwortung einzubinden, von den beiden in Übereinstimmung mit dem dritten in der Oppositionstroika, dem Nationalisten Tiagnibok als „vergiftetes Angebot“ (Klitschko)  abgelehnt wurde....

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Grundeinkommen für die Ukraine?

Wer die Bilder vom Treffen der beiden Präsidenten, Janukowytsch und Putin, gesehen hat, die sich gegenseitig in bester Laune zuzwinkern, der weiß, daß in Moskau etwas vereinbart wurde, was außerhalb der üblichen Spielregeln heutiger Politik liegt.

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Aufruhr in der Ukraine

Das zurückliegende Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“ sollte sich mit der Frage beschäftigen, was Regionalisierung im Kaukasus bedeutet. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine haben das Thema ganz und gar in Richtung der ukrainischen Ereignisse verschoben.

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Die Eurasische Union zwischen EU und SOZ

Die Gründung der Eurasischen Union ist die neueste Wendung im Prozess einer ins Globale erweiterten Perestroika. Besorgte Fragen tauchen auf, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland, insbesondere auf die zwischen Deutschland und Rußland haben werde...

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Rußland in die WTO – warum jetzt? Oder auch: WTO auf dem Weg in die Transformation?

Am 22.08.2012 unterschrieb Wladimir Putin das Beitrittsdokument Rußlands zur WTO, der Welthandelsorganisation. Was verspricht sich Rußland von diesem Beitritt? Und warum gerade jetzt? Was wird geschehen?

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Russische Innenansichten – „Einen Plan B gibt es nicht.“ Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki, Gründer des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“

Als Analytiker des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“ ist Boris Kagarlitzki einer jener Kritiker Putins, die über die Tagesproteste und kurzatmige Aufgeregtheiten hinaus denken. Das Gespräch dreht sich um die Frage, welche politischen Entwicklungen nach den zurückliegenden Duma- und Präsidentenwahlen zu erwarten sind. Das Gespräch fand im Juli in den Räumen des Institutes in Moskau statt.

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Putin hat leider recht … Anmerkungen zum neuen russischen Versammlungsgesetz

Es ist fatal: Wenn man Wladimir Putin und den von ihm jetzt eingeschlagenen Kurs kritisch bewerten möchte, muß man wieder einmal aufpassen, von der geballten Macht der westlichen Besserwisser und Demagogen nicht mitgeschleift zu werden. - Ja, Putin hat eine Verschärfung des Versammlungsrechtes unterzeichnet. Kein gutes Zeichen. Aber Polizeistaat, Diktatur? Man muß schon genauer hinsehen...

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Russland nach der Wahl Putins

Auswertung des 16. Treffens vom 21.04.2012   

Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,

unser Thema war: Rußland nach den Wahlen. –

Vieles ist dazu schon gesagt; wir hatten als Ergänzung zur Einladung zudem eine analytische Betrachtung der Nach-Wahl-Situation mit herumgeschickt. Dem ist auch nach Ablauf mehrerer Wochen wenig Neues hinzuzufügen. Unser Gespräch kreiste daher in der ersten Hälfte um Details der in dieser Analyse angegebenen Aspekte. Das soll hier nicht wiederholt werden.  (Für die, die den Text nicht mehr präsent haben: www.kai-ehlers.de /Eingangsseite /Rußland nach den Wahlen: Aufstand der Mittelklasse)

Auch ein Skype-Kontakt zum Schriftsteller und Journalisten Jefim Berschin in Moskau, den wir uns während des Treffens gönnten, bestätigte im Wesentlichen den Stand, wie er direkt nach der Wahl war. Das Land befindet sich im Übergangszustand zwischen Noch-Präsident Medwedew und dem zukünftigem Präsidenten Putin.  Regierung, Duma und außerparlamentarische Opposition ordnen ihre Kräfte, bereiten sich für die Tage nach der Amtsübergabe vor. Große Überraschungen nach Art der Proteste in der Zwischenwahlzeit um Weihnachten und Anfang dieses Jahres sind nicht zu erwarten.

Interessant wird die Entwicklung der realen Politik nach der Amtseinführung Putins. Putin wird in der neuen Konstellation zum einen auf die außerparlamentarischen Kräfte zugehen müssen und auch wollen, d.h., eine gewisse Dialog-Bereitschaft in Sachen demokratische Rechte demonstrieren. Ziel wird sein, die Kritiker, wo es geht zu integrieren, zugleich die Bewegung entlang ihrer sozialen Bruchzonen zu spalten – also in Alt-Liberale, politisch undefinierte Mittelklässler, extreme Rechte, extreme Linke zu sortieren. In den zurückliegenden Monaten waren diese Kräfte alle auf die Anti-Putin-Kampagne focussiert.

Das Hauptproblem, mit dem Putin und seine neue Konstellation sich konfrontiert sehen werden, liegt aber nicht in den mittelklässlerischen Protestpotentialen, das Hauptproblem liegt in den, man könnte sagen, ungelösten sozialen Fragen, die durch die Tandem-Politik quasi verschoben worden waren – auf den wieder ins Präsidentenamt zurückkehrenden Putin aber jetzt als unaufschiebbare Aufgaben zukommen.

Zu erinnern ist an die „nationalen Projekte“, mit denen Medwedew antrat: Erschwinglicher Wohnraum, Ausbau des Bildungssektors, des Gesundheitssektors und Entwicklung der Agrarwirtschaft. Keins von diesen Problemfeldern wurde so beackert wie angekündigt. Ich will darauf jetzt hier nicht im Einzelnen eingehen. (Ich verweise dazu auf mein Buch: „Kartoffeln haben wir immer. (Über)leben in Rußland zwischen Supermarkt und Datscha“, das einen Aufriß der zu lösenden sozialen Probleme beim Stand von 2008/2009 gibt)

Hier zur Zeit nur dies: In den Vordergrund scheint sich die Wohnungsfrage zu drängen, genauer, die Frage der Wohnungszusatzkosten – also, Kosten für Wasser, Gas, Heizung, Modernisierung usw. Diese Kosten nehmen solche Höhen an, daß sie das Lebensniveau der Mehrheit der Bevölkerung empfindlich drücken. Die Wohnungsfrage hat sich zudem mit der sog. „Datschenexplosion“ verschränkt, d.h. der Entstehung eines unabsehbaren Zuwachses an kleinen Privathäuschen plus Garten im Umkreis der großen Städte im Zuge der letzten Jahre. Viele dieser Kleinstsiedlungen sind nach den heute bestehenden Gesetzen nicht legal, nicht registriert, nicht katastermäßig erfaßt, zugleich aber in vielen Fällen zu Ausweichquartieren für Menschen geworden, die ihre Wohnungen vermieten. Die Regierung ist mit dem Problem konfrontiert, dieses Unverhältnis von nicht mehr erschwinglichem Wohnraum und illegaler Datschen-Explosion in einem Zeitrahmen bis 2014 regeln zu müssen; bzw. zu wollen. Dies kann mit starken sozialen Verwerfungen einhergehen.

Das Problem ist, daß die Überführung des illegalen Datschenbooms in eine kontrollierte Datschenbesiedlung nur möglich ist, wenn zugleich das bisher nicht eingehaltene nationale Programm des „erschwinglichen Wohnraums“ dahingehend erfüllt wird, daß es tatsächlich erschwinglichen Wohnraum gibt, der das Ausweichen auf die Datschensiedlungen überflüssig macht. Dies ist zudem nicht nur ein sachliches, also ökonomisches Problem, sondern auch ein kulturelles, insofern die Datscha und der dazu gehörige Garten für die russländische Bevölkerung über ihre Rolle als familiäre Zusatzwirtschaft hinaus die Stelle der persönlichen Entfaltung gegenüber dem öffentlichen staatlichen und wirtschaftlichen Druck einnimmt. Wie Putin dieses Problem lösen will, ist zur Zeit nicht absehbar.

Zu ähnlich brennenden Fragen haben sich die nicht durchgeführten Reformen auf dem Bildungs- und Gesundheitssektor aufgestaut, ebenso auf im Bereich der Landwirtschaft.

Kurz. Um hier keine Analysen der sozialen Fragen Rußlands vorwegzunehmen: Die nächste Runde der Putinschen Amtszeit wird wesentlich von der Sozialpolitik bestimmt werden. Putin muß dabei das Kunststück fertig bringen, diese innenpolitische Aufgabe mit der Stiftung eines neuen russischen Selbstverständnisses zu verbinden. Er macht diesen Versuch mit der Argumentation, Rußland müsse angesichts zu erwartender globaler „Turbulenzen“ seine Autarkie als multinationaler Staat zwischen Asien und Europa entwickeln und sich dabei und damit zum Motor eines eurasischen Kooperations- und Bündnissystems entwickeln.

Nach übereinstimmender Sicht der uns bekannten Stimmen aus Rußland gibt es – bei aller Kritik an Putins autoritärem Führungsstil – keine politische Herausforderung, die es effektiv mit Putin aufnehmen könnte. Die einzige Kraft, die nach wie vor eine Basisverankerung im sozialen Milieu hat, ist die KP-Russlands, aber sie ist kräftemäßig zu nicht mehr in der Lage, als ein schwaches Korrektiv zu bilden.

Wir kamen überein, daß das zukünftige Augenmerk Rußland betreffend auf der Kombination von eurasischer multinationaler Vormacht und aktiver Sozial- und Kommunalpolitik auf den oben genannten Feldern zu suchen sein wird. Putin geht auf den Prüfstand.

***

Außenpolitisch wird Rußland daran gelegen sein, als Eurasische Hegemonialmacht das globale Gleichgewicht einer multipolaren Ordnung aufrechtzuerhalten. Die damit verbundenen Fragestellungen führten angesichts der aktuellen Ereignisse um Syrien, Israel und den Iran dazu, daß wir uns beim nächsten Treffen mit dem „Brennpunkt Syrien“ befassen wollen.

Wer Interesse hat teilzunehmen, ist eingeladen, sich bei mir zu melden: KONTAKT

 

 

Rußland nach den Wahlen: Aufstand der Mittelklasse?

Wollte man dem Mainstream der westlichen Medien glauben, dann begänne in Rußland jetzt die Hohe Zeit der Diebe, Spekulanten und notorischen politischen Fälscher – dazu noch die Alleinherrschaft Wladimir Putins als „strongman“, wie Teile der US-Presse den zukünftigen Präsidenten Rußlands während der Vorwahlzeit zu nennen beliebten.

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Systemkrise, Paradigmawechsel oder Wahl eines Präsidenten?

Rußland hat gewählt, Rußland wird wählen. Die Ergebnisse der Dumawahl sind bekannt: Eine hauchdünne Mehrheit für die regierende „Partei der Macht“, eine noch immer anschwellende Protestbewegung gegen die unsauberen Methoden der Mehrheitsbeschaffung und gegen einen Wiederantritt Wladimir Putins als Präsident der Republik sind die Folgen.

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Rußland: Zwischentöne zur Wahl

Rußland hat gewählt. Eine neue Duma wird zusammentreten. In ihr wird die „Partei der Macht“, Einheitliches Rußland, die Partei Medwedews und Putins mit 238 von 450 Sitzen zwar noch die absolute Mehrheit haben. Ein Weiter-So auf einem von einem willigen Parlament abgestützten Tandem, auf dem Medwedew und Putin nach Belieben die Plätze tauschen, wird es dennoch nicht geben.

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Das „chinesische Prinzip“: Ökonomische Freiheit – politische Lenkung: Der bessere Weg zur globalen Perestroika? Ein Vergleich.

Wer heute an China denkt, hat zwei Bilder vor Augen: Das eine wird von China-Reisenden als „happy China“ beschrieben, das andere als Parteiendiktatur, die die Menschenrechte nicht achte und jeden Ansatz zu einer Opposition ersticke. Wohin führt dieser Weg? Diese Frage wird in diesem Text anhand eines Vergleiches von Perestroika und den chinesischen Reformen vor dem Hingergrund der Geschichte beider Gesellschaften untersucht.

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Putin – ein Fehler?“

in seinem Artikel „Das postsowjetische Russland zwischen Demokratie und Autoritarismus, eine Kritik des Vergleichs der Jelzin- und der Putin-Ära aus zeitgeschichtlicher Perspektive“ im "eurasischen magazin 11/08" macht Dr. Dr. Umland sich die Mühe, das Wirken des ehemaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin historisch neu zu bewerten.

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Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sahen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen und erwarten von Medwedew die Fortsetzung dieses Kurses, nur in leicht liberalerer Variante. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten angesichts der globalen Krise wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat.

Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen  über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik  des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor Perestroika zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Saustausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleich sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender  Kolonialismus“ und schließlich noch der  „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.[1]

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten „Aufbau des Sozialismus“; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt.

Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 909er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren  Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe. Putin hat – gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt – diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte, Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nichts geändert.   Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen, bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, und so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell – und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern  bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.[2]

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins, Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion wie duie ganze neue herrschende Schicht Russlands bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür.[3] Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der sog. „Nationalen Projekte“, die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gaseinnahmen resultierenden Einahmen ergänzend zur Moedernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits- , des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft, sowie spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwjedew übernahm diese Staffette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“ Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, den er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten, ebenso wie kommunaler Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen – gewissermaßen exemplarisch.

Kai Ehlers

Unter www.kai-ehlers.de


[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Herausforderung Russland, Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung , dort das Kapitel: „Das Missverständnis vom kapitalismus – Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation“, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997

[2]Siehe dazu: Kai Ehlers,  „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung  aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

[3] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“,  April 2005 im Verlag Pforte/ Entwürfe

veröffentlicht in: Streifzüge

Russland –- Worüber lohnt es zu diskutieren?

Ist Russland eine Demokratie? Nein. Es ist ein Land im Übergang von einer zentralistischen Gesellschaft in eine ungewisse Zukunft. Sicher ist aber keine Kopie des Westens zu erwarten. Ist Putin ein Demokrat? Nein! Aber auch kein Diktator, wie immer wieder in westlichen Medien zu lesen ist. Putin war der mit großer Mehrheit gewählte und mit ebenso großer Mehrheit noch einmal im Amt bestätigte Präsident dieser Übergangsgesellschaft, dem die Aufgabe zufiel ein Minimum an Versorgungssicherheit im Lande wieder herzustellen und dem geschwächten Land wirtschaftlich und politisch wieder auf die Beine zu helfen. Er tat dies, indem er die von Gorbatschow eingeleitete, unter Jelzin aus dem Ruder gelaufene Privatisierung legalisierte, ihre Auswüchse einschränkte, den wirtschaftsliberalen Kurs fortsetzte, zugleich aber die Verwaltungsstrukturen zentralisierte, die Kontrolle des Staates über lebenswichtige Ressourcen wieder herstellte. Es war der Kurs einer restaurativen Modernisierung, der Russland innenpolitisch befriedete und außenpolitisch wieder handlungsfähig machte. Der Kurs war  autoritär und liberalistisch zugleich, es war pragmatische Machtpolitik im Interesse der neuen russischen Eliten. Ich bezeichne diesen Kurs als autoritäre Modernisierung. Die immens steigenden Weltmarktpreise für Öl- und Gas machten ihn möglich und erträglich für die Bevölkerung. Über diesen Verlauf der Geschichte gibt es eigentlich wenig zu streiten.

Die offene Frage ist vielmehr: Was wird jetzt geschehen? Will, kann und wird Putins Nachfolger Dmitri Medwedew, unterstützt durch einen Ministerpräsidenten Putin, die Zügel jetzt, auf dem Boden des Erreichten, wieder lockern, wie angekündigt, wird er die Bürokratie zurückschneiden, das Recht stärken, um mehr Möglichkeiten für private Initiative freizusetzen? Und kann Russland in der erkennbaren aktuellen Krise Impulse für eine Erneuerung der internationalen Beziehungen, nicht zuletzt der globalen Energieversorgung geben? Oder muss die Welt imperiale Abenteuer eines autoritären Energie-Riesen Russland fürchten?

Dies sind einige der Fragen, die sich zu diskutieren lohnen. Und wo Dr. Dr. Umland in seiner Replik zu Alexander Rahr und mir auf diese Fragen eingeht, da kann es interessant werden, die Situation von verschiedenen Seiten anzuschauen. Unter Umgehung akademischer Spitzen und Spitzfindigkeiten möchte ich daher geradewegs auf diese Fragen losgehen.

Da ist aus meiner Sicher zunächst Dr. Dr. Umlands Grundansatz, den er in seinem Vorwort vorausschickt, Politologie sei „de facto eine Demokratiekunde“ und „zudem eine ausdrücklich universalistisch orientierte Wissenschaft“, was im Fall des von ihm vorgelegten Beitrages ja wohl heißen soll, dass er die russische Entwicklung am Maßstab von demokratischen Werten misst, die er für allgemeingültig hält, auch wenn diese Politologie, wie er selbst angibt, „als solche zunächst in Großbritannien und den USA entstand.“

Nun sind Dr. Dr. Umland und ich vermutlich nicht unterschiedlicher Meinung, was die Wertschätzung der demokratischen Verhältnisse betrifft, in denen wir selbst hier in Deutschland leben dürfen. Und ich hoffe sehr, dass wir auch darin einig sind, dass demokratische Rechte verteidigenswert sind, wenn sie eingeschränkt werden. Aber hier beginnen schon die grundsätzlichen Fragen: Von welcher Demokratie sprechen wir? Vom deutschen Grundgesetz? Von der österreichischen Verfassung? Von EU-Recht? Von Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten durch Polizeirecht? Gehört ein Grundrecht auf materielle Versorgung mit zur Demokratie? Und wie sieht es mit dem Völkerrecht aus? War die Anerkennung des Kosovo völkerrechtlich richtig, die Anerkennung Abchasiens und Süd-Ossetiens dagegen nicht? Da gehen selbst im Westen die Meinungen der Völkerrechtler auseinander. Fragen über Fragen.

Ganz problematisch wird es aus meiner Sicht, wenn Dr. Dr. Umland behauptet, die „nachhaltige Stabilität“ des Westens scheine „ein – wenn auch nicht der einzige – Faktor zu sein, der den Westen international so dominant gemacht“ habe, um diese Aussage dann noch dahin zu steigern, der Westen sei „nicht nur demokratisch, weil er einen entsprechenden ökonomisch-sozialen Unterbau“ habe; er habe „diesen Unterbau und ist so relativ hochentwickelt, stabil sowie einflussreich, unter anderem weil er demokratisch ist“.

Ja, lieber Dr. Dr. Umland – „unter anderem“! Wie immer liegt der Teufel auch hier im Detail: Westliche Demokratie ist zunächst Produkt eines Jahrhunderte langen Raubens, Ringens und Schlachtens auf europäischem Boden, von wo aus Raubzüge, Ausrottung ganzer Völker und Kriege immer wieder die ganze Welt erfassten. Die „nachhaltige Stabilität“ des Westens ist „unter anderem“ eben auch Produkt von Imperialismus, Kriegen und Faschismus. Nicht zuletzt Russland war mehrfach Opfer dieser Entwicklung: Napoleon, 1. Weltkrieg, Hitler. Auch die „Demokratisierung“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ähnelte doch eher einer „feindlichen Übernahme“ Russlands durch den Westen, allen voran durch die USA als einer partnerschaftlichen Unterstützung auf dem schwierigen Weg der unvermeidlichen Perestroika.

Kurz, der Anspruch westlicher Politologie, die Entwicklungen anderer Gesellschaften, in unserem Falle Russlands ausschließlich unter dem Maßstab ihrer eigenen Werte zu beurteilen, erscheint mir nicht nur reichlich vermessen und hybrid, sondern auch sachlich nicht haltbar, auch wenn man selbst davon überzeugt sein mag, im besten aller Systeme zu leben – was, wie oben angedeutet, auch noch eine Frage von Auseinandersetzungen bei uns selbst ist. Der Anspruch der „Universalität“ westlicher Demokratie erweist sich bei genauerer Betrachtung als ideologische Brille, durch welche die Wahrnehmung der tatsächlichen Bewegung passend zur gegenwärtig gültigen westlichen Mode verzerrt wird, wenn nicht gar gewaltsame „Implantationen“ der eigenen Werte in fremde Gesellschaften erfolgen.

Sehr deutlich tritt dies in den weiteren Ausführungen Dr. Dr. Umlands hervor, mit denen er aus der von ihm so hervorgehobenen „nachhaltigen Stabilität“ des Westens die Schlussfolgerung zieht, „Das nichtendenwollende (sic) Plädoyer der Russen für eine ‚multipolare’ Welt“ wirke daher „pathetisch“: Die USA seien bisher der einzige Pol, „schlicht weil sie es sind“ und sie würden „aufgrund ihrer flexiblen Gesellschaftsstruktur“ diese Position auch halten. Russland habe „in der Welt wohl die geringsten Chancen, sich je zu einem ernsthaften internationalen Konkurrenten der USA zu entwickeln.“

Uff! Das klingt überzeugt. Aber wo sind die Fakten? Wie erklärt man sich dann die auch nach der Auflösung der Sowjetunion andauernden Bemühungen der USA Russland einzukreisen und klein zu halten? Wieso nimmt Russland in der Strategie Sbigniew Brzezinskis seit dem Ende der SU die Stelle eines „schwarzen Loches“ ein, das man eindämmen müsse? Am liebsten sähe er Russland dreigeteilt, ein westliches, ein östliches und ein mittleres Rest-Russland. Wieso wird diese Strategie Brzezinskis unter dem designierten Präsidenten Obama soeben noch einmal aktualisiert? Kurz: Unipolare Weltordnung oder multipolare – das ist doch heute keine Glaubensfrage mehr! Hier gibt es neue Fakten zur Veränderung der Rolle der USA, konkret ihre Schwächung als globaler Hegemon auf der einen Seite, zur Entwicklung neuer Integrationsräume auf dem Globus (China, Russland, Indien, EU, Südamerika ua.) auf der anderen, die mit den USA in neue Beziehung nicht nur treten werden, sondern bereits getreten sind und nun in die Phase der politische Realisierung dieser neuen Tatsachen steuern. Die gegenwärtige Finanz-Wirtschaftskrise ist ein Ausdruck davon. Ein anderer sind die anhaltenden Spannungen im Kaukasus, wo sich zwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion zeigt, dass das „atlantische Bündnis“ Russland trotz intensivster Bemühungen um den Ausbau eines Ost-West-Transport-Korridors am Bauch Russlands entlang nicht daran hindern konnten, über Gasprom erneut präsent im globalen Energiemarkt zu sein.

Hier ist auch anzumerken, dass „Ehlers Artikel zu kritisieren“ in der Tat schwierig ist, wie Dr. Dr, Umland in seiner Replik richtig beklagt, wenn man nicht auf die Argumente eingeht, die von Ehlers für die Tatsache vorgebracht werden, dass es Putin war, der Russland – anknüpfend an die ersten Maßnahmen einer „antiwestlichen“ Neuausrichtung Russlands durch Primakow nach der Krise 1998 – Schritt für Schritt als internationaler Partner wieder handlungsfähig gemacht hat, indem er die anarchisierten alten und neuen „Eliten“ des Landes auf Russlands Wiederaufbau orientierte. Dies, wie es bei Dr. Dr. Umland geschieht, nur unter der Rubrik „Nationalismus“ abzuhandeln, geht an der Sache vorbei, was nicht heißt, dass die in Russland zur Zeit zu beobachtenden fremdenfeindlichen Tendenzen zu verharmlosen seien. Dies aber ist, wie wir wissen, nicht allein ein russisches Phänomen. Tatsächlich war es am Ausgang der Jelzin Zeit, die so etwas wie einen  Selbstbedienungsladen der Privatisierung hinterließ, für das Überleben des Landes unabdingbar, einen – wenn auch immer noch brüchigen  – nationalen Konsens zu finden, in der Hoffnung auf einen Effekt, dass wieder Steuern, wieder Löhne, wieder Renten und andere soziale Leistungen auf unter Ebene gezahlt würden. Dieser Effekt einer Art Selbstdisziplinierung der zuvor außer Rand und Band geratenen „Eliten“ Russlands trat dann auch tatsächlich ein. Die Entwicklung der „Machtvertikale“, ebenso wie die Reduzierung der sich zu den Wahlen anbietenden Parteien von gut sechzig in der Zeit Jelzins auf eine überschaubare Zahl, die Einführung einer Selbstzensur in den russischen Medien gehört mit dazu. Dies alles sind zweifellos keine Schritte der Demokratisierung im Sinne einer funktionierenden formalen Demokratie; es waren Schritte, die die den Menschen ein Minimum an handlungs- und Möglichkeiten der Selbstbestimmung im wirtschaftlichen und sozialen Alltag zurückgaben.

Entscheidend ist die Frage, wie oben schon angemerkt, ob Medwedew das Programm der relativen Liberalisierung, mit dem er angetreten ist, jetzt tatsächlich umzusetzen in der Lage ist. Dies aber ist eine Frage, die nicht nach westlichen Maßstäben und nicht nur theoretisch zu diskutieren, sondern im Lande selbst und nach dessen Maßstäben zu untersuchen ist. Hinzu kommt, dass dieselben Fragen, verschärft und nunmehr unübersehbar geworden durch die globale Wirtschaftskrise, auch an westliche Demokratien zu stellen sind.

Bleiben am Ende noch ein paar Äußerungen Dr. Dr. Umlands, die eine weitere Debatte lohnen könnten: So seine Sicht, das Grundproblem russischer Geschichte sei die „Allgegenwärtigkeit der staatlichen ‚Machtvertikale’“. Klingt einleuchtend, wenn man an die Geschichte der russischen Selbstherrschaft denkt, die in der KPdSU ihre Fortsetzung fand und auch jetzt wieder durchbricht. Es ist dies aber nur die eine Seite, die zudem ohne nähere Auseinandersetzung mit den Bedingungen kritisiert wird, die ursächlich dafür sind. Vollständig wird das Grundproblem Russlands erst sichtbar, wenn die Polarität von Zentrum und Peripherie, von bürokratischer Lenkung und lokaler gemeinwirtschaftlicher (früher vor allem dörflicher) Wirtschaft ins Auge gefasst wird. Marx und Engels charakterisierten diese Grundstruktur des russischen Lebensraumes in Ermangelung einer genaueren Analyse seinerzeit in Anlehnung an ihrer Untersuchungen der indischen Gesellschaft als „asiatische Produktionsweise“. Diese sei dann gegeben, wenn eine gemeineigentümliche dörfliche Grundstruktur durch eine zentralistische Bürokratie verwaltet und beherrscht werde, die von diesen Dörfern lebe. Für die russische Geschichte gilt dies in extremen Maße: Selbstherrschaft plus Dienstadel und Kirche auf der einen Seite, auf der anderen die von dieser Bürokratie verwalteten, über weite Strecken der alten russischen, unter Stalin auch der neueren Geschichte geradezu versklavten Dörfer. Diese Grundstruktur der russischen Gesellschaft hat sich durch alle Modernisierungsschübe ihrer Geschichte hindurch immer wieder auf neuer Ebene durchgesetzt. Die Frage erhebt sich, ob die aktuelle Modernisierung einen Schritt darüber hinaus schafft. Das ist Russlands Grundfrage.

In diesem Zusammenhang scheint mir auch die Sicht Dr. Dr. Umlands, die „jüngeren Machenschaften des KGB-FSB und weniger die ‚russische Tradition’“ seien der „Hauptgrund für die gescheiterte russische Demokratisierung“ wesentlich zu kurz zu greifen. Erstens ist die „Demokratisierung“ Russlands noch keineswegs gescheitert, sondern hat vor dem Hintergrund der skizzierten Geschichte und auf Grundlage der soeben erfolgten Stabilisierung durch Putin noch mehrere Runden vor sich und zweitens ist der FSB nicht die Ursache der Zentralisierung in Russland, sondern eines ihrer Produkte. Die Ursache liegt zweifellos in der „Tradition“, wenn man unter Tradition nicht nur folkloristische Äußerlichkeiten versteht, sondern die geschichtliche Gewordenheit des sozio-kulturellen Gefüges der russischen Gesellschaft zwischen Asien und Europa, zwischen Zentrum und Peripherie, Selbstherrschaft und Dorf, um nur einige der dualen Pole zu nennen, die für Russland charakteristisch sind.

Richtig weist Dr. Dr. Umland dagegen darauf hin, dass bei den Ereignissen um die Auflösung des Volksdeputiertenkongresses (den ich zugegeben allzu umgangssprachlich unter „Duma“ in den Text eingeführt hatte) die Nazi-Truppe der Barkaschowzis ein unrühmliche Rolle gespielt haben, was natürlich die Motive der Abgeordneten von einer sehr undemokratischen Seite her beleuchtet. Da habe ich keinen Widerspruch zu Dr. Dr. Umlands Darstellung der Vorgänge. Das Anwerben der Barkaschowzis durch die damaligen Deputierten ist aber vermutlich kein Argument, mit dem irgendetwas zu beweisen wäre. Es zeigt sich hier vielmehr ein grundlegendes Problem des nicht – oder zumindest recht anders als im Westen – entwickelten gesellschaftlichen Diskurses in Russland: So wie 1993 die Barkaschowzis die Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses gegen die neue Macht unterstützten, so verbündet sich heute der von der Mehrheit der Westmedien als Vertreter d e r  demokratischen Opposition gehandelte ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow mit den Nationalbolschewiken des Schriftstellers Limonow oder auch dem Chef des Verbands sowjetischer Offiziere, Ex-General Alexej Fomin und anderen.

Auch Alexander Dugins Karriere muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Mit seiner klerikal-faschistischen Grundorientierung war Dugin in den ersten Perestrioka-Tagen und auch noch zu Jelzins Zeiten marginalisiert; mit der Krise des Liberalismus, d.h., mit der Verwandlung der Privatisierung in eine Prichwatisierung, der versprochenen Demokratisierung in soziale Verelendung gewann Dugin schon unter Jelzin zunehmenden Boden, nach Putins Antritt fand er Zugang zum Präsidentenapparat. Stimmt. Aus dieser Tatsache lässt sich jedoch keine nationalistische Politik Putins ableiten, eher eine Erkenntnis über die pragmatische Natur der Putinschen Politik, der nach allen Seiten gleichermaßen „think tanks“ zu sich heranzog. Dugin fand seinen Zugang als Berater über den kommunistischen Dumapräsidenten Selesnjow, in ähnlicher Weise arbeiteten Mitglieder der KPRF, Liberale wie auch andere Parteilose die einen formal, die anderen informell am Apparat.

Damit möchte ich meine Ausführungen für dieses Mal schließen, obwohl ich mir bewusst bin, auf viele Fragen noch nicht eingegangen zu sein. Sie müssen für ein anderes Mal offen bleiben. Nur gegen eine der von Dr. Dr. Umland vorgebrachten Spitzen muss ich mich am Ende doch noch verwahren, nämlich die, ich hätte die „Rhetorik“ der Putinschen Rezentralisierung reproduziert, wenn ich z. B. vom „faulen Frieden“ in Tschetschenien spräche.

Stellen wir klar: Dieser Frieden war oberfaul, brüchig und hat dementsprechend nicht lange gehalten. Die Vereinbarungen zum Wiederaufbau wurden weder von der Moskauer Zentrale, noch von tschetschenischer Seite eingehalten. Tschetschenien entwickelte sich nach dem „Friedensschluss“ von 1996 zum politischen und moralischen Niemandsland, in das sich kein Journalist mehr traute aus Angst für Lösegeld gekiddnapped zu werden. Auch der jetzige Friede ist noch nicht viel mehr als das Ende größerer Kampfhandlungen. Dies, wie die ganze grauenhafte Geschichte des ersten und des zweiten tschetschenischen Krieges wie auch der Separationskriege um Berg Karabach, Abchasien, Südossetien und Transnistrien gleich nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 ist ein weiteres Kapitel der jüngeren russischen Geschichte, bei dessen Darstellung man nicht mit Argumenten Pro-Jelzin und Contra-Putin hinkommt. Darin wird mir vermutlich auch Dr. Dr. Umland nicht widersprechen wollen. Insofern kann es bei dieser kleinen Richtigstellung bleiben. Im Übrigen ist die Entwicklung in Tschetschenien ein Thema, das uns leider auch in Zukunft beschäftigen wird, solange im Kaukasus keine Lösungen gefunden werden, die Konkurrenz um den Zugriff auf die kaukasischen und zentralasiatischen Öl- und Gasressourcen zwischen USA, EU und Russland friedlich im Einvernehmen mit den dort lebenden Völkern zu regeln, statt sie für die jeweils eigenen Interessen zu instrumentalisieren.

Veröffentlicht in : Eurasisches Magazin

Interview: Saakaschwili hatte Rückendeckung der USA

Erscheinen in: Telepolis

„Saakaschwili hatte die Rückendeckung der USA“
Von Harald Neuber
Wie es zu dem Krieg im Kaukasus kommen konnte, wer von ihm profitiert und wie die Perspektive aussieht. Ein Interview mit Kai Ehlers (http://www.kai-ehlers.de)
Telepolis sprach mit Kai Ehlers – Publizist, Transformationsforscher und Autor zahlreicher Bücher über den postsowjetischen Raum
Herr Ehlers, der Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland ist vorerst beendet, nun sind die Diplomaten am Zug: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ebenso in die Region gereist wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy und die US-amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice. In der europäischen Presse wird die Krise um Südossetien gemeinhin als Wiederauflage des Kalten Krieges gesehen. Sind Sie mit dieser Interpretation einverstanden?
Nein, ich bin damit überhaupt nicht einverstanden. Meiner Meinung nach geht es hier nicht um eine Wiederauflage einer bekannten Situation. Was wir im Kaukasus derzeit erleben, ist eine neue Phase der Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt. Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, der Konfrontation der beiden Supermächte, stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Die USA meint, als einzig verbleibende Weltmacht eine bestimmte internationale Ordnung herstellen und aufrechterhalten zu können. Strategisch formuliert wurde das vom US-Geostrategen Zbigniew Brzezinski …
… der seit wenigen Wochen zum Beraterstab des Demokratischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama gehört …
… und der sich über dem Amtsinhaber George W. Bush mehrfach beschwert hat, weil dieser seine Außenpolitik schlecht umsetze. Auf der anderen Seite existiert eine Konzeption, die in China entstanden ist und sich in Russland von Michail Gorbatschow über Boris Jelzin bis hin zu Wladimir Putin und Dmitri Medwedew erhalten hat. Es ist die Konzeption einer multipolar organisierten und kooperativen Weltordnung unter Führung der Vereinten Nationen oder einer vergleichbaren internationalen Organisation.
Was sich der Zeit im Kaukasus abspielt, ist also mehr als ein Konflikt zwischen der Hegemonialmacht Russland und dem kleinen Georgien?
Eine solche Interpretation ist schlichtweg Unsinn. Im Gegenteil: Wir wurden im Kaukasus nach dem 8. August Zeugen eines Stellvertreterkrieges. Dieser unmittelbare Krieg ist nun zwar zu Ende, der dahinter stehende Konflikt ist aber nach wie vor ungelöst. Es ist ein Stellvertreterkrieg, der für die beiden Großmächte USA und Russland geführt wird, aber auch für die Europäische Union und andere Mächte, die auf diese Region schielen, aber an dem Geschehen nur mittelbar beteiligt sind: China, die Türkei, Iran.
Welche Rollen spielen – gerade vor dem Hintergrund der Balkankriege in den 1990er Jahren – Nationalgefühle und ethnische Komponenten?
Es ist ganz klar, dass der Kaukasus ein ethnischer Durchgangsraum ist, ein „Flickenteppich“, wie es immer so schön heißt. Brzezinski spricht vom „eurasischen Balkan“. Dabei kann man nicht von der Hand weisen, dass aus dieser ethnischen Struktur Probleme entstanden sind. Aber diese Probleme sind nicht die Ursache für die jetzigen heftigen Konflikte. Die ethnischen Unterschiede werden vielmehr als Vorwand genommen.
Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hat wohl bewusst von einem „Völkermord“ gesprochen, nachdem die russischen Truppen in das Kriegsgebiet eingerückt sind. Offenbar hat er auf den Beistand des Westens, vor allem der USA, gehofft. Hat er sich verschätzt?
Nein, das war im Grunde keine Fehleinschätzung von Saakaschwili, denn er hat ja die notwenige Rückendeckung der USA gehabt. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass er bis zuletzt ohne das Wissen der im Land befindlichen US-amerikanischen Militärberater gehandelt hat. Ganz abgesehen davon, dass der Einmarsch der Russen nicht Ursache des Krieges war, sondern Folge des Überfalls georgischer Truppen auf die Enklave Ossetien.
Wie viele sind das denn?
Es gibt verschiedene Schätzungen, die von bis zu 1000 Mann ausgehen. Genau kann man das nicht sagen, weil es in Tiflis und Washington bestritten wird. Nach einer der offiziellen Angaben sind es lediglich 24 solcher Berater – aber das ist lächerlich. Die USA finanzieren seit langen den Aufbau des georgischen Militärapparates.
Saakaschwili hat sich also nicht verschätzt, sondern – und das ist ein wichtiger Unterschied – er ist aus dem Ruder gelaufen. Mit ihm ist im Endeffekt das gleiche passiert wie zuvor mit Osama Bin Laden oder Saddam Hussein. Diese beiden sind Washington auch aus dem Ruder gelaufen. Das ist ein Ausdruck der US-amerikanischen Interventionspolitik: Es wird jemand aufgebaut und als Oppositionsfigur international hoffähig gemacht. In diesem Fall war das Ziel, ein Instrument zu schaffen, um Russlands Einfluss einzugrenzen. Saakaschwili hat sich verselbstständigt, weil er glaubte, unabdingbar geworden zu sein.
Auf der diplomatischen Ebene verfolgen die USA aber weiterhin eine weitaus aggressivere Linie gegen Russland als die EU. Haben Washington und Brüssel unterschiedliche Interessen?
Die USA und die EU haben teilweise gleiche Interessen, vor allem in Bezug auf den Transitkorridor in Georgien. Es geht dabei um den Versuch, Russland von seinen Ressourcen und seinem südlichen Einzugsraum zu trennen. Von Europa aus wird dafür südlich von Russland ein Transportkorridor aufgebaut, und in dieses Projekt werden Milliardenmittel gesteckt. Dabei ist vor allem die Pipeline hervorzuheben, die von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über Georgien bis in die türkische Hafenstadt Ceyhan verläuft – die so genante BTC-Pipeline.
In der Sache stimmen Europa und die USA also überein. Differenzen gibt es in der Frage des Vorgehens. Die US-Amerikaner bevorzugen die militärische, die Europäer die ökonomische Variante, um ihren Einfluss geltend zu machen. Abgesehen davon stehen Washington und Brüssel auch in direkter Konkurrenz, was man sehr deutlich in der Trennung zwischen einen „alten“ und einem „neuen“ Europa beobachten kann. Gerade im Hinblick auf den NATO-Beitritt Georgiens wird hier von den USA aus ein Spaltkeil in die EU getrieben.
Aber hat die Einbindung der osteuropäischen Staaten in EU-Strukturen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik nicht auch dazu beigetragen, dass Russland sich in zunehmender Isolation fühlt?
Sicher, denn hier stehen sich zwei Integrationsräume gegenüber. Das ist auf der einen Seite der russische und auf der anderen Seite der europäische Integrationsraum. Dazwischen gibt es einen Grenzbereich, der vom Balkan bis zum Baltikum verläuft. Dazu gehören auch die Ukraine und der Kaukasus. Einerseits wird zwischen der EU und Russland eine so genannte strategische Partnerschaft formuliert, andererseits steht man sich in diesen Regionen in direkter, bissiger und harter Konkurrenz.
In den vergangenen Tagen war viel von der erwähnten BTC-Pipeline die Rede. Die Energiepolitik ist also auch hier eine treibende Kraft?
Sie ist ein ganz wesentlicher Punkt. Geopolitisch betrachtet würde man hier von einer strategischen Ellipse sprechen. Diese Ellipse reicht vom arabischen Raum und Iran über das kaspische Meer bis nach Norden in den russischen Raum hinein. Der südliche Raum – Arabien und Iran – ist besetzt, weil die Kontrolle über die dortigen Energieressourcen von den nationalen Regimes nicht abgegeben wird. Aber der nördliche Raum scheint zur Disposition zu stehen, deswegen sind darauf alle Augen gerichtet. Bedeutend ist das allein schon, weil im gesamten Gebiet der strategischen Ellipse etwa 80 Prozent der weltweiten Energieressourcen liegen.
Aber wer profitiert von der BTC-Pipeline? Errichtet wurde sie ja noch unter US-Präsident William Clinton, betrieben wird sie jedoch von British Petroleum …
Diese Frage lässt sich im Grunde nur auf der Basis strategischer Überlegungen beantworten. Die USA haben in der Region eine Reihe von Pipelines bauen lassen, die ökonomisch überhaupt keinen Sinn haben. Sie scheinen nur dem Zweck zu dienen, Russland zu behindern. Das ist auch der Sinn der BTC-Pipeline, die eigentlich auch nicht rentabel ist. Sinnvoller wäre es, das Erdöl aus dem kaspischen Raum über die vorhandenen russischen Leitungen gen Westen zu transportieren. Und viele machen ja genau das. Auch die Aserbaidschaner verkaufen keineswegs nur über die BTC-Pipeline ihr Erdöl. Die ökonomische Vernunft wird hier also offensichtlich durch politische Motive überlagert. Dabei ist dann offenbar der strategische „Gewinn“ – also die Behinderung der Russen – größer als der ökonomische Profit.
Nach dem kurzen und heftigen Krieg sind nach Schätzungen internationaler Organisationen bis zu 100.000 Menschen vertrieben worden, vor allem aus Südossetien. Wie kann der humanitären Lage begegnet werden?
Das ist sehr schwer. Zunächst muss man feststellen, dass 2000 Menschen durch den Überfall georgischer Truppen auf die Stadt Tschinvali ermordet wurden. Sie sind tot und das nicht mehr zu ändern. Viele andere haben ihre Häuser und ihre Habe verloren. Man kann sie nun in Zelten unterbringen und versorgen. Dabei ist jeder einzelne gefordert, die einschlägigen Hilfsorganisationen wie das Internationale Rote Kreuz zu unterstützen. Eine andere Sache ist, dass die Menschen in der Region die Leidtragen einer Machtpolitik sind, die sie nicht wollen. An diesem Punkt müssen wir uns im Westen fragen, inwieweit wir Anteil an dieser Misere haben. Wir müssen uns fragen, welchen Anteil unser westlicher Lebensstil an der Entstehung dieses Krieges gehabt hat. Es geht hier also nicht nur um
Hilfszahlungen, es geht eben auch um mittel- und langfristige Veränderungen bei uns.
Herr Ehlers, Sie kennen Russland und die kaukasischen Staaten aus vielen Reisen. Wie, denken Sie, reagieren die Menschen im Krisengebiet auf den Konflikt? Gibt es eine von Nationalismus geschürte Kriegsbegeisterung wie etwa zu Beginn der Balkankriege?
Nein, die gibt es auf keinen Fall. Ich habe vor wenigen Tagen einen Brief von einem russischen Freund bekommen, der völlig entsetzt über die Berichterstattung der westlichen Presse war. In Zukunft wird in Russland der westlichen Presse und westlichen Politikern mit großem Argwohn begegnet werden. Heute erst hatte ich russische Gäste zu Besuch, die das alles von sich gewiesen haben und nicht darüber reden wollten. Im Konfliktgebiet selber sind die Menschen einfach nur entsetzt. Es ist nicht ihre Politik, aber sie sind die Opfer dieser Politik und des Krieges.

Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“

Drei Anmerkungen vorweg:

Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.

Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.
Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.

Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de

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Der Fall YUKOS/Chodorkowski:

Das Verfahren gegen den russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski ist zentraler Ausdruck einer strategischen Auseinandersetzung zwischen der russischen Staatsmacht und dem privaten Kapital, das sich im Zuge der Privatisierung in Russland herausgebildet hat. Es ging um die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die russischen Öl- und Gas-Ressourcen hat, die immerhin zu 40% das russische Staatsbudget füllen und 55 Prozent der Exportgewinne betragen. Mit dem Vorgehen gegen Chodorkowski wurden die Auswüchse der russischen Privatisierung exemplarisch zurück geschnitten und die Verfügungsgewalt des Staates über die Ressourcen des Landes wiederhergestellt. Das war erklärte Politik Wladimir Putins, die sich in der Person des von den USA unterstützten Chodorkowski zugleich gegen den globalen Hegemonialanspruch und die daraus folgende Interventionspolitik der USA wandte. Mit der Auflösung des Konzerns und der Verurteilung des ehemaligen YUKOS-Chefs hat Putin dieses Ziel vorläufig erreicht. Gut 70% der russischen Bevölkerung waren laut Umfragen damit einverstanden. Nach dem Ende des Prozesses beginnt nunmehr eine neue Runde der Auseinandersetzungen

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Wie alles anfing: Chodorkowskis Aufstieg und Fall[1]

Michael Chodorkowski wurde am 26. Juni 1963 in Moskau geboren. Er war aktiv im Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband, der das Sprungbrett seiner Karriere in der freien Wirtschaft wurde insofern die Kommunisten in den meisten Schlüsselpositionen saßen und es war ein Vorteil „Verbindungen“ zu haben. 1987 gründete Chodorkowski auf dieser Grundlage das ”Zentrum für wissenschaftliche und technische Kreativität der Jugend” (HTTM), war bis 1989 Leiter dieses Zentrums. 1988 machte er seinen Abschluss als Chemietechnologe und Finanzierungsexperte an der Moskauer staatlichen Universität. 1987, noch als Student, gründete er die „Innovative Kommerzbank für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“ (später Menatep-Bank), deren Aufsichtsratsvorsitzender er von Mai 1989 bis 1990 war. 1990 kaufte die Bank das HTTM-Zentrum und taufte es in „Menatep Invest Zentrum für branchenüberschreitende wissenschaftliche und technische Programme“ um. 1990/91 war Chodorkowski Generaldirektor der Menatep-Bank. Von August 1991 bis April 1996 hatte er die Funktion eines Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Kredit- und Finanzgesellschaft Menatep inne.
Seine ersten Millionen machte Chodorkowski am Anfang der 90er-Jahre, zu Zeiten der sog. wilden, das heißt noch gesetzlosen Privatisierung unter Gorbatschow, als er Menatep Aktien in privatisierten Betrieben zu teilweise spektakulär niedrigen Preisen kaufte. Seine Verbindungen innerhalb der kommunistischen Partei spielten dabei eine bedeutende Rolle.
Unter Gorbatschows Nachfolger Jelzin ergaben sich größere Chancen für Chodorkowskis Expansionskurs:1992 wurde er mit 29 Jahren Leiter des Investitionsfonds für die Energieindustrie und erhielt durch diese Aufgabe den Status eines russischen Vizeministers für Treibstoff und Energie, gleichzeitig wurde er Berater des Präsidenten. Im März 1993 wurde er offiziell zum Stellvertreter des russischen Ministers für Treibstoff und Energie ernannt – eine vorteilhafte Position zur Förderung seiner privatwirtschaftlichen Geschäfte.
1994 übernahm Chodorkowski zusammen mit Platon Lebedew Aktien des Düngemittelproduzenten APATIT. Später wurde ihnen zur Last gelegt, daß sie das Aktienpaket erschwindelt und die Gesellschaft ausgeplündert hätten, indem sie Dünger zu extrem niedrigen Preisen durch Privatfirmen aufkauften und zu den üblichen Weltmarktpreisen weiter verkauften. Ab September 1995 wurde Chodorkowski zudem noch Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Rosprom, des zentralen russischen Industrie-Entwicklungs-Konzernes.

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Aufstieg von YUKOS

Im Dezember 1995 wurde eine Auktion durchgeführt, in der 45 % der Aktien der Ölfirma YUKOS angeboten wurden. Vermittelt über die Menatep-Bank konnte Chodorkowski die Aktien und die damit verbundenen Investitionsverpflichtungen für 350 Millionen Dollar, freundlich formuliert, zu extrem günstigen Bedingungen an sich bringen. Gleich nach der Übernahme erwarb er über Menatep im Frühling 1996 weitere 7,06 Prozent von YUKOS in einer erneuten Auktion. Im Herbst 1996 erweiterte YUKOS sein Aktienkapital; mit dem Erlös aus den ausgegebenen neuen Aktien wurden die Holdinggesellschaft und ihre Tochtergesellschaften refinanziert.
Jelzins erster Premierminister Jegor Gaidar, der Pate der russischen Privatisierungskampagne und der Einführung der sog. freien Marktwirtschaft unter Jelzin, sagte in einem Interview mit der New York Times über Geschäftsleute, die zu teilweise lächerlichen Preisen russische Staatsbetriebe übernommen hatten: „Selbstverständlich gab es Verletzungen (des Gesetzes). Aber vor allem wegen fehlender Klarheit über diese Gesetze … Es gibt keine reichen Engel in Russland. Alle haben eine Reihe Gesetze gebrochen und eine Menge schlechter Dinge getan um ihr Vermögen aufzubauen. Innerhalb der verschiedenen Industriezweige wurden viele getötet. Die meisten großen Vermögen sind mit Tötungsdelikten verbunden“. Chodorkowski, kommentiert Kreuzenbeck das von ihm vorgestellte Zitat, wurde der reichste und mächtigste der russischen Oligarchen:
Ab April 1996 war Chodorkowski der erste Vizepräsident der Ölgesellschaft YUKOS. Seit Juni 1996 hatte er die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden des wachsenden Konzerns. Im Februar wurde er zusätzlich zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Betriebsgesellschaften Rosprom ernannt. Nach der Neuorganisierung von YUKOS wurde Chodorkowski Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft YUKOS-Moskau. Von November 1999 bis Oktober 2000 war er Mitglied des Aufsichtsrats im Ministerium für Treibstoff und Energie der Russischen Föderation. Ab Oktober 2000 engagierte sich als ein führendes Mitglied in der Russischen Union der Industrieführer und Geschäftsleute. Alles in allem eine nützliche Zusammenführung von Funktionen in einer Person.

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Neuer Wind unter Putin

Die Ablösung Boris Jelzins durch Wladimir Putin im Frühjahr 2000 brachte einen politischen Richtungswechsel in Russland. Wladimir Putin betrat die Arena mit der Ankündigung, eine „Diktatur der Gesetze“ schaffen zu wollen. Das richtete sich unmissverständlich gegen die wilde und zum Teil sogar kriminelle Privatisierung. Sie wurde als „Prichwatisierung“, das heißt Raub, vom Volksmund eindeutig klassifiziert. Während Chodorkowski zu Jelzin und den von ihm eingesetzten Regierungen ein sehr enges Verhältnis hatte, einerseits Jelzins Protegé war, diesem andererseits 1996 mit seinem Kapital zur Wiederwahl verhalf, also eine Hand die andere wusch, entwickelte sich das Verhältnis zu Putin von Anfang an im Konflikt: Chodorkowski unterstützte Parteien, die in Opposition zu Putin standen – neben der kleinen liberalen Partei Yabloko auch die die kommunistische Partei der russischen Föderation, KPRF. Jabloko bestätigte die Unterstützung durch YUKOS öffentlich, während sowohl Chodorkowski als auch die Kommunistische Partei jegliche Verbindung miteinander dementierten. Ein weiterer YUKOS-Großaktionär jedoch, Sergej Muravlenko, war aktiver Unterstützer der KPRF, ohne dass dies dementiert wurde.

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Wende 2003: Chodorkowski verhaftet

Im Jahre 2003 war Chodorkowski einer der reichsten Männer der Welt (Nr. 26 auf der Forbes-Liste, die im folgenden Jahr veröffentlicht wurde). YUKOS war nach der Fusion mit Sibneft die viertgrößte Ölgesellschaft der Welt. „Chodorkowski präsentierte sich in der Öffentlichkeit“, so erzählt Kreuzenbeck, „als moderner Geschäftsmann, der seine Betriebe in einer offenen und westlichen Weise leitete und die Gesetze befolgte, also als zäher, aber gerechter Industriekapitän. Er war der erste Oligarch, der sich in die Bücher schauen ließ – allerdings nur in die der letzten Jahre und offensichtlich nicht in alle. Der ganze Konzern wurde in dieser Weise zurechtgetrimmt, damit er für ausländische Investoren attraktiv würde. Die YUKOS-Führung polierte ihr Englisch, heuerte teure ausländische PR-Firmen an und peppte ihre öffentlichen Statements mit Phrasen wie TRANSPARENCY und WESTERN CORPORATE GOVERNANCE auf.“
Eine ganze Reihe Amerikaner zogen ins oberste Management ein; Teile des Konzern wurden bereits aus New Yorker Büros geführt. Im Frühjahr 2003 schickte Chodorkowski sich an, große Teile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco zu verkaufen. Es ging um eine bis zu 50% Übernahme. Bestandteil der Verhandlungen war auch der Bau eines eigenen Pipeline-Netzes, mit dem das staatliche russische Monopol über die Ölpipeline gebrochen werden sollte, um das Öl am russischen Fiskus vorbei auf den Weltmarkt lenken zu können. Hinzu kam die Einrichtung einer Reihe von ausgelagerten Offshore-Niederlassungen im Ausland, die dem gleichen Zweck dienten. Gigantische Kapitalmengen verließen auf diese Weise das Land. Der Verkauf hätte den Konzern dem Zugriff des russischen Staates faktisch entzogen. Beobachter sprachen damals von einer „Art eigener Außenpolitik“, die Chodorkowski entwickle. Der „Spiegel“ nannte ihn einen, „gehobenen Perspektiv-Agenten“ der USA.

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Erinnerung an den strategischen Hintergrund

Als Hintergrund hierzu muss noch einmal auf die von Zbigniew Brzezinski und anderen formulierten strategischen Zielsetzungen der USA verwiesen werden, die Entscheidungen um die neue Weltordnung auf dem „eurasischen Schachbrett“ zu suchen. Dem entsprach ein taktischer Doppelschritt in der Zeit des ausgehenden kalten Krieges: Der erste Schritt bestand darin, die Sowjetunion in die „Afghanistan Falle“ laufen zu lasen, um sie politisch und wirtschaftlich zu destabilisieren, die zweite zielte darauf – nachdem der erste gelungen war, wie Brzezinski sich später öffentlich rühmte[2] – das nachsowjetische Russland durch „Demokratisierung“ und „Internationalisierung“ der Ölförderung wie auch des Ölhandels von ihrem aus Sowjetzeiten stammenden Monopol auf die eurasischen Ölquellen zu trennen. Mit der Auflösung der Sowjetunion war eine veränderte Weltlage entstanden: Ihr Kern ist die Neuaufteilung des Zugriffs auf die Weltressourcen an fossilen Rohstoffen, die bis zur Auflösung der Sowjetunion unter deren Verfügung standen, des Zugriffs also auf die kaukasischen, zentralasiatischen und auf die russischen Öl-Felder und Gas-Vorkommen. Von ihrer Ausbeutung versprechen sich die Regierungen der Industrienationen, die fossile Brennstoffe heute als Grundlage ihrer zukünftigen Existenz betrachten, eine größere Unabhängigkeit von der OPEC, insonderheit von den Ländern am persischen Golf, bzw. niedrigere Preise durch die erweiterte Konkurrenz wischen den Energie-Rohstoffe produzierenden Ländern. Die neue Geografie der Versorgung wird auf den Karten der Globalstrategen als „strategische Ellipse“ beschrieben. Achtzig Prozent der fossilen Brennstoffe konzentrieren sich in diesem Gebiet, das sich vom persischen Golf über den kaspisch-kaukasischen Raum bis ins mittlere Russland hinein erstreckt.
Anders als die USA, die ihren Anspruch auf den privilegierten Zugriff auf die Weltressourcen, insbesondere auf die neu zugänglichen des eurasischen, also kaspischen, kaukasischen und auch russischen Raums durch ihren Altstrategen Zbigniew Brzezinski unmissverständlich formulierten und in ihrer Politik mit dem Versuch einer systematischen Einkreisung, Neutralisierung und Isolierung Russland seither gezielt umzusetzen bestrebt sind[3], tat Europa sich bisher schwer, eine einheitliche Strategie zu finden. Europa schwankt zwischen einem privilegierten Zusammengehen mit Russland gegen den Verfügungsanspruch der USA und einem Zusammengehen mit den USA gegen das Monopol Russlands, um damit der eigenen Abhängigkeit von den Energielieferungen Russlands entgegenzuwirken: Strategische Partnerschaft von EU und Russland auf der einen Seite, Entwicklung eines Korridors von Europa nach Zentralasien, der Russland bewusst ausgrenzt und von seinen Ressourcen im Kaukasus, in Zentralasien und im Iran trennt, auf der anderen.[4] Kurz gesagt, in der EU-Politik weiß die Linke, die Zusammenarbeit will, offenbar nicht, was die Rechte tut, die auf Konfrontation im Nachtrab zur USA setzt. Man könnte auch vermuten, dass bewusst eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche gefahren wird. Angesichts der Zerstrittenheit der erweiterten EU in der Beziehung zu Russland wäre das aber vermutlich eine Überschätzung der strategischen Fähigkeiten der EU-Bürokratie.
Ergänzend zu all dem der Hinweis: Condoleeza Rice, die heutige Außenministerin des Kabinetts Bush, war vor ihrer Ernennung zur Nationalen Sicherheitsberaterin zehn Jahre lang im Aufsichtsrat von Chevron tätig. US-Vizepräsident Richard Cheney nahm eine Schlüsselposition bei den Verhandlungen um die Neu-Verteilung des Zugriffs auf das kaspische Öl ein; im Caspian Pipeline Consortium spielte Chevron die stärkste Rolle.

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Putins „Kommando“ im Angriff

Als Chodorkowski sich im Frühjahr 2003 auch noch auf die Seite der US-Kriegspläne gegen den IRAK stellte, ging die russische Regierung gegen ihn vor: Im Mai veröffentlichte der „Rat für nationale Sicherheit (SNS) einen Bericht über eine „Verschwörung einiger Oligarchen zur Machtergreifung in Russland“. Wenige Wochen später wurde Alexej Pitschugin, der Sicherheitschef von YUKOS, wegen Anstiftung zum Dopppelmord festgenommen, Anfang Juli dann Platon Lebedew wegen der unrechtmäßigen Aneignung von 283 Millionen Rubel (8 – 9 Millionen Euro) des Chemieunternehmens Apatit. Im September kaufte Chodorkowski die bis dahin liberale Zeitung „Moskowski Nowosti“, um den Angriffen publizistisch entgegenzuwirken. Im Juni 2003 begann der russische General-Staatsanwalt seine Nachforschungen in der YUKOS-Sphäre. Im Oktober wurde Chodorkowski selbst verhaftet und Anklage gegen ihn erhoben.. Die Staatsanwaltschaft legte ihm Gesetzesverstöße in sieben Fällen zur Last begangen als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, unter anderem Unterschlagung, Steuerhinterziehung, betrügerische Übernahme der Apatit-Aktien; außerdem habe er über Offshorefirmen auf betrügerische Weise in die eigene Tasche gewirtschaftet. Die Rechnung, die die Staatsanwalt aufmachte, belief sich auf über einer Milliarde US-Dollar.

Chrystia Freeland, Vize-Herausgeberin der Financial Times, so Kreuzenbeck, schrieb in ihrer Zeitung nach der Verhaftung Chodorkowskis über dessen Eigenschaften als Geschäftsmann: ”Chodorkowski zeigte eine Aggressivität und Raffiniertheit, die selbst jene Geschäftsleute in Erstaunen versetzte, die sich normalerweise durch nichts überraschen lassen. Minoritätsaktionäre wurden mit massiver Ausdünnung ihrer Werte bedroht. Ein komplexes Netz von mysteriösen Offshore-Gesellschaften wurde kreiert. Technische und physische „Straßensperren“ wurden errichtet, um zu verhindern, dass Investoren mit abweichender Meinung auf wichtigen Aktionärsversammlungen ihre Stimme abgeben konnten“.

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Opponent gegen Putin
Chodorkowski als möglicher Präsidentschaftskandidat
und Verteidiger der Freiheit…

Nach seiner Verhaftung wurde Chodorkowski als möglicher Anti-Putin-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2004 aufgebaut. KP-Sekretär Gennadij Zhuganow erklärte, er könne sich eine Kandidatur von Millionären auf der Liste der KP durchaus vorstellen, allerdings ohne Chodorkowski direkt zu nennen. Der Pressesprecher der Kommunisten, Ilja Ponomarjow, der von 1998 bis 2002 eine Führungsposition bei YUKOS innehatte, sah in einer eventuellen Kandidatur Chodorkowkijs eine Möglichkeit für ihn politische Immunität zu erhalten: ”Ist er als Kandidat registriert, wird man ihn freilassen müssen“. Auch der Oligarch Boris Beresowskij äußerte sich aus seinem Londoner Exil positiv über eine mögliche Kandidatur Chodorkowskis.

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Kritik des Liberalismus

Aus Chodorkowskis Kandidatur wurde jedoch nichts. Stattdessen meldete er sich nach der Wahl, die einen starken Machtanstieg Putins gebracht hatte, mit einem radikalen Aufsatz zur „Krise des Liberalismus“, in dem er die Umverteilungspolitik der Liberalen als gescheitert und als Raub am Volksvermögen kritisierte. Die Liberalen hätten 90% der Bevölkerung getäuscht, so Chodorkowski, hätten die Augen vor der russischen Wirklichkeit verschlossen, als sie mit einem Federstrich die Privatisierung beschlossen. Sie hätten keinen Gedanken an die Sparguthaben der Bevölkerung verschwendet, sich nicht um eine Bildungsreform gekümmert, soziale Stabilität und sozialen Frieden außer Acht gelassen. Als einer der größten Sponsoren habe er selbst in der der Wahl 1996 bereits für ein Bündnis der Liberalen mit den Kommunisten plädiert, sei aber nicht gehört worden. Nun komme „die Stunde der Buße“.
Chodorkowski verblüffte die Öffentlichkeit mit einer harschen Selbstkritik: „Für mich ist Russland meine Heimat“, schrieb er: „Hier möchte ich leben und sterben und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit in die Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber spät als nie.“
Chodorkowski forderte eine „neue Strategie der Zusammenarbeit“ von Unternehmern und Staat, er forderte, die „Wahrheit in Russland und nicht im Westen“ zu suchen und „auf(zu)hören, die Legitimität des Präsidenten in Frage zu stellen.“. Die Unternehmer müssten gezwungen werden mit dem Volk zu teilen, die Privatisierung müsse vor der Bevölkerung legitimiert werden, zum Beispiel durch eine „Besteuerung der Rohstoffe und andere Schritte“. Und schließlich erklärte er, ganz Staatsmann: „Es ist besser, derlei Schritte selbst zu unternehmen und sie dadurch zu beeinflussen und steuern zu können, als zum Opfer eines blinden Widerstandes gegen das Unausweichliche zu werden.“
Das Schreiben endete mit der Forderung, dass Geld in echte zivilgesellschaftliche Strukturen investiert werden müsse.

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Linke Wende

Im August 2005 legte Chodorkowski mit einer weiteren Erklärung nach, in welcher er eine linke Wende für Russland prognostizierte. Er prognostizierte, dass in der Bevölkerung Russlands als Reaktion auf die Jahre der räuberischen Privatisierung und der darauf folgenden autoritären Modernisierung putinschen Typs nunmehr eine Linkswendung bevorstehe und rief die verbliebenen Liberalen, Neu- und Alt-Linken dazu auf, unter Führung der National-Linken ‚Rodina’ (Heimat) sowie der Kommunistischen Partei und in Zusammenarbeit mit einer nach links geöffneten vereinigten liberalen Szene eine Front gegen das autoritäre Regime Putins zu bilden. Chodorkowski scheute sich dabei nicht, Oligarchen wie sich selbst, als Räuber und Betrüger zu bezeichnen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion in krimineller Weise auf Kosten des Volkes bereichert hätten und denen nunmehr soziale Verantwortung abzuverlangen sei.
Man mag von Chodorkowski halten, was man will, seine Analyse der russischen Entwicklung ist bemerkenswert: Die von ihm geschilderte räuberische Privatisierung unter Jelzin, danach die autoritäre Modernisierung Putins hat zwar die Linke, ebenso wie die Liberalen bis hin zu deren verheerender Wahlniederlage bei der Wahl zur Duma im Jahr 2004 zur Marginalie werden lassen, in weiten Kreisen der Bevölkerung aber die latente Resistenz gegen die marktorientierte Westwendung in zunehmend offene Proteste verwandelt. Eine soziale und politische Polarisierung der russischen Gesellschaft in eine von der putinschen Büroklatur repräsentierte Mitte und sich radikalisierende Ränder der Gesellschaft sind unübersehbar. Auf der linken Seite sind neue Führungsfiguren wie der national und sozialistisch argumentierende Gennadij Glasjew aufgetaucht; die neue Linke sammelt sich in informellen Zirkeln wie dem russischen „Sozialforum“, Anti-Globalisierungs-Zirkeln usw. Die Liberalen, also die Union Rechter Kräfte (SP) und die Jawlinski-Partei ‚Jabloko’, seit ihrer Gründung 1991 in Rivalitäten zerstritten, haben beschlossen, ihre Streitigkeiten in Zukunft beiseite zu lassen. Ein Komitee des bekannten Schachspielers Garri Gasparow stellt sich als pro-westliche Alternative zu Putin für die Präsidentenwahlen des Jahres 2008 auf.
Die von Michail Chodorkowski prognostizierte Linkswende bleibt allerdings potentiell, solange es der Regierung gelingt, ihre Renten-, Stipendien und sonstigen Fürsorgeansprüche mit den neuerdings wieder einfließenden Öl- und Gas-Dollars zu beschwichtigen. Hier stimmen zwar Chodorkowskis Analysen, seine damit verbundenen Ambitionen beißen sich jedoch ganz mächtig in den eigenen Schwanz, denn diese Politik der Regierung ist nur möglich, weil, seitdem und solange es ihr gelingt, die Einnahmen aus dem Verkauf der Ressourcen, vor allem an Öl und Gas, in die Staatskasse zu lenken, und das heißt vor allem anderen ganz konkret, weil es ihr gelingt, durch ihr Vorgehen gegen den Raub-Privatisierer, Steuerbetrüger und Offshore-Spekulanten Chodorkowski die Ressourcen des Landes ansatzweise wieder in den Griff zu bekommen. Chodorkowskis Aufruf zur Linkswende entpuppt sich damit unversehens als Anklage in eigener Sache, bzw. schlichtweg als widersprüchlich oder wie es die Web-Zeitung ‚russland.ru’ an anderer Stelle formulierte: ‚Seine Überlegungen haben nur den Haken, dass es ihnen an Legitimität fehlt.’

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Das Verfahren

Kein Zweifel, das sei hier deutlich betont, um jedes Missverständnis auszuschließen, die Art und Weise des Verfahrens – angefangen bei der martialischen Verhaftung Chodorkowskis durch vermummte Sonderkommandos bis hin zum drakonischen Urteil von neun Jahren Lagerhaft – entsprach nicht den Menschenrechtstandards der UNO oder dem EU-Wertekanon. Folgerichtig erklärte Amnesty International Chodorkowski nach anfänglicher Weigerung zum politischen Gefangenen.
Bedauerlicher Weise jedoch, am Ende möglicherweise sogar zu Chodorkowskis eigenem Leidwesen, wurde er Objekt einer politischen Kampagne, die Töne des kalten Krieges gegen Russland neu auflegte. Es begann wieder einmal mit einem Artikel Zbigniew Brzezinskis, Unter der Überschrift „Der Moskauer Mussolini“. („The Wall Street Journal, 20.9.2004) verbreitete dieser im September 2004 nach der Wiederwahl Putins zum Präsidenten die Behauptung, Putin versuche in Russland einen Faschismus nach dem Muster Mussolinis aufzubauen; Russland entwickle sich zu einem `faschistischen Erdölstaat`.
Brezinskis Stichwort des „faschistischen“ Russland wurde von Neo-konservativen Amerikas aufgegriffen. Bruce Jackson, Reisender in Sachen „Project on Transsitional Democracies“ griff zusätzlich noch zum Knüppel des Antisemismusvorwurfs: Wörtlich: „Seit Putin gewählt wurde, waren alle führenden Figuren, die wegen Wirtschaftsverbrechen exiliert oder arretiert wurden, jüdisch. In Dollar gerechnet, sind wir Zeugen der größten illegalen Enteignung von jüdischem Kapital seit der Nazi Beschlagnahmung in den 30gern…. „ Und weiter zu Chodorkowski: „Die Inhaftierung eines Mannes hat uns das Signal gegeben, das unsere gut gemeinte Russland Politik gescheitert ist. Wir müssen nun erkennen, das eine massive Unterdrückung von Menschenrechten stattgefunden hat und die Errichtung einer Administration in Moskau vom Typ eines de-facto Kalten Kriegs.“ (Washington Post, 28.10. 2003)
Es folgte der „Offene Brief“ an die Führungen von NATO und EU am 28.9.2004, der von 150 Personen aus Europa und den USA, u.a. der Führung der Grünen, unterzeichnet wurde. Unter Benutzung von Menschrechtsrhetorik griff er direkt in die russische Politik ein und forderte die Unterstützung der „demokratischen Kräfte“ in Russland. Unter den Unterzeichnern waren eine Reihe bekannter neo-konservativer Amerikaner. Am 5. Oktober 2004 legte die Grüne Böllstiftung mit einem weiteren „Aufruf für Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Fall Chodorkowski“ und der Durchführung einer Solidaritätsveranstaltung für Chodorkowski in Berlin nach, ebenfalls mit unterzeichnet und getragen von einer Reihe von US Neo-Konservativen.
Zum besseren Verständnis ist noch einmal daran zu erinnern, dass Chodorkowski, allen patriotischen Beteuerungen zum Trotz, am Beginn des Jahres 2003 drauf und dran war, den Öl-Giganten YUKOS durch die Fusion mit SIBNEFT, CHEVRON und EXXON zu einem Multinationalen Konzern zu erweitern, der sich dem Zugriff der russischen Staatlichkeit zu entziehen anschickte. Seine politischen Verbindungen in die USA hatten sich entsprechend entwickelt: In der International Herald Tribune wurde derzeit berichtet, Chodorkowski versuche mit viel Geld, sich Zutritt zu den geschlossenen Zirkeln Washingtons zu verschaffen. Dafür soll er seit 2001 jedes Jahr 50 Millionen Dollar aufgewendet haben, davon eine Million für die US-Kongressbibliothek und 500.000 Dollar für die Carnegie-Stiftung – die ihrerseits NGOs in Russland davon finanzierte. Chodorkowski verteilte großzügige Spenden an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner eigenen Stiftung „Offenes Russland“ für einflussreiche US-Amerikaner wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Henry Kissinger oder den britischen Bankier Lord Rothschild. Erinnert werden muss auch noch einmal daran, dass er in den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg im Interesse der YUKOS-Expansion gegen die Schröder-Chirac-Putin-Ablehnungs-Front für eine russisch-amerikanische Kriegs-Allianz agierte.

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Berufungsverfahren

Die russische Staatsanwaltschaft ließ sich durch die Kritiken nicht aufhalten. Im Mai 2005 wurde Chodorkowski in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden und zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Jukos wurde die Erstattung der Steuerschulden in einer Höhe auferlegt, die praktisch zur Liquidation des Konzerns führen mussten. Davor rettete ihn nur die Versteigerung eines seiner einträglichsten Zweige, des Yoguskneftegas, der in den Besitz einer bis dahin unbekannten Baikal-Finanz-Gruppe überging. Chodorkowski selbst hatte seinen Platz im Aufsichtsrat von YUKOS schon vorher geräumt. Damit war das YUKOS- Imperium praktisch zerschlagen. Chodorkowskis strengte sofort ein Berufungverfahren an, mit dem er sich zugleich die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Nachwahl zum Unterhaus der russischen Staatsduma und damit Immunität sichern wollte. Doch noch bevor es zur dieser Wahl kommen konnte, wurde das Berufungsverfahren von der Staatsanwaltschaft abgeschmettert. Das Gericht hielt das Urteil wegen Betrug und Steuerhinterziehung aufrecht, nur in einem Punkt, der Veruntreuung von zwei Milliarden Rubel aus dem YUKOS-Vermögen, erklärte es das erstinstanzliche Urteil für nichtig. Die neun Jahre Haft aus der ersten Instanz wurden auf acht reduziert; die allerdings muss Chodorkowski nunmehr im offenen Lagervollzug antreten. Bei guter Führung kann er auf der Hälfte entlassen werden. Seine Anwälte kündigten an, sowohl beim russischen Verfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof noch einmal in die Berufung gehen zu wollen.

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Erneuerung á la Chodorkowski?

Nach seiner Verurteilung meldete Chodorkowski sich aus seiner soeben angetretenen Lagerhaft nahe der sibirischen Stadt Tschita erneut mit einer öffentlichen Erklärung, dieses mal mit einem „Programm der radikalen Modernisierung Russlands bis zum Jahr 2020“ zu Wort. Darin bringt er sich mit Vorschlägen für die Zeit nach Putin in Position.
Angemerkt werden muss an dieser Stelle, daß Chodorkowski entgegen Spekulationen, die man nach dem Prozess lesen, sehen und hören konnte, die russische Regierung wolle ihn nach dem Prozess verschwinden lassen, gleich in den ersten Tagen seiner Einlieferung ins Lager einen dreitägigen Besuch seiner Frau empfing, den ersten seit seiner Inhaftierung vor zwei Jahren. Mit seinen Rechtsanwälten erörterte er ein Berufungsverfahren. Neben einer Arbeit als Näher in der lagereigenen Kleiderproduktion, die er zwei Stunden am Tag ableisten muss, wird er eine Tätigkeit als Lagerdozent ausüben können; er kann TV und Kühlschrank beantragen, Presse abonnieren; von fünfzig Zeitungen ist die Rede, der er sich bestellt habe. Bei guter Führung, ließ die Lagerleitung mitteilen, bestehe die übliche Chance auf frühzeitige Entlassung, kurz, er ist ein ganz normaler, aber prominenter Häftling.
Scharf greift Chodorkowski in seiner Erklärung den Präsidenten Putin an: Der stehe einem Apparat von Schmarotzern vor, die unfähig seien, das Land zu modernisieren. Die einzige Frage, die sie bewege, laute, wie man möglichst schnell etwas vom Staat bekommen könne. Aber dieser parasitäre Ansatz trage nicht mehr; das Land brauche eine neue Elite, welche die Regierung nach Putins Ausscheiden im Jahr 2008 übernehmen könne. Sie müsse ihre Aufgabe in einem langfristigen Aufbau des Landes und nicht wie bisher in der bloßen Umverteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten sehen.
Die neue Elite werde mit einer Reihe objektiver Probleme konfrontiert sein: der demographischen Schrumpfung des Landes, dem Verschleiß der Infrastruktur, dem Zusammenbruch des Maschinenbaues, der Krise des Rüstungskomplexes, dem Verlust der Kontrolle Moskaus über den Kaukasus, dem Zusammenbruch der Streitkräfte usw. Statt einer Politik der „vertikalen Macht“ brauche das Land eine föderale Ordnung, die den Regionen mehr Kompetenzen zubillige und die Selbstverwaltung stärke. Eine „Ökonomie des Wissens “ müsse Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen entwickeln. Der Staat müsse Familien fördern, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuarbeiten, mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben, anstatt sich nur auf seine Energieressourcen zu verlassen. Das größte Problem sieht Chodorkowski im „brain drain“ des Landes, der gestoppt werden müsse. Das Kaderproblem sei aber lösbar: „Schaut, was ich aus YUKOS gemacht habe“, erklärt er selbstbewusst. Die Geschichte von YUKOS zeige doch, dass eine Ausbildung neuer Kader und eine Modernisierung möglich sei.
Zur Finanzierung schlägt Chodorkowski die Einführung einer doppelten Steuer vor. Auf bereits privatisiertes Volksvermögen möchte er eine Privatisierungssteuer erheben. Das werde dem Staat das nötige Geld einbringen, den Zahler zugleich als legitimen Eigentümer ausweisen und damit die Eigentumsverhältnisse des Landes stabilisieren. Zum Zweiten spricht Chodorkowski sich für eine Ressourcensteuer aus, welche die private Ausbeutung und Verschwendung der Ressourcen unterbinde. Aus den Einnahmen beider Steuern könne der Staat die Kosten für die Wiedereinführung der traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie kostenlose medizinische Versorgung, Ausbildung problemlos tragen, bevor die 90% der Armen das in die eigenen Hände nähmen.

Dies alles sieht nach ernsthaften Versuchen des ehemaligen YUKOS-Managers aus, sich aktiv in die Gestaltung der russischen Politik einbringen zu wollen. Vom Vorstand des Unternehmverbandes ist er aus eigenen Stücken mit der Begründung zurückgetreten, er sei nach dem Ausscheiden aus den YUKOS-Aufsichtsräten kein Unternehmer mehr, sondern eine Privatperson und als solche wolle er sich mit ganzen Kräften dem sozialen und demokratischen Aufbau des Landes widmen.
„Mir persönlich hat Russland viel gegeben“, schreibt Chodorkowski, „in den 70er und 80er Jahren bekam ich eine Ausbildung, auf die man stolz sein kann. In den 80er Jahren machte es mich (Laut ‚Forbes’) zum reichsten postsowjetischen Menschen. Im zurückliegenden Jahrzehnt nahm es mir aber das Eigentum weg und steckte mich ins Gefängnis, wo es mir die Möglichkeit bot, eine weitere Ausbildung zu bekommen – dieses mal eine gesamtmenschliche und humanitäre.“
Das klingt prinzipiell: Wurde aus Saulus ein Paulus? Diese Frage muss offen bleiben. Angesichts der Umstände, unter denen er seine bisherigen Positionen gegen den Liberalismus und für eine linke Wende nunmehr in einem politischen Programm konkretisiert, darf man jedoch annehmen, dass er für sich mit einer führenden Position in einem solchen Bündnis rechnet.

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Der neue Stand

Offen ist auch, wie lange Michael Chodorkowski tatsächlich sitzen muss. Sicher ist dagegen, dass die Zerschlagung des YUKOS-Konzerns ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung um die Verfügungsgewalt über die russischen Gas- und Ölressourcen eröffnet hat. Aktuelles Signal dafür ist der, parallel zum Abschluss des Prozesses gegen Chodorkowski, vollzogene Verkauf des Öl-Multis SIBNEFT an den halbstaatlichen Gasgiganten GAZPROM. Mit den beiden Megadeals, YUGANSKNEFTEGAZ noch während des Prozesses, SIBNEFT nach dem Prozess, baute GAZPROM seinen Marktanteil im Ölsektor kontinuierlich aus. Er stieg binnen eines Jahres von rund sechs auf über 30 Prozent. Dafür bezahlte der Staat 22,5 Mrd. Dollar. Im November 2005, gab GAZPROM bekannt, am Aufkauf weiterer Gruppen interessiert zu sein. Dieses mal war es SLAWNET. Mit diesem Kauf würde der Kreml seinen Einfluss im Ölsektor weiter erhöhen; GAZPROM würde mit diesem Schritt etwa 15 Prozent der russischen Ölförderung kontrollieren. Mit dieser Entwicklung wurde Russland hinter Saudiarabien zum zweitgrößten Ölförderer der Welt..

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Punktsieg für Putin

Die Zerschlagung des YOKUS Konzerns und Verurteilung Michail Chodorkowskis, ist, wie immer man die Methoden beurteilen mag, mit denen die Auseinandersetzung geführt wurde, ein Etappensieg für Wladimir Putins erklärtes Ziel, Russland auf dem Weg einer eigenständigen Entwicklung zu re-stabilisieren, und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen konnte Russland mit der Zerschlagung von YUKOS den Versuch des Westens insonderheit der USA zurückweisen, Russland auf dem Umweg über eine „Internationalisierung“ dieses Konzerns die Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen zu entreißen.
In einer bemerkenswerten Analyse der Web-Plattform ‚Saar-Zeitung’ wird darüber hinaus die äußerst pikante Vermutung vorgebracht, Michail Chodorkowski sei – ungeachtet seiner eigenen Motive – nur ein Spielball westlicher Intrigen gewesen. Man habe ihn von dieser Seite jahrelang aufgebaut und in seine illegalen Finanztransfers unterstützt, aber in dem Augenblick der russischen Justiz ausgeliefert, als man sicher zu sein glaubte, durch seine Verhaftung in den Besitz der Konzernmehrheit zu kommen. Grundlage für dieses Vorgehen, so diese durch Geheimdienstdossiers belegte Variante, lägen in den Statuten der Finanzgruppe Menatep, in der die YUKOS-Eigentümer ihren Besitz organisiert hätten. Danach hatte Chodorkowski im Falle seines Todes, einer Entführung, Haftstrafe oder beim Verlust eines wichtigen YUKOS-Teilbetriebes seine Rechte an YUKOS abzugeben, wie die Moskauer Wirtschaftszeitung ‚Wedemosti’ berichtet hatte. Belastendes Material, das gegen Chodorkowski wie gegen alle Oligarchen jederzeit ausreichend vorlag, habe man der russischen Regierung zu einem Zeitpunkt zugespielt, als der Konzern seine größte Ausdehnung gefunden habe. Als Überbringer des „Kompromats“, d.h. der kompromittierenden Dossiers, habe der deutsche BND fungiert. Dadurch habe man die russische Regierung zum Handeln, d.h. eben auch zur Teilenteignung zwingen wollen. Wladimir Putin habe diese Pläne jedoch erkannt und durchkreuzt, indem er die Anklage zwar habe erheben, den Prozess aber so lange habe hinauszögern lassen, dass die russische Regierung Zeit genug finden konnte, den wichtigsten Teilbetrieb von YUKOS, Yuganskneftegas, durch eine fingierte Auktion zu übernehmen, so dass der bei Chodorkowski verbleibende Rest von YUKOS-Anteilen nur noch eine relativ wertlose Hülle blieb. Danach erst sei der Prozess gegen ihn beschleunigt worden. Manches spricht für eine solche Manipulation; wer sich ein genaueres Bild von diesem Global-Krimi machen möchte, lese den ganzen Bericht der ‚Saar-Zeitung’. (www.saar.echo.de)
Aber auch ohne abenteuerliche Konkretisierungen dieser Art sind die Interessen in der YUKOS-Angelegenheit so offenkundig, dass von westlicher Seite heute unisono festgestellt wird, Putin habe die Ressourcen „re-nationalisiert“. Das stimmt allerdings nur in dem Sinne, dass die russische Regierung sich als Mehrheitsaktionär in die russische Öl-Gas-Branche eingekauft hat. Von Re-Nationalisierung im Sinne einer allgemeinen Rückführung der Privatisierung ist nicht die Rede; im Gegenteil erklärt Wladimir Putin bei jeder Gelegenheit, dass die privaten Besitzrechte in Russland heute gewahrt seien und auch in Zukunft gewahrt werden sollen.
Der zweite Effekt des YUKOS-Prozesses ist die faktische Bewältigung der russischen Budgetkrise, indem Russlands Oligarchen durch das Vorgehen gegen YUKOS dahin gebracht wurden, ihre Steuern wenigstens teilweise zu bezahlen und die gigantischen Off-shore Verbindungen aufgedeckt und zum Teil unterbunden wurden, über die die potentiellen Steuergelder der russischen Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken durch Dumpinggeschäfte an der russischen Staatskasse vorbeigeleitet wurden. Im Ergebnis des Prozesses und seiner Wirkung auf die übrigen Oligarchen Russlands verfügt der russische Staat jetzt über ausreichend Gelder, die von ihm vorgenommenen Reformen politisch durch große sowie sozial durch kleine Bestechungsgelder abzufedern und so Proteste zu unterlaufen. Der russische Präsident wies die Regierung sogar an, über eine Amnestie der früheren Steuersünder nachdenken.
Das eine wie das andere, die Wiedereingliederung der russischen Ressourcen in die staatliche Verfügung über GASPROM, ROSNEFT und andere russische Unternehmen mit staatlicher Beteiligung wie auch die Füllung des russischen Budgets richtet sich unmittelbar gegen die Politik der strategischen Schwächung Russlands durch Intervention in die wirtschaftliche und politische Souveränität Russlands, wie sie die von den USA betrieben wird und in abgestuftem Maße auch von der EU, die damit ihre eigene Abhängigkeit von russischen Rohstoffen „sicherheitspolitisch“ kompensieren will.
Statt sich selbst über die „Internationalisierung“ von YUKOS den Zugriff auf die russischen Ressourcen und damit auch den Einfluss auf die innenpolische Situation Russlands verschaffen zu können, mussten die USA nicht nur mit ansehen, wie es Wladimir Putin gelang, dem russischen Staat den verlorenen Zugriff wieder zurückzuholen, sie mussten auch erleben, dass die schnell gegründete Baikal-Finanz-Gruppe, die Yuganskneftegas ersteigerte, mit chinesischen Krediten ausgestattet wurde, wofür sich China privilegierten Zugang zu russischem Erdöl ausbedang. Damit ist Wladimir Putin eine entscheidende Weichenstellung im neuen Spiel um die eurasischen Ressourcen gelungen, die ihm Freiraum gibt, seinen Kurs der autoritären Modernisierung fortsetzen, mit dem er Russland zu einer unabhängigen Kraft zwischen Ost und West machen will

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Aussichten:
Vom Kampf um den materiellen Zugriff aufs Öl
zum Kampf um den ÖL-Dollar

Dies ist aber nur eine Etappe in der aktuellen Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt nach dem Ende der Systemteilung des letzten Jahrhunderts, weitere und möglicherweise schärfere Auseinandersetzungen um den Zugriff auf die eurasischen und andere Ressourcen werden mit Sicherheit folgen.
Die „SAAR-Zeitung“ schrieb dazu:
„Mit dem Schuldspruch gegen Chdorkowski wird deutlich, daß russische Außenpolitik wieder eine eigene Kontur annimmt, Russland beginnt, sein eigenes geopolitisches Konzept durchzusetzen. Gegen den Interventionismus der US Politik – wie er in der Brzezinksi-Doktrin zum Ausdruck kommt – setzte Putin ein Konzept des behutsamen multipolaren Pluralismus, der sowohl Asien als auch Europa einbezieht und Russland als Integrationsknoten einer Multipolaren Ordnung begreift. „Das Urteil gegen Chodorkowski kennzeichnet dabei den sichtbaren Wendepunkt in der russischen Außenpolitik, die plötzlich nicht mehr konzeptionslos erscheint“ Es sieht so aus als könne der „eurasische Spagat“ gelingen.“ (Saarzeitung, 16.05.2005)

Die Ereignisse, die den „Fall“ Chodorkowski begeleiteten, sprechen für sich:
– Der Irak-Krieg und seine Folgen.
– Die beginnende Diversifizierung der weltweiten Leitwährung.
– Die Initiativen für ein „Neues Bretton Woods“, das heißt, für internationale Kontrolle der globalen Kapitalflüsse.
– Die Bildung eines neuen Kräfteschwerpunkts in den Völkerbeziehungen, BRIC mit dem Zentrum der Schanghai Organisation, die Russland, China, Iran und Indien zusammenführt.
– Die Vorschläge im Kreis der Asiatischen und der Amerikanischen Staaten, Öl im Tausch gegen Waren, statt über Dollar oder Euro zu handeln.
– Russlands neue Beziehungen zu Arabischen Staaten und zum Iran.

Ein paar Daten mögen die einzelnen Aspekte noch verdeutlichen:

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Dollar unter Druck

Wenige Tage nach der Verkündung des Urteils gegen Michail Chodorkowski einigten sich Russland und die EU auf eine engere Zusammenarbeit; Moskau sandte gleichzeitig ein entscheidendes Signal in Richtung EU: Russland wird in Zukunft seine Devisenreserven in Dollar herunterfahren, dafür den Euro-Anteil auf 50:50 Prozent erhöhen. Zur Zeit liegt das Verhältnis bei 80: 20; bereits zum Jahresende 2005 soll der Euro-Anteil nicht 20, sondern 30 betragen, danach schnell auf 50 erhöht werden.
Damit machte die russische Regierung wahr, was die „Iswestija“ bereits im März 2004 berichtet hatte, dass Putin nämlich nach der Wahl plane, die Bindung der russischen . Währung an den US-Dollar gegen eine Bindung an den Euro zu verändern.
Eine Reform des Währungssystems war bereits seit längerem im Gespräch: Schon auf der IWF-Jahrestagung von 1994 wurde die Einrichtung eines „Neuen Bretton Woods“ mit einem System fester Wechselwährungen vorgeschlagen. Seit 1998 forderten europäische Politiker eine Kontrolle der Finanzmärkte – allen voran übrigens Oscar Lafontaine, der als deutscher Finanzminister gern „Dompteur der Finanzmärkte“ werden wollte. Auch er schlug eine Erneuerung des zusammengebrochenen „Bretton Woods Systems“ vor, allerdings nicht unter der Leitwährung des Dollar, sondern in einer festen Wertrelation von Dollar, Yen und Euro. Die Einführung des Euro 2002 konkretisierte alle diese Tendenzen; sie relativierte den Dollar als Welt-Reservewährung.
Hindernis gegen ein Abrücken vom Dollar als alleinige Weltleitwährung ist die Bindung des Öl-Handels an den Dollar. Seit 2000 rührt sich auch dagegen Widerstand. Gewünscht, vorgeschlagen, gefordert wird ein Übergang vom Dollar als Öl-Leitwährung auf den Euro oder gar die generelle Abkoppelung des Öl-Handels von einer Leitwährung:
Vorreiter für die Entthronung des Dollars war Saddam Hussein. Er wagte es im November 2000 als Erster laut darüber nachzudenken, den Ölhandel von Dollar auf Euro umzustellen; 2002 riskierte er diesen Schritt. Im Ergebnis wurde der IRAK mit Krieg überzogen. Die USA fürchteten einen Domino-Effekt in der arabischen Welt. Nach der Invasion wurde die Umstellung auf Euro rückgängig gemacht.
Bei einem OPEC-Gipfel im Jahr 2000 schlug Venezuales Präsident Hugo Chavez vor, den Ölhandel der OPEC-Länder mit den Entwicklungsländern im Barter-Verfahren durchzuführen, also Öl gegen Ware zu handeln, um auf diese Weise sowohl Dollar als auch den Euro bei den Geschäften zu meiden.
Ende 2002 ging Nordkorea zum Euro als Devisenrücklage über.
Seit 2003 forderte auch der Iran offiziell Euro-Abrechnungen für Öl, sogar für solches, das vorher zu Dollarpreisen gehandelt worden ist. Schon vorher hatte der Iran seine Währungsreserven auf Euro umgestellt. Die Gründung einer eigenen Börse für den Ölhandel im Iran steht bevor. Dazu ist anzumerken, dass das iranische ÖL 10% der Weltölreserven ausmacht – ein neuer Kriegsgrund für die USA.
Im April 2004 debattierten die Parlamente von Iran und Russland über eine mögliche Übernahme des Euro für Ölverkäufe. Die meisten Länder der OPEC signalisieren seitdem mehr oder weniger offen ein Interesse am Euro als Ölwährung. Saudi-Arianien ist dagegen.
Im Oktober 2004 wurde die Umstellung vom Petro-Dollar auf den Euro im Norwegischen Parlament diskutiert.
Im März 2005 verursachte die Südkoreanische Zentralbank einen Kursverslust des Dollar um 1,5 Prozent innerhalb von zwei Tagen. Grund: Sie hatte angekündigt ihre Diversifizierung auf Euro umstellen zu wollen.
Im März 2005 wurde die Initiative für ein neues Bretton Woods im italienischen Parlament diskutiert.
Am 2.August 2005 erschien im FAZ-Net die Meldung, dass nach Russland nunmehr auch die arabischen Staaten ihre Währungsreserven diversifizieren wollen.

Dies alles bedeutet, dass die Auseinandersetzung um die Ablösung des Dollars als Leit- und Öl-Währung sich zuspitzen. Die USA-Dominanz wird zunehmend bedroht. Wenn jetzt auch Russland in diese Bewegung mit einsteigt, dann ist das für die USA Alarmstufe ROT; nur Saudi-Arabien verhindert bisher die Ablösung des Dollars im OPEC-Geschäft.
Nach der Beendigung Kriegs um die unmittelbaren Zugriff auf russische Ressourcen, heißt das, zeichnet sich nunmehr eine neue russisch-amerikanische Konfrontation ab, dieses mal auf dem Gebiet der internationalen Finanz- und Währungsparketts.

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Zweitens: BRIC

Ebenfalls seit zwei Jahren kristallisieren sich neue Handels-, Wirtschafts- und Bündnisstrukturen heraus, deren Urheber Peking, Moskau, Delhi und neuerdings auch Teheran sind. Ende des Jahres 2002 unterzeichneten sie einen Handels- und Kooperationsvertrag, BRIC genannt, nach den daran beteiligten Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China.
Wenige Stichworte reichen, um die Brisanz dieses Bündnisses zu verdeutlichen:
China: Inzwischen zweitgrößter Öl-Importeuer; 2004 kauft China Jukos-Anteile, kreditiert die Baikal-Finazgruppe für den Kauf von Yuganskneftegas, kauft sich in Kanadas Ölsand-Felder ein, betreibt Öl- und Gas-Projektes mit dem Sudan am Nil. Im November 2004 besucht Chinas Präsident Hu Jintao Brasilien, Argentinien und Venezuela; Hugo Chávez erwidert den Besuch in China. Im Herbst 2004 schließen China und Iran ein Handelsabkommen, insonderheit zu Öllieferungen, das in allen Punkten gegen die US-Sanktionen agiert.
Indien: Der Indische Ministerpräsident bereist im Jahr 2003 China; 2004 gehen China und Indien eine „Kooperation für Energiesicherheit“ ein, zugleich schließt Indien eine „Strategische Allianz mit Russland“. Im Jahr 2004 entsteht ein „Runder Tisch der asiatischen Energieminister“, entwickelt sich ein regionaler asiatischer Petroleummark, wird die Schaffung einer asiatischen Bank für Energiefinanzen beschlossen. 2004 vereinbart Indien Sonderzölle mit den MERCOSUR-Staaten Südamerikas;. 2005 schließt Indien ein Handelsabkommen mit Russland, zeigt Interesse an iranischen Ölfeldern
Am 10. November 2005 schreibt die Zeitung India Daily:
„Der russische Präsident Putin nimmt eine führende Rolle in der mächtigsten Koalition der Regional- und Supermächte unserer zeit ein. Diese Koalition besteht aus Indien, China, Russland und Brasilien und wird die Vorherrschaft der Supermacht Amerika brechen.“
Ausdruck der neuen Stärke des russisch-asiatischen Dreiecks ist die Weiterentwicklung des Shanghaier Bündnisses (Shanghai Cooperation Organisation – SCO) zu einem asiatischen Pakt, in dem China, Russland, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan gemeinsam agieren, Iran ist interessiert.

Auf der anderen Seite des eurasischen Spagats stehen Treffen von Putin und Schröder im September 2004 in Oslo: Schröder bittet Putin um 20% Beteiligung von Wintershall an Gasprom statt der bisher 6%. Wenig später schließen Deutschland und Russland eine Gaspipeline durch die Ostsee. Die Deutsche Ban wird zum größten Finanzier der geplanten Aufkäufe von Öl-Firmen durch GAZPROM. Von der Erneuerung des strategischen Bündnisses zwischen Russland und der EU nach Zerschlagung von YUKOS war schon die Rede. Damit schließt sich der eurasische Kreis.

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Drittens: Gegenwind von Süden

Soeben war die Pleite für das panmerikanische Freihandelsabkommen ALCA zu beobachten, das in Mar el Plata in Kraft treten sollte. US-Präsident Bush war anwesend, konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen rief Hugo Chavez, Präsident von Venezuela dazu auf, anstelle von ALCA eine Alternative Bolivariana (ALBA) zu gründen, so genannt nach Simon Bolivar, der den Norden Südamerikas von spanischer Kolonialherrschaft befreite.
Dazu passt die Durchführung eines Kongress „Kapitalismus reloaded“ in Berlin im Oktober 2005: Siebenhundert Menschen aus Asien, Afrika Lateinamerika nehmen teil. Sie demonstrieren Zustimmung China, Indien, die BRIC-Staaten, zeigen neues Selbstbewusstsein..

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Die arabisch-islamische Karte

Ein herausragendes Zeichen, das auch die letzten Sicherheiten der USA in Bewegung bringen könnte, die diese mit ihrem „antiterroristischen“ Krieg“ unter dem Namen „enduring freedom“ gerade festzuklopfen versuchen, setzte die russische Regierung – ungeachtet des von ihr in Tschetschenien geführten Krieges – mit ihrer seit 2003 betriebenen Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC). Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“ Inzwischen nimmt Russland an den Konferenzen der OIC mit Beobachterstatus teil.
Parallel zur Annäherung Russlands an die OIC fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.
Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem Treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines ‚United Energy Systems’ zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten und vergegenwärtigt man sich die Bewegungen zur Entthronung des Dollar als Leitwährung, der Aktivitäten der BRIC-Staaten, der Entwicklungen im Dreieck zwischen China, Indien und Russland, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem seitens seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein. Was daraus folgt ist offen.

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Nachklänge
NGOs in Russland:
Achtung: Grenzüberschreitung?

Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten zwei Jahre schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein.
Neu wäre darüber hinaus eine Aufteilung zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken.

Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer Intervention hinaus, es käme einer Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention gleich. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.

Kai Ehlers
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