Schlagwort: Gemeinschaft

Russland ohne Europa? Auf der Suche nach der „russischen Idee“ – oder ist Russland nationalistisch?

 

Mit der vierten Amtszeit Wladimir Putins tritt Russland in eine neue Phase seiner nachsowjetischen Entwicklung ein. Zweifellos ist Putins Wiederwahl ein Ausdruck davon, dass die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nach wie vor Stabilität sucht. Und nicht zu Unrecht muss das Votum für ihn auch als Votum für eine stärkere Besinnung Russlands auf einen vom Westen unabhängigen eigenen Weg verstanden werden.

Putin wird sich alle Mühe geben, seinem Image als Stabilisator gerecht zu werden, innen- wie auch außenpolitisch. Ebenso klar ist aber auch, dass bloße Stabilität auf Dauer die Identitätslücke nicht füllen kann, in die Russland mit dem doppelten Bruch seiner Geschichte gefallen ist, einmal durch den Sturz des Zarismus in den  Revolutionen von 1905 und 1917, das zweite Mal siebzig Jahre später durch die Implosion der Sowjetunion 1991. 

Die Frage ist also: Was geschieht unter dem „westlichen Hut“, den Russland sich aufgesetzt hat? Was für ein Bewusstsein von der Rolle Russlands in der Welt wächst hinter den Fassaden der Modernisierung im Lande, in den Herzen und Köpfen der Menschen heran?

Anders gefragt, in welchen Verwandlungen erscheint heute das, was früher die „russische Idee“, danach siebzig Jahre lang die sowjetische Idee genannt wurde?

Noch anders: Was ist von westlichen Anwürfen zu halten, in Russland entwickle sich ein aggressiver Nationalismus?

Erlauben Sie mir zu diesen Fragen einen persönlichen Einstieg.

 

Ein Buch erscheint  

Passend zu der erneuten westlichen Medienkampagne gegen Russland nach den Wahlen zur russischen Präsidentschaft und wie gerufen zu meinem Text „Europa ohne Russland?“[1], der soeben erschienen war, wurde mir über meine Website ein Buch avisiert mit dem Hinweis, dass mich die in diesem Buch entwickelten Perspektiven eines eigenen russischen Weges vielleicht interessieren könnten.

Absender der Mail: Verlag Hagia Sophia mit dem Namenszusatz: „Philosophia Eurasia“;  Titel des Buches: „Das Zivilita-Gestirn“, Autor W.S. Milowatskij.[2]

Die Umstände, unter denen das Buch bei mir auftauchte, reichten aus, mich neugierig darauf werden zu lassen, ob aus ihm Hinweise für die zukünftigen Beziehungen Russlands zu sich und zu Europa und der Welt zu gewinnen sein könnten.

Das Buch, als es bei mir eintraf, erwies sich als Übersetzung aus dem Russischen mit einem extrem globalisierungskritischen Vor- und Nachwort des in Deutschland lebenden orthodoxen Erzpriesters André Sikojew, vor dem sich die hierzulande gewohnte Links-rechts-Radikalität fast pausbäckig ausnimmt. Das Buch erschien ursprünglich 2015 bei der „Gesellschaft zum Gedenken der Äbtissin  Taissija“, St. Petersburg, also bei einem kirchlichen russischen Herausgeber. Der Verlag „Hagia Sophia“, der das Buch jetzt in Deutschland herausbrachte, bezeichnet sich selbst als Nischenverlag, dessen Anliegen es sei, russische Philosophie, Tradition und die Ansätze zur Erneuerung russischer Identität aus orthodoxer Sicht deutschen Lesern bekannt zu machen und neue Wege der Krisenbewältigung aufzuzeigen.

Autor Milowatskij, von Haus aus Biologe, Philosoph und Historiker steht fest in der Denktradition des bekannten sowjetischen, international anerkannten  Naturwissenschaftlers und Ökologen Wladimir Wernadskij (1863 bis 1945), aus dessen Forschungen zur Biosphäre und der sich durch die geistige Tätigkeit des Menschen daraus erhebenden Noossphäre als sich selbst steuernder planetarischer Gesamtheit die in den sechziger Jahren im Westen entwickelte Gaia-Theorie des „New Age“ hervorging.[3] Ausführlich zitiert Milowatskij aus Wernadskijs Arbeit „Biossphäre und Noossphäre“ [4]:

„Der Mensch verstand zum ersten Mal  real“, schrieb Wernadskij, „dass er Bewohner eines Planeten ist, und unter einem neuen Aspekt denken und wirken kann – ja muss – nicht nur unter dem Aspekt einer Einzelpersönlichkeit, einer Familie oder eines Stammes, eines Staates oder seiner Bündnisse, sondern auch unter planetarischem Aspekt gerade im Lebensbereich, in der Biossphäre, in einer bestimmten irdischen Hülle, mit welcher er untrennbar, gesetzmäßig verbunden ist, und aus welcher er nicht heraustreten kann. Ihre Funktion ist seine Existenz. Er trägt sie überall mit sich.“ (Hervorhebungen von Milowatskij) (S. 70, siehe Anm. 2)

Weitere Bezugsgrößen Milowatskijs sind die Klassiker der “Russischen Idee“ von Fjodor Dostojewskij bis Leo Tolstoij. Das Buch stützt sich im Übrigen demonstrativ auf wissenschaftliche, historische und auch geistliche Quellen aus Ost und West. Leider geht gleich zu Beginn des Buches, wenn auch nur aus einer Fußnote in der Einführung durch den Erzpriester Sikojev auch hervor, dass die „eurasische Schule“ Alexander Dugins[5], die Sikojev  als „wichtigsten Gegenentwurf“ zu den „Exklusivgedanken“ Zbigniew Brzezinskis und Henry Kissingers benennt, ebenfalls zu Milowatskijs Bezugsgrößen gehört. ‚Leider‘ sage ich, weil dieser Einstieg mit einem im Westen als Putins Rasputin verschrienen Ideologen, sei dies berechtigt oder nicht, den Ausführungen Milowatskijs von vornherein einen Akzent mitgibt, der es schwer macht, die in dem Buch vorgestellten Inhalte unbelastet wahrzunehmen.  

 

Kritik der Globalisierung

Nichtsdestoweniger fordert das Buch fraglos zur Wahrnehmung und Auseinandersetzung heraus, wenn man verstehen will, was sich zur Frage der russischen Identität und der Rolle Russlands in der Welt heute in Russland, sagen wir, in traditionell orientierten Sphären des Landes entwickelt: Vorgestellt werden soll, auf Wernadskijs Forschungen aufbauend, eine zukünftige, ökologisch orientierte  „planetarische“ Welt, welche die gegenwärtig herrschende  Globalisierung und dadurch ausgelöste Nivellierung der traditionellen russischen Kultur durch neue Impulse ablösen könne.

Unter dem Ausdruck „Zivilita-Gestirn“, den Milowatskij an Stelle des von ihm als zu vieldeutig empfundenen Begriffes der Zivilisation einführt, wird Wernadskijs naturwissenschaftlich begründete Vision der Einbindung des Menschen in Biossphäre und Noossphäre zu einer Ordnung verschiedener Kulturräume auf Basis festen Glaubens an die sich selbst steuernde Göttlichkeit von Natur und Welt ausgeweitet. Dabei soll das „Gestirn“ für die Gesamtheit miteinander verbundener „Zivilitae“ stehen.

Unter „Zivilita‘ versteht der Autor eine kommunitäre Großgemeinschaft, in welcher der Einzelne unter der Voraussetzung eines gemeinsamen kulturellen Codes zum Bestandteil eines kollektiven Selbstbewusstseins werde, wo er sozusagen zu seiner ‚Volkheit‘ kommt; ausdrücklich lehnt Milowatskij dabei  eine Einengung der „Zivilita“ auf nur ethnische Kriterien ab. Die „Zivilita“ ist für ihn ein nicht ethnisch und nicht durch Staatsgrenzen definiertes Subjekt der Geschichte, in welchem der einzelne Mensch seinen Platz findet.

Bei all dem bewegt sich das ganze Traktat in Begriffen der Moderne, wie Geozivilisation, Globalisierung, Multipolarität, Modernisierung, Selbstorganisation und dergleichen mehr und macht seine Argumentation immer wieder auch an aktuellen politischen Ereignissen fest.  Soweit gekommen durfte man gespannt sein, ob sich da neue, zukunftsweisende Verbindungen auftun.

 

Das Wesen der „Zivilita“

Lassen wir den Autor selbst zu Wort kommen. Unter der Überschrift „Über das Wesen der Zivilita“ definiert er in einer langen Passage:

„Jeder lebendige Organismus ist notwendig  mit diesem oder jenem Öko-System, mit einer ökologischen Gemeinschaft ‚verbunden‘. Ebenso kann kein sozialer Organismus existieren, ohne zu diesem oder jenem sozialhistorischen oder kulturellen Supersystem zu gehören.

Das Hauptmerkmal der Zivilitae besteht darin, dass es sie gibt!

Das Menschengeschlecht kann nicht einfach ein Aggregat von einfachen Individuen sein; nicht eine triviale Masse oder irgendeine Herde, gesichtslos und amorph. Es (so im Buch! – ke) verfügt über viele Gesichter und hat seine besonderen Formen der Existenz. Die Zivilitae sind die größte und komplizierteste Form seiner Selbstorganisation. Etwas ausführlicher: Die Zivilita ist eine planetare kulturhistorische Gesamtheit, welche (oft informell) eine größere Gruppe von Ländern umfasst, die nach einem Paradigma leben. Diese Gesamtheit hat gewöhnlich keine exakten Grenzen, keine gemeinsame Verfassung und überhaupt keinerlei einheitliche Sammlung von Gesetzen. Sie ist eingefügt in eine bestimmte geographische Zone und in der Regel gebunden an diesen oder jenen Kontinent! Die ganze Menschheit ist organisiert in Gestalt von etwa fünf bis sieben Haupt-Zivilitae: In die Russische, Westeuropäische, Chinesische, Indische, Lateinamerikanische und die Afrikanische. Es existieren abgesondert einige Zivilisationen, welche nur ein Land darstellen: Die Japanische und Israelische. Wir rechnen sie nicht den Zivilitae zu: Sie haben keinen planetaren Charakter. Es gibt auch Länder, welche weder zu den Zivilitae noch zu den Zivilisationen gehören:  Sie sind dafür noch nicht reif.

Die Zivilitae werden durch ein persönliches Prinzip charakterisiert, man könnte sie auch katholische (griech. Gemäß dem Ganzen – allumfassende) Persönlichkeiten (Hervorhebung durch W.S. Milowatskij ) nennen, die in sich Millionen Personen bergen, die nur im Rahmen dieser Einheiten sich voll realisieren, darin schöpferisch fruchtbringend, geistig unbeirrt und wahrhaftig existieren können.

Diese allumfassenden Persönlichkeiten lassen sich nicht künstlich konstruieren – sie entstehen und entwickeln sich im Gang der Geschichte auf natürliche Weise, organisch wachsend, wie ein lebendiger Organismus. Wie jede Persönlichkeit haben sie ihr eigenes Gesicht, ihren eigenen Charakter und ihr Selbstbewusstsein.

Die Zivilitae sind untereinander unvermischt (Hervorhebung durch den Autor). Wie auch die Tierarten – das ist eine ihrer fundamentalen Eigenschaften. Sie müssen auch unvermischt bleiben, andernfalls verlöre  ihre Existenz den Sinn – der Kernpunkt liegt gerade darin, das sie abgesondert und unterschieden sind.“ (S. 35/36, siehe Anm. 2)

 

 Eingängige Worte…

Die Welt sei heute auf dem Weg, so Milowatskij weiter, sich zu einem Konzert der unterschiedlichen ‚Zivilitae‘ zu entwickeln, eben das „Gestirn“. Bei aller Verschiedenartigkeit seien die einzelnen Kultureinheiten doch nach gleichen Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die sich aus ihrem „planetarischen“ Wesen ergäben. Das sind nach Milowatskij, ohne hier ins Detail gehen zu wollen: „Verschiedenartigkeit“, „Selbstbewusstsein“ als besondere kulturelle Einheit, „Kontinentalität“, „gemeinsames Paradigma“ aller in einer „Zivilita“ lebenden Individuen, Vorrang des geistigen Kernbestandes vor der Ökonomie, dauernde „Entwicklungsdynamik“, Austausch und Kooperation über spezielle „Brücken“ bei bewusster Bewahrung des eigenen Charakters.

Jede „Zivilita“, so Milowatskij, verfüge über eine eigene Struktur: „Kern, Thesaurus, Korpus, Peripherie und Grenze.“: Im Kern werde „das Kulturelle, Religiöse, Politische und Industrielle zentriert“. Im Thesaurus seien „die sakralen Schriften enthalten, die das zivilitane Selbstbewusstsein formieren“. Der Korpus erstrecke sich „weit über die Grenzen des Kerns, wird aber durch den Thesaurus definiert. Die Peripherie stehe Wache „für die Ganzheit der Zivilita“. Ihre Grenzen, so Milowatskij schließlich, „fallen nicht mit  den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch  das Anziehungsvermögen des Kerns (Hervorhebung durch Milowatskij), durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

Für den russischen Thesaurus zählt Milowatskij auf: „Das Evangelium, die Heldensagen, das ‚Wort‘ des Ilarion, die Nestor-Chronik, die Stadt Kitesch, Sergij von Radonesch, das Kulokowo-Feld, die Entschlafungs-Kathedrale des Kreml, die Stadt des heiligen Apostels  Peter (Sankt Petersburg), Puschkin, ‚Krieg und Frieden‘ von L. Tolstoij, Stalingrad.“ Vieles mehr gehöre noch dazu, aber man müsse ja Maß halten. Der Korpus erstrecke sich vom Ladogasee, über Kiew, Dnjepr, Groß-Nowgorod, , Don und Wolga, Pskow,  Kasan und Ural, und Sibirien selbstverständlich – dies alles sind Namen unseres  heiligen russischen Korpus…Kamtschatka, Tundra, Asiatische Steppen usw. – das ist die Peripherie.“  Aber auch der Kaukasus, das Altai-Gebirge, Wladiwostok stünden Wache für die Ganzheit  der „Zivilita“. Schwierig sei es, Grenzen zwischen dieser und jener Zivilita zu ziehen. „Aber es gibt sie. Bei weitem fallen sie nicht mit den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch das Anziehungsvermögen des Kerns, durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

In gleicher Weise, wenn auch nicht so ausführlich werden die nichtrussischen „Zivilitae“ charakterisiert, die westeuropäische etwa durch die King-James-Bibel, die „Principia“ von Newton, die Werke von John Locke und Adam Smith, die Texte von Lincoln und Darwin, die chinesische Zivilita durch Konfuzius, die islamische durch den Koran usw.

Man könnte versucht sein, in diesem Ansatz – bereinigt von religiösen Überhöhungen und einseitigen Zuweisungen – eine Perspektive zu suchen, die über eine bloße Wiedergeburt russisch-orthodoxer, selbst eurasischer Traditionslinien hinaus tatsächlich in einen Raum des Miteinanders kultureller Großräume zielt – wenn, ja, wenn die berechtigte Kritik an den Auswüchsen der gegenwärtigen ökonomisch dominierten Globalisierung am Ende nicht unter Überschriften wie „Die sich überhebende Zivilita“ (gemeint ist Europa – mit Nordamerika und Australien) oder „Planetarität statt Globalismus“ als „Konfrontation zweier Strategien“ auf eine prinzipielle Ebene gehoben würde (Gemeint ist Eurasien ohne Westeuropa contra USA/‘Westen‘). Auf dieser Ebene reduzieren sich am Ende all die schönen Worte von gegenseitiger Anregung der Kulturen auf eine grobe Kampfansage gegen „den“ westlichen „Kulturimperialismus“, gegen „den“ Liberalismus, gegen ein von den USA geführtes „aggressives“ und „hedonistisches“ Europa und schließlich gegen „die Pest der Homoehen usw.“

Im „planetarischen“ Kampf gegen „den“ Liberalismus, wie er gegen Ende des Buches immer deutlicher hervortritt, mutiert der Mensch unversehens wieder zum Gefangenen eines dogmatischen Kollektivismus, von dem er soeben mit modernistischen Vokabeln befreit werden sollte. Vergeblich sucht man Aussagen dazu, wie das planetarische Selbstbewusstsein der „Zivilita“ sich zum Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen verhält. Von Selbstbewusstsein des Einzelnen ist keine Rede. Nicht die Befähigung des Menschen zu  freier Selbstbestimmung, eingebettet, versteht sich, in kooperative Gemeinschaft erweist sich als Ziel der „planetarischen“ Vision, wie man eingangs des Traktates als Lehre aus dem dogmatischen Kollektivismus der Sowjetzeit noch erwarten durfte, sondern die Einordnung des einzelnen Menschen in den Code seiner „Zivilita“, für deren Entwicklung und Erhaltung er eintreten müsse. „Das ist“, so fasst Milowatskij in den letzten Zeilen des Traktates sein „Fazit“ zusammen  „sozusagen unser planetarischer ‚Gehorsam‘.“ (Hervorhebung durch – Milowatskij)

 

Der Duginsche Kontext

Unverkennbar, wenn auch im Text nicht offengelegt, tritt hier nun auch der in der Anmerkung des Erzpriesters Sikojev eingangs nur angedeutete Duginsche Kontext hervor, allerdings weniger in seinen geopolitischen Dimensionen als in den ihnen zugrundeliegenden ideologischen Positionen. Schauen wir ein bisschen genauer, was das bedeutet: „Indem wir verstehen, was der Feind am meisten fürchtet“, schreibt Dugin in seinem ideologischen Hauptwerk „Die vierte politische Theorie“[6], in welchem er dem Liberalismus als der siegreichen Ideologie der Moderne den „eschatologischen“, also endzeitlichen Kampf ansagt, „schlagen wir die Theorie vor, daß jede menschliche Identität akzeptabel und berechtigt ist, außer der des Individuums. Der Mensch ist alles andere als ein Individuum. …Der Liberalismus muss besiegt und vernichtet, das Individuum  von seinem Piedestal  herabgeholt werden.“ (S. 53, siehe Anm. 5)

Und weiter fragt Dugin unter der Prämisse, dass die „Vierte politische Theorie“ das Brauchbare“ (S. 49, siehe Anm. 5) von Kommunismus, Faschismus und Liberalismus nach Eliminierung ihrer Fehler nutzen müsse: „Könnten wir irgendetwas dem Liberalismus entnehmen – eben diesem hypothetisch besiegten  und desorientierten Liberalismus?“ und antwortet: „Ja, es ist die Idee der Freiheit“, setzt aber gleich hinzu: ,Der Unterschied besteht darin, dass diese Freiheit als eine menschliche aufgefasst wird und nicht als Freiheit für das Individuum …  In die Gegenrichtung sich bewegend, kam das europäische Denken, zu einem anderen Schluss: „Der Mensch (als Individuum) ist ein Gefängnis ohne Mauern“ (Jean Paul Sartre); in anderen Worten, die Freiheit eines Individuums ist ein Gefängnis. Um eigentliche Freiheit zu erlangen, müssen wir die Grenzen des Individuums  überschreiten. In diesem Sinn ist die Vierte politische Theorie eine Befreiungstheorie, die jenseits des Gefängnisses in die Außenwelt vordringt, wo die Geltung der individuellen Identität endet.“ (S. 54, siehe Anm. 5)

Menschlich statt individuell – bemerkenswert! Aber es kommt noch deutlicher: Unter der Überschrift „Die neue politische Anthropologie: Der politische Mensch und seine Mutationen“ fügt Dugin hundert Seiten später hinzu: „Was der Mensch wird, wird nicht von ihm als Individuum, sondern von der Politik abgeleitet.  … Wir glauben, wir seien ‚causa sui‘, Selbstursache, und finden uns nur dann in der Sphäre der Politik. Es ist aber die Politik, die uns formt.“ Und weiter:  „Die anthropologische Struktur des Menschen wandelt  sich mit dem politischen Systemwechsel. … Am Pol der Moderne haben wir ja das rationale, autonome Individuum; am anderen Pol ein Teilchen eines bestimmten ganzheitlichen Ensembles.“ (S.185 …)

Hier wird der von Milowatskij zitierte Satz Wernadskijs, wonach die Biosphäre die „bestimmte irdische Hülle“ sei, aus welcher der Mensch nicht heraustreten könne, von Dugin noch weiter überdehnt als schon von Milowatskij und gleich darauf noch einmal weiter, wenn Dugin für die von ihm reklamierte „Post-Anthropologie“ schließlich die Vision einer „Angelopolis“ entwirft, in der „die Sphäre des Politischen beginnt, kontrolliert zu werden durch und begründet zu werden auf der Konfrontation zwischen übermenschlichen Wesen. Das sind Wesen“, so Dugin, „die weder menschlich noch göttlich sind (oder überhaupt nicht göttlich). ‚Angelopolis‘ besitzt ein enormes Potential, politische Rollen zu verteilen, ohne Menschenartige und Post-Menschenartige einzubeziehen. … Es gibt wirklich eine Kommandozentrale in der Post-Politik. Es gibt Akteure, und es gibt Entscheidungen, aber sie sind in der Postmoderne völlig entmenschlicht. Sie sind jenseits aller anthropologischen Rahmen.“ (S. 192)

Vor dem Hintergrund dieser Positionen gewinnt der von Erzpriester Sikojev nur unter dem Stichwort der Geopolitik erwähnte Duginsche Kontext eine nicht mehr zu übersehende ideologische Dominanz, unter deren Druck die Vision des „Zivilita-Gestirns“ endgültig ihre planetarische Unschuld verliert und auf schlichten orthodoxen antiliberalen Kollektivismus zusammenschrumpft, soweit sie nicht in den geopolitischen Feinderklärungen Duginscher Prägung steckenbleibt. Für eine Erneuerung  der russischen Identität in gegenseitiger Befruchtung verschiedener Kulturen, insbesondere der europäischen und russischen, und die gegenseitige Förderung unterschiedlicher Kulturräume wie im Ansatz versprochen war, bleibt da nichts übrig. Eher schon ist sie geeignet, wenn solche Ideen denn aufgegriffen werden sollten, zu einer wachsenden Entfremdung und zu Spannungen zwischen den Kulturen beizutragen.  

 

Der rationale Gegenentwurf

 Hier angekommen wird es Zeit nach rationalen Gegenentwürfen Ausschau zu halten. Auch hier möchte ich zunächst noch einmal persönlich einsteigen, diesmal allerdings mit einem Griff in die Erinnerung.

Zu sprechen ist von Prof. Igor Tschubajs, nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Anatoly Tschubajs, der als radikaler ‚Westler‘, als „Oberprivatisierer“ das absolute Hassobjekt der russischen Bevölkerung wurde.

Igor Tschubajs lernte ich im Jahr 2000 bei Forschungen nach der russischen Re-Orientierung als Professor an der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau kennen, wo er dabei war eine Fakultät für „russische Studien“ aufzubauen.  Er wollte „russische Studien“ als Unterrichtsfach in die neue Bildungspolitik zur Neu-Entwicklung der „russischen Idee“ einführen.

Tschubajs erklärte mir damals, dass die neue Macht, das war der soeben angetretene Wladimir Putin, nicht begriffen habe, worum es eigentlich gehe, nämlich, dass man sich heute mit dem Problem des doppelten Bruches beschäftigen müsse, der in der russischen Geschichte zum einen durch den Eintritt des Sowjetstaates, zum zweiten durch dessen Zusammenbruch vor sich gegangen sei. Er erklärte, dass man die Sowjetunion als Bruch der russischen Geschichte verstehen müsse, weil sie die Kontinuität der russischen Staatlichkeit grundsätzlich zerstört habe, dass man nach dem jetzigen erneuten Bruch also zurückgreifen müsse auf die staatlichen und kulturellen Wurzeln vor der Sowjetunion. Allerdings dürfe man dabei nicht in die Vergangenheit zurückgehen wollen, sondern müsse an den Entwicklungsimpulsen anknüpfen, die damals von den Bolschewiki abgerissen worden seien. Tschubais vertrat diese Theorie unter dem Stichwort der „Wiederherstellung der Kontinuität“ der russischen Entwicklung, die unter scharfer Kritik des durch die Sowjetpolitik verlorenen Jahrhunderts in die heutige Moderne geführt werden müsse.[7]

Nach Dugin befragt, der damals auch von „Wiederherstellung der Kontinuität“ sprach, antwortete Tschubajs: „Wenn Dugin und seine Parteigänger von ‚Kontinuität‘ sprechen, so wollen sie, soweit ich das verstehe, in vielem das alte Russland wiederherstellen, das damals existierte. Aber das zu bewirken ist nicht möglich und nicht nötig, denn Russland war ein Imperium, Russland war mit Eroberungen befasst. Russland betrieb eine expansive Politik bei gleichzeitiger Vereinheitlichung. Das ist heute absolut unnötig und unmöglich“[8]

Inzwischen hat Tschubajs sechs umfangreiche Bücher zu diesen Fragen veröffentlicht, die zum Teil im englischsprachigen Ausland herausgegeben wurden. Er ist auf einer schwer zu verstehenden Zwischenspur zwischen Rückwendung in die vorsowjetische Zeit und Übernahme der westlichen Moderne angekommen – unter Rückgriff auf die Spur der beginnenden kapitalistischen Entwicklung des zaristischen Russlands, die, so seine Sicht,  durch die Sowjets unterbrochen und geschädigt worden sei.

 

Definitionen

Lassen wir auch Igor Tschubaijs selbst zu Wort kommen. Die folgenden drei Statements, sind einem kleinen Traktat für den „Hausgebrauch“ entnommen, in dem er unter dem Titel „Wie wir unser Land verstehen sollen“ [9] versucht Begriffe zu klären und Bewusstsein für russische Kontinuität zu schaffen:

  • Zu den Grundlagen der „russischen Idee“:

„Die Werte, auf denen sich unser Staat im Laufe vieler Jahrhunderte ausformte, sind die Orthodoxie, die Sammlung der russischen Länder, und der dorfgemeindliche Kollektivismus. Bei jeglichem Volk gehört zur nationalen Idee auch seine Sprache, bei uns natürlich die russische.“

  • Zur Krise der „russischen Idee“:

„Wie wir sagten, hat Russland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem es das größte Staatsgebilde der Welt errichtet hatte, einen sehr günstigen entwickelten Zustand erreicht. Und in diesem Moment zeigte sich, dass das Fundament des Gebäudes von Erosion bedroht war. Alle drei Dimensionen der russischen Idee gerieten gleichzeitig in eine Krisenzeit und machten Reformen notwendig. Die Dorfgemeinde störte die Entwicklung des Agrosektors, die Sammlung der russischen Länder hatte sich erschöpft und die Orthodoxie geriet, wie das gesamte europäische Christentum, in Konflikt mit der Herausforderung des Atheismus.“ (Hervorhebung durch Tschubaijs)

  • Zur heutigen Situation:

„Siebzig sowjetische Jahre haben Russland aus der europäischen und Weltgeschichte herausgebrochen, aus dem natürlichen Fluss der Zeit gerissen. Und deshalb kommt der unsinnige Streit, ob wir Europa, ob wir Eurasien, ob wir Asiopa sind, nicht zur Ruhe. Tatsächlich ergänzen die beiden europäischen Traditionen einander, aber die Erben des Westlichen Roms und des Östlichen Roms haben ihre je eigene Besonderheit. Darüber kann man nachdenken.“

Aus dieser Position zwischen den Zeitbrüchen erklärt sich die ganz und gar zwittrige Lage, in die Tschubaijs gekommen ist, einerseits an die russische vorrevolutionäre Tradition anknüpfen, andererseits das heutige Russland an die heutige Westlichkeit anschließen zu wollen. Folgerichtig demonstrierte er anlässlich der Wahlen 2012 zusammen mit der liberalen Opposition gegen die Politik Putins, ging dafür sogar für 24 Stunden in Arrest. Damit steht er auf der Seite der liberalen Putingegner. Andererseits wurden seine Schriften auch von liberaler Seite aus ins Abseits gedrängt. Liberale Gazetten verweigerten Besprechungen zu seinen Büchern, liberale Lehrstühle  verschlossen sich ihm. Im Ergebnis all dessen wurde das von ihm begründete „Zentrum für Russlandforschung“ geschlossen. Ein Lehrbuch zur „Vaterlandskunde“ für den Schulunterricht und entsprechende Praxis blieb ein regionales Ereignis usw. Die Liste seiner immer wieder versuchten Ansätze ist lang.

Mit seinen Vorstellungen einer „Russischen Schule“ oder „Russlandkunde“ sitzt Tschubaijs zwischen allen Stühlen – nicht einverstanden mit der herrschenden Macht, nicht einverstanden mit romantisierenden, klerikalen Traditionalisten, nicht einverstanden mit rückwärtsgewandten neo-sowjetischen Nostalgikern, aber auch nicht mit der pro-westlichen liberalen Opposition. Aber zuversichtlich beschließt sein kleines Traktat für den „Hausgebrauch“ mit den Worten: „Die wiedererstandene und reformierte Russische Idee, das ist Historismus, Umgestaltung, Geistigkeit, Sittlichkeit und Demokratie. Kehren wir doch nach Russland zurück…Alles fängt erst an. Wir werden es schaffen.“

 

Bruchlinien

Betrachtet man die beiden hier skizzierten Ansätze, dann stellt sich die Frage: Wo ist die „russische Idee“ also heute gelandet? Da ist Tschubajs in einem vorbehaltlos zuzustimmen: Russland lebt gegenwärtig in Brüchen, mehrere Etappen der Geschichte existieren gleichzeitigen neben-  und miteinander. Für jeden ist etwas dabei, für die Vertreter eines „Zivilita-Gestirns“ ebenso wie für Sowjetnostalgiker, für Traditionalisten wie für „Westler“, für Machtpragmatiker wie für Anarchisten. Russland ist heute, entgegen dem äußeren Anschein, eine durch und durch uneinheitliche, plurale Gesellschaft, immer noch auf der Suche nach sich selbst – bis hinein in die neue Klassenwirklichkeit, die Spaltung zwischen Stadt und Land, die unterschiedliche Entwicklungen der Regionen und Religionen des Landes.

Insofern ist es vollkommen sinnlos von einem russischen Nationalismus, einer Gleichschaltung, einer Diktatur Putins oder dergleichen reden zu wollen.

Alle Versuche eine neue „russische Idee“, gar eine nationale Idee aus dem Boden stampfen zu wollen, sind bisher gescheitert: Das betrifft den von Jelzin seinerzeit eingerichteten „Wettbewerb“ zur Entwicklung einer „nationalen Idee“ ebenso wie die frühen Versuche Dugins und der mit ihm verbundenen nationalistischen Kreise. Allein Dugins „eurasischer“ Ansatz hat eine gewisse Basis in der Politik gefunden, allerdings von Putin pragmatisch reduziert auf die Reorganisation der russischen Staatlichkeit im eurasischen Raum, ohne die mystischen Ideologisierungen, die Dugin darauf aufgebaut hat.

So wundert es auch nicht, dass Dugin 2014 – nach vorübergehender Nähe zur Macht‘ – angestoßen von Protesten der universitären Öffentlichkeit gegen nationalistische Entgleisungen von ihm im Ukraine-Konflikt, von seiner Professur an der Lomonossow Universität suspendiert wurde

Tatsächlich ist Russlands Politik – nur scheinbar im Widerspruch zur  kollektivistischen Tradition des Landes – durch und durch personalistisch. Es ist eher so: Wenn sich etwas durch die russische Geschichte zieht, dann ist es diese personalistische Struktur, die Spontaneität und Zentralismus immer wieder in Polarität miteinander verbindet. Stichwort: Guter ‚Natschalnik‘, also: Chef, gute Sowchose, guter Zar, gutes Russland. Schlechter ‚Natschalnik‘, schlechte Sowchose, schlechter Zar, schlechtes Russland. Guter Putin, gutes Russland, schlechter Putin, schlechtes Russland. Auf den Westen fixierte Kritiker subsumieren das gern alles unterschiedslos unter Korruption. Die gibt es, zweifellos, und nicht zu knapp, und natürlich liegt hier auch die Gefahr der Willkür, bis hin zu despotischer Selbstherrlichkeit der ‚Macht‘, die sich aus der anarchischen Grundstruktur der Gesellschaft speist. In eben dieser anarchischen Grundstruktur liegen aber auch Russlands Qualitäten – die Priorität des Menschlichen vor dem Rechtlichen.

Wenn dieses Russland nun nach Europa schaut, dann sieht es dort einen Verfassungsstaat, eine Vertragsgesellschaft. Der Rechtsstaat, die deutsche Pünktlichkeit fasziniert die russische Bevölkerung – und schreckt sie zugleich ab. Russlands Stabilität, das Lebensgefühl der in Russland lebenden Menschen steht und fällt mit dem guten (oder schlechten) Natschalnik‘. Anders gesagt, russische Demokratie ist nicht formal; russische Demokratie kommt aus der Person, aus dem Herzen – oder sie kommt nicht.

In dieser Sphäre liegt auch die geradezu instinktive Ablehnung der von der EU oder einzelnen europäischen Staaten ausgehenden Menschenrechtsmahnungen als Menschenrechtelei. Das kann man gut finden oder nicht; es ist einfach ein Ausdruck der unterschiedlichen Paradigmen, in denen die Menschen leben. Darin ist den russischen Kritikern eindeutig zuzustimmen, auch wenn das orthodoxe Motto ‚Moral statt Recht‘ für Menschen mit europäischer Sozialisation schwer zu verstehen ist. Man könnte aber auch voneinander lernen und miteinander Fähigkeiten entwickeln, die über die starre Polarität hinausführen,  statt sich nur voneinander abzugrenzen und sich in feindlicher Frontstellung zu versteifen.

Die gegenwärtige Sanktionspolitik der EU mit Rückenwind der USA, die sich als menschenrechtlich darstellt, wird in Russland jedenfalls nicht als ein Zugewinn an Recht, sondern als das genaue Gegenteil, als die Zunahme von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, als Abbau persönlichen Vertrauens wahrgenommen. Da verkehren sich die Werte, und aus möglicher Kooperation zum gegenseitigen Nutzen wird eine schroffe Abwendung.

Blickt man von Moskau aus nach China, dann ist das entgegen dem, was vom  Westen aus gegenwärtig wahrgenommen wird, für die russische Mentalität, für die Menschen Russlands noch weniger akzeptabel als das, was sie von westeuropäischer Seite erleben. Die steife Ritualisierung und Dogmatisierung chinesischer Politik, chinesischer Kultur – auch in ihrer aktuellen Xi Jinping Variante – ist dem anarchischen, dem personalen Charakter der russischen Mentalität vom tiefsten Wesen her fremd. Insofern ist über ein strategisches Bündnis hinaus kein Zusammenwachsen der chinesischen und der russischen Kultur zu erwarten – wenn nicht über die Vermittlung durch die europäisch-westliche Kultur, die in ihrer Rechtsförmigkeit, aber zugleich doch auch Beweglichkeit das steife Chinesische und das anarchische Russische in einen Ausgleich bringen könnte.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu das Buch:

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

(zu beziehen über den Buchhandel oder den Autor: www.kai-ehlers.de)

 

[1] www.kai-ehlers.de: „Europa ohne Russland?“

[2] W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn. Traktat über die Planetarität der Menschheit und das Projekt Gottes in der Geschichte. Mit einer Einleitung und einem  Nachwort von Erzpriester André Sikojev, Edition Hagia Sophia, Philosophia Eurasia 3, Wachtendonk, 2018

[3] Peter Krüger, W.I. Wernadskij, Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 55, Teubner Verlagsgesellschaft, 1881

Außerdem: Kai Ehlers, Sowjetunion – mit Gewalt zur Demokratie?, Galgenberg, Hamburg 1991, Exkurs S. 39

[4] W.I. Wernadskij, Biossphäre und Noossphäre, Moskau 2013, S. 262 zitiert nach W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn, S. 70

[5] In der Anmerkung  zu Beginn seiner Einführung schreibt Sikojev u.a.:

Brzezinskis geopolitischer Klassiker The grand chessboard – American Primary  and its geostrategic  Imperatives (1977) trägt im deutschen Untertitel Amerikas Strategie der Vorherrschaft (2015) . Henry Kissingers „World Order“  ist demselben monopolaren  imperialistischen Raumdenken geschuldet, auch wenn  Kissinger  sich sehr viel mehr  als sein politischer Vorläufer wissenschaftlich fundiert  und kritisch reflektiert mit den eigenen Ansprüchen auseinandersetzt.  Beide Fundmentalwerke der Geopolitik  sind bis heute aktuell, zumindest  für das Verständnis  der zentralen  Euro-Atlantischen  Machtstrukturen und ihre Handlungsführer.

Den wichtigsten Gegenentwurf zu diesem anglosächsischen auf dem Exklusivgedanken  der Auserwähltheit  der westlichen Zivilisation  aufgrund des finanzökonomischen Erfolgs ihres Wirtschaftsmodells beruhenden – lieferte die Eurasische Schule A.G. Dugins mit den Grundlagen des Eurasiertums (Moskau 2002), Geopolitik (Moskau 2011) und Geopolitik Russlands (Moskau 2012)

[6] Alexander Dugin, Die vierte politische Theorie, ARKTOS, London 2013, S. 53/54

[7] Kai Ehlers, Themenheft 9, Sommer 2000: ‚Priemstwo‘ – Akzeptanz.  Russland auf dem Weg zu sich selbst. Gespräche über die russische Idee.

[8] ebenda

[9] Igor Tschubais, Wie wir  unser Land verstehen sollen, Shaker media, 2016, aus dem Russischen  Arsis Books, 2014. Zitate: S. 17, 29, 70

Russland: Entwicklungsland neuen Typs

Russland und der Westen stehen heute nicht nur in der politischen, sondern auch in der kulturellen Kontroverse. Die westliche Propaganda  betrachtet Russland wie einen unterentwickelten Paria, mit dem auch nur freundschaftlich zu verkehren schon für eine Stigmatisierung und den Verlust eines hohen Amtes ausreicht.

Der folgende Text mag dazu beitragen,  die russische ‚Unterentwicklung‘ von einer anderen Seite her zu betrachten. Er ist heute so wahr wie 2005, als er geschrieben wurde – angesichts der neueren Konfrontationen möglicherweise noch wahrer als zur Zeit seiner Entstehung.

 

Kai Ehlers

 

Mit Jefim Berschin[1] steige ich in die Fragen ein, die sich aus der Einsicht ergeben, dass Russland heute – zum wiederholten Male – zum globalen Entwicklungsland geworden ist, und das nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern im Sinne des wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs – ein Entwicklungsland neuen Typs. In Russland bleibt kein Stein auf dem anderen, auch im mentalen Bereich; es gibt keine Prioritären, keine eindeutigen, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum ‚Kapitalismus‘ oder (zurück) zum ‚Sozialismus‘, zum Christentum oder zum Islam, überhaupt zur Religion oder zum Atheismus usw. Es wirbelt vielmehr alles durcheinander, auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Wechselwirkung der Vielfalt pur!

    Insofern wird Russland erneut – wie schon mehrere Male in der Geschichte – zum  Entwicklungsland in dem Sinne, dass sich im Russischen Raum als Integrationsraum Euro-Asiens die Einflüsse aus allen Ecken der Welt überschneiden und neu gestalten. Das formuliert ja interessanter Weise auch Wladimir Putin. Die Form, die diese Entwicklung unter seiner Ägide zurzeit annimmt, ist höchst unglücklich – eine Wiederauflage des Paternalismus von der Art der Selbstherrschaft, im Wesen aber ist gar keine andere Politik möglich als die der Erneuerung der Integrationskräfte Russlands.

    Das Ringen um neue Ziele, neue Kräfte, neue Methoden der Integration bestimmt das gesamte russische, genauer gesprochen, russländische Leben, also nicht nur das der slawischen Russen, sondern das der Völker- und Kulturgemeinschaft Russlands – nicht zuletzt und im tiefstgreifenden Maße im Bereich der Ethik, Moral und Religion. Ohne neue Ethik kann dieser Raum, können die Menschen dort nicht überleben. In der Vielgestaltigkeit, ja in der chaotischen Vielfalt des Raumes, der aber doch ein Gesamtraum ist, liegt, wie jedes Mal deutlich wird, wenn man sich mit offenen Augen in Russland aufhält, die tiefe Begründung für den ethischen Extremismus, mit dem und in dem die russische Bevölkerung lebt: Nur extreme Besinnung auf moralische Verbindlichkeiten kann den Menschen in diesem offenen Raum, der allen Zentralisierungs- und Isolierungsbemühungen und –phasen zum Trotz immer wieder durch von außen kommende Einflüsse (wie jetzt die Globalisierung) chaotisiert wird, so etwas wie einen Halt, eine Sicherheit, eine Heimat geben.

    Die Heimat der russischen Menschen ist deshalb auch weniger – wie bei uns – die schöne Landschaft oder dergleichen, sondern die russische Kultur, was immer darunter verstanden wird, sind die Werte des Zusammenlebens, die Sprache, die Lieder usw. – letztlich die Moralität von Gemeinschaft, eben deswegen, weil in dieser Weite die Moral einer Gemeinschaft ein besonderes schützenswertes Gut ist, das nicht einfach existiert, sondern gegen die uferlose, grenzenlose Weite hergestellt und bewahrt werden muss. Einfach gesagt: Der europäische Mensch ist froh, einen Platz zu finden, an dem er allein sein kann; in Russland ist man froh, Gemeinschaft zu finden, die einen vor dem Alleinsein und Ausgesetzt-Sein schützt.

    Jetzt sind eben diese traditionellen moralischen Werte, durch die siebzig Jahre des realen Sozialismus zugleich bewahrt und diskreditiert, wieder einmal fundamental in Frage stellt – ähnlich wie zu Zeiten des Mongolensturms, ähnlich wie zu Zeiten Iwans IV., ähnlich wie zu Zeiten der großen Bauernrevolten im 18. Jahrhundert, ähnlich wie zu Zeiten des einbrechenden Kapitalismus und der Revolutionsjahre Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal bricht die Außenwelt in das mühsam zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd des Kontinents hergestellte Gleichgewicht ein – dieses Mal als ‚Globalisierung‘. Wieder einmal muss Russland von Grund auf seine Moral des Überlebens zwischen den territorialen, ethnischen und geistigen Extremen neu definieren. Insofern Russland das Zentrum des euro-asiatischen Kontinentes bildet, der seinerseits die größte Land- und Bevölkerungsmasse des Globus konzentriert, betrifft diese Definition die gesamte existierende Welt. In Maßen war das auch früher so – mit Auswirkungen auf die europäische wie auf die asiatische Entwicklung; heute im Zuge der Entwicklung, ja einer neuen Stufe der Intensivierung des globalen Marktes und damit sich entwickelnder gegenseitiger Abhängigkeiten betrifft diese Definition den gesamten Globus, ob wir wollen oder nicht. Grob gesprochen: Es kann der Welt nicht gleichgültig sein, welche Seite der russischen Wirklichkeit heute auf sie einwirkt – die Brutalität der russischen Mafia oder die Kultur der russischen Gemeinschaftstraditionen, oder, noch exponierter formuliert, die asozialen oder die sozialen Impulse, die aus der Transformation, sagen wir auch ruhig, aus der Modernisierung der russischen Gemeinschaftsethik heute hervorgehen.

    In Russland treffen heute Individualismus und Kollektivismus am härtesten, am schroffsten, im weitesten Maße und im tiefsten Sinne aufeinander; hier werden Neue Formen des Miteinanders von Einzelinteresse und Kollektivinteresse am extremsten ausprobiert, durchlitten, erfunden – auf allen Ebenen der menschlichen Existenz, vom Kindergarten bis zum Tod und bis zu den Vorstellungen vom Leben nach dem physischen Tode. In diesem Sinne ist Russland heute ein gewaltiges Feld schöpferischer Unruhe von globaler Bedeutung, das neue ethische Räume entstehen lässt.

    Jefim Berschin spricht hier geradewegs von Religion, wobei er sich gleichzeitig von bestehenden Glaubensgemeinschaften distanziert: Sein Credo: Gott im Menschen finden. Vom Judaismus über die historischen Glaubensgemeinschaften des Christentums und des Islam zum Ego des heutigen Menschen – dies, meint er, sei Russlands historische Botschaft. Das ist ein großer Entwurf.

    Ich möchte da vorsichtiger sein: Die Elemente einer Wissenschaft von der Transformation, die für mich aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte russischer Geschichte hervortreten – Krise der Pyramide als Gesellschaftsmodell, Erinnerung an das Labyrinth, Selbstorganisation in der Gemeinschaft – öffnen zwar neue mentale Räume, die ohne Zweifel auch über Russland hinaus gültig sind, aber sie sind doch noch nicht mehr als ein Gerüst, an dem neue Vorstellungen entstehen können. Eine neue Ethik ist das noch nicht.

    Vor allem ist es kein Automatismus: Der gegenwärtige Kurs Putins treibt Russlands Entwicklung auf eine neue Weggabelung zu: In seiner TV-Rede zu Beslan[2], deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Wie die Maßnahmen zeigen, die er vor und nach Beslan einleitete, meint er damit ganz offensichtlich nicht „Demokratie“ nach westlichem Vorbild, sondern etwas sehr Russisches, nämlich die Überwindung der gegenwärtigen Smuta, der Großen Unordnung, durch eine patriarchale Konsensgesellschaft. Die Smuta ist der Zustand des ungeordneten Pluralismus zwischen Asien und Europa, in den Russland im Lauf seiner Geschichte immer wieder versunken ist, wenn die Zentralmacht verfiel. In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin macht den Versuch, diese Polarität zu modernisieren, nachdem Gorbatschow sie gekündigt und Jelzin sie ins pluralistische Chaos überführt hatte. Putins gegenwärtige Stärke ist dabei Voraussetzung und Bremse zugleich: Voraussetzung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft, Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen entgegen handelt. Das lässt den angestrebten Konsens zur leeren Geste verkommen. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus verlangt eine ideologische Aufrüstung, zu der die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht motiviert ist.

     Im Ergebnis vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft in eine herrschende politische Klasse auf der einen, eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten zurückzieht auf der anderen Seite. Putin steht vor der Wahl, diese Verweigerung zu akzeptieren oder sie mit Gewalt zu brechen. Sie akzeptieren heißt, den unabgesicherten Weg der Transformation fortzusetzen, dem Kapital die Symbiose mit einer agrarisch orientierten Selbstversorgung als Dauereinrichtung, ja, als Perspektive zuzumuten und Schritt für Schritt neue Beziehungen zwischen ihnen entstehen zulassen; sie brechen, würde bedeuten, einen Ausweg in neuen Fortschrittsillusionen und expansiven imperialen Abenteuern zu suchen. Welchen Weg Putin in Zukunft wählen wird, ist offen; zur Zeit versucht er sich auf der Mitte zu halten. Solange Putin aber – oder ein Nachfolger Putins – den Weg der Reformen geht, besteht die Chance, dass die Transformation des patriarchalen Fürsorgestaats allen Härten und Krisen zum Trotz nicht in die Katastrophe, sondern in eine Erneuerung der traditionellen Symbiose von Produktion und Selbstversorgung unter heutigen Bedingungen führt. Damit könnte Russland einen Weg der Modernisierung gehen, in dem sich individuelle Initiative westlichen Zuschnitts und traditionelle russische Gemeinschaftsstrukturen zu einem neuen Verständnis der Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gemeinschaft verbinden, das auch für den Westen Impulse enthält. Möglich ist dies aber nur, wenn Russland bei der Entwicklung seines Weges nicht isoliert und angefeindet, sondern in seinen exemplarischen Werten erkannt und gefördert wird.

 

(Entnommen aus:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch?, Pforte  Entwürfe, 2005, zu beziehen über den Verlag oder direkt über den Autor www.kai-ehlers.de

 

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

[1] Jefim Berschin, Journalist, Schriftsteller, Dichterin Moskau

Bücher von und mit ihm:

– Jefim Berschin, Kai Ehlers, Dikoe Pole, wildes Feld, Bod, 2016, 9,99 €

– Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte 2009, 1990 €

(Bezug der Bücher über www.kai-ehlers.de). 

[2] Bei der Geiselnahme von Beslan im September 2004 brachten nordkaukasische ‚Gotteskämpfer‘mehr als 1100 Kinder und Erwachsene in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan in ihre Gewalt. Die Geiselnahme endete nach drei Tagen in einer Tragödie – bei der Erstürmung des Gebäudes durch russische Einsatzkräfte starben nach offiziellen Angaben 331 Geiseln. (Nach Wikipedia)

Siehe auch: https://test.kai-ehlers.de/2004/09/beslan-wer-sind-die-opfer-wer-sind-die-tter/

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen. Erweiterte Neuauflage

Was bei Erscheinen des Buches vor drei Jahren noch als auf uns zukommende, möglicherweise  eruptive Tendenz erscheinen konnte, nämlich der Aufbruch der „Überflüssigen“ aus der Südhalbkugel des Globus, hat sich im Zuge der „Flüchtlingskrise“ zur manifesten Herausforderung Europas entwickelt, die dem Problem der hiesigen „Überflüssigen“ die explosive globale Dimension unübersehbar hinzufügt.

Aber weit entfernt davon, das akute Ansteigen des Migrationsdrucks als Aufforderung zu verstehen, den Ursachen dieser Entwicklung jetzt endlich an die Wurzel zu gehen, indem zumindest Ansätze  gemacht würden, die dahinter stehenden Ausplünderung des Südens durch den „entwickelten Norden“ zu korrigieren, werden nur die Symptome der Krise bekämpft, um die Flüchtlinge abzudrängen, werden die Zäune noch höher gezogen, wird inzwischen zur militärischen Abwehr der nach Norden drängenden „Flüchtlingsströme“  übergegangen.

Insofern war der Analyse von der Grundtendenz her nichts hinzuzufügen. Leichte statistische Schwankungen der Arbeitslosenstatistik in den „entwickelten Ländern“ sowie der Zahlen der nach Norden strebenden        Menschen aus dem Süden haben demgegenüber bloß konjunkturellen Charakter. Ergänzt habe ich die Neuausgabe lediglich um die Korrektur einiger Druck- und Satzfehler sowie um einen Text von mir, der im Vorfeld der Arbeiten zu den „Überflüssigen“ aus Gesprächen mit dem Künstler und Kulturökologen Herman Prigann entstanden ist, dessen Projekt „Terra Nova“ am Schluss des Buches vorgestellt wird. Der Text findet sich im Anhang unter der Überschrift „Die Krise nutzen“.

Eine Bemerkung schließlich noch zur Kritik eines Lesers der ersten Auflage, ich hätte den eugenischen Tendenzen, die sich heute abzeichnen, zu viel Platz eingeräumt. Ich gebe zu, es ist mühsam, diese Tendenzen wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber anders als der kritische Leser, dem ich sehr dankbar für seinen Einwand bin, sehe ich mich durch die tatsächliche Entwicklung eher bestätigt – nur treten die heutigen eugenischen Tendenzen natürlich nicht in der historisch bekannten Form auf; sie erscheinen heute als Präventionsstrategie im Namen globaler, sogar „ganzheitlicher“  Sicherheit. Die Form dieser Präventionslogik reicht heute von Peter Sloterdijks in schöner Sprache formulierten „Menschenzucht“, über die Verwandlung des individuellen Wunsches nach Gesundheit, über den Druck zum Nutzen der Gemeinschaft nicht krank sein zu    dürfen, bis hin in das  beständig ansteigende Niveau der über den ganzen Globus sich ausbreitenden Ideologie des Terrors, die letztlich nichts anderes propagiert als die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Dabei spielt es schon keine Rolle mehr, wer Terrorist, wer Anti-Terrorist ist.

Um aber zu  erkennen, woraus auch die „moderne Eugenik“ wieder     hervorgeht, ist es wichtig sich ihres historischen Kerns zu erinnern: Sie war Ausdruck des totalisierten  nationalen Einheitsstaates, der den Zugriff auf sämtliche Lebensbereiche, die vollkommene geistige und physische Verfügungsgewalt über den einzelnen Menschen hatte. Die Ideologie und die Realität dieses Einheitsstaates aus der Kraft selbstbewusster Individuen zu überwinden, die sich mit anderen in kooperativer Gemeinschaft für eine lebensförderliche Welt souverän verbinden, steht heute auf der Tagesordnung und wird mit jedem Tag aktueller.

Entwickeln und sortieren wir die möglichen Alternativen.

Ich wünsche ihnen nunmehr eine ertragreiche Lektüre.

 

Kai Ehlers, bestellen direkt beim Autor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

BREXIT Skizze: „Mehr EU“ oder Rückfall in Nationalismus – ist das die einzige Alternative?

Mehr Europa“, „mehr äußere, mehr innere Sicherheit“, Bildung eines „Kerneuropa“, geführt von einem „Direktorium“, bestehend aus Deutschland, Frankeich, Italien, deren Vertreter schon jetzt beteuern müssen, kein „Direktorium“ sein zu wollen, zugleich „Weiterentwicklung“ der EU-Institutionen zu einer „wahren europäischen Regierung“, die von einem europäischen Parlament kontrolliert werde – wahlweise, falls alles nicht klappe, „mehr NATO“ – solche Schlagworte beherrschen zurzeit die etablierte politische Debatte um die möglichen Konsequenzen, die dem Ausscheiden Englands aus dem EU-Verband zu folgen hätten. Das alles geschieht mit der Begründung, den „Rechtspopulisten“ für die Inszenierung eines Dominoeffektes weiterer Referenden nach ihrer Art und möglichen Gefährdungen durch Russland  keine Chancen geben zu dürfen..

Aber sind das die Alternativen: Mehr Zentralismus und „Sicherheit“ oder Rückfall in nationalistische Kleinstaaterei, an dessen Ende möglicherweise neue Kriege stehen könnten?

Nein, das sind schon lange nicht mehr die Alternativen.  Forderungen nach Autonomie sind in der EU heute keineswegs nur nationalistisch, fremdenfeindlich oder gar rassistisch orientiert. Man denke nur an die Schotten oder die Katalanen. Seit Jahren und mit zunehmender Erweiterung und in wachsendem Maße  entwickeln engagierte Demokraten Ideen, Vorschläge, Pläne und Aktivitäten für ein Europa selbst bestimmter Völker und Regionen, anstelle einer bürokratischen EU der „Institutionen“. Die Ereignisse in England heben das jetzt mit ins Licht. Im Folgenden werden die Grundideen, Perspektiven und Problem, die in diesen Zusammenhängen diskutiert werden, vorgestellt:

 

Europa der Regionen

Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage[i]

 Europa, die EU, der Euro-Raum befinden sich in der Krise. Das ist kein Geheimnis. Aus der Wertegemeinschaft, die nach zwei Weltkriegen aus dem Impuls hervorging, nie wieder Krieg, nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus auf europäischem Boden zuzulassen, treten die Konturen einer Festung Europa immer deutlicher hervor, für die die Konkurrenzfähigkeit im „global play“ oberste Priorität hat. Im selben Zuge kommen Impulse aus der Bevölkerung, die sich unter der Forderung nach mehr Demokratie gegen diese Entwicklung wenden.

Einer dieser Impulse ist agiert mit einer „Charta für ein Europa der Regionen“ [ii]. Die „Charta“ war Thema auf dem  zurückliegenden Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“[iii]. Die Frage lautete, was kann man, was muß man sich unter einem „Europa der Regionen“ vorstellen, das dem Anspruch einer „Charta“ gerecht werden will „Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage“ zu eröffnen?

 

Was ist eine Region?

Die Frage führt selbstverständlich sofort zum Kern: ‚Was, bitte sehr, ist eine Region? Wie definiert, wie bildet sie sich? Worin kann der Sinn einer Regionalisierung in einer global vernetzten Welt bestehen? Ist das nicht ein Weg zurück in Kleinstaaterei, in lokale Borniertheit und Gruppenegoismus?

Mit Besorgnis schaut man auf die Zerfallsprodukte der ehemaligen Sowjetunion, mit Besorgnis auch auf separatistische oder gar neu aufkommende nationalistische Tendenzen in der Europäischen Union. Selbst gemäßigte Forderungen nach Selbstbestimmung in Katalonien, in der Bretagne, in Schottland, bei den Flamen oder den Wallonen rufen gemischte Gefühle hervor. Andere Ansätze wie ‚Nowa Amerika’[iv]  an der polnisch-deutschen Grenze schweben noch im virtuellen Bereich oder – wie das Rekultivierungsprojekt „Terra Nova“ eines Künstlers wie Hermann Prigann[v]  in der ehemaligen Braunkohlenregion Cottbus – führen in kultur-ökologische Entwürfe, für die die Zeit noch reifen muss.

 

Unmut  gegen bürokratischen Dirigismus

Dieselbe Frage führt aber auch zum Unmut in weiteren Kreisen der Bevölkerung über die zentralistischen Tendenzen in der EU, in denen die Exekutive zunehmend Priorität gewinnt, zugespitzt durch die dirigistischen Kompetenzen der Europäischen Zentralbank, die nicht nur den Euro-Raum selbst, sondern im Zuge allgemeiner Vernetzungen auch die EU insgesamt und darüber hinaus die nicht im Euro-Raum und nicht in der EU organisierten europäischen Länder in Mitleidenschaft ziehen.

Fasst man noch mit ins Auge, was seit Juli dieses Jahres (also: 2013,  inzwischen: TTIP >Transatlantic Trade and Investment Partnership, und TPP> Trans-Pacific Partnership) unter dem Stichwort TAFTA (Transatlantic Free Trade Area), also einer umgreifenden transatlantischen Freihandelszone in einem neuen Anlauf auf überstaatlicher Ebene verhandelt wird, nachdem vorherige Ansätze dazu gescheitert waren, was dieses Mal aber in zwei Jahren unterzeichnet sein soll, dann wird vollends klar, was einem Europa der Regionen als Gegenpol gegenübersteht: eine durch demokratische Strukturen nicht mehr kontrollierbare Finanz- und Konzernherrschaft, welche die Souveränität der ihr angeschlossenen atlantischen – und auch der von ihnen  abhängigen – Staaten und Länder aufhebt.[vi]

 

Nicht Bankendiktat,  nicht Kleinstaaterei – wie geht das?

 Kurz, es stellt sich die Frage, wie kann ein Europa aussehen, in dem die Bevölkerung nicht dem Diktat der Banken und Monopole unterworfen wird, aber andererseits auch nicht auf historisch zurückliegende Stufen der Kleinstaaterei, des Nationalismus und des Lokalpatriotismus zurückfällt?

Eine Antwort auf diese Frage kann nur in der Wiederbelebung lokaler und regionaler Räume durch die selbstbestimmten Aktivitäten der in und von ihnen lebenden Menschen liegen, dies aber nicht in Rückwendung zu Kleinstaaterei, nicht in Rückwendung zum Nationalismus, aber auch nicht durch das Aufgehen der EU in einem globalen Weltwirtschaftsregime der Konzerne.

Aber wie ist diese Wiederbelebung lebendiger Regionen, besser wäre zu sagen, die Entwicklung eines über einen regressiven Regionalismus wie auch über einen totalitären Globalismus hinausgehenden neuen Verständnisses von Regionen zu verstehen?

Man muß klar sagen: Eine Antwort auf diese Frage, die in einem Zuge einfach umzusetzen wäre, gibt es nicht. Mehr noch, solange diese Frage in der Logik der heute herrschenden Paradigmen vom Nationalstaat (ungeachtet der Frage, ob mehr oder weniger demokratisch) gestellt wird, führen Antworten nur zu „No Goes“, einfach ins Absurde oder in abwegige Fundamentalismen.

 

Mögliche Perspektive

Eine mögliche Perspektive wird nur erkennbar, wenn die Logik der zur Zeit herrschenden Verhältnisse verlassen wird; das bedeutet – unglaublich einfach, aber gerade deswegen umso schwieriger umzusetzen – wenn zunächst im Denken nicht die Profitmaximierung, sondern die allseitige Befriedigung der Lebensbedürfnisse des einzelnen Menschen im Rahmen der Pflege und des Erhalts der Lebensgrundlagen unseres Planeten als Grundkonsens des gesellschaftlichen Zusammenlebens gesetzt wird, das heißt, um nicht missverstanden zu werden, wenn ein gedanklicher Austritt aus der herrschenden verbrauchsorientierten Wachstumslogik in eine am geistigen und sozialen Wachstum des Menschen orientierte Entwicklung gewagt wird.

Allein aus einer solchen Sicht, wird erkennbar, was in Zukunft eine Region sein könnte, die über die Hülle des Nationalstaates, der zunehmend von den internationalen Konzernen ausgehöhlt wird, aber auch über eine bloße Fragmentierung gewachsener gesellschaftlicher Zusammenhänge hinausführt: Die Region der Zukunft ist der Lebensraum einer auf Basis kooperativer Selbstbestimmung der lebenden Bevölkerung, innerhalb dessen solidarische Beziehungen überschaubar miteinander praktiziert werden können – nach unten untergliedert in lokale Zusammenhänge, nach oben vernetzt in föderale Beziehungen zu anderen Regionen.

Es macht keinen Sinn, sich hier und heute in Einzelheiten und in Zahlenspiele für Größenordnungen zukünftiger Regionen zu verstricken. Entscheidend ist, das Grundprinzip zu erkennen, von dem allein eine solche Ordnung des Zusammenlebens ausgehen kann: Selbstbestimmung und Selbstermächtigung des mündigen Menschen, die auf Basis persönlicher Verantwortung als Impuls in die engere Gemeinschaft und weitere Gesellschaft  nach strengem Subsidiaritätsprinzip, also mit einer grundsätzlich garantierten Rückbindung an die Basis hineinwirken. Das heißt: Regierung, auf welcher Stufe auch immer, ist unter den so entstehenden Bedingungen ein Dienen, ein Verwalten, ist organisatorische gegenseitige Hilfe, nicht Herrschen und Bestimmen oder gar Unterdrücken.

 

Neues Verständnis vom Staat

Nur vor dem Horizont einer solchen Perspektive wird der zu beschreitende Weg klar. Nur von dieser Grundposition kann Kraft und Ausdauer für den Hindernislauf gewonnen werden, als der sich die Verwirklichung dieser Perspektive durch schrittweise Reformen darstellt. Der Hürden sind zahllose! Die wichtigste Hürde dürfte in der Tatsache liegen, daß Selbstbestimmung und Selbstermächtigung ohne Verantwortung für das eigene Tun nicht zu haben sind. Anders gesagt: Die Schubkraft auf diesem Weg ist ein neue Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, letztlich, um es unmißverständlich zu sagen, ein neues Verständnis vom Staat.

In der Perspektive persönlicher, lokaler und regionaler Selbstermächtigung ist der Staat nicht mehr die Gewalt- und Kontroll-Instanz, die aus dem Machtmonopol eines anonymisierten Apparates heraus Anweisungen gibt, wie die Menschen zu leben haben, was ihnen zuzuteilen ist oder was nicht usw., an den, um auch das nicht zu vergessen, die Sorge für das Gemeinwohl abgegeben wird, sondern er ist Helfer, der aus der föderativen Kooperation von selbstbestimmten Gemeinschaften, Kommunen und Regionen hervorgeht. Das schließt gemeinsame Entwicklungs- und Überlebensinteressen aller Menschen und ihrer Lebenswelten natürlicherweise mit ein. Ein solcher Staat, der als Organ gegenseitiger Hilfe agiert, übernimmt die Regelung der Fragen, die vor Ort nicht sinnvoll allein geregelt werden können – basierend auf örtlicher Bindung.  –  Es ist klar, daß die Herausbildung freier, zur  Übernahme von Verantwortung fähiger und bereiter Menschen, eine vom jetzigen Staatsverständnis sich emanzipierende Bildungspolitik damit in den Vordergrund aller ins Auge zu fassenden politischen, sozialen und kulturellen Aufgaben rückt.

 

Kraft aus der Vision

Vor dem Hintergrund einer solchen Vision bekommt der Ruf nach einem Europa der Regionen seine Richtung und Kraft. Die Entwicklung der nächsten Schritte, der konkreten Formen ist eine Sache der konkreten Bedingungen und der sozialen Fantasie, deren Verbindung vielfältige Formen entstehen läßt und zuläßt. Keine muß der anderen vollkommen gleichen außer in einem: im Willen zur Selbstbestimmung, Selbstermächtigung und Selbstverantwortung im Interesse eines für alle Menschen, einschließlich der sie umgebenden Lebenswelt gedeihlichen Ganzen.

Dies ist ein Wegweiser, versteht sich, nicht der Weg selbst. Und um in dem Bild zu bleiben: Nicht jeder Mensch und nicht jede Gesellschaft ist bereits an diesem Wegweiser angekommen. Manche kämpfen sich noch im unwegsamen Vorfeld ab. Wir wollen jetzt nicht in die hier mögliche Aufzählung der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus einsteigen. Das muß konkreten Debatten an konkreten Fragen vorbehalten bleiben. Vermutlich ist dieser Wegweiser auch noch nicht der letzte. Das Mindeste allerdings, was man sagen kann, ist aber wohl, daß der Weg zu mehr Demokratie ohne einen deutlichen Wegweiser in Richtung der Selbstbestimmung des mündigen Einzelnen in kooperativer Gemeinschaft nicht gefunden werden kann. Das gilt auf jeden Fall für Europa. Welche Rolle Europa damit in der Welt wahrnimmt, muß sich zeigen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

***

Diese Überlegungen wurden im Bericht des 32. „Forums integrierte Gesellschaft“ im November 2013 skizziert.  Nachzulesen neben weiteren Texten zur Krise der EU, dem Verhältnis EU Europa und Fragen der möglichen demokratischen Entwicklung eines föderal organisierten Europa unter www.kai-ehlers.de (dort Stichwort: Themen in der Diskussion https://test.kai-ehlers.de/category/themen-in-der-diksussion/europa-themen-in-der-diksussion)

 

[i] Titel der unter Anm. 2 zitierten: „Charta für ein Europa der Regionen“

[ii] siehe dazu: www.demokratiekonferenz.org

[iii] https://test.kai-ehlers.de/category/forum-integrierte-gesellschaft/

[iv] Siehe dazu: (http://www.nowa-amerika.net/index.php/de)

[v] Siehe u.a.: http://jfa.arch.metu.edu.tr/archive/0258-5316/1997/cilt17/sayi_1_2/43-52.pdf,

Ausführliche Beschreibung des Projektes „Terra Nova“ auch in: „Die Kraft der ‚Überflüssigen’“,

Kai Ehlers, Pahl Rugenstein, 2013. – Hermann Prigann, † 09.12.2008

[vi]  TAFTA – die große Unterwerfung“ – Le Monde diplomatique Nr. 10255 / Aus dem Englischen von Niels Kadritzke. http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/11/08/a0003.text

Apropos Sanktionen: Ein Blick auf Russlands Ressourcen

Nach vorübergehender Annäherung zwischen Russland und dem Westen, speziell der EU, lautet die herrschende Frage des Westens heute wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse.

Wer glaubte, Russland fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder auf die Knie zwingen und zu einer Erdöl liefernden Regionalmacht, gar Kolonie herabstufen zu können, sieht sich getäuscht. Wieder einmal, muss hinzugefügt werden. Schon Napoleon, später Hitler unterlagen dieser Täuschung. Jetzt hat Russland den Erweiterungs-Offensiven der EU und der NATO ein klares Njet entgegengesetzt, verwandelt die vom Westen gegen das Land verhängten Sanktionen und Isolierunsversuche in neue eigene Entwicklungsschübe und festigt sein Bündnissystems mit den aus der US-Hegemonie heraustretenden Neuen Welt.

Woher nimmt Russland die Kraft der „Weltgemeinschaft“ auf diese Weise zu trotzen? Wie erklärt sich die Russland-Phobie der USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte?
Doppelt gestaffelte Autarkie

Die Antwort ist umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Die russische Autarkie ist doppelt begründet. Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen der eurasischen Weite: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Dazu gehört als besonderes Element auch noch die Vielfalt der in Russland lebenden Völker, die zusammen einen Organismus bilden, in dem Zentrum und Autonomie sich noch einmal unterhalb der staatlichen Verwaltungsstrukturen in besonderer Weise ergänzen.

Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder.

Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf der neueren Geschichte – wie oben schon angedeutet – bereits in die Lage, europäischen Kolonisierungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939. Heute ist es wieder so: Trotz Krise, trotz technischer Rückständigkeiten, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern auch dieses Mal wieder stärker aus der Krise hervorzugehen.

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte und von ihm abhängige – soziale Befriedungspolitk gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind: Beschluss einer neuen Militärdoktrin seit 2002, Auftritt gegen die USA bei der Münchner NATO-Tagung 2006, dazu eine, so möchte ich es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen, konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Es folgte das erste Njet gegen die NATO-Erweiterung 2008 im sog. Georgischen Krieg, in dem Russland sich gegen die weitere Ausdehnung der NATO in die Ukraine und nach Georgien wandte; gegenwärtig erleben wir die Aktualisierung dieses Njet im verdeckten Ukrainischen Stellvertreterkrieg zwischen EU/USA und Russland.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde Russland zum potentiellen Führer einer aus den ehemaligen Kolonien hervorgehenden neuen Welt, die sich aus der US-Hegemonie lösen will, während die frühere Neue Welt, die USA, sich im Versuch, ihren überhöhten Energiebedarf zu decken und ihre Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, sondern auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen wird.
Basis der Autarkie – extreme Bedingungen

Die russische Autarkie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch, Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden können. Diese Kombination von Reichtum und extremer Härte hat eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen Entwicklung, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch Privateigentum an Produktionsmitteln entstand, waren es lokale Ausnahmen und vorübergehende Erscheinung von kurzer Dauer, wie gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als neben den der staatlich initiierten Industrialisierung aus den dörflichen Strukturen zusätzlich private Industrie entstand, deren private Rechtsformen jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt wurden.

Das heißt, vor Ort, in den Weiten des russischen Landes, im Bewusstsein des Volkes war Eigentum „schon immer“ gemeinschaftlich organisiert. In der westlichen Geschichtswahrnehmung sind diese Verhältnisse als russische Dorfgemeinschaft, als Dorfdemokratie (MIR), russisch Òbschtschina bekannt; in Sibirien und im Süden Russlands waren es Genossenschaften freier Bauern, aber auch diese waren aufeinander angewiesene Gemeinschaften.

Die russischen Dörfer waren in ihrer Mehrheit ihrerseits Gemeineigentum des Zaren, der herrschenden Schicht, das heißt, des Hofes, der Kirche, des dem Zaren hörigen Dienstadels, alles zusammengefasst unter der Führung der zaristischen Selbstherrschaft, zu der Kirche und Staat sich verbunden hatten. Autarkie und Autokratie sind in dieser Geschichte untrennbar miteinander verbunden. Man hat es im Ergebnis im traditionellen Russland mit einer Wirtschafts- und Lebensweise zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit als „asiatische Produktionsweise“ charakterisierten. Damit waren Verhältnisse gemeint, wie sie auch aus dem alten Mesopotamien, aus Ägypten, von den Inkas, aus China, Indien usw. bekannt waren. . In der Industrie setzte sich diese Realität als staatlich initiierter Kapitalismus fort.
Asiatische Produktionsweise

Marx und Engels kategorisierten die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entlang zweier von ihnen angenommener Linien. Auf der Hauptlinie sahen sie, noch ganz einem ungebrochenen eurozentristischen Verständnis verhaftet, die Entstehung der abendländisch-europäischen Produktionsweise: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus – Kommunismus, die sich, basierend auf der Entwicklung des Privateigentums an Produktionsmitteln, dynamisch, unaufhaltsam, eskalierend von Revolution zu Revolution aus einer Formation in die nächst höhere bewege. Für Marx/Engels war Europa das Zentrum dieser Bewegung, heute sind es von Europa ausgehend die USA, allgemeiner der euro-amerikanische Westen. Auf der Nebenlinie verorteten sie die asiatische Produktionsweise, anders von Marx auch als gemeineigentümlicher Despotismus bezeichnet, die aus dem Zusammenwirken von dörflicher Selbstversorgung und einer ihr übergeordneten Bürokratie entstehe und von den Dörfern lebe (Priesterkaste, Gelehrtenhierarchie, Beamtenapparat…).

Prinzipiell formuliert: Die europäische Produktionsweise entwickelte Privateigentum als Motor der Selbstverwertung des Geldes, aus welcher der privatwirtschaftliche Kapitalismus hervorging. In ihr sind Staat, Kirche und Kapital getrennt und müssen sich immer wieder neu verbinden. Ihre Krisen tragen dynamischen Charakter. Die asiatische Produktionsweise entwickelt Gemeineigentum als Basis einer stabilen individuellen und allgemeinen Selbstversorgung unter der Herrschaft einer verwaltenden Klasse. Krisen entstehen periodisch aus der Schwäche der Bürokratie, nicht aus der Dynamik des Kapitals.

Marx bezeichnete diese asiatischen Formen der Wirtschaft im Gegensatz zur griechisch/römischen Sklavenhaltergesellschaft, in welcher einzelne Menschen zum Privatbesitz einzelner Menschen wurden, als eine „allgemeine Sklaverei“, weil in ihnen der Einzelne zwar frei, im Kollektiv aber dem Staat unterworfen oder gar hörig sei. Einen wesentlichen Unterschied der asiatischen Produktionsweise zur europäischen sahen Marx und Engels auch darin, dass die asiatische Produktionsweise keine innere Dynamik aufweise, die zum Kapitalismus dränge, sondern eine im Wesen sich immer gleich bleibende Gesellschaftsordnung sei, die als Krise der herrschenden Bürokratie zwar auch periodisch zusammenbreche, sich aber immer auf demselben Niveau wiederherstelle.

Marx und Engels entwickelten ihre Analyse am Beispiel der indischen Gesellschaft und bezogen auch die alten Hochkulturen mit ein. In Russland erkannten sie eine besondere Form der asiatischen Produktionsweise, die sich aus einer immer wieder erfolgten Mischung mit europäischen Elementen ergeben habe; eine Entwicklung billigten sie Russland jedoch nur im Kontext mit dem Kapitalismus und der Revolution im Westen zu.

Aber Marx und Engels irrten. Ausgelastet mit der Aufarbeitung der Entwicklung des europäischen Kapitalismus konnten sie die Analyse der asiatischen Produktionsweise nicht zu Ende führen. So konnten sie nicht erkennen, dass auch diese Gesellschaftsform, insbesondere in ihrer russischen Variante, periodische Modernisierungskrisen erlebte, die nach Zeiten des Zerfalls regelmäßig in eine Effektivierung des Systems von bürokratischem Zentralismus und Peripherer Autonomie übergingen, nur dass die Ursachen ihrer Krisen nicht in wirtschaftlicher Dynamik, sondern in bürokratischer Stagnation lagen.

Kurz, sie erkannten nicht, dass euro-amerikanische und asiatische Produktionsweise zwei Wege der Entwicklung sind, die nicht aufeinander folgen, sondern in Wechselwirkung neben- und miteinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen, sodass auch immer wieder neue Zwischenformen entstanden. Das gilt für die russische Geschichte, einschließlich ihrer sowjetischen Periode.
Russlands Besonderheiten

Schauen wir deshalb noch ein wenig genauer auf die russische Entwicklung: Russland entstand im offenen Niemandsland zwischen mongolischen Chanaten und westlichen Städten, in reicher Natur, aber der Weite und der Wildnis ausgesetzt. Ergebnis war die Selbstherrschaft der Moskauer Zaren als Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die polare Doppelstruktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau – autonome Versorgung im Lande. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Hinzu kamen die auf sich selbst bezogenen kollektiven Traditionen der in den zaristischen Organismus integrierten Völker, die eine Dynamik der Selbstbestimmung innerhalb des Gesamtorganismus bildeten – wenn auch zweifellos nicht immer ohne Konflikte.

Die Modernisierungswellen gingen über das Land, ohne die Grundstruktur von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen; Veränderungen vollzogen sich letztlich als Revolutionen von oben, als Teilimport westlicher Elemente, aber immer nur mit dem Ergebnis der Auswechslung von Personen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin provozierte als Reformer den bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus.
Modernisierungsetappen: Stolypin, Lenin, Stalin…

In den Umwälzungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts prallten asiatische und europäische Produktionsweise in Gestalt des von Europa ausgehenden Imperialismus und der bäuerlichen Realität Russlands besonders hart aufeinander. Die Revolution von 1905, ebenso wie die von 1917 waren Ausdruck dieser Entwicklung. In seinem Feldzug gegen die Selbstgenügsamkeit der Obschtschina wollte Stolypin im vorrevolutionären Russland die Fortsetzung der von Peter I. begonnenen Industrialisierung erzwingen. Die Dorfgemeinschaften sollten in Wirtschaften privater Großbauern überführt werden, die „überflüssigen“ Mitglieder der Dorfgemeinschaft sollten als Arbeiter in die Städte gehen. Am „Stolypinschen Kragen“, wie der Strick des Galgens von der Bevölkerung damals getauft wurde, endeten tausende von Bauern, die dieser Politik nicht folgen wollten – aber ihr Opfer dokumentierte auch das Scheitern der Stolypinschen Politik.

Lenin wiederholte den Stolypinschen Ansatz zur Industrialisierung der Landwirtschaft – aber nicht durch Auflösung der Dorfgemeinschaften, sondern indem er sie – Sowchosen und Kolchosen (Staatswirtschaft und kollektive Wirtschaft) – zu staatlichen Grundeinheit des neuen Staatswesens erhob. Ihre Struktur wiederholte sich im sowjetischen Aufbau der Verwaltung. Lenins Sieg über den Zarismus lebte einerseits von seinem Versprechen, jedem Bauern ein Stück Land zu geben. Gleichzeitig leitete er die Verstaatlichung der Landwirtschaft ein; Stalin setzte sie gewaltsam fort und verwandelte die kollektive Tradition des Landes zugleich in einen allgemeinen Zwangskollektivismus auf dem Lande wie in der Industrie. Wer sich weigerte oder angeblich im Wege stand, wurde deportiert und liquidiert. Aus dem agrarischen Despotismus des Zarentums wurde so ein planmäßiger industrieller Despotismus. Enteignung der Bevölkerung von ihrer gewachsenen Gemeinschaftstradition könnte man diesen Vorgang nennen.

Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa nur einfach den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde.

Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele. Diese Konstellation, wie schon frühere Konstellationen der russischen Lebensweise, wäre auf langfristige Stabilität, in westlicher Diktion „Stagnation“, angelegt gewesen, wenn sie nicht – dies allerdings stärker als früher – mit dem europäischen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase zusammengestoßen wäre. So ergab sich eine Konfrontation von prinzipiellem Charakter und historischen Ausmaßen: Selbstversorgung, auch auf industriellem Gebiet gegen Selbstverwertung des Kapitals und Selbstgenügsamkeit gegen konsumistische Expansion.

Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: für die Entwicklungszyklen der russischen Produktionsweise gelten offensichtlich andere Regeln als die europäischen. Sie lassen sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: Zusammenbruch nach langer Stabilität, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht, Stagnation. Phase zwei: Eintritt einer „verwirrten Zeit“, russisch: Smuta. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses in der herrschenden Schicht unter Hinzunahme von einzelnen Elementen der europäischen/westlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt jedoch erhalten. So war es nach dem Tod Iwans Iv. , im Westen besser bekannt als Iwan der Schreckliche, so nach den großen Bauernaufständen im 16. und siebzehnten Jahrhundert, so nach Peter I., so nach dem 1. Weltkriegs und danach, so ist es heute.
Heute

Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 – gegliedert in mehrere Etappen, versteht sich, die hier nicht im Detail auszuführen sind – individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“) und „Glasnost“ waren nicht die Ursache für neue Initiativen, sie waren der Ausdruck, das grüne Licht für eine schon lange befahrene Straße, auf der sich der Verkehr bereits gefährlich staute. Nach dem 17. Juli 1953 in der DDR, dem Aufstand in Ungarn 1956, dem Bau der Mauer 1961 war der Prager Frühling 1968 schließlich ein unübersehbares Zeichen; er zeigte aber auch, dass die sowjetische Staatsbürokratie noch nicht reif für die Smuta war. Einen theoretischen Reflex auf diese Entwicklung konnte man 1977 in Rudolf Bahros „Alternative“ nachlesen; einen zweiten in der Sowjetunion selbst am Ende der 70er in den Untersuchungen der Nowosibirsker Schule unter ihrer Leiterin Tatjana Saslawskaja.

Das Auftreten Michail Gorbatschows Anfang der 80er Jahre signalisierte die Bereitschaft der Führung der KPdSU zu einer der in der russisch-sowjetischen Geschichte üblichen Reformen von oben: Perestroika zielte auf eine gelenkte Befreiung der herangewachsenen Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese insgesamt aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung dieser Ordnung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung, nicht um die Einführung einer privatwirtschaftlichen Ordnung, auch nicht um die Verwandlung des asiatischen Typs der Produktion in den europäisch-westlichen.

Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung und Privatisierung des Denkens und Wollens, sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem sich beschleunigenden allgemeinen Zerfall führte. Der Druck der Anpassung an die umgebende Welt war einfach zu groß, um ihn kanalisieren zu können, die technische Revolution der neu entstehenden globalen Kommunikationsstruktur als Einwirkung von außen nicht – von heute aus gesehen: noch nicht – wieder beherrschbar. Mittel der Abschottung und Kontrolle der neuen Medien waren noch nicht zur Hand. Man könnte sagen, die Moskauer Bürokratie wurde von der Computerisierung überrannt. Boris Jelzin und seine ganz an den äußeren Einflüssen orientierten Reformer waren der Ausdruck dieser Dynamik – die sich dann im Schockprogramm Luft machte, das die Umwälzung innerhalb von zwei Jahren schaffen wollte.
Putin

Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand und besteht, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Nicht Nachvollzug, nicht Übernahme der europäisch-westlichen Produktions- und Lebensweise ist der Inhalt der nach-sowjetischen und heutigen russischen Transformation, sondern die Effektivierung des bürokratischen Kapitalismus auf privatwirtschaftlicher Basis.

Was dabei bisher herausgekommen ist, ist keine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus mit der ihm immanenten Selbstverwertungslogik des Kapitals, auf keinen Fall nur ein Nachvollzug westlicher Muster, sondern die Entstehung eines bürokratischen Zentralismus, der westliche und die russische Gemeinschaftstradition zusammenführt, eine Entwicklung also, die Elemente der zentralistisch gelenkten gemeineigentümlichen Ordnung mit privateigentümlichen Freiheiten zu verbinden sucht – das, was man im Westen ohne viel Verständnis für die innere Struktur des Landes „gelenkte Demokratie“ nennt.

Ihre widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Angleichung an die Standards der WTO sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite; dem auf der anderen Seite steht die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht, Subventionen für die eigene Landwirtschaft beizubehalten und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung gegenüber. Klar gesprochen: Russland wird sich auch in Zukunft nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, weil es aus seiner Geschichte die doppelt begründete Autarkie mitbringt: die Unabhängigkeit in den natürlichen Ressourcen und die Tradition der Eigen- und Selbstversorgung in der Bevölkerung, und autonomer Völker in einem übergreifenden zentralisierten Organismus.

 

Internationale Kraftlinien
Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen. Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Eine direkte militärische Zerstörung Russlands, die mehr bewirken sollte als nur eine vorübergehende Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Labarinth im Zentrum Ulanbaatars

Nachbetrachtung zum Seminar „Labyrinth als Schlüssel zur Lebensgestaltung“.

Hallo Freunde und Freundinnen des Labyrinthes,
und solche, die es werden können!
Das dritte Seminar der „Schule des Labyrinthes“ haben nun alle Beteiligten mit innerem Gewinn, wie es zu hören war und zugleich großem Bedauern hinter sich gebracht. Gewinn, weil sich alle einmal erneuert haben. Bedauern, weil das Labyrinth schon nach zweieinhalb Tagen wieder verlassen werden musste.

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Charlie – Patrioten – Ukraine: Antiterroristische Einheit – auf dem Weg in eine neue Volksgemeinschaft?

Anschlag auf „Charlie Hebdo“ in Paris, „Islamischer Staat“, Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) – diese Themen überbieten zur Zeit alles andere. Sogar Russland, Ukraine, Sanktionen sind vorübergehend aus den Schlagzeilen verschwunden – allerdings nur, um durch die Hintertür, jetzt bereichert um die Variante der Terrorabwehr, wieder zu erscheinen.

 

Aber der Reihe nach, wie es sich aus dem unvoreingenommen Gespräch ergibt, in dem versucht werden soll, die Geschehnisse zu sortieren:

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Und immer noch die Ukraine – eine Zwischenbilanz

Dies eine war selbst für Petro Poroschenkos Förderer nicht zu leugnen: Sein „Friedensplan“,  wie er von ihm vor einer Woche vorgelegt wurde, war kein Angebot zu Verhandlungen, sondern ein Katalog,  der Unterwerfung  von denen fordert, die bereit sind zu kapitulieren, während er die übrigen mit Ausweisung oder wenn sie weiter Widerstand leisten wollen, mit Liquidation bedroht. Inzwischen sieht es so aus, als ob selbst dieses arge Dokument dazu beigetragen hat, eine gewisse Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten zu fördern – es sollte aber niemand übersehen,  dass auch nach Vorlage des „Friedensplans“ weiter geschossen wurde und bis zum Abfassen dieses Schreiben noch wird, und zwar

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Sozialstaat oder Solidargesellschaft – wie wollen wir leben?

Den Wandel selbst gestalten – wie wollen wir wirklich leben?

Oder auch: Brauchen wir den Sozialstaat, um sozial und solidarisch zu sein?

Oder auch: Europa der Regionen – Wege zur Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage

Drei Veranstaltungen, drei Themen, ein Grundgedanke: Was wir brauchen ist Bildung. Aber die Rede ist natürlich nicht von PISA. Die Rede ist auch nicht von Bachelor und Master unter staatlichem Effektivitätsdruck. Die Rede ist von der Herausbildung selbstbestimmter Menschen, die in selbst gewählter Gemeinschaft ein lebenswertes Jetzt mit Blick auf eine lebensfähige Zukunft verantwortlich und kooperativ gestalten können und wollen.

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Von menschlichem Müll – oder auch: wie kommen die ‚Überflüssigen‘ zu Kraft?

Bericht vom 34. Treffen des Forums am 11.01.2014

Lieben Sie Rätsel? Wir präsentieren Ihnen eines: Von wem stammt der folgende Text? Aus der Kapitalismuskritik von Sarah Wagenknecht? Aus dem Buch zur „Kraft der ‚Überflüssigen‘“ von Kai Ehlers? Aus dem Newsletter der Gegen-Hartz IV-Initiativen oder von anderen vergleichbaren Gruppen?

Lesen Sie bitte:

„52. Die Menschheit erlebt im Moment eine historische Wende, die wir an den Fortschritten ablesen können, die auf verschiedenen Gebieten gemacht werden....

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Zur Debatte: Europa der Regionen

‚Was ist eine Region?` Wie kann ein Europa aussehen, in dem die Bevölkerung nicht dem Diktat der Banken und Monopole unterworfen wird, aber andererseits auch nicht auf historisch zurückliegende Stufen der Kleinstaaterei, des Nationalismus und Lokalpatriotismus zurückfällt?

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Erörterungen zum Geist der Allmende

Schafft zwei, drei viele Allmenden!


Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

Was ist der Geist der Allmende? Die Diskussion des Forums zu dieser Frage in ihrem Verlauf wiederzugeben, macht keinen Sinn. Sie bewegte sich naturgemäß in einem kreativen Chaos. Wir beschränken uns in diesem Bericht daher auf die knappe Skizze einzelner Fäden, die sich in dieser Diskussion als Anknüpfungsvorlagen für weitere Klärungen ergeben haben.

    Erster Faden: Allmenden existieren nicht isoliert von anderen Allmenden, sprich von der sie umgebenden Gesellschaft. Die einzeln in einer unbebauten Ur-Welt lebende Allmende ist eine irreale Fiktion nicht anders als es Robinson Crusoe als Muster des allein auf einer Insel lebenden Einzelnen ist. Zur Allmende gehört immer auch ein sie – enger oder weiter – umgebendes Netz von benachbarten Gruppen/Gemeinden oder sonstigen offenen Siedlungsverhältnissen, in denen sich die Allmende X in ihrer jeweiligen Eigenart bewegt.

    Zweiter Faden: Von Allmenden muß man heute überhaupt nicht erst sprechen, wenn die Gesellschaft, für die man sich eine Allmendisierung wünscht, keine Toleranz kennt. Die Gesellschaft muß nicht unbedingt demokratisch im Sinne einer parlamentarischen Demokratie verfaßt sein, aber ohne gegenseitige Achtung der Rechte des anderen müßte sich gegenseitige Hilfe in gegenseitige Kontrolle und Druck verkehren. Damit verkehrte sich der Sinn dessen, was wir uns heute von einer Allende versprechen, in sein Gegenteil. Entsprechende historische Erfahrungen haben unsere Eltern und Großeltern im letzten Jahrhundert im Faschismus und im Stalinismus gemacht. Das müssen wir nicht wiederholen.

    Dritter Faden: Toleranz und gegenseitige Hilfe in einer Allmende sind noch kein Garant dafür, daß dieses Grundprinzip auch zwischen verschiedenen Allmenden, bzw. zwischen Allmende und der sie umgebenden Siedlungsrealität oder Gesellschaft lebt. Vielmehr zeigt die historische Erfahrung, daß einzelne Gruppen, die nach innen die Prinzipien der Selbstorganisation und der gegenseitigen Hilfe praktizieren, nach außen gegenüber Nachbargruppen und erst recht gegenüber entfernten, für sie anonymen Gruppen oder Lebenseinheiten stattdessen in Konkurrenz steckenbleiben, also das Prinzip der gegenseitigen Hilfe nicht über die eigenen Grenzen hinaus zu heben verstehen. Hier wird dann sehr schnell nach „dem“ Staat gerufen, der von außen für Ordnung sorgen soll – was das Prinzip der Selbstverantwortung und Selbstorganisation der Allmende aushebelt.  

    Der Geist der Allmende, das zeigt sich hieran, und damit sind wir beim vierten Faden, besteht zunächst und vor allem anderen erst einmal darin, die Konkurrenz zu überwinden, bzw. genauer – von der Erkenntnis her formuliert – Konkurrenz genauso als natürliche Voraussetzung im Zusammentreffen von Menschen (noch zu schweigen von weiteren Lebewesen) zu verstehen wie die Möglichkeit der Kooperation. Das heißt, weder Konkurrenz und Kooperation als Realität zwischenmenschlicher Beziehungen zu leugnen, sondern zu verstehen, daß Konkurrenz und Kooperation ein und dieselbe Grundsituation beschreiben, die nur durch gegenseitige Anerkennung des Lebensinteresses jedes einzelnen Menschen zu einem langfristigen Nutzen für alle führen kann.

    Dabei geht es nicht darum, sich gegenseitig mit moralischen Ansprüchen unter Druck zu setzen, sondern die stufenweise Umwandlung von gesundem Egoismus, mit dem jeder Mensch sich selbst erhält, statt anderen zur Last zu fallen, über den erweiterten Egoismus der Gruppe auf eine Erkenntnisstufe und ein Handlungsniveau zu heben, bei dem das eigene Wohl zum gegenseitigen Nutzen aller im Gemeinwohl aufgehoben wird.

    Damit sind wir beim fünften Faden, dem Nutzen und werden jetzt aufhören zu zählen, denn sobald diese Frage aufgeblättert wird, wird deutlich, daß mit einer Einigung auf den gegenseitigen Nutzen zwar schon viel gewonnen ist, aber noch keineswegs alles: Wie ist Nutzen zu definieren? Nur ökonomisch? Materiell? Mental? Ökologisch? Kulturell? Spirituell? Jemand sprach gar von einem „sozial industriellen Komplex“. Es kann einem schwindlig werden angesichts der Vielfalt, die sich hier auftut. Am Ende führt diese Leiter zu der Einsicht, die weiteste Definition des Nutzens darin zu erkennen, was einem Menschen ermöglicht, sein Leben nach seinen Möglichkeiten selbst zu gestalten.  

    Letztlich zeigt sich, daß Miteinander und Gegenseitigkeit in dem gegenseitigen Verständnis für die Nöte und die Chancen des Menschseins kulminieren – materiell, mental wie auch spirituell. Damit ist der Geist der Allmende im Grunde beschrieben. Er führt geradewegs in den Bereich der Ethik, Moral und Religion, die sich in dem afrikanischen Ubuntu-Satz „Ich kann nicht sein, wenn Du nicht bist“, ebenso finden läßt wie in der biblischen Aufforderung: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ oder dem Motto der deutschen Kommune Niederkaufungen „Gemeinwohl ist mein Wohl“.

    Damit ist ja fast schon alles gesagt. Dennoch treten hier, abgesehen von den bereits erörterten Fragen der Organisation der Allmende, ihrer Beziehung zum Staat und zum Kapital, noch weitere Aspekte in Erscheinung, die beachtet werden müssen, wenn wir uns auf einen Pfad der Allmendisierung unserer heutigen neoliberalen industriellen Realität  machen wollen. Allem voran wären Differenzierungen zwischen Geist und Geist zu klären, um nicht gleich von Mißverständnissen zu sprechen. Die Rede ist von den sog. „Geistigen Allmenden“. Gemeint sind damit Erscheinungen wie Wikipedia, Google, Facebook etc. pp. Hier gilt es unseres Erachtens streng hinzuschauen, was  w i r k l i c h  in Gemeinschaftsbesitz kooperierende Individuen im Sinne einer Bewirtschaftung begrenzter Ressourcen sind, was dagegen per se unbegrenzter Raum ist, gleich wie sehr sich auch diverse Mächte in der Geschichte darum bemüht haben, ihn zu begrenzen, nämlich: der mentale Raum, Wissen, Kultur etc. Man erinnere sich des schönen deutschen  Liedes: „Die Gedanken sind frei…“

    Wissen, Gedanken, Geist, um es klar und unmißverständlich zu sagen, können keine Allmenden sein. Sie sind unbegrenzt und in diesem Sinne frei!

    Eine andere Sache ist, daß die Apparaturen wie Wiki, Google, Facebook etc., in denen heute für alle abrufbares Wissen transportiert wird, selbstverständlich begrenzte Ressourcen sind. Aber diese elektronischen Ressourcen, diese Apparate, Netze usw. sind als materielle Basis noch keine Allmenden im Sinne des sozialen Organismus einer selbstorganisierten kooperativen Bewirtschaftung begrenzter Ressourcen, sie sind so etwas wie eine künstliche elektronische Weide, auf der alle grasen dürfen. Zu einer Allmende werden sie erst dort, wo alle NutzerInnen sich auch an der gemeinsamen Bewirtschaftung und der Pflege dieser Weide beteiligen und die vereinbarten Zugangsregeln beachten.

    In diesem Sinne kann man alle WIKIformen wohl als Ansatz zu Allmenden bezeichnen. Google, Facebook; Amazon und dergleichen aber sicherlich nicht. Die Letztgenannten sind im Gegenteil als Monopole das pure Gegenteil eines Weges zur Selbstverantwortung oder Selbstorganisation. Sie fördern nicht die kooperative Selbstverantwortung, sie manipulieren und betäuben sie eher durch die Möglichkeit des passiven Nutzens. Ob dies durch Initiative der NutzerInnen umkehrbar ist, ist eine der heute offenen Fragen.

     Wir sind hier auf dem Feld angekommen, auf dem wir noch einmal auf das Wesen, also den Geist der Allmende treffen, nämlich: Kooperative Selbstverantwortung des einzelnen Menschen für sein Menschwerden zwischen Staat und Markt auf der Grundlage begrenzter Ressourcen. Das wäre so eine Formulierung, um die herum das eingrenzbar sein könnte, was wir auch in Zukunft Allmende oder Commons nennen wollen.

    Viele weitere Fragen tun sich auf: Was ist mit der menschlichen Arbeitskraft? Ist sie eine begrenzte Ressource, die von einer begrenzten Gruppe von Menschen bewirtschaftet wird? Wer bewirtschaftet diese Ressource? Welche Rolle spielt auf diesem Feld die Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Selbstversorgung? Oder ist menschliche Arbeitskraft, nennen wir sie auch einmal anders, um deutlicher zu machen, worum es geht, also menschliche Schaffenskraft global betrachtet, unbegrenzt wie auch das Wissen?

    Hier stieß unsere Debatte in einen neuen Bereich des Allmende-Geistes vor: den Geist der Selbstverantwortung, des Glaubens an den Sinn der eigenen Existenz, des Wunsches nach Selbstverwirklichung und schließlich nach – Überleben in einer bedrohten  Welt.

    Dies alles lief am Ende unserer Debatte in der, uns selbst überraschenden Erkenntnis zusammen, daß das, was Allmende in Zukunft werden und sein kann, sich im Widerstand, gegen die zur Zeit herrschenden Formen der Vernutzungsgesellschaft herausbilden wird und,  um auch das deutlich und unmißverständlich zu sagen, nur so herausbilden kann.

Wir laden Euch ein, bei der nächsten Runde dabei zu sein.

Wir treffen uns am 1.6. 2013 wie üblich um 16.00 Uhr

Bitte anmelden unter: Kontakt

Thema:  Thema: Ich, Du, Wir – die innere Organisation der Allmende.

 Als besondere Anregung dieses Mal: Jede/r bringt ein Gedicht zum Thema mit, ein eigenes oder ein fremdes.

Im Namen des Forums integrierte Gesellschaft,

freundliche Grüße, Kai Ehlers

P.S.

Das Thema Allmende wird ausführlich behandelt in:

Kai Ehlers: „Die Kraft der ‚Überflüssigen’, der Mensch in der globalen Perestroika“,

Pahl-Rugenstein.

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Ausführliche Daten, Fakten, Hintergründe zur Geschichte und aktuellen Transformation von Gemeinschaftskultur finden Sie weiterhin in folgenden Büchern von mir:

Allmende und Staat. Kann es eine Allmendisierung des Staates geben?

Schafft zwei, drei viele Allmenden.

Wir setzen unsere Treffen zur Wiederentdeckung der Allmende fort.

Grundbedingung für eine gedeihliche Beziehung zwischen Staat und Allmende ist also zuallererst, daß von staatlicher Seite die Allmenden als Ausgangsfeld an der Basis gesellschaftlichen Lebens akzeptiert werden, auf dem Interesse, Kompetenz und erkennbarer Bedarf sich treffen. Sind solche Voraussetzungen heute gegeben?

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Russische Innenansichten – „Einen Plan B gibt es nicht.“ Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki, Gründer des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“

Als Analytiker des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“ ist Boris Kagarlitzki einer jener Kritiker Putins, die über die Tagesproteste und kurzatmige Aufgeregtheiten hinaus denken. Das Gespräch dreht sich um die Frage, welche politischen Entwicklungen nach den zurückliegenden Duma- und Präsidentenwahlen zu erwarten sind. Das Gespräch fand im Juli in den Räumen des Institutes in Moskau statt.

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Kongreß integrale Politik

Der lange angekündigte "Kongreß integrale Politik - wie wir wirklich leben wollen" hat vom 28.7. - 5.8. 2012 in St. Argbogast (bei Ötzis/Österreich) stattgefunden. Von ihm werden hoffentlich starke Impulse in Richtung der Entwicklung einer Synergie kultur-kreativer Politik ausgehen.

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Für ein Europa der Regionen

Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft - Unser Treffen zur „Charta für ein Europa der Regionen“ war ernüchternd und anregend zugleich: Ernüchternd, weil die Diskussion um die Vorlage sich, klar gesprochen, von Frage zu Frage hangelte, eine offener, ungelöster, widersprüchlicher als die nächste, anregend eben deshalb – eben weil die Fragen nach einem demokratischen Entwicklungsweg Europas durch den Entwurf für diese „Charta“ sehr grundsätzlich angesprochen werden.

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Das „chinesische Prinzip“: Ökonomische Freiheit – politische Lenkung: Der bessere Weg zur globalen Perestroika? Ein Vergleich.

Wer heute an China denkt, hat zwei Bilder vor Augen: Das eine wird von China-Reisenden als „happy China“ beschrieben, das andere als Parteiendiktatur, die die Menschenrechte nicht achte und jeden Ansatz zu einer Opposition ersticke. Wohin führt dieser Weg? Diese Frage wird in diesem Text anhand eines Vergleiches von Perestroika und den chinesischen Reformen vor dem Hingergrund der Geschichte beider Gesellschaften untersucht.

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Arabien, Japan – Übergänge wohin?

Es ist eine beunruhigende Reihe: Islam, China, Arabien, Japan - bevor wir Zeit und Kraft gefunden haben, das Eine wahrzunehmen, werden wir schon wieder getrieben, uns dem Nächsten zuzuwenden? Wann gab es zuletzt eine solche Phase, in der sich die Ereignisse derart verdichteten?

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Die demographische Falle – Beobachtungen zur Kraft der „Überflüssigen“ (Anregungen zur Kritik gängiger Wachstums- und Schrumpfungstheorien)

Menschenwürde und Wirtschaft – das sind zwei Begriffe, die uns im Alltag wie selbstverständlich von den Lippen gehen. Tatsächlich ist der eine Begriff heute so wenig selbstverständlich wie der andere. Worin besteht die Würde des Menschen? Wer einmal so zu fragen beginnt, verliert sich schnell in unendlich vielen Antworten.

Die Menschenwürde ist untastbar, lesen wir schließlich im deutschen Grundgesetz; tatsächlich wird sie tagtäglich angetastet, wenn sich – um nur dies zu nennen – Millionen von Erwerbslosen dem ausgesetzt sehen, was von Kritikern der Hartz IV Regeln mit Recht „Verfolgungsbetreuung“  genannt wird, wie sie durch die Arbeitsämter vorgenommen wird. Und noch gar nichts ist mit diesem Hinweis auf hiesige Verhältnisse darüber gesagt, in welchem Maße Menschenwürde in anderen Teilen der Welt mit Füßen getreten oder einfach missachtet  wird.

Nicht besser geht es uns mit der Wirtschaft. Vor dem Ende der Sowjetunion mochten „Kapitalismus“ oder „Realsozialismus“ bei vielen Menschen noch als reale Definitionen des Wirtschaftens gegolten haben, inzwischen sind solche scheinbaren Definitionssicherheiten auf die Befürchtung geschrumpft, dass „die Wirtschaft“ die Menschheit in die Krise zu treiben drohe, statt deren Überleben zu sichern – ungeachtet der Frage, ob dieser Prozess als Vor-, Spät- oder Nachkapitalismus, als Turbokapitalismus, Globalisierung, als nationaler Sozialismus oder, wie im Falle Chinas, gar noch als Kommunismus bezeichnet wird.

Noch erklärungsbedürftiger ist der Zusammenhang von Menschenwürde und Wirtschaft. Nur so viel ist unbezweifelbar: Menschenwürde kann man nicht essen – aber ohne Essen gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht produzieren wie eine Ware – aber ohne Arbeit gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht berühren – aber ohne soziale Beziehungen gibt es keine Menschenwürde. Damit sind drei Bereiche der Realität genannt, die in der Beziehung von Wirtschaft und Menschenwürde untrennbar ineinander greifen: Versorgung, Arbeit, Kommunikation. Versorgung, das ist die ganze Spannbreite vom physischen Unterhalt bis zur Bildung, von der Selbstversorgung bis zur Fremdversorgung. Arbeit, das sind alle Veräußerung von Kraft, Fantasie und Lebenszeit, durch welche Menschen die Welt gestalten; Lohnarbeit ist nur ein besonderer, verabsolutierter Aspekt davon, der heute wieder an seinen Platz gerückt werden muss. Kommunikation, das sind die emotionalen, sozialen und kulturellen Beziehungen, die entstehen, wenn Menschen miteinander und füreinander tätig und aneinander interessiert sind.

Wie entwickelt sich das Dreieck dieser drei Elemente heute? Die Antwort auf diese Frage muss schockieren: In allen drei Bereichen tritt heute ein Problem vor allen anderen in den Vordergrund – die wachsende Zahl der so genannten „Überflüssigen“. Damit sind die Menschen gemeint, die in zunehmender Zahl aus dem Kreislauf von Arbeit, Versorgung und Kommunikation herausfallen oder gar nicht erst zu einem Bestandteil dieses Kreislaufes werden, weil ihre Arbeitskraft zunehmend durch Maschinen, beschleunigt durch Elektronik, generell gesprochen, durch Intensivierung der Produktion ersetzt wird. Zugleich werden die Strukturen traditioneller Selbstversorgung und Möglichkeiten einer Eigentätigkeit vor Ort zunehmend zerstört, sodass die Menschen von der Versorgung mit Fertigprodukten der Industrie abhängig werden, die sie aber – mangels Einkommen – nicht oder nur ungenügend erwerben können. Das betrifft auch für die Nutzung der Kommunikationsmittel von heute.

In der „Wirtschaft“, präziser, im Gefolge des technologischen Fortschritts der Industrialisierung entsteht so eine doppelte Entwürdigung des Menschen, der in die vollkommene Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung verfällt – der eine durch Ausgrenzung vom gemeinsamen Wohlstand, ohne noch auf minimale Versorgung durch Eigentätigkeit zurückgreifen zu können, der andere, der – in die intensivierte Produktion eingeschlossen – durch einen sich in mörderischer Weise beschleunigenden Arbeitsdruck zwar über die finanziellen Mittel, aber nicht mehr über die Kraft und die Fähigkeit verfügt, sich noch ausreichend um sich selbst als Mensch zu kümmern.

Merke gut: Dies alles geschieht, obwohl der industrielle Entwicklungsprozess evolutionär betrachtet eine zunehmende Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit beinhaltet, sein Überleben durch Einsatz seiner physischen Arbeitskraft zu sichern. „Eigentlich“ liegt in dieser zunehmenden Freisetzung „überflüssiger“ Kräfte bei steigender Produktivität heute die Chance für die unterschiedlichen Gesellschaften, für die Menschheit insgesamt, sich mehr als bisher anderen Aufgaben als denen des bloßen physischen Überlebens zuzuwenden. Das sind gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Zuwachses an Menschenwürde, wenn wir Menschenwürde an der Fähigkeit des Menschen messen, sich als Mensch zu verwirklichen – und wenn die Verhältnisse, unter denen die „Überflüssigen“ heute freigesetzt werden, als das erkannt werden, was sie sind, als Überfluss nämlich, und dieser Überfluss für diese Verwirklichung genutzt wird, indem die „überflüssigen“ Kräfte zu Eigeninitiativen aller Art ermutig werden, statt sie als Arbeitslose unter Kontrolle zu halten. Die Umwandlung der jetzigen kontrollierten Sozialfürsorge in ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen, das die materielle und kulturelle Basisversorgung eines jeden Menschen sichert, wäre dazu ein richtiger Schritt.

Eine weitere Tatsache rückt allerdings an dieser Stelle in den Blick, die das Problem gewissermaßen verdoppelt: Zeitgleich zur Freisetzung der „Überflüssigen“ aus dem Wirtschaftsprozess steigt die Zahl der Menschen auf dem Globus exponentiell an. Heute teilen sich 6,3 Milliarden Menschen den Globus, 2020 werden es ca. 9 Milliarden sein. Zwar sind sich Demographen aller Länder darin einig, dass die Kurve der jährlichen Zuwachsrate der Weltbevölkerung sich abgeflacht habe, die Dynamik des Wachstums trotz absolut steigender Bevölkerungszahlen rückläufig sei, das Gespenst einer allgemeinen „Bevölkerungsexplosion“, welche die „Tragfähigkeit“ des Globus sprengen werde also gebannt sei, dafür habe sich aber eine gefährliche „Disproportion“ des realen Wachstums herausgebildet. Salopp gesprochen ist auch tatsächlich zu konstatieren: Die Bevölkerungen der „westlichen“ Industrieländer schrumpfen, einschließlich Russlands, das von dieser Entwicklung am krassesten betroffen ist, die Länder des globalen „Südens“ dagegen erreichen Geburtenraten, die um ein Vielfaches über denen der „westlichen“ Länder liegen. Das gilt vor allem für Afrika, Indien und die Mehrheit der muslimischen Länder, nicht dagegen für China, dessen Zuwachsrate, bei steigender absoluter Zahl der Menschen dort, ebenfalls deutlich abgeflacht ist.

US-Geheimdienste – und in ihrem Gefolge europäische Popularisierer ihrer Erkenntnisse wie Gunnar Heinsohn, Völkermordforscher aus Bremen und nach ihm Thilo Sarrazin – haben es sich zu Aufgabe gemacht, für dieses Szenario Strategien zu entwickeln.  Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die „Globalisierung“ der Wirtschaft, sprechen sie nacheinander von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, wenn all diese jungen Menschen – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten. Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte. Dass mit dieser Zivilisation die „westlich“ dominierte gemeint ist, versteht sich schon fast von selbst, sei aber trotzdem erwähnt.

Von einer 80:20-Welt, bzw. Einfünftelgesellschaft war angesichts dieser ökonomischen und demografischen Daten bereits auf jener legendären Tagung die Rede, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ die Zukunft der Welt zu beraten.  Als Hauptthema kristallisierte sich heraus, was mit dem Heer der „Überflüssigen“ geschehen solle, die aus dieser Verdoppelung von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Bekannt wurde der Vorschlag des einschlägig berüchtigten US-Strategen Sbigniew Brzezinski , ein globales „tittytainment“ einführen zu wollen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verbindet das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainments“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel ist, 80% der Menschheit auf diese Weise „stillen“ zu wollen.

Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierte Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange räsoniert werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen und Kritiken zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein; aber davon ganz abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten der Verwirklichung einer solchen Strategie schon in den Widersprüchen der gegenwärtig herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte, „Überflüssige“, „Unterentwickelte“ haben dieses Geld nicht. Eine Verkürzung des Kreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital kann dieses Problem aber auch nicht lösen, sondern führt – wie die Krisenentwicklung der letzten Zeit gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Aus ihr hilft auch massenhafter Druck von Geld nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet, wenn die Gelder für soziale Unterstützung der Erwerbslosen gleichzeitig zusammengestrichen werden.

Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens für alle Menschen liegen. Mit einer solchen Maßnahme, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der „Überflüssigen“ als stillzulegender oder gar zu entsorgender „menschlicher Müll“.

Es ist offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt. Für den Fall jedoch, dass die gewünschte Stilllegung nicht gelingen sollte, gehen aus den US-Studien von 1990, die dem 80:20-Szenario von 1995 und auch den daraus abgeleiteten Ausführungen Heinsohns zugrunde liegen, denn auch effektivere Varianten zum Umgang mit der dort beschriebenen Bedrohung hervor, die hier nur angedeutet werden können, aber eine weitere Betrachtung unbedingt fordern: Sie beginnen mit dem aktiven Export der westlichen „Eigentumsordnung“, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der „Überflüssigen“ sollen hereingelassen,  die Unerwünschten dagegen an den Grenzen abgefangen werden. Ergänzend dazu wird über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Für alle Fälle müsse „man“ sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen „man“ jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, welche die technischen Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen.

Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahre, einschließlich des gegenwärtigen globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachbuchstabieren.  Klar ist aber, dass auch diese Strategien keine Lösung, sondern selbst Teil des Problems sind, schlimmsten Falles sogar seine Zuspitzung zur  allgemeinen Katastrophe. Besonders deutlich wird dies an den Vorschlägen zum Export der „Eigentumsordnung“, die Heinsohn als Alternative einer zukünftigen Wirtschaftsordnung anbieten möchte, wenn sie nach dem Beispiel der europäischen Entwicklung über die bloße „Produktion“ von Bevölkerungsüberschuss hinausgehe. Heinsohns Begründungen dafür sind nicht sonderlich originell, lassen aber den Kernpunkt klar heraustreten, wohin die herrschenden Strategien zielen, wo demgegenüber grundsätzliche Veränderungen anzusetzen hätten, wenn sie nicht Wiederholungen, Verfestigungen oder gar katastrophale  Zuspitzungen der bestehenden Wirtschaftsweise sein sollen.

Hier aber erst einmal Heinsohns Beschreibung: Er baut seine ganze Argumentation auf der Unterscheidung von Besitz und Eigentum auf. Durch den Übergang von der Besitz- zur Eigentumsordnung sei Europa groß geworden. „Ein Teil der Autoren redet  – und meint das kritisch – von Kapitalismus, ein anderer von „Marktwirtschaft. (kursiv – Heinsohn) Beide wollen damit den entscheidenden Beweger des Wirtschaftens jeweils möglichst knapp umreißen. Die Basis des Wirtschaftens liegt aber weder im Kapital  noch im Markt, sondern im Eigentum. Das kann man nicht sehen, riechen, schmecken oder anfassen, weil es ein papierener Rechtstitel ist.“  Die Unterscheidung von Besitz und Eigentum sei für das Verständnis des Wirtschaftens fundamental, weil nicht Besitz, sondern erst verbrieftes Eigentum die Möglichkeit gebe, Schuldverpflichtungen gegen Kredit und Zins einzugehen. Mit Besitz werde nicht „gewirtschaftet“, so Heinsohn, er werde lediglich „physisch benutzt“. Dass aber „Zins als entscheidende Zugkraft des Wirtschaftens am Eigentum haftet“, werde allgemein schlecht verstanden.

Am Beispiel des Ackers kommt Heinsohn dann zum Punkt: „Zur geschäftlichen Verwendung eines Ackers – also zum Wirtschaften mit ihm – kann es erst kommen, wenn zum Besitzrecht noch ein Eigentumstitel hinzutritt.  Man kann sagen, dass mit dem Acker produziert, mit dem Zaun, der ihn umgibt jedoch gewirtschaftet wird, wobei er den Eigentumstitel symbolisiert und nicht nach Draht und Pfosten betrachtet wird, die es auch in Besitzgesellschaften geben kann.  Während der Bauer einer Eigentumsgesellschaft seine Feldmark – durch eigenen Verbrauch oder durch Verpachten – als Besitzer nutzt, kann er mit dem Eigentumstitel an ihr gleichzeitig und eben zusätzlich wirtschaften. Er kann diesen Titel für das Leihen von Geld – Mark z.B. – verpfänden, oder er kann ihn für die Bereicherung des von ihm selbst emittierten Geldes – wiederum Mark – belasten. Die Geldnote – ob auf Metall oder Papier gedruckt – ist also ein Eingriffsrecht in das Eigentum ihres Emittenten und kommt nur durch Schuldenmachen in die Welt.“

Wirtschaften, um es deutlich herauszuholen, ist in dem von Heinsohns beschriebenen Modell also die private Aneignung eines Stück Landes (oder anderer Objekte), die andere Menschen von diesem Gebrauch ausschließt – eben einen „Zaun“ um das abgesonderte Eigentum errichtet. Auf dieser Basis erhebt sich, von ihm als positiv beschrieben, die Pyramide von Zins und Zinseszins, mit der erst Europa, heute der “Westen“ die übrige Welt in die Kredit- und Zinspflicht gebracht hat. Mit dieser Beschreibung liegt Heinsohn durchaus richtig. Treffender und aktueller als mit dem Bild des „Zaunes“ hätte er dieses Modell, das hier als Lösung, noch dazu als neue in die Welt gebracht werden soll, nicht umreißen können: Bei ihm nur bildlich gemeint, sind die Zäune, mit denen sich die sich die „Leistungsträger“ der sich herausbildenden 20:80-Gesellschaft von den „Überflüssigen“ absetzt, inzwischen ja gesellschaftliche Realität geworden. Man denke nur an die Zäune der EU in Tunesien und demnächst zwischen Griechenland und der Türkei, an die Zäune, mit denen sich die Reichen in den Metropolen selbst vor der armen Umgebung abschotten.  Es ist klar, dass dieses Modell nur tiefer in die Krise führen kann.

Wichtig und interessant ist es deshalb sich die Gegenentwürfe anzuschauen, die heute in der Kritik der möglichen 20:80 Zukunft weltweit an verschiedenen Orten entstehen. Nehmen wir die jüngste Veröffentlichung von Jeremy Rifkin , der als Amerikaner, weltweit anerkannter Zukunftsforscher und Berater von EU-Gremien nicht im Verdacht eines Schwärmers steht. Eher könnte er schon als gewissenhafter Buchhalter der Alternativdenker durchgehen, der sich um die wissenschaftlich korrekte Auflistung zukünftiger Weltbilder bemüht.

Unter dem Titel „Die empathische Zivilisation“ hat Rifkin eine Zusammenfassung der heute zu beobachtenden Entwicklungstendenzen der menschlichen Gesellschaft vorgelegt. Darin beschreibt er die Evolution der Gesellschaft als eine durchgehende Aufwärtsspirale von Fortschritt durch Empathie, Zusammenbruch, erneutem Fortschritt mit gewachsenen Empathiekräften, wieder Zusammenbruch bis hin zur heutigen entropischen Krise. Dabei versteht Rifkin unter Empathie die Fähigkeit des mitfühlenden miteinander Lebens, unter Entropie im Sinne des wissenschaftlichen Begriffes: Unordnung im Raum, sozial gesehen: Zerfall, Zerstörung, Zusammenbruch von Kulturen, Reichen, Zivilisationen. „Wir sind an einem Punkt angelangt“ schreibt er in seiner Einleitung, „an dem der Wettlauf  zwischen globalem empathischen Bewusstsein und globalem entropischen Zusammenbruch vor der Entscheidung steht.“  Das globale Bewusstsein, vom dem Rifkin hier spricht, nennt er schließlich eine „Lebensweise, in der die Menschen sich in einem „empathischen Biosphärenbewusstsein miteinander auf einer neuen Kulturstufe kooperierend verbinden“.

Wie Heinsohn beschreibt Rifkin zunächst den Übergang vom Besitz zum Eigentum, der erst die Entwicklung bis zum heutigen Stand der Zivilisation ermöglicht habe. Dann aber zeigt er auf, dass die Entwicklung der Produktions-, Verteilungs- und Konsumstrukturen der heutigen globalisierten Wirtschaft über den privatisierenden Eigentumsbegriff hinausweise. Die Basis dafür sieht Rifkin im geraden Gegensatz zu Heinsohn in der „Wiedererweckung des kulturellen und öffentlichen Kapitals“. Die hochgradige Dezentralisierung und Vernetzung des Kapitals, des Konsums wie auch des alltäglichen, durch globale Kommunikation intensivierten Lebens löse das Verständnis von Eigentum als Ausgrenzung durch die „Wiedererweckung“ eines Eigentumsbegriffes ab, in dem Eigentum wie seinerzeit in den vorkapitalistischen Gesellschaften nicht den Ausschluss von, sondern „Zugangsrechte“ zum gemeinsamen Besitz definiere. Eigentum werde in zunehmendem Maße wieder als die Berechtigung verstanden, Zugang zum gemeinsamen Kapital zu haben – so wie in vorkapitalistischer Zeit zu Feld, Wald, Allmende oder Gerätebestand eines Dorfes. Heute und in absehbarer Zukunft gehe es um das Recht auf Versorgung mit Grundelementen der allgemeinen Infrastruktur, des Weiteren mit Wärme, Wasser, Luft, um das gemeinsame Wissen im Netz usw.

Rifkin skizziert also eine Entwicklung, die dem 20:80 Modell diametral entgegenläuft. Es ist ein Modell, das nicht auf Ausgrenzung einer Mehrheit von Menschen aus einer zum Privateigentum einer Minderheit erklärten Welt zielt, sondern auf Nutzungsmöglichkeiten für alle zu einem als Gemeinschaftsbesitz verstandenen Kapital, wobei „Kapital“ das gesamte bisher im Laufe der Menschheit geschaffene ökonomische und kulturelle Vermögen umfasst, einschließlich der Beschaffenheit unseres Planeten, die Lebensgrundlage für die Existenz der gesamten Zivilisation ist.

Hier möchte ich Rifkins Skizze der möglichen Welt von morgen verlassen. Bis hierhin konnte ich mich seiner Beschreibung weitgehend anschließen. Siehe dazu auch meine eigene Darstellung dieses Sachverhaltes in dem Buch „Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“ , in dem die Frage der Wiederkehr des Nutzungsrechtes im Rahmen eines als historische Gemeinschaftsleistung der Menschheit verstandenen Kapitals ausführlich erörtert wird.

Die abschließenden Prognosen Rifkins jedoch unter dem Stichwort der „Selbstinszenierung einer Improvisationsgesellschaft“, in welcher er die Zukunft als „Dramatisierung“ des Lebens in den Kommunikationsnetzen des virtuellen Raums beschreibt, wird den sozialen Herausforderungen der 20:80 Perspektive aus meiner Sicht nicht gerecht. Die mit dem 20:80-Problem verbundenen Fragen sind mit der bloßen Vernetzung in einer globalen Kommunikation analytisch nicht in ihrer Widersprüchlichkeit erfasst und praktisch so nicht zu meistern – weder in ihren negativen Auswirkungen, noch in den darin liegenden Chancen. Es wirken ja außer der Kommunikation, im Fall der Missachtung auch hinter unserem Rücken, noch die beiden anderen Bestandteile des Wirtschaftens: Versorgung und Arbeit. Erst in Verbindung mit ihnen gewinnen die heutigen und noch zu erwartenden Möglichkeiten der Kommunikation ihren Charakter – als Instrumente der globalen Freisetzung von Kreativität, produktiver sozialer Aktivität und eigenen Entwicklungsmöglichkeiten für die Millionenscharen „Überflüssiger“, wie mit Rifkin zu hoffen ist, oder der Manipulation im Sinne des „tittytainment“ und schlimmsten Falles direkter repressiver Kontrolle.

Deshalb sei hier noch ein weiteres Element in die Betrachtung eingeführt, das unbedingte Beachtung verdient. In der Regel wird es bei Analysen der heutigen Entwicklungsdynamiken vergessen, übergangen, nicht selten auch aktiv unterschlagen. Die Rede ist von den seit dem Ende der Sowjetunion unternommenen Versuchen, die russischen Gemeinschaftsstrukturen zu privatisieren und von den Wellen, die davon auf die globale Entwicklung ausgehen. Ich will diese Frage hier nicht im Detail ausführen und verweise auch dafür auf das schon erwähnte Buch zur „Integrierten Gesellschaft“ und weitere Veröffentlichungen von mir zur Analyse der Geschichte und der Aktualität der russischen, nachsowjetischen Gemeinschaftsstrukturen.

So viel aber muss hier gesagt werden: Trotz aller Bemühungen der russischen Reformer wie auch ihrer Stichwortgeber und Mitstreiter der internationalen Kapitale – angefangen bei Jeffrey Sachs  Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bis hin zu den verzweifelten Modernisierungskampagnen des gegenwärtigen russischen Tandems, das Dimitri Medwedew und Wladimir Putin bilden – ist es bisher nicht gelungen, die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands aufzulösen und in privatkapitalistische Monopolstrukturen zu überführen. Nach wie vor dominiert eine nicht aufgelöste Kombination zwischen der durch die Verfassung deklarierten privaten Eigentumsordnung und korporativen Wirtschafts- und Lebensstrukturen. Immer noch existieren ganze Lebensgemeinschaften, zu denen sich Großbetriebe, industrielle wie auch agrarische, Dörfer und Städte verbinden, nicht selten mit regionalen Vernetzungen.

Aus westlichem Blickwinkel, auch aus dem Blickwinkel westlich orientierter Reformer in Russland selbst wird diese Realität in der Regel als Korruption wahrgenommen. Tatsächlich handelt es sich hier um Elemente, nicht selten inzwischen auch in degenerierter Form, gemeinschaftlicher, nicht privateigentümlicher Eigentumsverhältnisse, die ihre Wurzeln noch in der Zarenzeit haben, durch die Sowjetunion noch einmal tiefer in die öko-sozialen Strukturen des Landes und in das soziale Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben und bisher nicht vollends transformiert, aufgelöst oder zerstört werden konnten. Kurz und knapp gesagt: Es geht um eine Kombination von Produktion und in Russland so genannter „familiärer Zusatzwirtschaft“, in der die Selbstversorgung vor Ort ein konstituierender Bestandteil der Volkswirtschaft war – und heute noch ist. Die Privatisierung, sprich auch die Kapitalisierung hat nur Teile der Bevölkerung, nur Teile des Landes, generell kann man sagen, nur einige Bereiche des Lebens und der Gesellschaft erreicht, andere Bereiche und Teile zeigen sich aller oberflächlichen Modernisierung zum Trotz resistent.

Diese Organisation des Lebens setzt sich auch heute als Symbiose von industrieller Modernisierung im Geiste westlicher Industriekultur und nach wie vor bewusst gepflegter Strukturen der familiären und auch gemeinschaftlichen Selbstversorgung fort. Supermarkt und Datscha (also familiäre oder auch gemeinschaftliche Zusatzversorgung im Garten, auf dem eigenen kleinen Feld und im Hofgarten), Fremdversorgung und Eigenversorgung halten sich auch heute in der Versorgung der Bevölkerung mit alltäglichen Grundnahrungsmitteln die Waage. Auf dem Höhepunkt der letzten Krise 2008/2009 war die Datscha in dieser Bedeutung neben dem Stabilisierungsfonds aus den Erdöleinnahmen das zweite Standbein für die Erhaltung der sozialen und wirtschaftlichen Stabilität. Putin forderte die Unternehmen, die sich im Zuge der Privatisierung ihrer sozialen Aufgaben entledigt hatten, ausdrücklich und unter Androhung von Sanktionen auf, in ihre korporativen Pflichten gegenüber Dörfern, Städten, Regionen wieder einzusteigen. Kurz, von Russland geht heute die Botschaft aus, dass die westliche Eigentumsgesellschaft nicht die einzige Antwort auf die Frage ist, wie ein Leben nach dem Ende der sozialistischen Utopie aussehen könnte, das den Menschen nicht nur einen erhöhten Konsum ermöglicht, sondern auch noch eigene Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen ihrer Eigenversorgung belässt.

Zweifellos ist die russische Entwicklung kein Modell, das direkt auf andere Länder übertragbar wäre, vor allem nicht auf solche, in denen Selbstversorgung nur noch als Kriegserinnerung lebt wie in Deutschland oder auf andere Teile der Welt, in denen die Reste lokaler Selbstbewirtschaftung soeben zerstört werden wie in den ehemaligen Kolonien Europas, die heute in die „Moderne“ stürzen. Ja, es ist nicht einmal sicher, wie weit der Pendelschlag der Privatisierung die Zerstörung der traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands noch vorantreibt, sicher ist dennoch, dass erstens jedes Pendel umkehrt, wenn sein Schwung ausläuft; das kulturelle Gedächtnis der Menschen, ebenso wie die gewachsenen Strukturen eines Raumes gehen nicht verloren, sie gehen als Element in die zukünftige Entwicklung ein. Das lässt für Russland eine lebendige Symbiose zwischen Industrieproduktion und den lange gewachsenen Traditionen der gemeinschaftlichen Eigenversorgung erwarten. Welche Form diese Symbiose annimmt, wird sich zeigen, sicher aber wird es kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch geben, in dem Fremd- und Eigenversorgung, Individualisierung und Gemeinschaftstradition einander in neuer Gestalt mischen und ergänzen.

Ungeachtet dessen aber, das sei noch einmal betont, geht von der Realität der russischen Transformation schon jetzt die Erkenntnis aus, dass „der Kapitalismus“ mit seiner aggressiven Fremdversorgung nicht das letzte Wort der Geschichte ist, sondern selbst nur ein Übergang in eine Wirtschafts- und Lebensordnung, die nicht nur materielle Grundbedürfnisse befriedigt, sondern auch noch die Chance zur Entfaltung eigener Kräfte im familiären wie im gemeinschaftlichen Rahmen gibt.

In Deutschland, aber auch anderen Orten der Welt hat schon längst eine Bewegung eingesetzt, die Vorstellungen dieser Art sucht und versucht sie in die Praxis umzusetzen. Unterschiedlichste Modelle sind entstanden, die nahezu alle den Bedarf, nicht den Profit um des Profites willen, in den Mittelpunkt rücken – eine Versorgung, die sich nicht nur auf Fertigprodukte stützt, sondern Eigenversorgung mit einbezieht, eine Organisation der Arbeit, die produktive und „überflüssige“ Tätigkeiten gerecht und lebensfördernd verteilt, die Intensivierung der Beziehungen zwischen den Menschen, welche die Menschen emotional, geistig und spirituell fördert. In Ansätzen werden auch lokale und regionale Räume mit in die neue Organisation des Lebens einbezogen.

In all diesen Experimenten wird eine Zukunft sichtbar, in der kein Mensch „überflüssig“ ist, sondern jede Frau, jeder Mann, jedes Kind, gleich ob gesund oder krank, jung oder alt, ob praktisch orientiert oder eher spirituell, ihre oder seine Daseinsberechtigung, Aufgaben, materielle und emotionale Versorgung im gemeinschaftlichen Geschehen hat. Vieles muss hier, besonders in der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, noch ausprobiert werden, und es wäre gut, wenn die Erfahrungen aus der nachsowjetischen, aufbauend auf der russischen Geschichte darin mit eingehen könnten, die leider immer noch verdrängt werden. Die Traumata von Zwangskollektivismus jeglicher Couleur, stalinistischen wie faschistischen, individualistische Irrwege auf der anderen Seite müssen noch erkannt und praktisch überwunden werden. Die neuen Formen des zusammen und doch individuell Arbeitens müssen ausprobiert werden, ohne in Gemeinschafts-Dogmatismus oder individualistische Anarchie zu verfallen. Praktisch sind viele diese Gemeinschaften zudem Probierfelder dafür, ob ein Grundeinkommen den Realitäten einer gemeinsamen Ökonomie standhält.

All dies sind hohe Herausforderungen, die diese Gemeinschaften zu Experimentatoren für eine Lebensweise machen, in der – schlicht gesagt – der Mensch wieder oder vielleicht besser gesagt, endlich im Mittelpunkt steht, jetzt aber nicht nur als Arbeitskraft, die ausgebeutet wird und als Konsument, der den Warenumsatz und damit den Profit garantiert, sondern in seinem Wert als schöpferisches Wesen, das seinen Wert darin hat, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen als solches zu entwickeln. Es ist zu hoffen  und daran zu arbeiten, dass diese Impulse auch die übrige Gesellschaft erreichen.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Dieser Text erschien auch in: Entgegensprechen, Teil 2. Schöpfungskraft Wirtschaft, herausgegeben vom KunstRaumRhein, Edition gesowip, Basel 2011.  Bezug über KunstRaumRhein, Postfach, CH–4005 Basel 5, oder den Buchhandel.