Kategorie: Vorträge, dokumentiert

Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich?

Leicht überarbeiteter Vortrag

vom bundesweiten und internationalen Friedensratschlag

unter dem Motto „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“

in Kassel vom 2./3. 12. 2017

Zum großen Friedensratschlag in Kassel versammelten sich mehr als 500 Menschen aus allen Teilen Deutschlands und verschiedenen politischen Strömungen. Dazu ausländische Gäste. In mehr als zwei Dutzend Workshops wurde der Frage mit Sachvorträgen und Debatten nachgegangen, wie den aktuellen Krisen- und kriegstreiberischen Tendenzen, die heute das politische Weltklima bestimmen, entgegengewirkt werden kann. Besonderes Interesse fand aus gegebenem Anlass der Workshop, in dem es um die Beziehungen von EU und NATO  zu Russland und Russlands Antworten auf deren aggressive westliche Politik gegenüber Russland ging. Vortragender war ich selbst. Ich dokumentiere hier den Vortrag im Wortlaut.

Liebe Freundinnen, Freunde, ich freue mich hier heute wieder mit Euch zusammen sein zu dürfen in dem Versuch, unter dem Aufruf des Ratschlags: „Nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung“ der gegenwärtigen Kriegstreiberei etwas entgegen zu setzen.

Das Thema dieses Workshops lautet: „Russland – und das Verhältnis zu EU und NATO“. Ich möchte noch hinzusetzen: Ist Frieden möglich?

Ihr erwartet von mir jetzt vermutlich Zahlen und Daten zur gegenwärtigen Lage, die den allgemeinen Aufruf untermauern –  ich möchte aber etwas anders beginnen. Die Zahlen können nachher folgen:

 

Russlands Schwäche …

Vor einem Jahr haben wir hier darüber gesprochen, welche Gefahr in der Beschwörung des Feindbildes Russland liegt.[1] Ich habe mich in diesem Vortrag vom letzten Jahr darum bemüht, Russland als Entwicklungsland neuen Typs erkennbar zu machen, vor dem Angst zu haben, es keinen Grund gibt. Russlands offene Entwicklung als Vielvölkerorganismus enthält im Gegenteil Entwicklungskeime, Elemente von Alternativen, die nicht nur für Russland selbst, sondern auch über Russland hinaus über das leidige Entweder-Oder von Sozialismus Oder Kapitalismus hinausführen können. Diese Elemente können sich aber nur entwickeln, wenn Russland nicht durch Druck und Feindschaft von außen auf einen isolationistischen und nationalistischen Weg gezwungen wird.

Ich habe mich des Weiteren bemüht, die Politik Russlands, insonderheit die seines gegenwärtigen Präsidenten Wladimir Putin, als Politik der Stabilisierung im Inneren, der Kriseneindämmung im Äußeren erkennbar zu machen, insbesondere auch deutlich zu machen, dass diese Politik nicht aus einer Stärke heraus, nicht als imperiale Aggression erfolgt, sondern dass sie als Ergebnis des Zusammenbruchs der SU, aus einer aktuellen Schwäche des Landes heraus geschieht. Die Politik der Stabilisierung im Inneren und der Kriseneindämmung im Äußeren, ist – man könnte so sagen –  Selbstschutz. Und als Selbstschutz zugleich Schutz der globalen Ordnung, die wir heute haben.

Nur kursorisch sei noch einmal an einige Stationen dieser Politik erinnert, die für die heutige Situation wichtig sind:

  • Russlands Stillhalten zur EU- und NATO-Osterweiterung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einschließlich der „Bunten Revolutionen“ in den Jahren nach 2000 –

Das ist die Zeit der inneren Stabilisierung Russlands nach den chaotischen Jahren der Schockprivatisierung unter Jelzin.

Auf dieser Grundlage folgten dann:

  • 2007 Putins Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er vor aller Welt Protest gegen die von den USA ausgehende Militarisierung der Welt und gegen die Einkreisung Russlands erhob.
  • 2008 die Zurückweisung Michail Saakaschwilis, der im Fahrwasser der NATO-Erweiterungen in Südossetien Grenzbereinigungen zu Lasten Russlands vorzunehmen versuchte.
  • 2014 Russlands Haltung in der Ukraine-Krise, in deren Verlauf Russland den vom Westen inszenierten „Regime Change“ in der Ukraine durch Aufnahme der Krim und Unterstützung der Ostukraine in seine Grenzen verwies.
  • 2016 Russlands Eingreifen in Syrien, das den zuvor schon fünf Jahre lang entlang der US-Pläne des „New American Century“ geführten Krieg zu Waffenstillstandsverhandlungen in Syrien führte.

Dies alles sind – ich wiederhole – keine imperialen Akte. Es sind Elemente einer auf innere Stabilität und äußeren Selbstschutz  orientierten Politik Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

…eine Bedrohung der NATO?

Umso bemerkenswerter ist, umso perverser, könnte man auch sagen, dass gerade diese Politik Russlands, also gerade die Politik der Kriseneindämmung, gerade die Stabilisierungserfolge Russlands – im Inneren,  an seinen Außengrenzen, in Syrien – wie sie von Putin seit 2000 eingeleitet wurde, vom Westen, also von  den USA, der EU und der NATO, auch von Deutschland zur Begründung  für eine Verteufelung Russlands, konkret Putins als Aggressor, als Imperialist, als russischer Hitler, Stalin usw. herangezogen wurden und werden.

Inzwischen ist die bloße Feinderklärung, wie sie sich mit dem Antritt Putins entwickelt hat, in eine – wie soll man das nennen? – verdeckte Kriegführung übergegangen, immer begründet mit Russlands

  • angeblich zunehmender Aggressivität,
  • mit seinen angeblichen Versuchen Europa zu spalten,
  • mit seinem angeblichen „Appetit“ auf die baltischen Staaten,
  • mit seinem angeblichen Versuch, einen Block autoritärer Staaten gegen den freien Westen zu schmieden.

Bisherige Schritte dieser vom Westen betriebenen Politik, an die ich hier heute nur kurz erinnern will, weil dazu schon sehr viel gesagt wurde, sind:

  • die einseitige Aufkündigung des 1987 zwischen den USA und der SU geschlossenen, seit 1988 gültigen INF-Vertrages zur Begrenzung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen,
  • die Beschlüsse der NATO- Tagung von Wales 2014,aktualisiert beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau,zur Stationierung von „schnellen Eingreifkommandos und Raketenabwehrsystemen direkt an den russischen Grenzen,
  • der ebenfalls in Wales 2014 gefasste Beschluss der NATO,dass jedes Bündnismitglied seine Verteidigungsausgabeninnerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern müsse.

Mit dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 2017 trat als aktueller Kern dieser Entwicklung jetzt zutage: Die NATO ist dabei, Europa, konkret Deutschland zum Aufmarschgebiet eines möglichen Krieges gegen Russland zu machen; wieder – muss man sagen, wie schon zu Zeiten des ‚Kalten Krieges‘.

Die einzelnen Schwerpunkte dieses Aufmarsches sind:

  • Die aktuellen Beschlüsse der NATO zum Aufbau von zwei zusätzlichen Planungs- und Führungszentren in Europa, die Europa, speziell Deutschland als Drehscheibe eines möglichen Krieges mit Russland in Gefechtsbereitschaft bringen sollen. Wollte man der NATO glauben, dann reichen die bisherigen Kommandozentralen in Brunssum, Neapel, Ramstein, Northwood und Izmir nicht aus, um den von Russland ausgehenden Gefahren rechtzeitig und effektiv zu begegnen.Es geht um Logistik
    – um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Europas für die schnellere Verlegung von Landtruppen aus den Staaten der EU an die russische Grenze;
    – um die Steuerung von Seestreitkräften im Atlantik, die im Kriegsfall den Seeweg zwischen den USA und Europa freihalten sollen.
    Über den Ort der Stationierung wurde noch nicht entschieden. Die deutsche Militärführung hat jedoch bereits ihr Interesse angemeldet, das Zentrum für die Verkehrsinfrastruktur auf deutschem Boden einzurichten.
    Ergänzend hierzu sei angemerkt, dass die deutsche Bundesregierung das Verteidigungsministerium soeben angewiesen hat, eine neue Militärdoktrin zu erarbeiten, die Russland als „militärischen Gegner“ definieren soll
    Und noch eine Ergänzung am Rande, die ein grelles Licht auf die letzten Jahre deutscher Politik wirft:
    – Deutsche Rüstungsexporte stiegenvon 2013 bis 2916 von 727 Mrd. auf  2.813 Mrd. – also um das 4 fache;
    – Deutsche Kriegswaffenausfuhren stiegen von 2013 – 2016 von 956,6 Mrd. auf 2.501,8 Mrd. – also um das 3fache.

Die aktuelle Entwicklung führte den ‚Spiegel‘ zu der Bewertung, die NATO plane Krieg gegen Russland. Wörtlich: „Im Klartext: Die NATO bereitet sich  auf einen möglichen Krieg mit Russland vor.“ (Spiegel 43/2017)

Das mag hysterisch sein – sogar ein versteckter Beitrag zur Kriegspropaganda, aber so oder so ist klar: die Voraussetzungen für einen möglichen Krieg werden geschaffen. Das ist Fakt.

Weitere Maßnahmen des Aufmarsches sind:

  • Der aggressiv geführte Informationskrieg, in dem Russland mit Unterstellungen überschüttet wird – vom Manipulieren der Wahlen in den USA, in Deutschland, des Brexit-Referendums bis hin zu den aktuellen Vorgängen in Katalonien; es fehlt nur noch, dass das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen jetzt auch Putin angelastet wird.
  • Die Ausweitung des bisher schon exzessiv geführten Informationskriegeszur Aufrüstung der NATO für den Hybriden und Cyberkrieg. Mit dem Übergang zu hybriden Kriegsformen und der Aufrüstung zum Cyberkrieg, dem „technischen Krieg von morgen“, wie es bei  ‚Fachleuten` heißt, werden die Grenzen zwischen Frieden und Krieg zunehmend ununterscheidbar. In der Bundeswehr wurde soeben eine eigene ‚technische Einheit‘ für diese Art Krieg geschaffen.
  • Das ist weiterhin die Ausweitung des NATO Selbstverständnisses zu einem bis nach Asien reichenden globalen Akteur. NATO-Sekretär Jens Stoltenberg drohte Nordkorea im Zuge der Asientournee des US-Präsidenten Donald Trump Mitte November Maßnahmen an, wenn das Land nicht von seinen Raketenstarts ablasse.
    Mit diesem Auftreten der NATO werden alle bisherigen Versuche Russlands, zur Entwicklung einer kooperativen eurasischen ‚Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok‘ wie sie von Gorbatschow, über Jelzin, Medwedew bis zu Putin in den zurückliegenden Jahren  immer wieder vorgeschlagen wurden, beiseitegeschoben.
  • Das ist schließlich die Aufweichung des Atom-Tabus. Das betrifft nicht nur Trumps wiederholte Drohungen gegen Pjöngjang, sondern auch die aktuellen Mediendebatten, in denen das Für und Wider des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Gesichtspunkt erörtert wird, inwieweit ein solcher Einsatz von den Stimmungen des US-Präsidenten abhängen dürfe.

Auch in der deutschen Presse, konkret z.B. der FAZ vom 15.11.2017, werden wieder Forderungen nach eigenen Atomwaffen laut.

All dies, liebe Freunde, ist noch kein offener Krieg. Es auch nicht linear zu einem Kriegsbeginn hochzurechnen, wie das von verschiedenen Seiten  etwa in dem genannten Artikel des ‚Spiegel‘, aber auch aus besorgten Kreisen der Bevölkerung zu hören ist. Es schafft aber ein Klima, in dem ein möglicher Krieg als Lösung der allgemeinen Krise zunehmend ins Bewusstsein der Menschen gedrückt wird.

Eine Art kritische Masse wird aufgebaut.

Darüber können Beteuerungen der NATO, sie sei  zum Dialog bereit, nicht hinwegtäuschen; ebenso wenig, leider, wie die goldenen Worte von offizieller Seite, die soeben vom Petersburger Dialog zu hören waren.

 

Russlands „spiegelbildliche Maßnahmen“

Und die Russen? Die Russen halten nach wie vor an ihrer Politik des Krisenmanagements fest.
Aktuellste Beispiele sind:

  • Putins Vorschläge für einen Einsatz von Blauhelmen zum Schutz der OSZE-Beobachter in der Ostukraine – was selbstverständlich wieder nur als Trick Putins interpretiert wird, insofern er den Einsatz auf die Frontlinie beschränken und von der Zustimmung der Donezger und Lugansker Behörden abhängig machen wolle, um so eine Anerkennung der Ost-Gebiete durch die Kiewer und ihre westlichen Partner zu erschleichen.
  • Russlands Verhandlungen mit der Türkei, Iran und Syrien, um zu einer Friedenslösung in Syrien zu kommen – was hämisch mit Formulierungen wie, Putin wolle den „Friedensfürsten“ geben, kommentiert wird.
  • Russlands moderierendes Auftreten im Atom-Poker um Korea – was in seiner Qualität als Krisenmanagement verschwiegen wird.

Ungeachtet seines weiteren Bemühens um Entspannung sieht sich Russland daher schon in den zurückliegenden Jahren und in zunehmendem Maße aktuell zu ‚spiegelbildlichen‘ Maßnahmen – wie es aus Moskau heißt – gezwungen.

  • Das sind die seit 2000 in immer kürzeren Abständen – 2000, 2010, 2014, 2015, 2017 – erfolgenden Erneuerungen der unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin ‚runtergefahrenen‘ Militär- und Sicherheitsdoktrinen, die den Militärapparat drastisch reduziert hatten. Die veralteten Strukturen der Streitkräfte und des Militärapparates werden seit 2000 unter großem Einsatz modernisiert.
  • Das ist das Konzept des verdeckten Krieges, das in diesen Doktrinen als Antwort auf die „bunten Revolutionen“ ab 2013, verstärkt nach dem ukrainischen Maidan 2014 auch in Russland entwickelt wurde.
  • Das ist die Schaffung von Organen der Gegenpropaganda, insonderheit zu nennen ‚Russia today‘, ebenso wie die Tatsache, dass ausländische ‚NGOs‘, also vom Ausland finanzierte Organisationen, dass Zeitungen und Sender unter Kontrolle genommen wurden und sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
  • Das sind russische Gegen-Sanktionen als Antwort auf die Sanktionspolitik des Westens – verbunden mit einem Ausweichen auf neue Partner im Osten und andere Teile der Welt.
  • Diese Entwicklung kulminiert schließlich, wie schon angedeutet, über die allgemeine Modernisierung der Streitkräfte hinaus
    – in der Nachrüstung des russischen Ballistik-Programms, 
    – in Manövern an der russischen Grenze, die in zunehmendem Maße auch zivile Sicherheitskräfte einbeziehen.

Propaganda und Gegenpropaganda schaukeln sich gegenseitig auf. Das aktuelle, zuletzt durchgeführte russische Manöver fand demonstrativ unter dem Namen „Zapad“ (Westen) statt. Das gab der NATO die Gelegenheit sich in ihrer Behauptung von der russischen Aggression bestätigt zu sehen.

Dazu eine kleine Anmerkung zur Mentalität:
Während die russischen Manöver selbstverständlich hinter den russischen Grenzen und auf russischem Boden stattfinden, werden die russischen Grenzen im NATO-Sprech interessanterweise NATO-Grenzen genannt.

Kurz, fassen wir den aktuellen Stand der Beziehungen von NATO und Russland zusammen, dann muss gesagt werden: Eine Aufrüstungsspirale beginnt sich zu drehen. Bei aller Intensität der russischen Anstrengungen bleibt die russische Aufrüstung allerdings eine, sagen wir, beständige ‚Nachrüstung‘. Sie ist im Kern auf Abwehr und Verteidigung ausgerichtet. Russland hat keine Chance, die USA und NATO einholen – eher besteht die Gefahr der ‚Totrüstung‘ Russlands – auch dies ein Déjà vu aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘.

 

Aufrüstungsspirale

Dazu jetzt doch ein paar Zahlen:
Zunächst zu den Rüstungsausgaben 2016 in absoluten Zahlen im  Vergleich von Westen und Russland

  • USA 611 Mrd., China 215 Mrd., EU 171,4 Mrd. (EU – das sind Frankreich 55 Mrd., Vereinigtes Königreich 48,3 Mrd., Deutschland 41,1 Mrd., Italien 27,0 Mrd. – noch ohne die übrigen Mitglieder der EU),  
  • danach folgt Russland mit 69 Mrd. (das ist das Niveau von Saudi-Arabien mit 63,7, Indien mit 55,9 Mrd.)

Die russischen Aufwendungen betragen also ein Zehntel des US-, ein Drittel des EU-Aufkommens; rechnet man US und NATO gemeinsam, dann liegt Russland mit ca. einem Dreizehntel zurück.

Wo liegt der Schwerpunkt der russischen Nachrüstung?
Er liegt nicht im konventionellen Bereich der Landstreitkräfte. Hier sind die Potenzen ziemlich ausgeglichen.

  • Russland: 345,000      15.000          3.781   
  • NATO:      580.000      18.741          3.437
                     Soldaten       Panzer      Raketensysteme

Auch im Bereich der verfügbaren Atomsprengköpfe herrscht nahezu Gleichstand.

  • Russland: 7000, USA: 6.800, Frankreich: 300, Britannien: 215

Anders ist es im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte; da besteht ein erkennbarer Abstand:

  • Russland: 3.082, NATO 21.433 Flugapparate (einschl. Drohnen)
  • Russland: Ein (1) Flugzeugträger, die USA/NATO zwölf (12), die in der Lage wären, Russland von allen Seiten her einzukreisen.

Anders ist es auch –
was allerdings aus statistischen Angaben schwer zu ermitteln ist –
im Bereich der verdeckten Kriegsführung. Hier sind USA, NATO und EU entgegen allen Behauptungen, man sei durch die „hybride Kriegführung“ der Russen im Ukraine-Konflikt gezwungen, jetzt ebenfalls solche Elemente zu entwickeln, schon seit den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ einer russischen Antwort weit voraus.

  • Schon die Sowjetunion war Ziel solcher Attacken; man erinnere sich an den Afghanistan-Einsatz Zbigniew Brzezinskis, der nicht unerheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug.
  • Nach der vorübergehenden „Entspannungsphase“ unter Gorbatschow und Jelzin waren es die „bunten Revolutionen“ bis hin zum Maidan, die dann Ausdruck dieser westlichen Strategie waren.

Schwergewicht der russischen Militärdoktrinen, bis in die neueste „Sicherheitsstrategie“ von 2017 hinein, liegt dementsprechend NICHT – ungeachtet des Ungleichstands bei den See- und Luftstreitkräften – auf der Abwehr einer äußeren militärischen Bedrohung, also, eines möglichen Einmarsches etwa der in Polen, dem Baltikum oder Rumänien liegenden NATO-Battle-Groups auf russisches Territorium. Das Schwergewicht der Doktrinen liegt auf der Abwehr einer möglichen inneren Destabilisierung durch feindliche Diversanten nach dem Muster der ‚bunten Revolutionen‘ und des Maidan. Die Sorge der russischen Führung, dass der Vielvölkerorganismus Russlands durch Anheizen nationaler Unruhen oder sonstiger innerer Konflikte von außerhalb zersetzt werden könnte, ist größer als die vor einer äußeren Aggression. Gegen die äußere Aggression sieht Russland sich durch sein jetzt auch wieder modernisiertes Atomwaffenarsenal ausreichend gewappnet.

Dies bedeutet, um es deutlich zu sagen: Unter dem Druck der beginnenden Aufrüstungsspirale besteht die Gefahr, dass Russland von einem zwar zentralisierten, aber weltoffenen Vielvölkerorganismus, von einem Entwicklungsland neuen Typs, wie ich es nenne, nach einer Phase der inneren Stabilisierung in eine Militarisierung,  Nationalisierung des Inneren und einen aggressiven Isolationismus gegenüber der Außenwelt getrieben wird.

 

Vereinte Nationen im Strudel

Betrachten wir den ganzen Prozess seit 2000, also seit dem Amtsantritt Putins, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine Wiederholung des Kalten Krieges geht, sondern um eine Wiederholung der Grundkonflikte, die sich bereits im ersten und auch im zweiten Weltkrieg stellten: Nämlich die Verschärfung der grundlegenden Konkurrenz zwischen den großen national organisierten Volkswirtschaften in ihrem Kampf um die globalen Ressourcen. Damit steht Russland, ungeachtet der Frage, ob mit oder ohne Putin, das heißt ungeachtet der Frage, welche Politik es nach außen betreibt, mitten im Strudel der „make greater“ Strömungen, wie sie zur Zeit von den USA, der EU und anderen Staaten der Welt ausgeht. Hinzu kommt als neuer nationaler „Player“ noch China. Das kann die Situation zwar vorübergehend entspannen, insofern Russland kurzfristig auf ein Bündnis mit China ausweichen kann; langfristig kommt mit China jedoch ein weiterer Konkurrent ins ‚Spiel‘.

Putin versucht dem Strudel durch Aktivierung der UNO, durch sein Beharren auf dem Prinzip der „nationalen Souveränität“ und den Regeln des Völkerrechts entgegen zu wirken, wie er das exemplarisch in der Verteidigung der syrischen Souveränität getan hat, aber die UNO, um es deutlich auf Deutsch zu sagen, also, die Vereinten Nationen sind ja selbst Produkt dieser nationalstaatlichen Wirklichkeit. Die Institution der Vereinten Nationen ist der ihr zugedachten Rolle der Überwindung der nationalstaatlichen Konkurrenzen nicht gewachsen,  wie die Alleingänge der USA, der NATO sowie die von einzelnen Mitgliedern der Europäischen Union gegen Jugoslawien, den IRAK, Libyen usw. in den letzten Jahren immer öfter gezeigt haben. Die Vereinten Nationen sind selbst ein Spielball dieser Konkurrenzen, wie seinerzeit der Völkerbund.

Es ist klar, dass diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt wird, wenn sie nicht in umfassende neue Formen von globaler, regionaler und lokaler, kurz, alle Lebensbereiche umfassender Kooperation überführt wird,  unweigerlich in die nächste große Katastrophe führen muss

 

Lehrstunden der Geschichte

Hier sind wir jetzt bei der Grundfrage angekommen: Wie können die neuen kooperativen Formen aussehen, die heute notwendig sind? An wen soll und an wen kann sich  ein Appell für Kooperation, für Frieden und Abrüstung  richten? Macht es Sinn, eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie zu fordern, wie man das von manchen Seiten hören kann? Macht es Sinn an die UNO, die G7, G20, die EU oder die Bundesregierung zu appellieren? Machen wir uns keine Illusionen: Ein Appell zu Frieden und Abrüstung an die Führungen der heutigen Nationalstaaten zu richten, heißt den  Bock zum Gärtner zu machen, statt den Bock klipp und klar beim Namen zu nennen – eben diesen einheitlichen ökonomisch dominierten Nationalstaat, eben diese Staatenordnung, wie wir sie heute haben, wie sie sich heute wieder zum kriegstreibenden Konflikt zusammenbraut, um es klar zu sagen.

Ein kurzer Blick in die Geschichte macht das unmissverständlich klar:
Anders gesagt, wer den Frieden will, muss über die Ursachen vorangegangener Kriege sprechen.

 

Wilsons CREDO

Erster Weltkrieg – Was war die Ursache?
Ursache war: Konflikt imperialer Nationalstaaten.

Imperialer Nationalstaat – darunter ist zu verstehen: Der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat, dem sämtliche Lebensbereiche einer Gesellschaft im Interesse der Wirtschaft, konkret, der kapitalistischen Wachstumslogik, untergeordnet sind – und dies in Konkurrenz um die Aufteilung der Ressourcen der Welt mit anderen ebenso organisierten Staaten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: es geht um den Staat als den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Was hätte nach dem vierjährigen Morden 1918 geschehen müssen?

Notwendig wäre gewesen eine Entmonopolisierung dieses konkurrenzbasierten, krisentreibenden  Nationalstaats-Monopols, der gesamten National-Staats-Ordnung einzuleiten –

  • eine staatenübergreifende Nutzung der Ressourcen,
  • eine staatenunabhängige Forschung, Lehre und geistige Entwicklung der Menschheit auf den Weg zu bringen,
  • den Staat, auf das politische Regeln des Zusammenlebens der Menschen und ihren Schutz zu reduzieren – zu konzentrieren. 

Aber was geschah?

Unter dem Stichwort ‚Nationale Selbstbestimmung‘ wurde der nationale Einheitsstaat, also, eben dieser ökonomisch dominierte Monopolist der Wirtschaftsinteressen, in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum CREDO der zukünftigen Völkerordnung erhoben.
Ein Völkerbund, als Vertretung von Nationen, Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen wurde gegründet.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte von 1918, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, wie wir heute wissen, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, aber nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, es provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen. Der Völkerbund stand dieser Entwicklung so machtlos gegenüber wie heute die Vereinten Nationen (UNO) der gegenwärtigen Entwicklung.

 

Revolutionäre Alternativen

Einen anderen Weg als die Westmächte unter Wilsons Regie wollten die russischen Revolutionäre beschreiten. Ihr Motiv war nicht die Schaffung eines neuen Nationalstaates, sondern die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit  und  Brüderlichkeit auf der Grundlage des Vielvölkerorganismus Russlands.

Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung schon Lenin als Ausrichtung für die Grundorganisation der Sowjetunion. So blieb auch die Sowjetunion, obwohl sie – anders als Österreich und anders als das Osmanische Reich – den Krieg als Vielvölkerorganismus überlebte, im Ergebnis dem Nationalstaatsmodell verhaftet. Sie entstand als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Einheitsstaats-Ideologie in Konkurrenz zu allen anderen nationalen Einheitsstaatsgebilden jener Zeit. Stalin zerlegte das Land dann zudem noch in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe Europas hervorgingen.

 

Dreigliederung

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. In einer Zeit, erklärte er, in der sich Wirtschaft, ebenso wie Kultur- und Geistesleben weltweit entwickelt hätten, in der die Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter das Diktat der nationalen ökonomischen  Interessen so offensichtlich in die Katastrophe geführt hätte, sei die Entflechtung des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats ein Gebot der Stunde. Die drei Bereiche des sozialen Organismus, also Wirtschaftsleben, geistig-kulturelles Leben, politische Organisation, müssten sich zukünftig getrennt, selbstständig voneinander entwickeln, wenn auch in gegenseitiger Durchdringung, Förderung und Kontrolle, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung
der Teile wie auch des Ganzen zu überwinden.

Die drei Bereiche beschrieb Steiner als:

  • Eine Wirtschaft in nationalstaatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten,
  • ein Kultur- und Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung,
  • eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, auf die Organisation der politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Der Staat müsse der Ort werden, in dem die Menschen sich, gleich wo tätig, als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbänden.

Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein starkes Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Es gab auch, getragen von den lebendigen rätedemokratischen Impulsen, der Nachkriegszeit,  praktische Verwirklichungsversuche an der Basis der Bevölkerung.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

Aber alle diese Entwürfe, Wilsons neue Völkerordnung, ebenso wie der revolutionäre Aufbruch Russlands, wie auch die Ansätze zur Dreigliederung in Deutschland endeten erneut in der Konkurrenz der Nationalstaaten. Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat ins Totalitäre, zum nationalen Totalstaat auf verschiedenen Stufen – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis: Seiner Entwürdigung als Mensch und einem erneuten großen, völkermordenden Krieg. Ursache war wieder, ich wiederhole, die in nationalstaatliche Grenzen gezwängte Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

 

Und heute?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsordnung groß: Nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. So lautete diese Einsicht.

Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten durchaus berührt.
Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.

Mit der Montanunion, der EWG, später EG, übergehend in die Europäische Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und der notwendigen Entnationalisierung der Wirtschaft durch grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen Rechnung zu tragen. Das war ein guter Ansatz. Er wurde allerdings zugleich dadurch konterkariert, dass dieselbe EG, EWG, EU und mit ihr auch die BRD vom Ansatz her als Block gegen die Sowjetunion konzipiert war. – Block gegen Block.

Heute ist von Entflechtung keine Rede mehr. Aktuell steht die Welt, allen voran die EU, in einem Strudel nationalstaatlichen Revivals, in dem sich zentrifugale und zentralistische Tendenzen gegenseitig eskalieren.

Ich mache es kurz: Hier nationalistische Absatzbewegungen gegen Brüsseler Monopolansprüche – Brexit, Ungarn, Polen, Forderungen nach regionaler Autonomie, dort, zuletzt in der Rede des jungen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Forderungen nach einer EU als – so wörtlich – „souveränem“ Gesamtstaat, verbunden mit Forderungen nach einer Europäischen Armee und einer neuen Rolle Europas im globalen Konkurrenz-Gefüge.

„Souveräne“ EU – das heißt im Klartext: Wiederentstehung des CREDOS vom einheitlichen Nationalstaat im Gewand eines europäischen Zentralstaats, anders gesagt, die Fixierung Brüssels als geschäftsführendem Ausschuss des europäischem Kapitals.

Dies alles geschieht, obwohl das globale Wirtschaftsleben, ebenso wie die weltumspannende geistig-kulturelle Entwicklung heute mehr noch als schon 1918 und 1945 längst alle nationalen Grenzen gesprengt hat und nur mit Gewalt in nationalstaatlichen Grenzen gehalten werden kann, wie an der nachholenden Nationalstaatsbildung der Ukraine und anderer ehemaliger Republiken der zerfallenden Sowjetunion seit ein paar Jahren exemplarisch zu erkennen.

Die objektive Krise des Nationalstaats äußert sich z. Zt. in einer zunehmenden nationalistischen Rückwendungen und wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten und Nationalstaatlich organisierten Blöcken weltweit und insbesondere in der Konfrontation zwischen der Europäischen Union und Russland, in der es wieder einmal um Konkurrenz statt um Kooperation geht.

 

Alternativen?

Was heißt dies alles für die Frage, ob Frieden möglich ist?
Es heißt zunächst einmal: Wenn Friedensarbeit erfolgreich sein soll, muss sie sich darauf konzentrieren dreierlei deutlich herauszuarbeiten

  • die verhängnisvolle Rolle, die der einheitliche ökonomisch dominierte Nationalstaat für die Entwicklung der beiden Weltkriege gehabt hat,
  • die Überfälligkeit des Nationalstaats angesichts der Globalisierung und die Notwendigkeit seiner Entmonopolisierung,
  • die Gefahr, genauer sogar, die Tatsache, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten die Rolle des kriegstreibenden Elementes trotz oder gerade wegen seiner Überfälligkeit zum dritten Mal einnimmt,  

Dies alles muss der Bevölkerung klar ins Bewusstsein gebracht werden. 

Das ist natürlich nur möglich, wenn wir selber, jeder für sich und alle miteinander, ein neues Verständnis vom Staat entwickeln: Darin ist der Staat  nicht mehr der Agent des Kapitals, der das gesamte gesellschaftliche Leben dominiert; darin wird er zu einem sozialen Organismus,

  • in dem Wirtschaft nicht mehr in nationaler Konkurrenz um ihrer eigenen Selbstvermehrung willen, sondern unabhängig von nationalen Konkurrenzen aus der sachlichen Notwendigkeit der Versorgung der Menschen vor Ort heraus stattfindet,
  • in dem Wissenschaft, Forschung, Kultur, im weitesten Sinne Geistesleben nicht mehr von nationalstaatlichen Interessen bestimmt und eingegrenzt wird, sondern sich nach den in ihr selbst liegenden Fragen und Zielen selbst entwickeln und verwalten kann,
  • in dem das, was wir bisher ‚Staat‘ nennen, sich darauf beschränkt, positiv gesprochen, in dem ‚Staat‘ sich darauf konzentriert, die Rechtsverhältnisse, die politischen und sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in überschaubaren Zusammenhängen zu regeln und zu schützen.Diese drei Elemente halten sich in gegenseitiger Wechselwirkung, Förderung und Kontrolle im Gleichgewicht, das in beständiger demokratisch offener Beratung neu ausbalanciert wird.

Dies alles heißt konkret für Friedensarbeit, ohne hier jetzt bis zu einzelnen Aktionsvorschlägen vordringen zu können:

  • Jede Protestaktion, die wir unternehmen, jeder Friedensaufruf muss zugleich die Notwendigkeit der Entmonopolisierung des ökonomisch dominierten Nationalstaats erkennbar machen, die Idee seiner Entflechtung verbreiten und allen Formen des Nationalismus entgegenwirken.
  • Notwendig sind gezielte Studien,
    – welche Ansätze der Entflechtung aus der Geschichte bekannt sind,
    – welche übernehmbar, welche gescheitert sind und ggfls. woran,
    – welche weiter, welche neu entwickelbar sind.
    Diese Impulse müssen in alle Lebensbereiche wie auch in die politischen Organe der Gesellschaft getragen werden.
  • Von existenzieller Wichtigkeit ist es, den grenzüberschreitenden Dialog in diesen Fragen zu suchen. Das gilt insbesondere auch für den Dialog mit Menschen in Russland, um die entstehenden gegenseitigen nationalistischen Feindbilder aufzulösen und zugleich die Idee der Entflechtung auf beiden Seiten zu stärken.

Nur wenn Friedensarbeit sich in dieser Weise an die Bevölkerung wendet, hat sie eine Chance, der Ohnmacht gegenüber den gegenwärtigen Krisenabläufen eine eigene Perspektive entgegen zu setzen, die vielleicht sogar einsichtige staatliche Funktionsträger erreicht. Es ist die einzige Chance, wenn die Entwicklung von Alternativen nicht einer Wiederholung  der Lehrstunden von 1918 und 1945 überlassen bleiben soll.   

Kai Ehlers,

Eine optisch und mit Hintergrundinfos ergänzte, informative Version findet sich im ‚Kritischen Netzwerk‘ unter dem LINK:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

Und für die, die gerne akkustisch dabei sind,

hier der Mitschnitt von Radio Darmstadt: http://kai.rus-24.com/vortrag/2017_12_02_A5_Ehlers_Friedensreferat.mp3

 

[1] Eine vollständige Wiedergabe des im Folgenden nur knapp wiedergegebenen Vortrages findet sich auf der Website von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/2017/02/hybrid-russland-ein-angebot-zur-entdaemonisierung-eines-feindbildes/

 

Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes

Ungeachtet des angekündigten Kuschelkurses zwischen Donald Trump und Wladimir Putin, ungeachtet aller Beteuerungen aus Kreisen der EU wie auch der politischen Etagen Deutschlands, man wolle sich um ein gutes Verhältnis zu Russland bemühen, ungeachtet der von niemandem zur Zeit mehr bestrittenen Tatsache, dass das Schlachten in Syrien durch das Hinzutreten von Russland in einen – zumindest vorläufigen – Waffenstillstand übergegangen ist, also, ungeachtet all dieser Signale, ist das Verhältnis zwischen den Weltmächten doch nach wie vor das bekannte: die soeben zurückliegende „Sicherheitskonferenz“ in München brachte es unmissverständlich an den Tag: dort hat, wie die  „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es treffend zusammenfasste, die neue amerikanische Regierung in der Person des US-Vize-Präsident Mike Pence den Europäern „Bündnistreue in der NATO und eine Kritische Haltung gegenüber der russischen Aggression zugesichert.“ US-Präsident Trump twitterte gar in Abwesenheit, er sei ein „NATO-Fan“. Continue reading “Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes” »

Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

Schriftliche Fassung eines Vortrags
auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »

Videovortrag: Globaler Maidan – Kampf um globale Menschenrechte

Liebe Besucherinnen, liebe Besucher dieser Seite.

Der oben genannte Vortrag zum „Globalen Maidan“ wurde von mir am 28.05.2015 auf Einladung der Initiative „artikel20gg“ in Berlin gehalten. Wegen seiner Aktualität, die man geradezu beängstigend nachhaltig nennen könnte, stelle ich ihn hier als ersten Beitrag nach meiner Rückkehr von meiner Sommerreise durch Russland noch einmal auf die Eingangsseite meiner WEB: Dialogverweigerung in der Ukraine, Druck auf Griechenland, „Überflüssige“, die nach Europa strömen… Suche nach Alternativen – als wäre das alles erst gestern gesprochen worden.

Zwei Teile: Vortrag und für Menschen mit Geduld Antworten in der anschließenden Diskussion. Über Rückmeldungen würde ich mich freuen.

http://artikel20gg.de/video/05-Ehlers.htm

 

Vortrag zum Attac Frühjahrsratschlag – Ukraine als Kampffeld der Wachstumskrise

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

in aller Kürze und vorweg: Wir brauchen ein anderes Verständnis von Wachstum, ein Verständnis, in dem Wachstum nicht nur ökonomisch, sondern sozial, kulturell und ethisch definiert wird. ....  Umverteilung, Blockaden, selbst Revolten sind wichtig, werden jedoch nicht reichen, solange, ohne falsche Rücksicht gesagt, die profit- und konkurrenz-orientierte kapitalistische Produktionsweise Basis unseres Zusammenlebens bleibt ... Die Ukraine gibt uns klare Signale für diese Tatsachen. Sie ist ein exemplarisches Kampffeld der zur Zeit konkurrierenden globalen Expansionsdynamiken auf verschiedenen Ebenen ..

Weiterlesen

Islam – Signal für eine andere Welt?

Modell Kasan – Russlands aufgeklärter Islam als Modell einer Koexistenz. Oder: Welche Chance bietet uns die aktuelle Begegnung mit dem Islam? Überarbeitete Fassung eines Vortrags, Hamburg am 26.2.2010 Kasan – Modell eines aufgeklärten Islam. Was für ein fernliegendes Thema, mögen einige Menschen denken: Islam in Russland und dann noch in einer einzigen Stadt; gibt es nicht Themen, die uns näher liegen? Solche Fragen sind natürlich berechtigt; Russland ist weit, Kasan ist hierzulande nur wenigen ein Begriff. Aber ich denke, schon unser eigener Alltag lässt schnell erkennen, worum es geht:

Weiterlesen

Gas-Russland und ÖL-NATO

Der Ton wird rauer
Gas-Russland und Öl-NATO
Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

(Schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem Kasseler Friedensforum: „Die Welt nach Bush“, vom 5. – 7-.12.2008)

Kooperation oder Konfrontation mit Russland? Um diese Fragen kreisen die aktuellen politische Debatten in der Europäischen Union und in der NATO. Der Krieg im Kaukasus und die Finanzkrise fließen in einer Bewegung zusammen, in der die Welt neu gestaltet wird. Von „globaler Perestroika“ spricht Michail Chodorkowski dieser Tage, in Sibirien einsitzender ehemaliger Öl-Zar Russlands.
Recht hat er – was den globalen Wandel betrifft, wenn auch seine Erwartungen einer neo-sozialistischen Wende ein wenig voreilig klingen. Perestroika, die Krise der Sowjetunion, genereller des Sozialismus, die manche für einen endgültigen Sieg des Kapitalismus hielten, ging der Krise der kapitalistischen Länder nur voran. Es sind zwei Stufen einer globalen Wachstumskrise des Industrialismus. Ihr Wesen liegt im Übergang von der beschleunigten globalen Expansion des Kapitals in eine Phase der Konzentration, der Rationalisierung und der Intensivierung. Diese Phase ist bestimmt durch einen sich verschärfenden Kampf um den privilegierten Zugriff auf die noch verbliebenen fossilen Ressourcen. Sie sind die Basis der gegenwärtigen industriellen Zivilisation und zugleich unersetzbarer Ausgangsstoff für die Entwicklung einer nicht mehr fossilen Energieversorgung von morgen. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund einer exponentiell wachsenden Bevölkerung unseres Globus. In der Frage, wie der aktuelle Zugriff auf Ressourcen organisiert und wie der wachsende Energiebedarf der Zukunft auf dieser Basis entwickelt werden kann, entscheidet sich die Zukunft der menschlichen Gesellschaft.
Zwei Strategien stehen sich in dieser Frage gegenüber:
Auf der einen Seite forcieren die USA die Entwicklung der NATO zur Energie-NATO. Angestoßen vom EU-Neumitglied Polen wurde diese Forderung von US-Senator Luger erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend damit, Russland auf einen Rohstoff-Lieferanten zu reduzieren und seinen politischen Einfluss zu isolieren. Die Strategie fügt sich in das unipolare Konzept der US-amerikanischen Hegemonialordnung ein, wie es von Sbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ entwickelt wird.
Dem steht Russlands Vorschlag gegenüber, über Gasprom eine weltweite kooperative Vernetzung von Energie-Lieferanten und Energieverbrauchen zu schaffen. Der deutsche Außenminister Steinmeier griff diesen Impuls auf der Münchner NATO-Tagung 2007 unter dem Stichwort einer Energie-KSZE auf. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferanten und Rohstoffverbrauchern, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Es fügt sich im Übrigen in die seit Gorbatschow in der russischen Außenpolitik entwickelten Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung ein.
Entstehung der kaukasischen Eskalation

Die Geschichte der genannten Konzepte ist die Geschichte einer Eskalation. Sie hat mit dem 4-Tage-Krieg in Georgien inzwischen einen kritischen Punkt erreicht und wird zu weiteren Explosionen führen, wenn keine Lösung gesucht und gefunden wird: Seit 1991 bemüht sich das „atlantische Bündnis“ unter Führung der USA aggressiv um die Neuaufteilung des zentralasiatisch-kaukasischen Raumes, in demnach Auflösung der UdSSR kurzfristig ein, von westlichen Strategen so genanntes Machtvacuum entstanden war. Dabei ging es vorrangig um den Zugriff auf Erdöl und Erdgas, die in diesem Raum konzentriert sind. Der führende US-amerikanische Stratege Brzezinski spricht in seinem Buch vom „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf das die USA sich den Zugriff sichern müssten. Kernstück der daraus entwickelten Strategie wurde der Ausbau eines Transportkorridors, auf dem Öl und Gas unterhalb des Bauches von Russland von Ost nach West befördert werden könnten, ohne durch russische, aus der Sowjetzeit noch vorhandene Röhren gehen zu müssen. Das bedeutete, Russland von Zentralasien, vom Süd-Kaukasus und vom Iran zu trennen, den russischen Schwarzmeerhafen Novorossisk, die Pipelines durch Tschetschenien zu umgehen.
Die EU beteiligte sich an dieser Strategie mit den Programmen TACIS, INOGATE und TRACECA, über die Milliarden in den Ausbau der Ost-West-Transport-Infrastruktur von Usbekistan bis Europa flossen.
TACIS, das ist die Abkürzung für „Technical assistance to the commonwealth on independent states“, INOGATE für „Interstate Oil and Gas Transport to Europe“, TRACECA für „Transport Corridor Europe-Caucasus-Central Asia“. Die drei Programme sind ausgelegt als Aktionsbündnisse mit den aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten Zentralasiens, des Kaukasus und des Balkan (selbst Griechenland partizipierte) – nur Russland wurde expressis verbis von Beratungen und Teilhabe an Bauvorhaben ausgegrenzt.
Wichtigstes Ergebnis dieser Programme waren drei neue Pipelines, die unter Umgehung der bis dahin genutzten sowjetischen Transportwege gebaut wurden:
# Öl von Baku in Azerbeidschan zum Schwarzmeerhafen Supsa – seit 96 in Betrieb,

# Öl von Baku über Tiblissi nach zum Mittelmehrhafen Ceyhan in der Türkei – „BTC“ genannt nach den drei Städtenamen, seit 2005 in Betrieb;

# Gas von Baku über Süd-Europa in die EU -„Nabucco“- geplant ab 2012.

Nicht von Erfolg gekrönt war der US-Plan, eine Pipeline durch Afghanistan in den Persischen Golf zu führen. Der in den 90er Jahren gemachte Ansatz blieb in den Kämpfen mit den Mudjaheddin stecken. Auch die neueren Pläne, die von Sbigniew Brzezinski kürzlich wieder ins Gespräch gebracht wurden, werden nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn Afghanistan schnell „befriedet“ wird.
Zeitgleich zur Entwicklung des Ost-West-Transportkorridors unternahmen westliche Öl-Konzerne den Versuch, den innerrussischen Öl- und Gas-Markt zu „liberalisieren“, „für den Weltmarkt zu öffnen“, kurz, unter Kontrolle westlicher Konzerne zu bringen. Das geschah zum einen über Einflussnahme auf den seit 1991 privatisierten russischen Öl-Markt. Der nach-sowjetische private Öl-Konzern YUKOS wurde bereits von New York aus geleitet. Yukos-Chef Chodorkowski stand vor seiner Verhaftung und vor der gerichtlichen Auflösung des Konzerns kurz vor dem Verkauf von Mehrheitsanteilen an US-Texaco.
Es geschah zum Zweiten über Versuche der EU, Russland über Verhandlungen zur Europäischen Energiecharta, über ein gesondertes Kooperations- und Partnerschaftsabkommen und die Entwicklung einer „strategischen Partnerschaft“ zu einer „Liberalisierung“ des Öl- und Gasmarktes zu kommen.
NATO-Erweiterung und EU-Erweiterungen flankierten diese Strategie der Einkreisung Russlands, gepuscht von den USA; die EU konnte, sehr zum Ärger der USA keine klare einheitliche Linie zur Energiepolitik gegenüber Russland finden, sondern schwankte immer wieder zwischen aktiver Beteiligung an der US-Einkreisungspolitik und langfristiger Kooperation im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. – was u.a. dazu führte, dass die Nabucco-Pläne nur zögernd voran kamen und kommen.
Russlands Antwort

Nach Auflösung der Sowjetunion und Einleitung der Schock-Therapie der Totalprivatisierung war Russland dieser Strategie zunächst weitgehend ausgeliefert. Aus dem Gas-Ministerium der Sowjetzeit entstand Gasprom als eine undefinierbare Mischung aus alten sowjetischen und neuen privatwirtschaftlich genutzten Strukturen. In der Bevölkerung galt diese Organisation zu dieser Zeit als Selbstbedienungsladen der Gaspromfunktionäre. Die Ölindustrie wurde zum Privateigentum weniger Oligarchen, verquickt mit ausländischem Kapital.
Mit der Krise 98, als der IWF sich weigerte Russland mit Krediten aus der Patsche zu helfen, bzw. für Russland unannehmbare Bedingungen stellte, begann Russland sich wieder auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Die wesentlichen Schritte sind schnell aufgezählt:
# 2002 Reform Gasproms zum internationalen Multi. Die korrupten Funktionäre der 90 Jahre werden durch Vertraute Putins ersetzt, Gasprom zu einem politischen Instrument des Staates und einer Stütze des Budgets entwickelt.

# 2003/4 mit der Verhaftung Michail Chodorkowskis und der Auflösung des YUKOS-Konzerns nimmt der russische Staat auch die größten Teile der Öl-Wirtschaft wieder unter Kontrolle.

# 2005/6 wird am Plan der Ostseepipeline erkennbar, dass Gasprom die Strategie einer aktiven Vernetzung des russischen Energiemarktes mit der EU verfolgt; mit Kasachstan und Turkmenistan werden alte Verbindungen aktiviert.

# am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline („South-Stream“) zusammen : Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga (bei Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen .

# 2008 geht es Schlag auf Schlag: Vertrag zum Bau der „South-Pipeline“ mit Serbien im Januar 2008 , mit Ungarn im Februar , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an der“Nabucco“Pipeline als auch an „North-Stream“ beteiligen. Ein Joint Venture von“Nabucco“und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Transmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“

Im Juli 2008 offeriert Gasprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. Gasproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom such auch nach Osten : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Ebenfalls im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein. Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“ , d.h. ein umfassendes Netz von der Förderung bis zum Endkunden aufzubauen.
Kooperation contra Konfrontation

Zum Gipfel der G8 in St. Petersburg im Mai 2006 legte Russland den Vorschlag vor, eine globale Energiepolitik zu entwickeln. Im Vorfeld des Treffens hatte Russland angekündigt, sich als Garant einer globalen Energieordnung ins Spiel bringen zu wollen. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland brachten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vor und kündigten an, ihrerseits Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So galt das G8-Treffen allgemein als „Energie-summit“, von dem globale Entscheidungen, zumindest aber schwere Unstimmigkeiten und Konfrontationen erwartet wurden. Im Ergebnis verabschiedete der Gipfel überraschend einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben schienen: Die G-8-Staten vereinbarten „offene und transparente Märkte“, „faire Investitionsbedingungen“, einschließlich „effektiven Rechtsschutzes“, sie verpflichteten sich zu den Zielen der „Energie-Einsparung, der Energie-Effizienz, der erneuerbaren Energien, des umweltschonenden Einsatzes von Energien.“ Zur Krönung hieß es auch noch: „Dem Zugang von umweltfreundlichen, erschwinglichen und verlässlichen Energiedienstleistungen als zentralem Aspekt der Armutsbekämpfung wird eine wichtige Bedeutung beigemessen.“ Statt der Konfrontation schien Kooperation angesagt.
Nur ein halbes Jahr später, 26.11.2006 forderte US-Senator Luger beim NATO-Gipfel in Riga die Entwicklung einer Energie-NATO, die die westlichen Energie-Abhängigkeiten gegenüber möglichen Erpressungen durch Russland entgegenwirken müsse. Luger verglich die mögliche Erpressung, die aus einer Einstellung der Gas- oder Öllieferungen hervorgehen könnte, mit einer militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration und forderte für diesen Fall die Anwendung des § 5 des Bündnisvertrages – also die Ausrufung des Bündnisfalles innerhalb der NATO.
Seit der NATO-Sicherheitstagung 2007 in München stehen sich beide Konzeptionen als Forderung nach einer „Energie-NATO“ einerseits und „Energie-KSZE“ andererseits gegenüber. Die „Energie-NATO“ wird allen voran von den Polen und von den USA gefordert und die Debatte darum in der NATO forciert. US-Think-Tanks und Sonder-Konferenzen der NATO befassen sich seitdem in zunehmendem Maße in intensiven Debatten und Schulungen mit der Fragestellung.
Für Eine „Energie-KSZE“ wirbt der deutsche Außenminister Steinmeier – und selbstverständlich GASPROM, das die Entwicklung einer globalen Vernetzung der Produzenten von Energiestoffen und Verbrauchern zum strategischen Programm erhoben hat. Die EU ist in der Frage gespalten.
„Energie als politische Waffe“

Die Erfolge Gasproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für die Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Auch die mögliche Gas-Oper geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“-Gesetz.
„Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“
Aussagen wie, Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“ , und ähnlicher Wahnwitz begleiteten diese Propaganda in den deutschen Mainstream-Medien.
Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gasproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Aserbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblissi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der“Nabucco“Pipeline gedient“ werde.
Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache liege darin, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“
Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Pipeline bombardieren wollen.
Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“ , habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der in erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“.
Gebremste westliche Alternativen

Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und kritisch konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde.
Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen „Nabucco“ und „South-Stream“ liege in der Frage der Eigentümer: „Nabucco“ werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, der ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“
Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn Turkmenisches und Kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ von Noworossisk durchs Schwarze Meer nach Samsung zu verlegen. Kapazitätsverluste für „Nabucco“ wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novorossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossetien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen.
Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmenisches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.
Wie sehr der Aufruf Brzezinskis Russland zu isolieren von Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen, die nach dem Ende der Kämpfe in Georgien – höchst widerwillig – bekannt gab, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom'“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“
Verhängnisvoll? – ja, wenn „BTC“- und „Nabucco“-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von „Nabucco“, „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, das auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll. Ökonomische und politische Vernunft spricht für solche und ähnliche Lösungen vernetzter Nutzung der noch vorhandenen fossilen Ressourcen – solange keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind; nur bei kooperativer, friedlicher, nachhaltig orientierter Nutzung der heute noch benötigten und heute noch vorhandenen fossilen Ressourcen ist eine Zukunft jenseits dieser Ressourcen überhaupt denkbar.
Mit Blick auf die angeblichen Gefahren, denen eine friedliche Perspektive durch eine russische Dominanz ausgesetzt sein könnte, gab Vizevorstandschef von Gazprom Alexander Medwedew, Mitglied des Aufsichtsrates von Gazprom der Presse im Sommer 2007 eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom‘ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risikos enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird.“ Die Frage ist nur noch, wie die gegenwärtige „globale Gemeinschaft“ zu einer Gemeinschaft ebenbürtiger Partner wird. Es ist die Frage danach, wie aus einer „Koalition der Willigen“ unter US-Dominanz die kooperativ handelnde Gemeinschaft einer multipolaren Welt wird.
Kai Ehlers

Der Ton wird rauer Gas-Russland und Öl-NATO Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

(Schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem Kasseler Friedensforum: „Die Welt nach Bush“, vom 5. – 7-.12.2008)
Kai Ehlers


Liebe Freunde, liebe Freundinnen, Ziel dieses Beitrages ist es, über den bloßen Wunsch nach Veränderung hinaus, weiterführende Argumente dafür zu liefern, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen heute keine Utopie mehr ist, oder wenn eine Utopie, dann eine konkrete, die zu verwirklichen ist und das dies angesichts der Finanzkrise umso aktueller ist.
Zweites Ziel des Beitrages ist, sich der Frage weiter zu nähern, wie das geschehen kann, wenn Grundsicherung nicht nur als monetärer Vorgang verstanden wird.

Die Ausgangssituation ist: Wir erleben heute eine Intensivierung der Arbeit, eine enorme Steigerung der Produktivität, allerdings auf der Basis fossiler Energieträger und unter der Voraussetzung, dass neue Wege der Energieversorgung im Zuge dieser Intensivierung gefunden werden. Hier könnte, wenn das nicht gelingen sollte, ein kritischer Einbruch in der Entwicklung der Menschheit liegen, denn gleichzeitig vermehrt sich die Weltbevölkerung weiterhin exponential. Aus dem Zusammentreffen beider Bewegungen ergibt sich die Krise der Globalisierung, die wir heute erleben.
Für den methodischen Ansatz zum Verständnis dieser Entwicklung macht es Sinn, die Begriffe zu aktualisieren, die Karl Marx seinerzeit in den Frühtagen des Kapitalismus gefunden hat: Die Produktivität schreitet voran, aber ihre Entwicklung wird durch die bestehenden Produktionsverhältnisse behindert. Dabei ist unter Produktivität im Weiteren die Fähigkeit zur Wertschöpfung zu verstehen, unter Produktionsverhältnisse die rechtliche Organisation des Lebens, die bestehenden Eigentums- und Besitzverhältnisse.
Konkret: Produktivität heute bedeutet Bildung von Kernbetrieben und Vernetzung der Produktion durch Auslagerung von Teil- und Zulieferbetrieben, sowie Einzelarbeiten, nicht zuletzt auch intellektuellen. Es bedeutet weiterhin Reduzierung der physischen Arbeit, Einsparung, vermehrte Freisetzung von Arbeitskräften relativ zur wachsenden Produktivität.
Vernetzung bedeutet dabei zugleich, dass das, was heute Fremdversorgung genannt wird, also die gegenseitige Versorgung über den Markt, zunimmt, die Fähigkeit und Möglichkeit der Eigenversorgung jedoch schwindet. Mehr noch, die materielle Basis und die Fähigkeiten zur Selbstversorgung werden systematisch zerstört. Ergebnis ist eine wachsende gegenseitige Abhängigkeit, in marxistischen Kategorien ausgedrückt, eine zunehmende Vergesellschaftung von Produktion und Konsumption, modisch formuliert, eine zunehmende globale Interdependenz.
Weiter: Die Produktionsverhältnisse sind heute durch das Privateigentum an Produktionsmitteln bestimmt; der Zweck des Produzierens – entgegen dem realen Effekt – ist aber nicht die gegenseitige Versorgung, also Fremdversorgung, sondern ganz wie Adam Smith es seinerzeit beschrieb, das private Gewinnstreben, aus dem der Markt resultiert, Profit um des Profites willen. Gegenseitige Versorgung ist unter heute den herrschenden Verhältnissen nur ein Abfallprodukt. Aber auch die traditionelle Selbstversorgung verwandelt sich; sie nimmt faktisch die Form der abstrakten Selbstvermehrung des Kapitals an.
Die Überschüsse aus gesellschaftlicher – arbeitsteilig, kollektiv und gemeinschaftlich organisierter – Arbeit werden nicht gesellschaftlich verfügbar gemacht, sondern privat genutzt. Sie werden nicht für die bewusste Veredelung der unbeabsichtigt aus dem Gewinnstreben hervorgehenden Fremdversorgung in eine allgemeine, planmäßige Grundversorgung aller genutzt, sondern gehen allein in die Selbstvermehrung des Kapitals ein. In der Finanz-Spekulation findet diese Realität ihre Spitze – Verselbstständigung der Selbstvermehrung des Kapitals, die sich von der gesellschaftlichen konkreten Produktion nahezu vollkommen löst. Überflüssiges, frei vagabundierendes Kapital.

Immer mehr „Überflüssige“

Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass relativ zur wachsenden Produktivität immer weniger physische Arbeitskraft gebraucht wird. Trotz Ausweitung der Produktion im globalen Maßstab sind immer mehr Menschen als Produzenten „überflüssig“. Als Konsumenten werden sie jedoch gebraucht und werden daher systematisch unfähig gemacht sich selbst zu versorgen, in Abhängigkeit vom Fremd-Konsum gebracht. In sog. Entwicklungs- oder Schwellenländern ist das besonders krass zu erkennen, wo die traditionellen Selbstversorgungskulturen vor aller Augen zerstört werden. Eine andere Seite desselben Prozesses vollzieht sich auf höherem Niveau jedoch auch immer noch in den Metropolen, wo die Abhängigkeit die Form des Weg-Werf- und Fast-Konsums annimmt, der durch leichte Kredite aus der Finanzblase ermöglicht wird. Ergebnis ist auch hier eine zunehmende Abhängigkeit des Einzelnen von industriellen Fertigprodukten und eine wachsende Unfähigkeit sich selbst zu versorgen. Zusammen mit dem weiterhin exponentiell ansteigenden Wachstum der Weltbevölkerung ergibt das eine wachsende Zahl von Marginalisierten, die keine Möglichkeit der eigenen Versorgung mehr haben. Globalisierte Arbeitslosigkeit entsteht, modernes Sklavenwesen, mit dem Unterschied, dass der klassische Sklave in der Regel zumindest grundversorgt war.

Not-Massnahmen…

Diese Situation kann durchaus auf längere Dauer aufrechterhalten werden – ideologisch, gewaltsam, indirekt oder direkt, durch Bürokratie, Justiz, Polizei oder auch Militär. Selbst die Ausgabe von Unterstützungsgeldern, also Sozialhilfe, Einführung von Mindestlöhnen, staatliche Almosen für die Armen und dergl. sind zunächst nur Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse. Sie sind notwendig um den Konsum aufrechtzuerhalten. Als Kaufscheine, die zum Konsum berechtigen, als jederzeit widerrufbare Ausnahmegenehmigungen, die gegen Wohlverhalten ausgegeben werden, sind sie die unauffälligste Lösung, die den zu erwartenden „Crash“ durchaus eine Weile hinauszögern können. Alle diese Maßnahmen aber sind gleichbedeutend mit einer Nicht-Nutzung der heute gegebenen Entwicklungspotentiale, der Nicht-Nutzung der „überflüssigen“, freigesetzten Kräfte, wie auch der Möglichkeiten der weiteren Intensivierung der Produktion – wie auch der Nicht-Nutzung der Kapitalien, die keine Anlage in der Produktion mehr finden.
Stattdessen verschärft eine solche Entwicklung, in der sich das Kapital ein Heer arbeitsloser Konsumenten hält, den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Kern-Gesellschaft und Marginalisierten in katastrophaler Tendenz: Zunahme des unproduktiven Kapitals, überbordende Spekulation, Stillstand der Modernisierung, Zerstörung, Krieg. Am Horizont einer solchen Entwicklung steht die leerlaufende Produktions-Diktatur des Kapitals, die nur in dessen Selbstzerstörung enden kann.
Die gegenwärtige Finanzkrise treibt die skizzierte Entwicklung ins Extrem. Spekulation ist zwar ein „normaler“ Zug des Kapitalismus; im Zusammenbruch der Blase, die wir zur Zeit erleben, schrumpft das Kapital sich „gesund“; neue Rationalisierungswellen, Intensivierung der Produktion, weitere Entlassungen werden daraus hervorgehen. Die quantitativen Ausmaße der gegenwärtigen Finanzkrise und ihr globaler Charakter führen jedoch schon an die Grenze zu einer neuen Qualität, an der die Alternative von Selbstvernichtung des Kapitals in den Fesseln der bestehenden Produktionsverhältnisse, d.h., privaten Verfügungsgewalt über Produktions- und daraus folgend Finanzmittel, oder Übergang zu neuen gesellschaftlichen Organisationsformen sichtbar wird. In den sich abzeichnenden möglichen zukünftigen Verhältnissen werden die Produktionsmittel nicht mehr Privatbesitz sein und Banken werden zu gesellschaftlichen Organen, die Geld im Dienst und zum Nutzen der Gesellschaft und nicht nur zur Selbstvermehrung verwalten.

… und echte Alternativen
Der richtige, lebensfördernde, in der abgegriffeneren Formulierung gesagt, nachhaltige Schritt in der geschilderten Situation ist jedoch die Befreiung der Produktivkräfte durch Umwandlung der sozialen Ausnahmehilfen in ein bedingungsloses Grundrecht auf Existenzsicherung, sprich, die Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens, oder auch, allgemeiner gefasst, einer allgemeinen bedingungslosen Grundversorgung. Die Grundversorgung schließt die monetäre Grundsicherung durch ein individuelles Grundeinkommen mit ein, geht aber darüber hinaus in den Bereich allgemeiner sozialer und infrastruktureller Existenzsicherung und –fürsorge. Sie soll jedem Menschen die Möglichkeit geben, ohne Angst vor Existenznöten zu leben und seine Kräfte optimal zu entfalten. Der Gesellschaft soll sie den Weg öffnen, die Fessel der Selbstvermehrung des Kapitals zu sprengen und den Weg für dessen Modernisierung frei zu machen, wobei unter Modernisierung die Entwicklung einer Arbeits- und Lebensorganisation verstanden wird, die optimal an den Bedürfnissen des einzelnen Menschen in einer wachsenden Menschheit orientiert ist.
Soweit, so klar – und kein leeres Gedankenspiel, sondern ein notwendiger und begehbarer Entwicklungsweg, wenn die Richtung politisch gewollt wird. Aber man täusche sich nicht: Zur Verwirklichung dieses Weges muss der Staat von einem „geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals“, der die private Nutzung der Überschüsse garantiert, in einen rechtlichen Garanten eines allgemeinen Grundeinkommens (bzw. einer wie auch immer gearteten allgemeinen Grundversorgung) verwandeln werden, der die Überschüsse der gesellschaftlichen Produktion verteilt. Diese Umwandlung ist nicht ohne seine grundlegende Transformation, insbesondere der Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft zu haben.
Für die Umwandlung stellen sich Fragen: Was geschieht, wenn es nichts zu verteilen gibt? Um etwas zu verteilen, muss ja zuvor etwas produziert worden sein. Was werden die „Überflüssigen“ tun, wenn ein Grundeinkommen eingeführt wird? Wie kommt das „überflüssige“ Kapital an die Empfänger/innen, wie wirklich damit arbeiten? Wie sehen die Schritte aus, die in Richtung der notwendigen Transformation führen? Generell: Wie kommen wir zu Verhältnissen, in denen Fremdversorgung und Eigenversorgung auf einem neuen Niveau wieder miteinander in Beziehung gebracht werden, statt – wie jetzt – in einem zerstörerischen Entweder-Oder auseinander zu driften? Fragen über Fragen, die vor allem anderen erst einmal an den ideologischen Grundfesten rütteln, in denen wir heute sozialisiert sind: Kapital, Lohnarbeit, individuelle Freiheit, Gemeinschaft. Alle diese festen Größen müssen neu durchdacht und auf ihre zukünftig mögliche Bewegung hin überprüft werden.
So wird eine Wirtschaft gebraucht, die nicht als Nebenprodukt, nicht aus Versehen, sondern bewusst mit Blick auf Fremdversorgung produziert, das beinhaltet: konsumorientiert, bedarfsorientiert, grundversorgungsorientiert und die entsprechende Organe einer Bedarfsforschung dafür entwickelt. Sie muss das gesellschaftliche Grundeinkommen arbeitsteilig produzieren und über soziale Organe verteilen. Das sind Kooperativen unterschiedlicher Größe, die Produktion und Konsum miteinander ausgleichen, Lebensgemeinschaften, Netze, Kommissionen, staatliche Verteilerstellen. Um diese zu leisten, müssen unsere bisherigen, z.T. leider auch bitter schlechten, Erfahrungen mit kollektiver Wirtschaft, Gemeinschaftszwang und Volksgemeinschaft aufgearbeitet werden.
Und es wird nicht nur Geld verteilt, es muss zunächst ein sozialer Grundstandard für die Allgemeinheit hergestellt, bzw. auch für die Zukunft garantiert werden. Erst auf dieser Grundlage wird berechenbar, wie hoch ein darüber hinausgehende individuelle Grundabsicherung, bzw. ein individuelles monetäres Grindeinkommen sein kann oder auch sein muss. Darüber hinaus müssen Kooperativen, Gemeinschaften, Netze sich zu eigenproduktiven Puffern entwickeln, die imstande sind soziales Leben zu entfalten und im Notfall Krisen aufzufangen. Auch hierzu sind historische Erfahrungen aufzuarbeiten, nicht zuletzt die soeben zugrunde gehenden Selbstversorgungsstrukturen der sog. Entwicklungsländer, bzw. auch die der russisch-sowjetischen Entwicklung.
Diese Entwicklung beinhaltet die Transformation der traditionellen Selbstversorgung in eine gemeinschaftliche, vernetzte Eigenproduktion mit Querverbindungen zu Handwerk, Industrie und allgemeiner Wirtschaft. Hier wird soziale Verantwortung und „Heimat“ hergestellt, wird Entwicklungsraum für individuelle Initiativen freigesetzt, soziale, kulturelle, geistige Erneuerung geschaffen.
Diese Dreiheit von Wirtschaft, Gemeinschaft und Eigeninitiative nenne ich eine integrierte Gesellschaft, in der die Bereiche der Wirtschaft, der sozialen Organisation und der Kultur als selbstständige Souveränitäten wie drei voneinander getrennte, aber sich überschneidende Kreise aufeinander und miteinander wirken.

Ein neues Menschenbild
Hinter der skizzierten Entwicklungs-Erwartung steht ein Welt- und Menschenbild
das sich von dem gegenwärtigen herrschenden des „homo konsumens“ unterscheidet
und das ebenfalls „befreit“ werden will, soll und kann, soll heißen, das in seinen Keimformen bereits herausgebildet ist, nur erkannt, benannt und gefördert wurden muss.
Es ist die Welt der der Multipolarität, die das Entweder-Oder-Denken hinter sich lässt. Sie lässt sich, stark vereinfacht, in drei Begriffen skizzieren, die sich ebenfalls in vielfältigster Weise überschneiden und ineinander greifen: der mehrdimensionaler Mensch, die multikulturelle Gesellschaft, die mulitipolare Welt-Ordnung.
Der Weg dorthin ist nicht mit einem einzigen und nicht gewaltsam zu schaffen. Erst recht kann eine multipolare Ordnung sich nicht unter der Hegemonie eines einzigen Zentrums entwickeln, wie das nach der aktuellen Finanzkrise einige zu glauben scheinen, die jetzt von einer multipolaren Ordnung unter einem erneuerten „amerikanischen Traum“ sprechen. Erfolg auf dem Weg in eine multipolare, integrierte Gesellschaft kann nur Resultat eines vielgestaltigen Prozesses gleichberechtigter Kräfte sein, der dann und nur dann Wirkung haben wird, wenn seine einzelnen Elemente in eine bewusste Synergie gebracht werden.
Das heißt nicht zuletzt auch den Mut zu haben, die Frage des bedingungslosen Grundeinkommens mit der Frage nach der sozialen Verantwortung und der Frage nach dem Sinn des Lebens zusammenzuführen. Und es heißt, eine andere als die gegenwärtig bestehende imperiale Weltordnung und ihrer Ideologie für möglich zu halten.

Solidarische Ökonomie – Von der Gessellschaft der „Überflüssigen“ zur integrierten Gesellschaft

Schriftliche Fassung des gleichlautenden Workshops

Auf dem 3. Grundeinkommenskongress vom 24.-26. 10.2008 in Berlin

Liebe Freunde, liebe Freundinnen, Ziel dieses Beitrages ist es, über den bloßen Wunsch nach Veränderung hinaus, weiterführende Argumente dafür zu liefern, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen heute keine Utopie mehr ist, oder wenn eine Utopie, dann eine konkrete, die zu verwirklichen ist und das dies angesichts der Finanzkrise umso aktueller ist.

Zweites Ziel des Beitrages ist, sich der Frage weiter zu nähern, wie das geschehen kann, wenn Grundsicherung nicht nur als monetärer Vorgang verstanden wird.

Weiterlesen

„Konsumterror“ 68 – Konsumoffensive im heutigen Russland

Skizze zu einem immer wieder ausgegrenzten Zusammenhang
Referat auf der Konferenz: „1968 – Eine globale Revolte und ihre Bilanz“

Was hat die 68er Parole „Kampf dem Konsumterror“ mit Konsumoffensive im heutigen
Russland zu tun? Zunächst scheinbar nichts außer dem Wort „Konsum“. Der tiefere
Zusammenhang erschließt sich jedoch, wenn beide Vorgänge nicht als begrenzte
nationale oder örtliche Ereignisse, sondern als Ausdruck eines Kulturbruchs
begriffen werden, dessen Kern die weltweite Transformation der industriellen in
eine nach-industrielle Gesellschaft seit dem 2. Weltkrieg ist und deren äußerer
Ausdruck das ist, was wir gemeinhin heute Globalisierung nennen.

Weiterlesen

Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung

An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden.

Wachstumsorientierng: Die „vier großen I’s“

In seinen bisher seltenen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert Dmitri Medwjedew auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“

Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte zum Beispiel der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man natürlich abwarten müsse, was tatsächlich geschehe. Wer wissen möchte, was auf Russland zukommt und was sich hinter den wohl klingenden Ankündigungen der „Entbürokratisierung“ andeutet, muss genauer hinschauen.

Schon Michail Gorbatschow versprach: Uskorennije, Perestroika und Glasnost, wirtschaftliche Beschleunigung, Umbau und Transparenz. Boris Jelzin puschte Gorbatschows Ansatz zum „Schockprogramm“ der uneingeschränkten Privatisierung hoch, gab die Preise frei, setzte auf Selbstregulation des Marktes, flankierte das Ganze mit den Aufforderungen „Nehmt Euch soviel Souveränität wie ihr braucht!“ und „Bereichert Euch!“ Ein „Volk von Kapitalisten“ sollte so entstehen. Ergebnis war die wilde bis kriminelle Privatisierung, war das Ende der Sowjetunion bis hin zur katastrophalen Zersetzung der sozialen Netze des Landes – insonderheit der betriebsbasierten Gemeinschaften, die als kommunale Basisstruktur die soziale Versorgung der Bevölkerung getragen hatten. Gleichzeitig wurde der bis dahin unentgeltliche Wohnraum privatisiert. Versuche Jelzins auch für kommunale Leistungen wie Miete, Gas, Wasser, Strom u.ä. individuelle Zahlung einzuführen, scheiterten jedoch.

Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden; es ist jedoch wichtig daran zu erinnern, um zu verstehen, was unter Putin im sozialen Bereich geschah und was nun geschehen kann.

Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sich entzogen hatten. Das hieß auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug er mehrere mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Übertreibungen, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige bereiche wieder her und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.

„Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“

Putins Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Eine Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde derzeit nicht diskutiert. Gesundheitswesen ebenso wie das Bildungswesen verwandelten sich, verursacht durch katastrophale Unterfinanzierung, in ein El Dorado der Korruption. Wer damals durchs Land fuhr, konnte erleben, dass Menschen in Krankenhäusern von ihren eigenen Verwandten verpflegt und mit Medikamenten versorgt werden mussten.

Als Putin nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 nun auch an die Privatisierung der sozialen Sphäre gehen lassen wollte, musste er vor massiven landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus, der sich auch Studenten, Lehrer und Ärzte anschlossen. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen blieb in halben Maßnahmen stecken.

Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst 2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern.

Kern der putinschen Vorschläge war ein Finanzierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte Medwjedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen. Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Millairden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.

Die Reaktion Putins im Herbst 2005 war eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwjedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem man nun wirklich keine besondere Liebe für Putin nachsagen kann, zum Ende der Ära Putin kurz vor den Duma- und Präsidentenwahlen, könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“.

Das Problem der putinschen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte. „Im Großen und Ganzen“, fasst Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“

Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums darauf beschränken, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.

Kurz, es muss nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wird nach ihnen gesucht. Hier treten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und gerade eben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird.

Risse in der marktwirtschaftlichen Fassade

Da war beispielsweise in den monatlich erscheinenden „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa kurz nach Propagierung der „nationalen Programme“ Anfang 2006 zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“ Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.

Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten zur Produktionsstruktur auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte.

Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.

Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf 60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.

Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von den älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden.

Im Übrigen ist hier noch anzumerken: Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.

Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern eine Frage der Lebensweise sein, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.

Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw., die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.

Ob die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ gelingt?

Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.

Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die „nationalen Projekte“, selbst nicht die angekündigte Entbürokratisierung. Neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles in Zukunft im Zentrum eines Regierungshandelns stehen soll, welches seinerseits erklärtermaßen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen will.

In dieser Perspektive kündigt sich die Entschlossenheit der russischen Führung an, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften und schließlich, selbstverständlich, ein zweiter Versuch, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen. Dies klingt in der Tat „spektakulär“.

Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung des erreichten Standes der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht.

Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwjedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die nicht nur von steigenden Öl- und Gaspreisen beantwortet wird. Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen dieser Monetarisierung könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Vortrag auf dem Kasseler Friedensforum, 2008

Kongress solidarische Ökonomie 24. – 26.11.2007 – Workshop 40

Kai Ehlers:
Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft
Vorstellung eines Buches.

Eine intensive Debatte zum Umbau des Sozialstaats hat in unserem Lande begonnen. Die Forderung nach Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens als existenzielle Absicherung gewinnt zunehmend an öffentlichem Interesse. In der Beurteilung, ob ein solches Grundeinkommen tatsächlich möglich wäre und wenn, dann wie gehen die Ansichten der Befürworter jedoch weit auseinander. Auf der einen Seite stehen die Vertreter oder Vertreterinnen eines bedingungslosen, die Existenz sichernden Grundeinkommens wie Götz Werner oder Katja Kipping, auf der anderen unterschiedlichste Verbände und Gruppen, auch Selbsthilfe-Initiativen von Erwerbslosen, die ein Grundeinkommen an eine Verpflichtung zur Gemeinwohlarbeit geknüpft sehen möchten, weil freie Entfaltung der Person erst gelernt werden müsse. Ganz zu schweigen ist von Ökonomen, die uns vorrechnen wollen, dass eine allgemeine Grundsicherung nur durch Vollbeschäftigung mit garantiertem Mindestlohn erreicht werden könne. Die ökonomischen Begründungen für die eine oder die andere Position gehen weit auseinander.
Kurz, die Debatte zeigt nicht nur, dass eine Auseinandersetzung um Alternativen zum Abbau des Sozialstaates begonnen hat, was äußerst erfreulich ist, sondern auch, dass dringender Klärungsbedarf besteht, worüber wir eigentlich sprechen.
Ich will dazu, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige der Fragen anreißen, die mir über den Konsens hinaus, dass wir alle freie, selbst bestimmte Menschen sein wollen und das auch anderen gönnen, als besonders klärungsbedürftig erscheinen. Es sind die Fragen, um deren Beantwortung ich mich auch in meinem für diesen Workshop zur Diskussion stehenden Buch zur „Integrierten Gesellschaft“ bemühe.
Zuvor jedoch noch ein paar Worte zur Entstehungsgeschichte des Buches, die gleichzeitig den Charakter der entstehenden Debatte beleuchten: Seit langem bemühe ich mich, die Erfahrungen aus der russischen Gemeinschaftstradition, aus der nach-sowjetischen Transformation und genereller gesehen aus der Krise des Sozialismus in die heimische Debatte um Alternativen einzubringen. Ich bin dabei immer wieder auf den eisernen Vorhang gestoßen, der auch nach der Auflösung der Sowjetunion und ihres Einflussgebietes, einschließlich der DDR noch in der Weise weiterwirkt, dass Alternativen hierzulande nur als „westliche“ gedacht, im besten Fall auf eine „Nord-Süd-Schiene“ hin erweitert werden. Die aktuelle Entwicklung in unserem Land und in Europa – Stichwort: Senkung des Lebensniveaus, soziale Kontrolle und Entmündigung für die nicht vermögenden Teile der Bevölkerung, die mit der Einführung von Hartz IV verbunden sind und die beginnende Debatte um ein Grundeinkommen, dass diese Verengung aufbricht – hat die Bedingungen für die Aufnahme von Erfahrungen aus dem nachsowjetischen Raum jedoch merklich verbessert, verbessert in dem Sinne, dass nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Notwendigkeit gestiegen ist, sich nach allen Seiten um Erfahrungen und Impulse zu bemühen, die bei der zukünftigen Lösung der Probleme hilfreich sein könnten, selbst um solche aus dem ehemaligen „Reich des Bösen“.
Vor diesem Hintergrund fanden die Inhalte meines 2004 veröffentlichten Buches „Erotik des Informellen – Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt des Kapitalismus“, Untertitel: „Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation. Alternativen für eine andere Welt“ erstmals Eingang in unsere hiesige Debatte. In dem Buch untersuche ich die russischen und die darauf aufgebauten sowjetischen Gemeinschaftsstrukturen sowie deren heutige Transformation und gehe der Frage nach, was wir daraus für die Zukunft gesellschaftlicher Entwicklung lernen können. Menschen aus dem Umfeld von Attac Österreich baten mich dankenswerter Weise um eine konzentrierte Fassung der Inhalte dieses Buches für einen von ihnen geplanten Sammelband zur Krise der Lohnarbeit. Mit dessen Veröffentlichung landete ich unversehens mitten in der Debatte um die Einführung einer allgemeinen Existenzsicherung, insbesondere des bedingungslosen Grundeinkommens. In dem Buch zur „integrierten Gesellschaft“, zu dem ich hier spreche, bemühe ich mich die Erfahrungen aus der Transformation des sowjetischen Fürsorgestaates mit der im wiedervereinigten Deutschland aufkommenden Debatte um die Krise des Sozialstaates zu verbinden.
Ich gehe dabei von der Einsicht aus, dass die Entwicklung der menschlichen Versorgung in all ihren sozio-ökonomischen Stadien und kulturellen Formen ein Bestandteil der ökologischen Wechselwirkungen unseres Planeten ist. Die Art und Weise unserer heutigen Grundversorgung ist in einem kritischen Bereich angekommen, in dem Entwicklungsmöglichkeiten und Gefahren sich gleichermaßen potenzieren und alles gefördert werden muss, was geeignet ist, das bedrohte soziale und ökologische Gleichgewicht des Globus und die Chancen für eine freie Entwicklung des Menschen zu erhalten, zu pflegen und für die Zukunft – soweit es in unserer Macht steht – bewusst zu entwickeln. Diese Entwicklung begreife ich als Wachstumsprozess, gewissermaßen als Reifungsprozess der menschlichen Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur, die zugleich nichts anderes sein kann als ein Reifungsprozess des einzelnen Menschen. Ich nenne dies einen Weg in eine integrierte Gesellschaft, in der sich eine existenzielle Grundsicherung jedes einzelnen Menschen ohne Ansehen der Person, das Leben in einer selbst gewählten Gemeinschaft und die Freiheit zu frei bestimmter eigener Tätigkeit so miteinander verbinden, dass in dieser Wechselwirkung von Gleichheit, Solidarität und Freiheit ein Zusammenleben der Menschen miteinander und mit der Welt um sie herum entstehen kann, in welchem sie das im Laufe der Jahrtausende gemeinsam geschaffene Kapital auch gemeinsam nutzen. Im Gespräch mit Freunden um diesen Entwurf einer „integrierten Gesellschaft“ entstand die Frage, ob Kapital heute also als künstlich geschaffene Ressource und somit als Bestandteil der globalen Ökologie zu verstehen sei? Ganz genau! Ich denke, so ist es! Mehr noch, im Interesse einer tatsächlichen und nachhaltigen Nutzung der heutigen Krise, die über bloße Selbstberuhigung und Reformhuberei hinaus auf die Entwicklung einer zukunftsfähigen und lebenswerten Gesellschaft zielt, geht es heute aus meiner Sicht an aller erster Stelle darum, eben diese Erkenntnis zu vertiefen und zu verbreiten, weil erst sie eine neue Art der Nutzung des Kapitals effektiv nach sich ziehen kann.
Einschlägige Experimente bilden sich heraus, die vom Begriff ins Konkrete führen: So die Kommune Niederkaufungen in Kassel, so die internationalen Kooperativen von Longo-Ma?, so eine Reihe weiterer Lebensgemeinschaften, so das G.I.V.E – Projekt (Global integrated villages evolution), das Franz Nahrada von Wien aus betreibt oder die Initiativen der „Neuen Arbeit“, die unter Einsatz der eigenen Existenz herauszufinden versuchen, was sie „wirklich, wirklich wollen“ usw. usf. Ich will hier nicht alle Gruppen, Initiativen und Netze aufzählen, die heute alternative Wege gehen oder sie suchen. Der Ansturm auf diesen Kongress zeigt, dass etwas Neues im Entstehen begriffen ist.
Kommen wir also zu den offenen Fragen:

    1. Stimmt der Slogan, dass genug für alle da ist, mehr noch, dass die Produktivität des Kapitals so wächst, dass die Existenz aller dadurch gesichert sein könnte, auch wenn sie nicht an der Produktion beteiligt wären? Diese Annahme ist schließlich die Grundlage für jede Grundsicherungsdebatte, gleich welche Details vorgeschlagen werden.
    2. Stimmt die immer wieder vorgebrachte Behauptung, dass wir heute in einer „Fremdversorgungsgesellschaft“ leben? Wenn ja, muss die „Fremdversorgung“ durch Einführung eines Grundeinkommens noch gesteigert oder muss sie vielleicht durch zeitgemäße Formen der Eigenversorgung ergänzt oder gar korrigiert werden?
    3. Führt ein staatlich garantiertes Grundeinkommen notwendigerweise zu mehr Freiheit des Individuums und der Wirtschaft oder – unter Fortbestehen der heutigen Produktions- und Lebensverhältnisse – vielleicht nur der Wirtschaft, vielleicht sogar weder der Wirtschaft noch des Individuums, sondern des Staates?

Der Reihe nach:
Unter Produktivkraft verstehen wir die materiellen, physischen und geistigen Kräfte, welche die Produktion eines Gutes ermöglichen. Diese Kräfte haben sich im Laufe der Jahrtausende, mit besonderer Beschleunigung seit Beginn der Industrialisierung so entwickelt, dass der zur Produktion eines Gutes notwendige Anteil physischer Arbeitskraft, tierischer wie menschlicher, im Vergleich zum instrumentellen, heute maschinellen Anteil immer geringer wird. Steigende Produktivität bedeutet also Freisetzung, Einsparung natürlicher, konkret menschlicher Arbeitskraft. Die „überflüssigen“ Arbeitskräfte werden ausgestoßen. Als „Reservearmee“, so schon Marx’ Analyse, dienen sie im Kapitalismus dazu, den Lohn für die Beschäftigten zu drücken. Dieser Prozess ist dem Kapitalismus immanent. Nicht „Vollbeschäftigung“, sondern Reduzierung des Anteils lebendiger Arbeit an der Produktion, ist sein Wirkprinzip – bestenfalls ausgeglichen durch eine quantitative Ausweitung der Produktion. Die Phase der „Vollbeschäftigung“ in Deutschland erweist als vorübergehende Ausnahmesituation.
Mit der allgemeinen Computerisierung erleben wir heute eine rasante Beschleunigung dieser Entwicklung; gleichzeitig zeigen sich Grenzen der quantitativen Ausweitung der Produktion. Das Ergebnis sind wachsende Massen von „überflüssigen“ Arbeitskräften, die aus dem bisherigen Kreislauf von Produktion und Konsumption ausgestoßen werden. Diese Zahl der „Überflüssigen“ erhöht sich noch durch die absolute Zunahme der Weltbevölkerung. Alle diese „Überflüssigen“ müssen entweder aus dem Erlös der Produktion unterhalten werden, obwohl sie nicht arbeiten, oder sich selbst einen Unterhalt organisieren, wenn sie nicht sterben wollen – oder sollen. Hier werden Grenzen der heutigen Produktionsverhältnisse erkennbar, jenseits derer die menschliche Gesellschaft zu neuen Formen der Arbeitsteilung übergehen wird – wünschenswerter Weise schrittweise und friedlich.
Damit sind wir auch bei der „Fremdversorgungsgesellschaft“. In der Tat: Einerseits werden Produkte rund um die Welt geschickt, andererseits haben immer mehr der „Überflüssigen“ vor Ort immer weniger Mittel, sich die Produkte zu kaufen. Damit stößt auch die „Fremdversorgung“ an ihre Grenzen. Die Menschen sind gezwungen nach neuen Formen eigenproduktiver Selbstversorgung zu suchen, nachdem die traditionellen Formen zerstört wurden und im Zuge der Globalisierung heute weiter angegriffen werden, sie sind gezwungen lokale und regionale Solidargemeinschaften zu bilden, die sie unabhängig von den, besser gesagt widerstandsfähig gegen die Unwägbarkeiten der „Fremdversorgung“ wie auch der Staatsfürsorge machen. Man kann von einem Puffer, von Schutz-, Kraft-, sogar Widerstandsräumen gegen die desintegrierenden Folgen der Globalisierung sprechen, die von ihr selbst hervorgebracht werden. Das gilt besonders für Länder, die jetzt erst in die Industrialisierung hineingezogen werden, aber auch für die Metropolen selbst, insonderheit der Länder des ehemaligen sowjetischen Bereiches, aus deren -ökonomischer Grundorganisation viel für die gegenwärtige Debatte um Grundsicherung gelernt werden kann, negativ, aber auch positiv.
So kommen wir zum dritten Aspekt, der Beziehung von Individuum und globalem Konzern, bzw. Staat. Menschliche Arbeitskraft wird nicht nur in zunehmendem Maße aus den Produktionsabläufen verdrängt, es wird auch zunehmend menschliche Arbeitskraft für selbst bestimmte Tätigkeiten außerhalb der Produktion und jenseits national-staatlicher Grenzen freigesetzt, über die der Einzelne frei verfügen kann.
Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass eine zukünftige Grundsicherung aus drei Elementen zusammenwachsen muss:
– Grundeinkommen, das gleiche Teilhabe aller Menschen am Konsum einer produktiver werdenden Welt ermöglicht. Das ist der Aspekt der Gleichheit. Er wird hauptsächlich durch Geld vermittelt, aber nicht nur: Teile des Grundeinkommens können auch in allgemeinen, jedem Menschen gleichermaßen zustehenden Versorgungsleistungen der jeweiligen Gemeinschaften bestehen. Das Grundeinkommen kann selbstverständlich durch eigene Arbeit aufgestockt werden.
– Gemeinschaftliche Grundversorgung, die aus einer Wiederaneignung der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Selbstversorgung erwächst. Dies beginnt bei der kollektiven Selbsthilfe der „Überflüssigen“ und steigt bis zur gemeinschaftlichen Versorgung mit selbst hergestellten agrarischen, handwerklichen und einfachen industriellen Gütern im lokalen und regionalen Rahmen auf. Unmittelbare Not der „Überflüssigen“ ist die eine, Bedürfnis und Fähigkeit
nach Wiederherstellung einer direkten Beziehung zum Produkt der eigenen Arbeit die andere Triebfeder solcher Zusammenschlüsse. Sie können Menschen von außerhalb, regional, sogar global in ihr Netz einbeziehen; ihre Basis ist jedoch die Kooperation vor Ort. Das ist der Aspekt der gegenseitigen Hilfe und der sozialen Grundabsicherung in Solidargemeinschaften. – Selbstbestimme Eigentätigkeit, in welcher der Einzelne über den Bezug eines Grundeinkommens, aber auch über den sozialen Stand hinaus, in dem er oder sie jeweils lebt, also Großfamilie, Kleinfamilie, Single, Kommune oder größere Solidargemeinschaft, seine eigenen Vorstellungen vom Leben verwirklicht. Das ist der Aspekt der persönlichen Freiheit, der über lokale, nationale, staatliche, aber auch über ethnische und kulturelle Grenzen hinausführt.
Die drei Elemente müssen ineinander greifen, eins kann nicht isoliert vom anderen verwirklicht werden, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verzerren: Grundeinkommen ohne Schaffung solidarischer Schutzräume öffnet Tür und Tor für staatliche Manipulationen. Gemeinschaftsbildung ohne Bezug zur Welt endet in Regionalismus und Zwangskollektiven. Beides hatten wir schon. Verabsolutierte Eigenarbeit endet in der Ich-AG als extremste Perversion persönlicher Freiheit. Eine lebendige Alternative kann nur aus der Wechselwirkung der drei Elemente und sie kann nur schrittweise erwachsen, wenn möglichst wenig Blut vergossen werden soll. Die Einführung eines Grundeinkommens kann ein Schritt auf diesem Weg sein. Umgekehrt können heute entstehende Gemeinschaften dazu beitragen, das vom Kapitalismus geprägte negative Menschenbild zu überwinden, indem sie zeigen, dass der Mensch zu solidarischer Lebensweise fähig ist. Voraussetzung für das eine wie das andere ist, dass aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wird, d.h. dass der Mensch in die freie Wahl gestellt wird, wie er oder sie arbeiten und wie er oder sie sein oder ihr Leben organisieren möchte, ohne eines der Elemente zu verabsolutieren. Ich nenne das den Weg in eine integrierte Gesellschaft.

Kongress Solidarische & Ökonomie 24.-26.11.2007 – Workshop 20

Referent: Kai Ehlers
Impulse für solidarisches Wirtschaften aus der DDR und Russland?

Der Workshop sollte die Erfahrungen aus der Privatisierung der kollektiven Wirtschaftsstrukturen Russlands und der DDR thematisieren und der Frage nachgehen, was daraus für die Entwicklung solidarischer Wirtschafs- und Lebensformen folgt, was davon zu verwerfen, was daraus zu lernen sein könnte. Dabei war von der Tatsache auszugehen, dass die nach-sowjetische Umwandlung nicht so stattgefunden hat, wie von den Befürwortern der Privatisierung vorausgesagt. Stattdessen zerstörte die Privatisierung die bestehende Arbeits- und Lebensorganisation, insbesondere die Strukturen der Fürsorge und der sozialen Sicherung, in einem solchen Maße, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in existenzielle Unsicherheit geriet. Zwischen 20 und 30% der Bevölkerung rutschte unter das Existenzminimum. Trotz dieser Krise brach keine allgemeine Hungerkatastrophe aus. Warum nicht? Das ist eine der interessantesten Fragen, die man an die nachsowjetische Transformation stellen kann. Die Antwort ist verblüffend einfach: Weil die Bevölkerung auf gewachsene Strukturen der informellen Wirtschaft und der Selbstversorgung zurückgreifen konnte.
Mehr noch, statt der von den Reformern gewollten Kapitalisierung des Lebens entstanden wirtschaftliche Mischformen, die nicht mehr sowjet-sozialistisch, aber auch nicht privatkapitalistisch sind. In ihr gehen die traditionelle russische Bauerngemeinschaft, Óbschtschina, die Kollektivwirtschaft sowjetischen Typs und die heutige Marktorientierung eine hochinteressante Verbindung ein. Weit entfernt davon sich vollkommen aufzulösen, wird hier so etwas wie eine Alternative zu dem bisherigen Entweder-Oder von Kapitalismus ODER Sozialismus sichtbar.
Kern dessen ist eine Symbiose zwischen Lohnarbeit und der in Russland sogenannten familiäre Zusatzwirtschaft, die durch ein um die Betriebe herum organisiertes System der Vergütung miteinander verbunden sind. Dieses System ist nicht erst durch die Bolschewiki eingeführt worden, wie immer wieder fälschlich angenommen wird, insonderheit etwa durch die Zwangskollektivierung Stalins, es ist vielmehr in der langen Geschichte Russlands entstanden, in deren Verlauf sich das bäuerliche Gemeineigentum, die Allmende, im Gegensatz zum Westen nicht aufgelöst hat, sondern zum Grundmuster des Lebens wurde. Unter Stalin wurde der russische Kollektivismus nicht erfunden, sondern verstaatlicht. Die Bevölkerung wurde gewissermaßen von ihren eigenen Traditionen enteignet; ihre eigenen Basisstrukturen traten ihr als fremde Macht, als Zwangskollektiv, entgegen. Diese Entwicklung führte in die stalinsche Repression und letztlich Stagnation – mit der Auflösung der Union wurde sie gesprengt. Was blieb, und trotz aller aktuellen Versuche der Monetarisierung bisher nicht gesprengt werden konnte, ist die Grundstruktur von Lohnarbeit, Vergütung und Zusatzwirtschaft. In diesem Modell greifen die drei Elemente greifen so ineinander, das ein das andere stützte. Konkret: Lohn wurde nach Leistung gezahlt, ergänzt durch Möglichkeiten des Zusatzverdienstes. Arbeit wurde jedoch nicht nur in Geld entlohnt, sondern zu einem großen Teil auch über Verrechnungen aus dem Betriebs-Lohnfond, aus dem die Grundlebensbedürfnisse der Betriebsmitglieder, ihre Familien und sowie der gesamte kommunale Lebensbedarf getragen wurden. Das begann bei Wohn- und Lebensraum, umfasste Kindergarten, Schule, Bildung, medizinische Leistungen etc. pp. bis hin zur Gräberpflege. Man war rundherum in eine Grundversorgung eingebettet.
Zum Lohn und zur kollektiven Grundversorgung kommt die familiäre Zusatzversorgung. Auf dem Lande besteht sie aus Haus, Garten, Kleintierhaltung – wobei zu den Kleintieren inzwischen durchaus Schweine, Kühe, Ziegen, selbstverständlich Hühner, Enten Gänse etc. gehören. Für die Städter besteht sie aus Datscha plus Garten. Hofgarten und Datscha decken den privaten Grundbedarf. Zu Sowjetzeiten gehörte die Nutzung eines Hofes ebenso wie die Nutzung eines Datscha-Geländes zu den geldlosen Vergütungen.
In der Kombination von familiärer Zusatzwirtschaft und Versorgung mit Lebensgrundbedarf durch die betriebliche Vergütung entsteht faktisch ein geldfreier Raum, ein sozialer Puffer: Schon die betriebliche Versorgung fungiert als Ausgleich, insofern je nach Produktions- oder gesamtwirtschaftlicher Lage mehr oder weniger in die Grundversorgung der Betriebsmitglieder und der Kommune investiert werden kann. Entscheidend ist jedoch die familiäre Zusatzwirtschaft, deren Produkte gar nicht erst in die Kreislauf der Volkswirtschaft, die vielmehr einen varaiablen Bereich bilden, auf den mehr oder auch weniger zurückgegriffen werden kann. Konjunkturelle Schwankungen und – wie sich gerade jetzt wieder gezeigt hat – selbst krisenhafte Desorganisation der Versorgung kann so aufgefangen werden.
Heute sind die Betriebe weitgehend privatisiert, das heißt in Aktiengesellschaften mit Mehrheitsverhältnissen verwandelt worden. Die Vergütungsstruktur soll abgelöst werden durch einen nach westlichem Muster auf Lohn- und Einkommensteuer basierenden Geld-Ware-Geld-Kreislauf, in dem die betriebsorientierte geldlose Grundversorgung wie auch die außerhalb des Geldverkehrs liegende familiäre Selbstversorgung durch eine allgemeine staatliche organisierte, durch Geld in gang gehaltene Fremdversorgung ersetzt werden soll. Auch Hof und Hofgärten, Datscha und Garten wurden entweder privatisiert oder es soll Miete für die Grundversorgung mit Wohnraum, Gas, Wasser etc. verlangt werden. An die Stelle der familiären Zusatzwirtschaft soll der Supermarkt treten. Die Entwicklung ist jedoch nicht ausgekämpft: Per Gesetz ist die Privatisierung zwar vollzogen, der Betrieb ist eine Aktiengesellschaft geworden, statt Vergütung wird Lohn gezahlt, Wohnungen, Höfe, und Datschen und die zum Leben notwendige Infrastruktur sollen bezahlt werden; in vielen Fällen aber bestehen die alten Verhältnisse fort, bilden sich undefinierte Zwischenlagen, Übergangssituationen.
Nach zwanzig Jahren beginnen aus diesen Zwischenlagen, Provisorien und Übergängen jedoch Elemente hervorzutreten, die sich als dauerhaft erweisen könnten; das sind eben jene, welche die geschilderten traditionellen russischen wie sowjetischen Strukturen mit denen der Marktorientierung verbinden.

Aktiengesellschaft „Irmen“ –
Entwicklungswege jenseits des Entweder-Oder?

Ein Beispiel dafür ist die Aktionärsgemeinschaft „Irmen“. Irmen liegt anderthalb Autostunden von der sibirischen Metropole Nowosibirsk in Richtung Süden am Ufer des zum Obschen Meer gestauten Flusses.
Irmen ist eine AOST, das heißt eine Aktiengesellschaft geschlossenen Typs, auf russisch: eine Aktionerernaja Obschtschestwo Sakritawo Typa. Aktien einer solchen Gesellschaft – sei sie ein industrieller Produktionsbetrieb oder eine bäuerliche Wirtschaftsgemeinschaft – können nur von der Belegschaft des Betriebes selbst gekauft werden. Eine extreme Form der AOST sieht vor, dass jeder Aktionär nur eine Aktie und eine Stimme haben darf.
Organisationen dieses Typs entstanden als stiller Protest gegen den Privatisierungszwang, den Russlands Präsident Boris Jelzin und sein erster Ministerpräsident Jegor Gaidar auf Anraten des IWF 1991/2 in Gang setzten. Gaidar, Jelzin und der Fonds versprachen sich von ihrer Kampagne, die auf eine Beseitigung der Gemeinschaftsproduktion zielte, eine schnelle Kapitalisierung Russlands; die Befürworter und Vertreter der geschlossenen Aktiengesellschaften hofften auf diese Weise dem Zugriff fremden Kapitals aus dem In- und aus dem Ausland entgehen und kollektive Formen der Arbeitsorganisation erhalten zu können.
Viele der damaligen Sowchosen oder Kolchosen, auch einige kleinere Industriebetriebe gingen diesen Weg. Die AOST Irmen, früher „Sowchose Bolschewik“, ist eine von ihnen, zugegeben, eine besonders erfolgreiche. Sie ist über die Grenzen der Nowosibirsker Region hinaus als Musterbetrieb bekannt und gilt als prinzipielles Beispiel für einen Weg zwischen früherem sozialistischen und heutigem marktwirtschaftlichen Management.
Irmen strahlt, man wagt es kaum zu sagen, eine Athmosphäre des Wohlstands und der Geborgenheit aus. Man wird von dieser Athmosphäre empfangen, sobald man die von Nowosibirsk kommende Trasse verlässt und den Anzeiger passiert hat, der verkündet, dass man sich nunmehr auf dem Gebiet Irmens bewegt: Eine gut ausgebaute Teerstraße führt ins Hauptdorf zur zentralen Verwaltung. Die Straße wurde zweifellos noch in der sowjetischen Zeit angelegt, aber im Unterschied zu anderen Orten, die auf die man in Russland treffen kann, malträtiert sie ihre Benutzer heute nicht mit unübersichtlichen Schlaglöchern; sie ist sogar besser erhalten als manche Straße in der Metropole Nowosibirsk. Das will in Sibirien etwas heißen, wo der Frost jedes Jahr tiefe Löcher in die Straßen reißt.
Je weiter man ins Gebiet Irmens vordringt, um so befreiter fühlt man sich: Fragen nach dem Weg beantworten die Menschen mit selbstbewusster Freundlichkeit. Man ist Besucher gewohnt; man freut sich über das Interesse; man identifiziert sich mit der Verwaltung, weist zuvorkommend den Weg zum „Chef“. Wer öfter russische Dörfer bereist, kennt ganz andere Empfänge.
Gänzlich überrascht ist man schließlich, wenn man das Verwaltungsgebäude erreicht; auch dieses ist natürlich ein Bau aus sowjetischen Zeiten, aber er ist frei von der Tristesse abblätternden Glanzes, von dem Besucher in vielen anderen ehemaligen Sowchos- oder Kolchoszentren empfangen werden, die heute dem Zerfall anheim gegeben sind. Kurz, wer das Gebiet von Irmen betritt, taucht in das Klima einer sozialen Gemeinschaft ein, die auch für Außenstehende attraktiv ist.
Direktor Juri Bugakow, der uns, das heißt, mich als ausländischen Gast und Freunde aus Nowosibirsk, in seinem geräumigen Büro empfängt, tut alles, um diesen Eindruck zu vertiefen. Bereitwillig stellt er sich unseren Fragen zur Geschichte und zum heutigen Stand von Irmen. Danach weist er seine Helfer an, uns auf dem Gebiet Irmens herumzuführen. Diese Führung wird eine aufregende Reise durch weites Gelände, zu den Betrieben, durch die Dörfer von Irmen, bei der wir mehrmals Schuhe, Kittel, Kopfbedeckungen und Himmelrichtungen wechseln müssen; zwischendurch werden wir auch noch fürstlich verpflegt.
Am Anfang müssen wir natürlich die Daten verarbeiten: Die Gemeinde „Irmen“ umfasst heute ca. 3500 Menschen in zwölf Dörfern. Sie ging aus mehreren Einzel-Kolchosen hervor, erstreckt sich über ein Gebiet von 23.000 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche und 18.000 Hektar Weideland. Die Felder liefern einen Ertrag von 35 – 50 Zentner Korn pro Hektar je nach Niederschlag. Für sibirische Verhältnisse liegt das weit über dem heutigen Schnitt. Auf der Hälfte des Weidelandes wird Heu geerntet. Die Agrargemeinschaft hält 6500 Köpfe Großvieh, davon 2300 Milchkühe, die täglich 156 Tonnen Milch abgeben. Dazu kommen 3000 Schweine, eine ausgedehnte Pelztierzucht und Wildtierpflege, die aus Abfällen im eigenen nahen Wald unterhalten wird. Eine Schlachterei, Bäckerei, Molkerei versorgt die Bevölkerung der zwölf Dörfer in einem eigenen Hof-Laden, dazu einen modern eingerichteten Supermarkt in Nowosibirsk mit ausgesuchten Milch- und Fleisch-Produkten und sonstigen Lebensmitteln. Sechs Schulen, ein zentraler Kindergarten, ein Kulturhaus, ein Theater, ein Krankenhaus, mehrere kleine Kapellen, eine zentrale Kirche gehören mit in das Bild.
Der heutige Musterbetrieb „Irmen“ ging aus der vormaligen Muster-Sowchose „Bolschewik“ hervor. Das Museum der bolschewistischen Mustergeschichte lässt Direktor Bugakow, seinerzeit als “Held der Arbeit“ ausgezeichnet, auch heute noch seinen Besuchern vorführen, allerdings nicht ohne Lenins Büsten, die Trikoloren der Revolution und einiges anderes auf dem Gang durch das Museum entstauben zu müssen. „Es war nicht alles schlecht, was wir vor Perestroika gehabt haben“, sagt er. Doch der Direktor ist kein Apparatschik alten Typs, der sich an Vergangenem festklammert. Er versteht sich als Manager eines Großbetriebes, der traditionelle Formen der Gemeinschaftswirtschaft mit marktwirtschaftlicher Orientierung verbinden will. Er versteht sich als Experimentator, der neue Wege zwischen Markt und Gemeinschaftswirtschaft sucht. Das macht ihn zum gefragten Gesprächspartner und Irmen zum Anziehungspunkt für viele Besucher.
„Irmen ist nicht einfach ein landwirtschaftlicher Großbetrieb“, erklärt Direktor Bugakow, „es ist ein Kombinat mit vielen verschiedenen Arbeitszweigen. Wir produzieren jeden Tag sechsundvierzig Tonnen Milch. Wir verarbeiten sie hier bei uns. Wir haben eine schwedische Anlage zur Weiterverarbeitung der Milch. Wir stellen heute zwölf verschiedene Milchprodukte her – Jogurt, Smjetana (eine Art Sahnequark K.E.), Quark, Kefir, sogar Kumis (alkoholisierte Stutenmilch, wie sie in der Mongolei viel getrunken wird – K.E.). Das verkaufen wir in Nowosibirsk. Wir verarbeiten aber auch eine große Menge Fleisch weiter. Wir stellen Mehl her und verkaufen es. Und um nichts wegzuwerfen halten wir auch noch die Wildtiere. Wir haben auch unsere eigene Ziegelei. Sie stellt sieben Millionen Ziegel im Jahr her. Wir bauen damit selbst und verkaufen obendrein zu günstigen Bedingungen in die Umgebung. Das heißt, alles was wir produzieren, verarbeiten wir auch selbst weiter. Über die Weiterverarbeitung hinaus haben wir eine Produktion für den Eigenverbrauch und unsere Handelsabteilung. Wir unterhalten dreizehn Geschäfte – einen Laden hier vor Ort, einen im nahen Bezirkszentrum Ordinsk und ein sehr gutes Geschäft in Nowosibirsk. In das Geschäft in Nowosibirsk haben wir viel Geld investiert; es ist mächtig, schön, liegt mitten im Zentrum der Stadt, es ein Teil unserer Wirtschaft. Es heißt auch „Irmen“, direkt am Zentralen Markt. So also ist es: Produktion, Weiterverarbeitung und Handel, das heißt, wir lösen alles selbst, es ist ein Komplex.“
So weit, so unspektakulär, könnte man meinen. Dies alles könnte ja auch die bloße Wiederholung der Sowjetstrukturen unter neuem Kommando oder einfach nur Ergebnis früherer Privilegien sein. Aber so ist es nicht: Das Geheimnis des aktuellen Wohlstandes liegt, wie man von Direktor Bugakow, ebenso wie von den Beschäftigten in den Betrieben und den Dorfbewohnern erfahren kann, in einer günstigen Kombination von traditionellen Sowchostrukturen und Modernisierung, in der Verbindung von Gemeinwirtschaftsproduktion und persönlicher Interessiertheit, garantierter Privatheit bei gleichzeitiger paternalistischer Führung: Dabei ist die Organisation unmissverständlich: Das Kontrollpaket von 51% liegt in der Hand von Juri Fjodorowitsch Bugakow, die restlichen 49% sind auf fünfzig Mitaktionäre verteilt, Kapital-Einlagen von außerhalb gibt es nicht. Damit sind die Entscheidungsbefugnisse für den Zweifelsfall klar: Wenn es hart auf hart kommt, hat der Direktor das letzte Wort.
Demokratisch im Sinne westlichen formaldemokratischen Verständnisses ist das nicht. Darauf angesprochen, erklärt der Direktor, dass er sich die ihm zustehende Dividende nicht auszahlen lasse; er habe sogar einen Zusatz-Vertrag unterschrieben, daß die ihm jährlich zustehende Summe für die Modernisierung und den Ausbau der sozialen Infrastruktur von „Irmen“ eingesetzt werden solle. Das geschehe auch in seinem eigenen Interesse, denn schließlich lebe er in Irmen und gedenke auch dort zu sterben. Zweitens sei er trotz seines Anteils von 51% gewählt und seinem Aktionärs-Rat verantwortlich. Wenn der Rat nicht hinter ihm stehe, könne er gar nichts bewirken. Drittens könne er „heutzutage“ so oder so nicht kommandieren, sondern müsse die Mitarbeiter wirtschaftlich und ideell motivieren, müsse sein Team von der Richtigkeit seiner Vorschläge überzeugen.
Dies alles erklärt er uns locker, freundlich, sichtbar interessiert, den Weg Irmens als möglichen Weg aus der russischen Transformationskrise auch im Westen in die Diskussion zu bringen. „Bei Ihnen ist ja auch nicht alles Gold, was glänzt“, lacht er, „besonders in der Landwirtschaft. Da werden ja auch neue Wege gesucht.“
Nur eine Frage beantwortet er nicht, nämlich wie es zu der Aufteilung der Aktienmehrheiten in 51% für den Direktor und 49% für die Betriebsgemeinschaft kam. Auch von den Mitgliedern der Irmen-Gemeinschaft ist dazu nichts zu erfahren. Diesen Vorgang möchten sie ganz offensichtlich lieber im Dunkel der Privatisierungsgeschichte verschwinden lassen. In anderen Betrieben, lassen sie wissen, möge das ein Problem sein, Ihnen reiche es zu wissen, dass ihr Direktor seine 51% nicht missbrauche. Beim Stand dieser Auskünfte ließen wir unsere weiteren Nachforschungen auf sich bewenden. Die Tatsachen machen deutlich genug, dass Perestroika, Privatisierung und darauf folgende Reorganisation der russischen Wirtschaft zwischen Plan und Markt noch nicht mit der Einführung einer gerechteren Gesellschaft verwechselt werden dürfen. Sie repräsentiert nur einen möglichen Schritt dorthin.
Die Mehrheit der übrigen Aktienbesitzer seien seinem Beispiel gefolgt, erklärt der Direktor weiter. Auch sie legten ihr Dividenden in Investitionen an. Sie könnten das, weil das Lohnniveau in „Irmen“ vergleichsweise hoch, das Niveau der Lebenshaltungskosten dagegen extrem tief liege – nicht zuletzt deshalb, weil jede Familie im Gebiet Irmens, wie ich auf einem Rundgang mit eigenen Augen sehen könne, selbst diejenigen, die nicht im Betrieb, sondern außerhalb Irmens im Distrikt oder gar in Nowosibirsk arbeiteten, einen eigenen Hof-Garten besäßen, in dem sie ihre eigene ergänzende Familienwirtschaft betrieben – also die zusätzliche Versorgung der eigenen Familie durch Kuh, Schwein und Kleinvieh sowie ausgedehnten Obst-, Frucht- und Gemüseanbau, zusätzlich sogar auch noch Blumen. „Sie werden selbst sehen“, schließt der Direktor, „dass manche Familie ihre eigenen Produkte sogar noch an den Gesamtbetrieb weiterverkauft.“
Perestroika, meint Direktor Bugakow, habe prinzipiell nicht viel verändert: Arbeiten müsse man immer noch. Die Umwandlung von „Irmen“ in eine AOST habe aber spürbar zu einer größeren Interessiertheit der früheren Kolchosmitglieder an den Arbeitsergebnissen geführt – bei den einen als Besitzer von Aktien, denen seit Jahren steigende Dividenden zuflössen, bei den anderen als Bezieher von Löhnen, die sie in die Lage versetzen, sich einen steigenden Lebensstandard zu leisten. „Irmen“, auf diese Feststellung legt Chef Bugakow besonderen Wert, existiere ohne staatliche Subventionen und ohne Kredite; er dulde aber auch keine Bartergeschäfte, also wilde Tauschpraktiken, wie sie sonst in weiten Teilen des Landes als Folge der Krise üblich seien. „Barter“ so Bugakow, „macht auch den ehrlichsten Menschen zum Gauner. Es bringt nur Verwirrung. Bei uns gibt es nur klaren Geldverkehr. Wir haben genügend flüssiges Kapital, um uns selbst zu finanzieren und uns unabhängig zu machen von den irrsinnigen Krediten, die heute verlangt werden.“ Wer sich darauf einlasse, so Bugakow, komme nie auf einen grünen Zweig.
So scharf Juri Bugakow hier die Prinzipien des Marktes betont, wenn es um die Arbeit auf den Feldern oder in den Betrieben und um den Handel zwischen den Dörflern und der AOST Irmen als Produktionsgemeinschaft geht, so bewusst setzt er andererseits auf die Nutzung der nicht-kapitalistischen gewachsenen Traditionen: Die AOST „Irmen“ ist nicht nur kollektiver Arbeitgeber, sie übernimmt auch – bewusst gegen den Trend einer allgemeinen kommunalen Verwahrlosung, ja, gegen die heute von Moskau betriebene Monetarisierung der betrieblichen und kommunalen Fürsorgestrukturen – die Kosten und die Verantwortung für Erhalt und Ausbau der infrastrukurellen, der sozialen und der kulturellen Versorgung ihrer Ortschaften. In Juri Bugakows eigener Schilderung der aktuellen Situation in Irmen klingt das so: „Die Wohnungen“ – er spricht von denen, die neu gebaut werden – „sind mit allem kommunalen Komfort ausgestattet: Da gibt es Gas, da gibt es ständig heißes Wasser, da gibt es kaltes Wasser, schlicht, es gibt allen kommunalen Komfort, den es geben muss.“ Diese Leistungen, erklärt er, werden als geldlose Vergütung für geleistete Arbeit, bzw. für diejenigen, die nicht in der Gemeinschaft, sondern außerhalb arbeiten, zu besonders günstigen Konditionen gestellt. „Darüber hinaus“, fährt er Direktor fort, „gibt es in den Dörfern eigene Gärten, eigene kleine Landstücke. Man hat dort außer dem allgemeinen Einkommen die Möglichkeit, ein ergänzendes Einkommen aus der eigenen Wirtschaft zu beziehen. Darauf können wir zur Zeit nicht verzichten.“
Was Direktor Bugakow zunächst als vorübergehenden Mangel formuliert, entpuppt sich bei näherem Nachfragen als bewusst angewandtes Prinzip: Es gehe nicht nur um den Garten, erklärt er, es gehe überhaupt um „persönliche Wirtschaft“, um „ergänzendes Einkommen“. „Da gibt es außer dem Garten auch noch die Tierhaltung: Kühe, Schweine, Hühner usw. Warum? Nun, in den letzten Jahren haben sich die Bedürfnisse der Menschen rasant erhöht. Früher war es so, dass man nur sehr wenig Geld verdiente und für das wenige auch noch wenig kaufen konnte. Es gab weniger gute Dinge, weniger Importware oder es gab sie überhaupt nicht. Jetzt gibt es in unseren Läden alles. Hier am Ort und auch in Nowosibirsk nur siebzig Kilometer von hier. Alle haben natürlich ein eigenes Auto und man hat kein Problem, mal eben nach Nowosibirsk zu fahren. Maximum eine Stunde und du bist im besten Geschäft von Nowosibirsk. Seit die Möglichkeit besteht, zu kaufen, was man möchte, haben sich auch die Ansprüche erhöht: Heute hat man ein Auto, morgen will man zwei haben; man hat es heute gut zu Hause, man will es noch besser haben; der Nachbar ist irgendwohin gefahren, um sich zu erholen, da will man auch hin. Man hat es auch nötig, sich zu erholen. Für all das braucht man Geld. Zunächst hat das die Arbeit generell stimuliert in unserer kollektiven Wirtschaft: Es gibt die Möglichkeit Geld auszugeben – also wuchs das Bedürfnis mehr zu verdienen. Und so gibt es heute Leute bei uns, die wirklich sehr gut verdienen. Das sind die Mechaniker, die das Korn auf den Feldern ernten, das sind die Beschäftigten, die tierische Produkte und Fleisch produzieren. Weniger verdienen diejenigen im Dienstleistungsbereich, welche die ganze Wirtschaft versorgen. Warum bekommen die weniger? Das machen wir bewusst so: Diejenigen, welche auf dem Feld arbeiten, haben weniger Zeit, sich mit der persönlichen Wirtschaft zu befassen. Auch jene, die mit den Tier- und Fleischprodukten zu tun haben, haben wenig Zeit dafür. Aber die, die im Dienstleistungsbereich arbeiten, ihre geregelte Tageszeit haben, haben zwar ein geringeres Einkommen, aber sie haben die Möglichkeit, sich noch mit der eigenen Wirtschaft zu befassen. Sie haben zwei, drei Kühe, Schweine, Hühner – und nicht nur für die eigene Familie, sondern auch, um sie zu realisieren, um sie zu verkaufen. Sie haben es dabei nicht einmal nötig, zum Markt zu gehen, da wir eine eigene Weiterverarbeitung hier in unserer Gesellschaft haben, wir stellen fünfunddreißig verschiedene Fleischprodukte her, von der Grundversorgung bis zu Delikatessprodukten. Das heißt, man zieht sein Tier auf, bringt es her, kriegt sein Geld und weitere Fragen gibt es nicht. Das ist also wirklich sehr bequem. Das ist die Antwort, warum wir heute die eigene Wirtschaft zusätzlich zur kollektiven halten.“
Bereitwillig werden wir durch die Betriebe der AOST Irmen geführt: die Molkerei, in der mit soeben neu erworbener schwedischer Maschinerie hochwertige Milch-, Käse- Jogurtprodukte hergestellt werden; selbst der Kumis, sonst nur in der Mongolei zu bekommen, ist genießbar. Wir dürfen von allem nach Herzenslust kosten und werden darüber hinaus auch noch mit überreichlich Wegzehrung versehen. „Wir machen alles ohne chemische Zusatzstoffe“, wird uns wiederholt stolz erklärt, „nach neuestem Stand der biologisch orientierten Ernährungswissenschaft und mit regelmäßigen Kontrollen.“
In der Tierhaltung bemüht man sich, die in der Sowjetzeit üblich gewordene Masseneinpferchungen zu durchbrechen: Jungtiere werden in gut ausgestreuten Einzelboxen gehalten, die Milchkühe nach Möglichkeit auf die Weide getrieben und draußen gemolken. Fleischerei, Bäckerei, Ziegelei, Kindergarten, Kulturhaus, die im Bau befindliche neue Kirche – alles können wir ausführlich besichtigen. Wir dürfen reden mit wem wir wollen, worüber wir wollen, Ton- und auch Videoaufnahmen machen. Unsere Fragen werden beantwortet, so unbequem sie auch sein mögen: Fühlen die Menschen sich heute freier als zu sowjetischen Zeiten? Haben sie mehr Möglichkeiten. Können sie selbst über ihr Leben bestimmen? Die Antworten fallen sehr individuell aus: die einen loben den Chef, die anderen den Verdienst, die dritten wissen zu schätzen, dass ihnen Freizeit genug bleibt, ihren Garten zu richten. Kritik an den Arbeitsbedingungen hält niemand zurück: Die Maschinen – bis auf die Molkerei – könnten moderner, effektiver sein, die Arbeitszeit könnte kürzer sein. Aber man fühlt sich gut und gerecht entlohnt, immer mit dem Zusatz, dass man ja auch noch den eigenen Hofgarten zur Bewirtschaftung habe und die infrastrukturellen und sozialen Leistungen der Gemeinschaft teils kostenlos, zumindest aber zu sehr günstigen Bedingungen in Anspruch nehmen könne, wenn man das mit der Stadt oder mit anderen Orten vergleich, die nicht einen solchen Weg gingen wie Irmen. Man ist stolz an dem „Experiment Irmen“ teilnehmen zu können. Woanders als in Irmen zu leben, mag niemand der Gefragten sich vorstellen. „Wir haben hier alles, was ein Mensch heute braucht“ und wenn wir mehr brauchen, hindert uns niemand, in die Stadt zu fahren..
Eine Rundfahrt durch die Dörfer, Gespräche über den Zaun und Blicke in Küchen und Gärten bestätigen Direktor Bugakows Darstellung und das Stimmungsbild in den zentralen Betrieben Irmens ohne Einschränkung: Kein Haus ist ohne Wasser, ohne Strom oder ohne eine auch in den Schlammmonaten des Frühjahrs und des Herbstes benutzbare Zufahrt; selbst die alten Holzhäuser sind an die Versorgungsnetze angeschlossen. Menschen, die nicht in Betrieben oder auf den Feldern der AOST arbeiten, loben die Organisation, die es möglich mache, die Lohnarbeit in der Umgebung, dem nahen Bezirkszentrum oder gar in Nowosibirsk mit der durch einen eigenen Hofgarten im Rahmen Irmens garantierten Selbstversorgung zu kombinieren. „Wir sind keine Krösusse“, sagt ein knorriger Alter, „aber wir fühlen uns gut, wir fühlen uns sicher.“ Dabei zeigt er auf das nicht weit entfernt liegende Krankenhaus, das von der AOST Irmen betrieben wird. „Wenn wir Probleme haben, können wir jederzeit da hin gehen. Wo hat man so was sonst noch heutzutage.“ Kritischen Fragen begegnen auch die Dörfler ungezwungen: Ja, natürlich, mit einem anderen Chef wäre es anders – aber wo, bitte sehr, sei das nicht so?!
Wie sehr die Kombination von gemeinschaftlicher Produktion und familiärer Selbstversorgung in Irmen als prinzipieller Weg verstanden wird, offenbart sich in besonderer Weise auch in den seit der nach-sowjetischen Wende angelegten Neubaugebieten: Die neuen Häuser, obwohl heute nicht aus Holz gezimmert, sondern aus Stein gemauert und entlang geteerter Straßen mit Kanalisation angelegt, sind in ihrem Grundriss den traditionellen Hofanlagen vollkommen angepasst: Vorn an der Straße steht das Wohnhaus, dahinter liegt ein Garten mit gemauerten Stallungen für die eigene Kuh, für Schafe, Schweine und Kleintiere jeglicher Art. Diese Häuser bieten Raum genug für eine Drei-Generationen-Familie, ggflls. auch für zwei allein erziehende Frauen, die mit ihren Kindern zusammenwohnen. Familien, wie immer sie zusammengesetzt sind, können sich auf diese Weise zusätzlich zu ihrem Lohneinkommen, aus dem sie auch die Kosten für das Haus und seine Versorgung mit Gas, Wasser, Strom, Straße usw. aufbringen müssen, ihre Grundversorgung auf eigenem Boden organisieren.
Früher wurden die Unkosten für Haus und Garten gänzlich aus dem Vergütungsfond der Gemeinschaftswirtschaft getragen; heute müssen sich die Familien an den Unkosten für Haus und Garten beteiligen, sofern sie nicht, was offenbar auch möglich ist, das Haus ganz privatisiert haben. Hier zeigt sich die Symbiose zwischen den kollektiven Strukturen der gemeinsamen und der eigenen privaten Wirtschaft, in der die eine Seite die andere nicht nur stützt, sondern überhaupt erst möglich macht. Die Grenzen zwischen ihnen fließen. Was als Protestlösung, als Übergang begann, wird zur Dauereinrichtung, ja, zum Modell, wenn auch mit erkennbaren Schönheitsfehlern: Die Position des Mehrheitsaktionärs erlaubt dem Direktor Entscheidungen gegen den Rest der Gemeinschaft durchzusetzen. Ein sozial rücksichtsloser Direktor kann eine solche AO auf dieser Grundlage privat ausbeuten; und tatsächlich gibt es mehr als einen Fall, in dem Direktoren früherer Sowchosen oder Kolchosen sich deren Mitglieder als abhängige Lohnarbeiter, tendenziell sogar Tagelöhner abhängig machen. Das System Irmen steht und fällt mit dem Vertrauen in eine am Wohl des Gesamten interessierten Leitung. Andererseits wird ein mit gesunden Egoismus ausgestatteter, aber langfristig denkender Direktor keine Entscheidungen treffen, die das – zumeist geringe – Kapital aus der AO heraus zieht, um es privat zu konsumieren, weil er sich damit auf Dauer die eigene Existenz zerstört. Er wird Interesse an einer Re-Investition der Profite haben, wenn es Profite gibt. Wenn es keine gibt, wird er darauf drängen, die Arbeit zu intensivieren, um die Erträge zu steigern und Geld für Investitionen wie für die Versorgung der AO zu gewinnen, er wird aber kein Interesse daran haben, den Arbeitstag seiner AO-Mitglieder über die Maßen auszudehnen, weil er ihnen – wiederum im eigenen Interesse – Raum lassen muss, ihre Gärten- bzw. Garten-Hof-Wirtschaft zu betreiben – wenn er sie nicht in Ware entgüten oder mit Geld entlohnen kann. Die Mitglieder der AO sind ihrerseits an einer Leitung interessiert, die Eigeninteresse und Interesse an der Effektivität des Betriebes miteinander verbindet, ohne sich die Familienwirtschaften einzumischen. So ist beiden Seiten geholfen.
Als Vorsitzender der Bezirksagrarkommission ist Juri Bugakow anerkannter Berater in der Region: Zusammen mit der Regionalen Agrarkomission von Nowosibirsk, hat er ein Netz sogenannter Basiswirtschaften entwickelt, in dem die Erfahrungen mit der Organisationsform von „Irmen“ weitergegeben werden. An einem Betrieb pro Bezirk werden die Erfahrungen von „Irmen“ für die anderen Wirtschaftseinheiten des Bezirks demonstriert. In Versammlungen werden die Ergebnisse beraten, wer Hilfe braucht, kann Unterstützung bekommen. „Es geht nur langsam“, meint Juri Bugakow“, „aber hier und da wächst inzwischen etwas heran.“
Zusammen mit der Vereinigung „Sibirische Übereinkunft“, welche offizielle und inoffizielle Machtträger aller sibirischen Regionen vertritt, und dem Russischen Unternehmerverband., der MARP, versucht man zudem, die agrarisch orientierten Basiswirtschaften mit örtlichen Industrien zu „Komplexwirtschaften“ zusammenzuführen. Auch hierbei wird mit marktwirtschaftlichen Methoden an alten Vorstellungen aus der Sowjetzeit angeknüpft.
Juri Bugakows „Irmen“ ist auch ein Beispiel für das, was Professor Theodor Schanin, einer der russischen Ökonomen, die heute die neuen sozialen Strukturen untersuchen, welche sich aus der Privatisierung in Russland ergeben, als „extrapolare Ökonomie“ beschreibt: Eine Mischung aus kollektiver und privater, dirigistischer und selbstbestimmter, sozialistischer und marktwirtschaftlicher Produktion und Lebensweise. Sicher: Irmen ist ein wohlhabendes Beispiel, vielleicht eine Ausnahme, könnte man einwenden. Als ehemalige Mustersowchose brachte Irmen beste materielle Voraussetzungen mit, den Sprung zu schaffen. Aber dem ist erstens die bemerkenswerte Tatsache entgegenzuhalten, dass es eben gerade eine ehemalige Mustersowchose ist, die diesen Schritt zur Symbiose von traditioneller Gemeinwirtschaft und Marktorientierung schafft. Schwächere Gemeinschaftsbetriebe sind an der Privatisierung zerbrochen; zweitens kann man in Russland inzwischen auch anderswo vergleichbare Strukturen finden. Keineswegs alle stehen ökonomisch auf dem hohen Niveau wie „Irmen“; manche dümpeln auf einem sehr niedrigen Niveau der sozialen Versorgung wie auch des persönlichen Konsums, nicht wenige liegen sogar im Elend. Die innere Struktur, die den einen ein gutes Leben ermöglicht, den anderen aber trotz Krise immerhin noch das Minimum eines sozialen Rahmens und den Erhalt der physischen Existenz, ist jedoch die gleiche: Eben die die Symbiose von kollektiver Bewirtschaftung mit Formen der ergänzenden familiären Subsistenzwirtschaft, die selbst in der Krise ein Minimum an wirtschaftlichem und sozialen Zusammenhang erhält. Unter günstigen Umständen garantiert sie ein Maximum an individueller Bewegungsfreiheit in der Gemeinschaft. Das mussten sogar unsere Begleiter aus Nowosibirsk eingestehen, obwohl sie als eingefleischte Städter nichts vom Landleben halten. Aber auch sie, das muss gesagt werden, gehören zu den 60% der russischen Bevölkerung, die von den zusätzlichen Einkünften ihrer Datscha leben, die sie draußen vor den Toren der Stadt unterhalten. Vor diesem Hintergrund darf man wohl den russischen Forschern zustimmen, die wie Alexander Nikulin, ein jüngerer Mitarbeiter Theodor Schanins, in der Kombination von „persönlichem Familiärem und grossem Kollektivem“, das sich zur Zeit in Russland spontan herausbilde, einen „sehr perspektivreichen Weg“ sehen und Wissenschaftler sowie Politiker auffordern, über diese neuen sozialen Strukturen nachzudenken, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen realen Entwicklung zu geben.
Drei Dinge möchte ich am Schluss noch anmerken:
Erstens: Selbstverständlich unterscheiden sich die heute in Russland bestehenden Gemeinschaften von Betrieb zu Betrieb, von Ort zu Ort, mehr noch: von Direktor zu Direktor und von Kollektiv zu Kollektiv. Das ist wichtig festzuhalten: Verantwortliche persönliche Beziehungen sind wesentlich für dieses Modell, ohne die es nicht wirken kann. Das zweite ist: Wenn es darum geht, aus der sowjetischen Vergangenheit zu lernen, dann muss klar sein, dass die beste sozio-okonomische Ordnung nichts taugt, wenn sie per Zwang und Gewalt hergestellt, aufrechterhalten oder fremden Verhältnissen aufgepfropft wird wird. Als Drittes möchte ich meiner Überraschung und Freude darüber Ausdruck geben, dass in der Debatte um diesen Vortrag, intensiver und noch viel lebendiger als erhofft, Parallelen aus der Geschichte der DDR und aus der Lage im heutigen Ostdeutschland zutage traten, die zeigen, dass hier im Interesse der Entwicklung einer solidarischen Ökonomie noch viele Probleme zu lösen, aber noch mehr Schätze zu heben sind. Wer sich dafür interessiert, möge sich bei mir melden.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Was ist das Russische an Russland? Geschichte und Aktualität des russischen Korporativismus

Einführung: Fakten statt Klagen

Seit dem letzten Bankenkrach im Sommer 98 gehören Klagen zum Standard, wenn von Russland die Rede ist. Dieses Ritual soll hier nicht wiederholt werden. Auch Kritik an der Russlandpolitik des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist inzwischen üblich. Daran gilt es allerdings zu erinnern, denn, kaum erhoben, scheint sie schon wieder in Vergessenheit zu geraten. Horst Köhler war es, der Präsident der Osteuropabank, der zur Jahrestagung des IWF, welcher dem Bankenkrach folgte, öffentlich erklärte, der Fond müsse von dem Versuch wegkommen, Russland per Kreditversprechen westliche Vorstellungen aufzwingen zu wollen. Der Westen müsse stattdessen an den traditionell gewachsenen Strukturen des Landes anknüpfen, wenn er an einer Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft in Russland interessiert sei. Bundeskanzler Gerhard Schröder schloss sich diesen Ausführungen bei seinem Antrittsbesuch in Moskau an.
D´accord! Das sind Forderungen, die von einsichtigen Beobachtern seit Beginn der Perestroika, noch mehr seit Boris Jelzins Übergang auf die Schocktherapie 1991/2 erhoben werden. Gut, dass diese Einsicht nun auch in Finanz- und Regierungskreisen formuliert wird. Wie aber weiter?
Welcher Art sind die gewachsenen Strukturen, an denen angeknüpft werden soll? Darüber hört man nur wenig. Genau darüber aber muss jetzt gesprochen werden. Es geht, um es vorweg zu sagen, um Russlands korporative Grundordnung. Sie zu verstehen, ist Voraussetzung jeder Erneuerung deutscher Politik in Russland und darüber hinaus im nachsowjetischen Raum.
In sieben Schritten wird sich der folgende Essay diesem Thema nähern:
1. Geschichte des Korporativismus. 2. Etappen der Modernisierung.  3. Das sowjetische Modell vor Perestroika. 4. Gescheiterte Entkollektivierung. 5. Restauration als Alternative? 6. Autoritärer oder demokratischer Weg? 7. Aussichten auf eine andere Russlandpolitik.

1.    Bedingungen und Geschichte des russischen Korporativismus

Russland ist – entgegen weitverbreiteter Vorstellungen – nicht Europa. Es ist der Durchgangsraum zwischen Asien und Europa. Es ist aus den großen Völkerbewegungen entstanden, die im Lauf der Geschichte vom Osten des euroasiatischen Raums nach Westen und vom Westen nach Osten, zwischen Pazifik und Atlantik hin und her fluteten. Das waren die Hunnen kurz nach der Zeitenwende bis zum Höhepunkt ihres Sturms unter Attila im fünften Jahrhundert, das waren die Mongolen im dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, danach noch einmal die Türken. In der Gegenbewegung, immer wieder von Westen nach Osten, der Deutschritterorden, die Russen selbst,  Napoleon, zuletzt Hitler.
Russland, die Sowjetunion, heut wieder Russland ist die Vielvölkerordnung, die sich aus diesen Völkerbewegungen herausbildete. Das russische Imperium entstand in der europäischen Gegenbewegung zum mongolischen Weltreich, im Zuge eine Kolonisation, die den mongolischen Einfluss Schritt für Schritt – einmal kämpfend, einmal in geschickter Bündnispolitik – nach Osten zurückdrängte, dabei aber die Raumordnung der Mongolen, ihre Herrschafts- und zu geringeren Teilen auch ihre Sozialstruktur, insbesondere deren nomadische Elemente, als Eigenes adaptierte, transformierte, integrierte.
Im Jahrhunderte langen Mit- und Gegeneinander, in wechselnden Bündnissen, in Kriegen, Revolten und Kämpfen ging vor allem die mongolische Gefolgschaftsordnung auf das russische Imperium über. Das bedeutet im Wesen: Völker, Stämme, auch Fürsten ordnen sich der Zentralgewalt unter, welcher sie den Zehnten als Tribut zahlen und der sie Heeresfolge leisten. Im Übrigen können sie nach ihren eigenen Traditionen und Gesetzen unter eigener Führung leben. So wie vorher der Groß-Chan, wurde der Moskauer Groß-Fürst, später der Selbstherrscher aller Reussen, der Zar, zur Klammer, welche die vielen verschiedenen Völker, Kulturen und Gegenden des euro-asiatischen Raumes verband, während die Menschen in den Weiten des Landes nach eigenen Vorstellungen lebten.
Russland ist auch klimatisch nicht Europa. Russland erstreckt sich über sieben Zeit-, dazu von Norden nach Süden über nahezu sämtliche Klimazonen, vom Polargebiet bis zur Hitzewüste, in denen völlig unterschiedliche Bedingungen für Ackerbau, Viehzucht und menschliche Lebensführung bestehen. Darunter bilden solche, wie wir sie aus Europa kennen, den kleinsten Teil. Entsprechend unterscheiden sich die Wirtschaftsräume Russlands voneinander. Das alte Moskau hat es nie geschafft, diese ungleichzeitigen Entwicklungen zu egalisieren. Erst der Sowjetunion gelang es, die unterschiedlichen Entwicklungen über eine gewisse Zeit und in einem beschränkten Maße zu vereinheitlichen. Das hat gewaltige Entwicklungskräfte freigemacht; genau daran ist die Union aber auch, nachdem sie ihre Schuldigkeit als Anschubmotor getan hatte, auseinandergebrochen.
Unter all diesen Bedingungen entwickelte sich die besondere Struktur des russischen Imperiums, der Sowjetunion, geografisch, ökosozial, mental: Das Zentrum als politische Klammer – vor Ort die korporative Einheit.
Diese Einheit war das Volk, das Fürstentum, der Stamm, die Kultur- oder Religionsgemeinschaft, die Stadt und schließlich das Dorf, alles in vielfacher Weise einander überlagernd. Im Dualismus von Zar und Dorf – oder an Stelle des Zaren: Kirche, Gutsherren – fand diese Grundordnung schließlich ihre institutionelle, staatstragende Grundform. Die Dorfgemeinschaft war die Verwaltungseinheit des Zarismus, sie hatte entsprechend der Anzahl der in ihr gemeldeten „Seelen“ Steuern und junge Männer für den Kriegsdienst abzuführen. Im Übrigen war sie für ihre wirtschaftliche Entwicklung und ihre inneren Verhältnisse selbst verantwortlich. Nach außen wurde die Gemeinschaft durch den Dorfältesten vertreten. Dessen Entscheidungen waren, war er einmal gewählt, widerspruchslos hinzunehmen; nach innen genoss sie Selbstverwaltung. Innerhalb der Gemeinschaften wurden Entscheidungen, wir würden heute sagen, basisdemokratisch auf Grundlage einer gemeinschaftlichen Eigentumsordnung in einer Mischung aus Konsens- und Mehrheitsprinzip getroffen. Die wichtigste Einrichtung war dabei die regelmäßig für jede Generation neu in öffentlicher Versammlung vorgenommene Umverteilung des Gemeineigentums. Dabei wurde das Land nach Zahl der Köpfe an die einzelnen Familien des Ortes zur zeitlich begrenzten Nutzung übergeben. Auch dies vollzog sich in öffentlicher Versammlung und durch Zuruf.
In dieser Herrschaftsform, der Verbindung von absoluter Selbstherrschaft mit selbstverwalteter Dorfgemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe, fanden sich die Grundzüge der mongolischen Tribut- und Gefolgschaftsordnung wieder, einschließlich der Jurten- bzw. Hordendemokratie, angewandt auf eine sesshafte Dorfkultur. Charakteristikum der mongolischen Ordnung war ja ebenfalls: langes basisdemokratisches Palaver, Entscheidungen in einer Mischung aus Konsens- und Mehrheitsprinzip, nach der Entscheidung aber unbedingter Gehorsam gegenüber dem gewählten Führer.
Diese Form der Herrschaft war für die Moskauer Zaren äußerst
bequem, garantierte sie ihr doch den direkten Zugriff auf Finanzen und Truppen – ohne dass sie sich um die Entwicklung vor Ort weiter kümmern musste. Die Dörfer hatten umgekehrt die Gewissheit, unter dem Schutz des Zaren zu stehen, ohne nach fremden Traditionen und Gesetzen leben zu müssen. So war beiden Seiten gedient: dem Zentralismus und der Demokratie, ja, Anarchie, Anarchie im Sinne selbstbestimmter, von unmittelbarer Herrschaft abgeschirmter Räume. In dieser Doppelstruktur entwickelte sich das russische Imperium.
Es hatte damit einen Weg eingeschlagen, der sich klar von den Entwicklungslinien im westlichen Europa, aber auch in Asien unterschied, wo die gemeineigentümliche, selbstverwaltete Bauerngemeinde schon früh in den feudalen Strukturen der Lehnsordnungen verschwand. In Russland dagegen wurde diese Bauerngemeinde zur Grundzelle gesellschaftlichen Seins, zur Grundeinheit staatlicher Verwaltung, ja, insofern die mit dem Zaren verbundene Kirche sie als gottgewollt absegnete, zur moralischen Grundeinheit. Aber nicht nur das: Festgeschrieben durch Verordnungen aus dem 15. Jahrhundert, war dem Bauern verboten, sein Dorf zu verlassen.  Zur gleichen Zeit, als im Westen die Leibeigenschaft tendenziell überwunden wurde, geriet die Landbevölkerung Russlands in einen sozialen Status, für den es im Westen nicht einmal einen Begriff gibt: Die Bauern wurden selbstverwaltete Leibeigene, klar gesagt also, Hörige, Sklaven, die nach Willkür des Zaren oder seiner Stellvertreter verschenkt, verkauft oder bis aufs Blut ausgesaugt und gepeinigt wurden – dies alles aber, während sie zugleich  unter basisdemokratischen, urkommunistischen Verhältnissen der Selbstverwaltung und gegenseitiger Hilfe lebten. Dies brachte unter anderem solche Paradoxien hervor wie den sogenannten „Obrok“-Bauern. Er war eigener Unternehmer im Dorfe und doch Leibeigener. Manche dieser leibeigenen Dörfler wurden bei der auch in Russland allmählich einsetzenden Industrialisierung später sogar zu reichen Dorffabrikanten, die ihrerseits Mitbewohner und -bewohnerinnen des Dorfes als hörige Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigen konnten.

2.    Modernisierungsschübe

So bequem die duale Grundstruktur: Zar – Dorf, Zentrum – Region für den Moskauer Hof auch war, barg sie doch einen Widerspruch, der immer wieder zu Entwicklungsstörungen führte: Da er für die innere Entwicklung der Dörfer nicht verantwortlich war, neigte der Zar, neigten Adel und Kirche zu deren rücksichtsloser Ausbeutung. Die Ignoranz gegenüber den Notwendigkeiten des Dorflebens führte immer wieder  – sich tendenziell steigernd – zu gefährlicher Verelendung der Landbevölkerung. Hungerkatastrophen, Krisen und Revolten auf dem Lande waren die Folgen. Immer wieder versuchten Dörfer, ganze Regionen, die oft auch mit Volksgruppen identisch waren, sich von der Zentralgewalt loszumachen. Aber niemals kam es dabei zu Revolutionen, welche die Grundkonstellation der Herrschaft, die von Zentrum und lokaler Gemeinschaft nämlich, in Frage gestellt hätten. Die radikalsten Revolten wie der Aufstand des Stenka Rasin 1670 oder der des Jemeljan Pugatschow 1773-1775 kamen nicht über die Perspektive hinaus, an die Stelle eines unfähigen Zaren einen fähigeren setzen zu wollen.
Auch mit Reformen von oben gelang es nicht, den Bann zu brechen, obwohl dies – beginnend mit Peter I. nach den verheerenden Revolten des Stenka Rasin – immer wieder und immer öfter versucht wurde. Eine ganze Kette von Modernisierungsschüben zeugt von diesen Ansätzen.
Peter I., der sogenannte Große, versuchte das Problem von der urbanen Seite aus zu lösen. Er importierte bürgerliches westliches Know How, implantierte eine nach westlichen Standards produzierende Kriegsindustrie, ging in frontale Konfrontation mit den Traditionen verschlafener Selbstgenügsamkeit in der herrschenden Schicht, rekrutierte junge Männer aus den Dörfern für langandauernde Eroberungskriege. Den Grundkonflikt zwischen Zar und Dorf aber erkannte er noch nicht, zumindest packte er ihn nicht an. Er nutzte die bestehenden Beziehungen von Zar und Dorf vielmehr dafür, den ersten Industriellen zu ermöglichen, ganze Dörfer zu kaufen, um deren Bewohner in Fabriken als Leibeigene arbeiten zu lassen.
Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte Zar Alexander II., dass die Leibeigenschaft der Bauern, damals 80% der Bevölkerung Russlands, sich zum unüberwindlichen Hemmnis für die Modernisierung des Landes entwickelt hatte. 1861 erklärte er die Bauern daher zu freien Bürgern. Damit war die Einheit von Zar und Dorfgemeinschaft von oben gekündigt. Jeder Bauer sollte fortan eine eigene juristische Person sein, selbst verantwortlich für sein eigenes Leben. So wollte Alexander II. einerseits Arbeitskräfte für die explodierende industrielle Entwicklung Russlands freisetzen, andererseits einen kräftigen Stand privat wirtschaftender Bauern schaffen.
Es kam aber anders: Indem Alexander die Dorfgemeinschaften zu den Organisatoren der Landverteilung machte, welche mit der Befreiung verbunden war, geschah das Unerwartete: Die Bauern, selbst diejenigen, die vorher die Dörfer verlassen hatten, um Arbeit in den Fabriken zu suchen, strömten in die Dörfer zurück, um bei der Landverteilung berücksichtigt zu werden. Die Dorfgemeinschaften, statt aufgelöst zu werden, wurden in diesem Prozess zur bestimmenden Kraft. Nur war der Zar, war der Adel, war die Kirche von nun an der Pflicht zur Fürsorge, die sie vorher wenigstens formal für ihre „Seelen“ noch gehabt hatten, gänzlich entledigt. Das bedeutete, dass sich in den Dorfgemeinschaften einige Großbauern durchsetzten, während die Dorfarmen noch mehr verelendeten als zuvor – nur jetzt ohne jeglichen Schutz.
1907 machte Pjotr Stolypin, Minister des Zaren Nikolaus II., den nächsten Versuch, das Problem der Dorfgemeinschaften in einer, wie er meinte, fortschrittlichen Weise, zu lösen. Er entzog den Dörfern das Recht der Selbstverwaltung, untersagte gemeineigentümliches Wirtschaften und verfügte die Auflösung der Dorfgemeinschaften. Auch bei ihm war der Grundgedanke: Die Armen des Dorfes sollten als Arbeiter in die Industrie abwandern, die übrigen Dörfler sich zu einem Stand privat produzierender Mittel- und Großbauern entwickeln, der imstande wäre, mit der Ausfuhr seiner Produkte die Kosten für die entstehende Industrie zu tragen.
Pjotr Stolypin stieß auf den entschiedenen Widerstand der Bauernschaft, den er mit Terror zu brechen suchte. Er wurde 1911 Opfer eines Attentats. Die Reform blieb stecken. Bis heute streiten sich die Gelehrten, ob sie steckenblieb, weil der Krieg sich ankündigte oder ob der Krieg, was die russische Seite betrifft, ein Produkt der unlösbaren Widersprüche war, in die Zarentum und Bauernschaft miteinander geraten waren.
Nicht strittig ist, dass die Beziehung zwischen den Bauern und dem Zaren wesentlicher Impuls für Ausbruch und Verlauf der Revolutionen von 1917 war. Schon die Februarrevolution stand unter dem Versprechen einer Landreform. Als es im Sommer des Jahres 1917 zu neuen Landverteilungen kommen sollte, warfen die Bauernsöhne in den Schützengräben die Gewehre fort, um in ihre angestammten Dorfgemeinden zurückzukehren, denn nur so konnten sie sicher sein, bei der Landverteilung nicht übergangen zu werden. Lenin konnte die derart aufgebrachten Bauern für sich gewinnen, indem er jedem nicht nur Frieden, sondern auch ein Stück Land versprach, selbst wenn er nicht Mitglied einer Dorfgemeinschaft war. So gewann Lenin die Arbeiter- und Soldatenräte, die faktisch Arbeiter- und Bauernräte waren.
Entschieden aber wurde die Frage auch von Lenin nicht: Im „Dekret über den Boden“, das die Revolutionsregierung als eine ihrer ersten Verordnungen erließ, wird das Gemeineigentum nach Art der Bauerngemeinschaft zum Grundprinzip des neuen Sowjetstaates erklärt. Nach ihm wurden hinfort auch die Betriebsgemeinschaften organisiert; gleichzeitig aber kehrten die Bauernsöhne unter dem Versprechen zurück, ein eigenes Stück Land zur privaten Nutzung zugeteilt zu bekommen. Damit war der Konflikt zwischen privater Nutzung und gemeineigentümlicher Ordnung, zwischen Selbstverwaltung und Zentralismus aufgeschoben, aber nicht aufgehoben, ja, seine Zuspitzung war geradezu programmiert.
Den nächsten Versuch der Lösung dieses Konfliktes unternahm Josef Stalin, als sich nach der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) innerhalb der Dorfgemeinschaften, ähnlich wie seinerzeit zur Zeit Stolypins, wieder eine reiche Privatbauernschaft, als Kulaken bekannt geworden, herausgebildet hatte. Die Kulaken bestimmten das Geschehen in den Dorfgemeinschaften. Als sie sich weigerten, die Abgaben für die von der Partei beschlossene Industrialisierungskampagne zu erbringen, mobilisierte Stalin die Dorfarmut gegen sie. Dies geschah wiederum in der Absicht, der Arbeiterschaft neue Kräfte zuzuführen, aus den Resten der Dorfarmut und den Mittelbauern ein kräftiges Mittelbauerntum zu schaffen. Und wieder geschah das Unerwartete: Nachdem die Kulaken und mit ihnen viele, die als solche nur denunziert worden waren, in einer gewalttätigen Kampagne zu Millionen getötet, vertrieben oder deportiert waren, blieben die Dörfer, ihrer aktivsten Kräfte beraubt, in elendem Zustand zurück. Er zwang die Verbleibenden, sich zu Notgemeinschaften zusammenzuschließen, die Stalin schließlich als Kolchosen und Sowchosen legalisierte. Stalin tat das, indem er die freiwilligen Zusammenschlüsse zu kollektiven Wirtschaften (Kolchos = kollektive Wirtschaft) staatlicher Lenkung unterstellte und die übrige, noch individuell betriebene Landwirtschaft von Staats wegen in Sowchosen (Sow-Chos = sowjetische Wirtschaft) zusammenfasste. So wurde aus einer Kampagne, die mit dem Ziel der Auflösung der Dorfgemeinschaften begonnen worden war, deren endgültige Erhebung zur Grundeinheit des sowjetischen Staates; die Dualität von Zar und Dorf, Zentrum und korporativer Einheit vor Ort, die mit der Abschaffung des Zarentums 1917 ins Ungleichgewicht gekommen war, reproduzierte sich in der Form von Partei und Kolchose, beziehungsweise Sowchose. Diese Struktur blieb – mit kleineren Schwankungen – verbindlich bis zum Einsetzen der Perestroika.

3.    Das sowjetische Modell vor Perestroika

Verweilen wir ein wenig bei diesem Stand der Entwicklung.
Wie sahen diese Strukturen praktisch aus? Auf dem Lande war es die Kolchose oder Sowchose. Der Unterschied zwischen beiden war in den 80ern nahezu nivelliert; er bestand nur noch darin, dass Direktoren der Sowchosen von der Partei eingesetzt, Direktoren von Kolchosen nach ihrer Wahl durch die Dorfgemeinschaft von der Partei nur bestätigt wurden.
In der Industrie, in der Wissenschaft oder im Dienstleistungsbereich war die Betriebsgemeinschaft nach denselben Prinzipien organisiert.
Ländliche wie städtische Kollektive bildeten Pyramiden, die Produktion, Alltag, Freizeit und Politik in ihren Spitzen zusammenführten. Eine solche Pyramide konnte identisch mit einer ganzen Stadt sein, auch einem Stadtviertel, in dem ein Betrieb zwanzig-, dreißigtausend Menschen umfasst. Es waren einzelne, manchmal auch mehrere Dörfer gemeinsam, die eine Kolchose bildeten. Manchmal waren es ganze Landstriche.
Alle diese Einheiten waren nach dem Prinzip der Dorfgemeinschaften organisiert: Autoritäre Unterordnung nach außen, Selbstbestimmung und Prinzip der gegenseitigen Hilfe nach innen, Wirtschaften auf gemeineigentümlicher Basis.
Der Staat ist ein Netz solcher Pyramiden, besser vielleicht, eine Großpyramide, die aus vielen solcher kleiner Pyramiden besteht. Innerhalb der jeweiligen Pyramiden wird getauscht, außerhalb, zwischen ihnen wird gehandelt. Innerhalb wird Arbeit in  materiellen Werten vergütet, in Nahrungsmitteln, in sozialen Dienstleistungen wie Kindergartenplätzen, Schulunterricht, Altenbetreuung usw., in Versorgung der Betriebsgemeinschaft mit der lebenswichtigen Infrastruktur wie Wohnungen, Straßen, Verkehrsmitteln, Gas, Wasser, Elektrizität usw. usf., in Angeboten zur Erholung, zur medizinischen Versorgung, zur Altersversorgung bis hin zur Friedhofspflege. Für Produkte, die von außerhalb bezogen werden, wird Geld gebraucht. Aber selbst im Austausch werden Produkte anderer Gemeinschaften oft im Tausch gegen die eigenen erworben und dann innerhalb der eigenen Gruppe als materielle Vergütung weitergereicht. Auch dem Staat, als der Gesamtheit aller Kollektive, steht die einzelne Gemeinschaft nicht in einer Geld-, sondern ebenfalls in einer Tauschbeziehung gegenüber. Es werden eigene Produkte gegen Sach- und Dienstleistungen abgegeben, die der Staat garantiert.
Das ist die alte Tributordnung mongolischer Herkunft in moderner Form. Einen voller Geldkreislauf, vergleichbar dem des westlichen Geld-Ware-Geld-Umlaufs, bei dem der Austausch zwischen Individuen ausschließlich, jedenfalls hauptsächlich über den offenen Markt stattfindet, ist nicht entwickelt. Hier ist es das Individuum, dort ist es die Gruppe, die im Austausch steht: Geld hat in diesem Verbund korporativer Gemeinschaften keine grundlegende, es hat nur eine ergänzende Funktion. Anders, um es vielleicht mit einem Schlaglicht verständlich zu machen, wäre es nicht möglich, dass eine Bevölkerung, der seit Jahren kein Lohn, keine Pension, keine Sozialversicherungen mehr gezahlt werden, nicht verhungert.
Diese Ordnung, in der russischen Geschichte spontan entwickelt, von der sowjetischen auf die Ebene eines prinzipiellen gesellschaftlichen Modells gehoben, hat sich in die Wirklichkeit des russischen, ehemaligen sowjetischen, genereller gesagt, euroasiatischen Raums zwischen Pazifik und Atlantik, zwischen Nordpol und den Hitzewüsten im Süden eingeschrieben. Sie hat geografische Gliederungen, wirtschaftliche Einheiten, soziale Strukturen, psychische Reaktionsmuster und Denkweisen entstehen lassen, die nicht aufgelöst werden können, ohne eine allgemeine Desintegration zu riskieren. Wenn sie dagegen als Voraussetzungen für Veränderungen akzeptiert werden, liegt gerade in diesen Strukturen die Chance, eine lebensfähige Ordnung hervorzubringen, die über das bisherige Entweder-Oder von privater oder gemeineigentümlicher, zentralistischer oder anarchischer, kapitalistischer oder sozialistischer Lebensweise hinausgeht.

4.    Aktuelle Reformversuche – gescheiterte Entkollektivierung

Der neueste Ansatz zur Modernisierung, den wir zurzeit in Russland erleben, wiederholt die historischen Fehler. Michail Gorbatschow ging noch einen vorsichtigen, seine Kritiker sagen unentschlossenen Weg. Boris Jelzin und insbesondere sein erster Premier Jegor Gaidar setzten dagegen auf Konfrontation. Die von ihnen eingeleitete Schocktherapie, war nichts anderes als eine Kampagne zur Entkollektivierung, mit der sie die korporativen Strukturen endgültig aufzulösen versuchten.
Das Programm der Privatisierung, mit dem die Regierung Gaidars Ende 1991 antrat, legte fest, dass die Betriebskollektive bei der Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften unter keinen Umständen Aktienmehrheiten erwerben dürften. In der kollektiven Organisation der Betriebe, sowohl der Land- als auch der Industriebetriebe wie auch in denen des Dienstleistungssektors und der Wissenschaft, sahen die Reformer von 1991, ganz in der Tradition Pjotr Stolypins und in Übereinstimmung mit ihren Beratern aus Harvard und vom IWF die Ursache der sowjetischen Krise, ja, wie sie es formulierten, das Grundübel russischer Rückständigkeit. Nur wenn die Herrschaft der Kollektive gebrochen werde, sei die Krise zu überwinden und eine Modernisierung zu erreichen.
Mit Betriebskollektiven war die Einheit von Betriebsleitung und Belegschaft gemeint. Ihr gemeinsamer Anteil an Aktien sollte unter allen Umständen unter 50% gehalten werden, um zu vermeiden, dass die Betriebskollektive weiter die Geschicke des Landes bestimmen könnten. An die Stelle der bisherigen korporativen Organisation der Gesellschaft auf Betriebsbasis sollte ein modernes demokratisches Staatswesen treten, eins in dem nicht nur die Gewalten geteilt, sondern vor allem auch Produktion und gesellschaftliches Leben voneinander geschieden und statt dessen durch einen Geldkreislauf miteinander verbunden sind, wie man es aus dem Westen kennt. Dafür sollte die Abgabeordnung durch eine Lohn- und Steuerordnung ersetzt werden, welche die Kommunen in den Stand setzen sollte, die infrastrukturellen, sozialen und kulturellen Aufgaben zu übernehmen, die bis dahin die Betriebe getragen hatten. Die arbeitende Bevölkerung sollte durch die Umwandlung der Vergütungs- in eine Lohnstruktur in die Lage versetzt werden, sich auf dem Markt mit den nötigen Mitteln zum Leben zu versorgen, angefangen bei der Versorgung mit Wohnraum, Gas, Wasser usw. bis hin zur Freizeit und Kultur. So ist es in den Expertisen des IWF zur Sowjetunion aus den Jahren 88/89 nachzulesen; so steht es, fast wörtlich übernommen, in den Programmen, mit denen die neue russische Regierung Ende 1991 antrat.
Auch diesmal kam es anders als erwartet: Tatsächlich in Privathand überführt wurden nur die Gemeinschaftsvermögen, welche schnellen Gewinn versprachen: Rohstoffverarbeitende Betriebe, Rohstoffe selbst, Handelsunternehmen, Banken usw. Hier wuchsen in atemberaubender Geschwindigkeit  jene Finanzimperien heran, die heute als „Oligarchen“ bekannt sind. Die Mehrheit nicht so profitabler Betriebe ging dagegen entweder direkt in den Besitz und in die Regie von Betriebskollektiven über, die damit die Grundlage ihrer eigenen Existenz retteten oder dümpelt in unentschiedenen Mehrheitsverhältnissen vor sich hin, die keine effektiven Entscheidungen zulassen. Die beabsichtigte Entflechtung von Staat und Unternehmertum, Unternehmertum und Belegschaften, Arbeit und Leben, Produktion und Konsumption, oben und unten, fand nicht statt.
Genauer gesagt, sie fand nur teilweise statt: Den Betrieben wurden die Rechte, wie auch die Mittel entzogen, den Versorgungskreislauf innerhalb der korporativen Einheit aufrechtzuerhalten. Ab sofort galt der Anspruch, dass die Kommunen, die Regionalverwaltungen oder das nationale Budget für Straßenbau, Wasserversorgung usw., für soziale und medizinische Versorgung, für Bildung und Kultur zu sorgen habe. Aber die Kommunen bekamen weder die nötigen Mittel, noch reichte ihre organisatorische, personelle und intellektuelle Kapazität, um die alten Funktionen zu übernehmen, ganz zu schweigen davon, neue zu entwickeln.
Klarster Ausdruck dieser Situation ist die neurussische Volksweisheit: „Der Staat zahlt keinen Lohn – und wir zahlen keine Steuern.“ Das heißt eben, es gibt keinen funktionierenden Geldkreislauf. Russland ist auf das Stadium des Naturaltausches zurückgesunken. Was aber vor der Privatisierung Ausdruck eines funktionierenden Systems war, das ist jetzt Ausdruck des Zerfalls. Ergebnis der versuchten Entkollektivierung ist eine wirtschaftliche, rechtliche, staatliche, vor allem anderen aber soziale und auch moralische Desintegration, die an die Grenzen der Vernichtung russischer Existenz und Identität führt.
Aus dieser Situation erwächst zurzeit der Drang nach sozialer Restauration im Lande. Betriebskollektive verstehen sich, ähnlich wie in vergleichbaren historischen Situationen,  als Notgemeinschaften, die das Überleben ihres Dorfes, ihrer Stadt, ihres Betriebes, ihres Institutes organisieren. Dazu suchen sie die Hilfe örtlicher Bürokraten. Die korporativen Einheiten, die Gegenstand der Angriffe der Reformer waren, erweisen sich auf diese Weise als spontane Elemente des Überlebens, als letzter Rettungsanker eines Dorfes, eines Betriebes, einer ganzen Stadt. Schon lange ist keine Rede mehr davon, dass Betriebskollektive die Betriebe nicht führen dürften. Solche Erscheinungen breiten sich im Lande aus, während der nach westlichen Vorstellungen modernisierte Sektor von Spekulations-, Korruptions- und Finanzkrisen geschüttelt wird. Was nützt der schnelle Kauf eines Betriebes, wenn seine Belegschaft, ja, darüber hinaus auch noch die potentielle Arbeiterschaft im Einzugsbereich des Standortes oder der Umgebung des Betriebes sozial soweit desintegriert ist, dass keinerlei Arbeitsmotivation mehr besteht? Eine Phase der Restauration der sozialen Beziehungen scheint unvermeidlich. Die Frage ist allein – wie; wird sie mit Gewalt von oben implantiert oder als demokratischer Prozess von unten entwickelt?

5.    Mögliche Alternativen

Was ist zu beobachten? Einfach gesagt, eine Annäherung von unten und von oben; wie Stalaktiten und Stalagmiten einer Tropfsteinhöhle wachsen die Bedürfnisse nach lebensfähigen Gemeinschaftsstrukturen von unten und die nach lenkungsfähigen Strukturen von oben zurzeit aufeinander zu. Betriebsgemeinschaften bilden Notkollektive, die Betriebe notdürftig aufrechterhalten, Bürgervertretungen bilden sich heraus, Interessengruppen, die Verantwortlichkeiten von Betrieben einklagen, welche durch die Privatisierung außer Kurs geraten sind usw.
Von oben wird die Restauration gewerkschaftlicher Strukturen initiiert, werden ganze Branchengewerkschaften neu gegründet, mindestens gefördert oder finanziert. Neuerdings ist von einem sogenannten „Tertiären Sektor“ die Rede. Er erwächst aus den Initiativen und Aktivitäten von Selbsthilfe- und Interessengruppen der unterschiedlichsten Art, die von staatlicher Seite zusammengeführt, ideell gefördert, und wo es geht, auch finanziert werden.
Es bilden sich örtliche Krisen- und Planungsstäbe, die sich aus Vertreterinnen oder Vertretern der örtlichen oder regionalen Verwaltungen, der Betriebe, unabhängiger Experten und Interessengruppen aller Art zusammensetzen. Sie versuchen eine gemeinsame Planung unter staatlicher Führung einzuleiten. Es bilden sich lokale und regionale Märkte, die mit Moskau in Konkurrenz um die Außenhandelsbeziehungen treten und für deren horizontale Vernetzung miteinander neue Wege gefunden werden müssen.
Dieser Prozess ist nur sehr schwer in bestimmten Formen zu beschreiben. Er verläuft sehr diffus und äußerst ungleichmäßig, ja, widersprüchlich, zum Teil auch kontraproduktiv und zeitweilig gegen die Haupttendenz, die in der Befreiung der Produktivkräfte von den Fesseln uneffektiver Produktionsverhältnisse zu sehen ist. Er läuft bereichsweise, zeitweise auch insgesamt scheinbar ziellos, destruktiv oder gar katastrophisch. Aufs Ganze gesehen aber geht es um eine neue Verbindung von persönlicher Initiative und Gemeinschaftsbindung, die aus der Transformation der bestehenden Verhältnisse einfach hervorgehen muss, wenn die Menschen überleben wollen.
Die Entwicklung ist doppeldeutig wie die Strukturen selbst. Sie enthält rückwärtsgewandte Elemente, die bis ins Faschistoide hinüber weisen. Diese Elemente resultieren aus dem autoritären Zentralismus. Sie enthält ebenso Impulse zu Demokratie und sozialer Solidarität. Sie erwachsen aus den Elementen der Selbstbestimmung und gegenseitigen Hilfe.
Analytiker wie Boris Kagarlitzki oder Oleg Woronin, beide ehemalige Reformlinke, heute freischwebende Intellektuelle, und andere erkennen diesen Prozess. Kagarlitzki spricht von Restauration der Tradition der Obschtschina. Das ist der russische Ausdruck für Bauerngemeinschaft. Er meint damit die Wiedererstarkung der aus der Geschichte der Bauern- und Industriegemeinschaft kommenden Tradition auf neuer, demokratischer, das heißt auch privatwirtschaftlicher Basis.
Leg Woronin spricht von sozialer Restauration einer durch Stalin deklassierten Gesellschaft, die ihre sozialen Schichtungen und deren wirtschaftliche und politische Beziehungen erst wiederfinden müsse.
Hauptkraft der gegenwärtigen Entwicklung sind aber die aus zehn Jahren mühseliger Transformation gewonnenen bitteren Erkenntnisse bei der politischen Führung wie auch in der Bevölkerung selbst,  dass an den bestehenden Strukturen angeknüpft werden muss, also Zentralismus und korporativer Bau des Landes als Ausgangspunkt für eine Föderalisierung und Demokratisierung des Landes akzeptiert, je, geradezu benutzt werden müssen, ob man will oder nicht, statt sie zu zerschlagen und zweitens ist es die Bereitschaft, diese Erkenntnisse in Kooperation von „oben“ und „unten“ praktisch umzusetzen und dabei Spreu vom Weizen zu trennen.
Für die Gemeinschaft vor Ort bedeutet das, die demokratischen Elemente der gemeineigentümlichen Ordnung, der Selbstbestimmung und der sozialen Fürsorge mit ihrem Kern der Hilfsbereitschaft auf Gegenseitigkeit für die Entwicklung von Mitbeteiligung, Mitbestimmung und einer gemeinschaftlichen Sozialfürsorge zu nutzen – dabei aber die autoritären und etatistischen Elemente als alte Zöpfe zurückzudrängen, indem zivilen, informellen, nicht-staatlichen Organisationsformen vor bürokratischen der Vorrang eingeräumt wird. In diesen Auseinandersetzungen um die konkrete Zusammensetzung der neuen Gemeinschaftsorgane vollzieht sich der Prozess der sozialen Restauration, entscheidet sich, ob er sich zur demokratischen oder zur autoritären Seite hin wendet.
Für die Gesellschaft als Ganzes bedeutet es, die geografische, ethnische,  wirtschaftliche und kulturelle Differenzierung der ehemaligen Sowjetunion als Chance für eine föderale Reorganisation der Beziehungen in diesem Raum zu begreifen. Demokratisierung heißt in diesem Fall als erstes schlicht einmal Dezentralisierung, Entwicklung regionaler Binnenmärkte, politischer Souveränität und soziokultureller Eigenständigkeit.
Aber auch das vertikale Element kann nicht einfach über Bord geworfen werden. Es hat nicht nur seine historische Funktion, sondern als vermittelnder Koordinator, als politische Clearingstelle, als Ort des Austausches auch seine aktuelle und zukünftige Berechtigung, wenn der euroasiatische Raum sich nicht nach seinen Rändern hin auflösen und damit ein gefährliches Vakuum in seiner Mitte erzeugen soll, das die Möglichkeit einer politischen, sozialen und mentalen Implosion Euro-Asiens heraufbeschwört.
Im politischen Raum dürfte eine föderal differenzierte Steuerreform der wichtigste Baustein der zukünftigen Neuordnung sein, denn in ihr muss sich der Ausgleich zwischen den lokalen, regionalen oder saisonalen Räumen des naturalen Austausches und dem Geldkreislauf der in den Weltmarkt einbezogenen Gesamtgesellschaft herstellen. Zu erwarten ist, dass sich das mongolische Prinzip des Zehnten auf neuer Ebene wiederherstellt, das heißt, dass lokale Einheiten, Regionen und Länder einen festgelegten Teil an die zentralen föderalen Verwaltungsorgane abführen, während sie im übrigen der Selbstversorgung bis dahin überlassen sind; es bedeutet,  dass große Teile ihres Austausches sich unterhalb des vom Weltmarkt diktierten zentralen Geldkreislaufs abwickelt. Hierin zeigen sich im übrigen Elemente einer neuen Wirtschaftsweise, deren Entstehung unter dem Diktat der Globalisierung heute überall auf der Welt zu beobachten ist. Die aus der Globalisierung des Weltmarktes resultierende Nivellierung der Lebensniveaus  ruft das Bedürfnis, die Notwendigkeit und die Möglichkeit von lokalen, regionalen oder saisonalen Inseln marktfreier Beziehungen zwischen den Menschen hervor, in denen nicht das Weltgeld (in welcher Währung auch immer), sondern soziale, intellektuelle oder mentale Werte lokal, partiell oder zeitweise zum Äquivalent werden. Diese Erscheinungsformen im Subraum des Weltmarktes weisen, wie es scheint, weit in die Zukunft einer Gesellschaft, in der Geld nicht mehr alles ist. Die Entwicklung bekommt, auch wenn es gegenwärtig und noch auf einige Zeit hin umgekehrt zu sein scheint, aus der russischen Entwicklung heraus einen gewaltigen Impuls. Andere Impulse kommen direkt aus dem Zentrum des westlichen Kapitalismus, aus den USA, wo sich zwischen Staat und Produktion die Sphäre des „Dritten Sektors“ herausgebildet hat. Auch in Ländern der ehemaligen „Dritten Welt“, sowie in den sogenannten Schwellenländern sind solche Erscheinungen zu beobachten. Ökonomen nennen sie in Ermangelung anderer Termini zurzeit „real life economy“. In diesen Phänomenen deutet sich eine revolutionäre Umgestaltung unserer gesamten heutigen Welt an, für die sich die gegenwärtige Geldwirtschaft alsbald in ähnlicher Weise zur Fessel entwickeln könnte wie weiland in Frankreich der Adel für die entstehende bürgerliche Gesellschaft.

6.    Aktuell: Autoritärer oder demokratischer Weg?

Russlands statistisches Führungszeugnis weist zurzeit weiter bergab. Seit der letzten großen Krise im Sommer des Jahres 98 steigt die Inflationsrate wieder, die Produktivität sinkt. Auch wenn die Reserven des Landes unerschöpflich scheinen, so ist doch klar, dass das nicht immer so weitergehen kann.
Um den amtierenden Präsidenten ist es ruhig geworden. Von ihm sind keine neuen Impulse zu erwarten. Das hat wenig mit seiner Gesundheit, dafür um so mehr damit zu tun, dass seine Zeit politisch vorbei ist. Die Phase der schnellen Umverteilung, gemeinhin Privatisierung genannt, ist weitgehend abgeschlossen. Was wird, was kann politisch geschehen?
Eine Ausgrenzung der nicht möglichen Wege ist schnell getroffen.
Jefgeni Primakow ist ein Übergangspremier. Von ihm wird nicht mehr als von einem guten Schiedsrichter erwartet, nämlich, sich möglichst nicht allzu sehr ins Spiel einzumischen. Würde er mehr versuchen, wäre sein letzter Tag als Premier schnell gekommen. Das gilt umso mehr für Boris Jelzin. Seine letzte große Aufgabe besteht darin, solange physisch präsent zu bleiben, bis das Amt des Präsidenten in neue Hände übergegangen ist. Das ist, ungeachtet des Spottes, der dem alten Mann gegenwärtig entgegenschlägt, eine für Russland lebenswichtige Funktion, denn jeder weiß, was eine Destabilisierung der Zentralmacht zum jetzigen Zeitpunkt bedeuten würde.
Umsturz und anschließende Diktatur kann gegenwärtig niemand wollen,  am allerwenigsten die Kräfte, die gemeinhin mit der Mafia in Verbindung gebracht werden. Gerade sie profitieren von der Unentschiedenheit der gegenwärtigen Situation; darüber hinaus brauchen sie eine ruhige Entwicklung, um ihre Gelder schrittweise zu legalisieren.
Ähnliches gilt für die regionalen Eliten, die gegenwärtig mit Nachdruck dabei sind, ihre Positionen gegenüber der geschwächten Zentralgewalt auszubauen. Weit entfernt davon eine Katastrophe zu sein, zeigt sich gerade in der wachsenden regionalen Souveränität eine, wenn nicht die zukunftsweisende Kraft des neuen Russland – nur befindet sich dieser Prozess noch in einem solch zarten Stadium, dass jede Destabilisierung ihn nicht nur unterbrechen, sondern in gewaltsame Auseinandersetzung mit dem Zentrum verwandeln könnte.
Die Kommunisten schließlich, um auch diese Seite nicht zu vergessen, verfolgen schon lange, entgegen allem Anschein, den ihre laute Propaganda erwecken könnte, keinerlei umstürzlerische Ziele mehr. Das kurze Aufbäumen 1991 und noch einmal 1993 hat die letzten revolutionären Kräfte dieser Partei verbraucht. Danach ist sie vollkommen auf das zurückgesunken, was sie schon vor Perestroika war: eine Partei des Establishments. Nur ist sie dies jetzt nicht mehr als Partei der Macht, sondern der Opposition, einer Opposition allerdings, die fest in die  regionalen und lokalen Macht- und Verwaltungsstrukturen verwoben ist.
Ihre Impeachment-Kampagne gegen den Präsidenten ist nur das Überdruckventil, durch das nicht integrierbare Kritik stabilitätsfördernd abgeführt werden  kann.
Die Zweideutigkeit dieser politischen Situation drückt sich darin aus, dass zwar niemand gegenwärtig ernsthaft daran denkt, die Regierung Jewgeni Primakows aus dem Sattel zu werfen; niemand aber auch – außer dem aus Prinzip quertreibenden Wladimir Schirinowski –  an einer formgerechten Festschreibung eines neuen Burgfriedens interessiert ist.
Die Kräfte, die effektive Alternativen zum jetzigen Kurs repräsentieren, halten sich zurück, auch ohne sich formal an einen Burgfrieden zu binden. Das sind vor allen anderen Juri Luschkow in Moskau und  Alexander Lebed in Krasnojarsk; beide sind potentielle Kandidaten für die Neubesetzung des Präsidentenamtes im Sommer 2000.
Was sie als wichtigstes Argument  für sich ins Feld führen, ist nicht allein ihr Wille zur Stabilisierung; darin unterscheiden sie sich nicht wesentlich von weiteren potentiellen Kandidaten. Sogar die ehemaligen Privatisierer um Jegor Gaidar, Anatoly Tschubajs, Boris Nemzow ua. machen solche Versprechungen. Was die Neuen für sich ins Feld führen, ist ihre Fähigkeit, die anstehende Restauration praktisch in die Wege zu leiten. Dafür  brauchen aber auch sie Zeit.
Juri Luschkow kann eine Boomtowm Moskau vorweisen, Moskau als „Modell“. Nun weiß jeder, dass dies nicht allein auf seinem Mist gewachsen, sondern der Tatsache zu verdanken ist, dass 80% der Einnahmen der russischen Föderation nach Moskau fließen, jedoch keine 30% des Haushalts an die Regionen zurückgehen, dass sich in Moskau Mittel und Know How des Landes konzentrieren usw. usf.
Juri Luschkows anerkannte Leistung besteht aber immerhin darin, diesen Reichtum genutzt zu haben, indem er die Stadt Moskau zum größten Unternehmer Moskaus machte. Diese Botschaft versucht er zu exportieren, indem er als Bürgermeister von Moskau ärmeren Region bei profitverheißenden Projekten finanziell, personell und mit Know How unter die Arme greift.
Alexander Lebed hat sich entschlossen, genau vom anderen Ende her zu beginnen: Er, der seine Karriere in Afghanistan begann, über seine Friedensschlüsse in Transnistrien 1992, über seine Rolle in Tschetschenien 1994 und 1995 und als dritter bei den Präsidentenwahlen 1996 in die Moskauer Machtzentrale kam, versucht diese heute von der Region her einzunehmen.
Gegensätzlicher – und doch im Wesen identisch – könnten Kandidaten nicht sein: Zivilist der eine, General der andere. Für Alexander Lebed ist Afghanistan zur Lehre geworden, dass Krieg kein Mittel zur Lösung der russischen Krise sein könne. Alexander Lebed begann seinen politischen Weg mit starken nationalistischen Tönen; heut hält er sich von dem extrem nationalistischen und antisemitischen „Kongress russischer Gemeinden“ fern.
Zivilist Juri Luschkow dagegen warf sich mit nationalistischen  Argumenten für eine starke Schwazmeerflotte ins Gefecht, inszenierte rassische Säuberungskampagnen gegen Kaukasier in Moskau und wirbt neuerdings um eben jenen „Kongress der russischen Gemeinden“. Gemeinsam mit ihm wirft er Alexander Lebed wegen des Friedensschlusses in Tschetschenien bis heute Verrat nationaler Interessen Russlands vor.
Noch einiges dieser Art ließe sich aufzählen. Das alles aber bleibt politisches Make-up angesichts dessen, worin sich die beiden Kandidaten gleichen: Es ist der Pragmatismus der Macht, der die bestehenden ökosozialen Strukturen von Staats wegen nutzt, statt sie aufzulösen und weitere soziale Desintegration zu riskieren. Bürgermeister Luschkow schaffte es, Anatoly Tschubajs das Recht abzutrotzen, Moskau in eigener Regie privatisieren zu dürfen. So wurde zwar auch Moskau privatisiert, das heißt, Staatskapital in Aktienkapital umgewandelt, aber Moskaus größter Besitzer, Unternehmer und Finanzier in einer Person wurde die Stadt Moskau selbst, vertreten durch  politisch kontrollierte Banken, das heißt, letztlich durch Bürgermeister Luschkow als politische Vaterfigur. Viele Betriebe blieben zudem, im Gegensatz zu der von Anatoly Tschubajs, Alfred Koch ua. vertretenen Linie, in der Hand der Betriebskollektive.
Was so in Moskau entstand, ist ein staatlich regulierter, korporativ-paternalistischer Staatskapitalismus mit gewählten Leitungen und Direktoren, in dem die wenigen unabhängigen Kleinunternehmer sich nach der staatlich vorgegebenen Decke strecken müssen, wenn sie überleben wollen. Das betrifft auch ausländische Firmen. Das ist – entgegen jedem Anschein – keine Marktwirtschaft westlichen Zuschnitts, sondern Verwaltungskapitalismus nach russischer, das heißt eben, korporativer Art.
Alexander Lebed demonstriert dasselbe Modell in Krasnojarsk, seine Parteigänger in Städten wie Nowosibirsk oder anderswo. Der Form nach handelt es sich bei dem, was da entsteht, um kollektive Privatisierung, staatlich gefördert und reguliert. Man  bemüht sich, die noch bestehenden kollektiven Arbeits- und Versorgungsstrukturen der Betriebe als Basis für Mitbeteiligung und Mitbestimmung zu nutzen und auch die Versorgungsstrukturen zu erhalten.
Die Wege, die Alexander Lebed ebenso wie Juri Luschkow zur Erreichung dieser Ziele einschlagen, sind: 1. Ordnungskampagne gegen Korruption und Mafia; für eine „Diktatur des Gesetzes“, wie Alexander Lebed es formuliert.  2. Sichtbare Entrümpelung der Bürokratie. 3. Kleinarbeit vor Ort, in den Betrieben, Institutionen, Kommunen, auf dem Lande. Eine frontale Konfrontation mit der Mafia wird es nicht geben – weder bei Juri Luschkow noch bei Alexander Lebed. Alexander Lebed  etwa differenziert in Verbrecher, in eine Grauzone der Illegalität und in Kleingewerbetreibende, die durch eine falsche Steuerpolitik illegalisiert werden. Die von ihm ins Auge gefassten Maßnahmen lauten dementsprechend: Todesstrafe für Verbrecher, Einbeziehung der Grauzone in staatliche Verantwortung, Entkriminalisierung der kleinen Steuerzahler durch eine Neuregelung der Steuerpolitik.
Etwas weiter entwickelt bei Juri Luschkow: Er muss sich gegen Behauptungen wehren, er sei bei dem Versuch, die Mafia auszuhebeln, selbst von ihr nicht mehr zu unterscheiden. Dies hat er bisher allerdings in allen Fällen geschafft.
So viel aber ist sicher: Vorausgesetzt Boris Jelzin bleibt bis zu den Wahlen im Sommer 2000 physisch präsent,  wird es keinen abrupten, keinen gewaltsamen, sondern einen sanften Übergang geben. Dabei spielt es eine unterordnete Rolle, ob Juri Luschkow oder Alexander Lebed das Rennen macht. Chancen haben sie beide, der eine weil er aus dem Zentrum, der andere weil er nicht aus dem Zentrum agiert. Pragmatiker der Restauration sind sie ebenfalls beide. Eventuelle Konkurrenten könnten nur auf dieser Linie erfolgreich agieren. Diese Konstellation könnte Boris Jelzin sogar noch zu einem Leben über den politischen Tod hinaus verhelfen.

7. Perspektiven einer anderen Russlandpolitik

Das Ende der Ära Jelzin ist zugleich ein Wendepunkt bisheriger westlicher Russlandhilfe. Der Internationale Währungsfonds ist wegen seiner Misserfolge selbst in den eigenen Reihen in die Kritik gekommen. Treibendes Motiv der Russlandpolitik Helmut Kohls seit 1988 war die Wiedervereinigung. Sie war ihm die Lieferungen von Hilfsgütern, Kompensationszahlungen und Soforthilfekredite in der Höhe von 60 Milliarden DM wert. Damit stand das damalige Westdeutschland in den Jahren 1989 bis 1991 einsam an der Spitze der ersten Russlandhelfer.
Angesichts dieser starken Belastung versuchte die Bundesregierung die übrigen Mitglieder der „G-7“ gleichfalls zu stärkerem Einsatz zu bewegen. Die, allen voran die USA unter Präsident George Bush, sodann England unter Margaret Thatcher, machten ihre Unterstützung jedoch von der Durchführung radikaler marktwirtschaftlicher Reformen in Russland abhängig. Japan verweigerte generell wegen der ungelösten Kurilenfrage jegliche Hilfe.
Erst als Boris Jelzin Michail Gorbatschow 1991 mit dem Programm einer „Schocktherapie“ ablöste,  waren die übrigen „G-7“-Länder zu größeren Einsätzen bereit. Dynamik bekamen die Einsätze allerdings erst im Zuge der von Bill Clinton seit seinem Amtsantritt 1993 propagierten neuen Partnerschaft  mit Russland. Er instrumentalisierte dafür vor allem den IWF, den er dahin drängte, „leichte Kredite“ zu geben.
Praktisch hieß das: Jedes Mal, wenn die russische Krise sich akut zuspitzte, waren IWF, Weltbank und auch die „European Bank for Reconstruction and Developement“ (EBRD) mit neuen Kreditpaketen zur Stelle, die dabei immer an die Forderung nach „konsequenten Reformen“ gekoppelt waren.
Insgesamt wurden auf diese Weise bis heute Kredite in Höhe 200 Milliarden Mark an Russland in Aussicht gestellt, allerdings keineswegs alle gezahlt. Nach der Sommerkrise dieses Jahres, die Russland an den Rand des Zusammenbruches brachte, stellte der IWF die Zahlungen vorläufig ein, allerdings nicht ohne der russischen Regierung Hoffnungen zu machen, dass bei „konsequenten Reformen“ doch wieder gezahlt werden könnte. Was gemäß der Statuten des IWF als Wirtschaftshilfe definiert ist¸ erweist sich derart als ein politisches Instrument, mit dem versucht wird, die nachsowjetischen Gesellschaften auf einen vom Westen definierten Reformkurs zu zwingen.
Dieser Kurs wurde im Frühjahr 1991 in Gesprächen festgelegt, die Boris Jelzin – damals Präsident der Russischen Republik im Rahmen der noch bestehenden UdSSR – in Washington führte. Das geschah parallel zu dem Londoner Gipfel der „G-7“, der Gorbatschow die Unterstützung verweigerte, wenn er nicht erst seine „Hausaufgaben“ gemacht habe, wie es die Presse seinerzeit formulierte.
Das Programm, mit dem Boris Jelzin und seine Mannschaft um Jegor Gaidar dann antraten, entsprach bis hinein in einzelne Formulierungen den ausgearbeiteten Vorgaben des IWF. Kern des Programms war die radikale Privatisierung bei gleichzeitiger „Politik des knappen Geldes“, in deren Zuge durch Währungsreform, Abbau von Subventionen, Streichung sozialer Leistungen etc. Geld aus dem Lande in die neu entstehenden, vor allem Moskauer, Finanzzentren gezogen werden sollte. Den politischen Rahmen für die Reformen sollten die Umwandlung der sowjetischen Rechtsordnung in eine solche demokratischen Typs und die Einbindung Russlands in das europäische Sicherheitssystem bilden; später kam die Ausweitung der NATO nach Osten hinzu.
Das Ergebnis: Nicht freie Marktwirtschaft, sondern Entindustrialisierung, nicht  Demokratisierung, sondern soziale Desintegration, nicht mehr Sicherheit, sondern politische Instabilität.
Die Privatisierung schuf kein produzierendes Privateigentum, sondern zerlegte das frühere Gemeineigentum unter der Vorgabe der Entstaatlichung in einen Sektor hochkonzentrierten spekulativen Kapitals auf der einen und die Mehrheit einer vom Geld abgespaltenen Bevölkerung, die von Naturaltausch, Schatten- und Subsistenzwirtschaften lebt, auf der anderen Seite. Das schließt Direktoren kleinerer Betriebe mit ein.
Die Sicherheitspolitik schuf kein verlässliches neues System gleichberechtigter Partner auf dem euroasiatischen Kontinent, sondern eine gefährliche Halbheit: Als Mitglied der Europäischen Union wurde Russland zum Teil Europas erklärt, während es durch die NATO-Erweiterung faktisch bedroht, mindestens aber halb eingekreist wird. Im Ergebnis läuft das auf den Versuch einer Neutralisierung Russlands hinaus. Diese Tatsache wird durch Russlands beratende Stimme im NATO-Rat nicht gemildert, sondern im Gegenteil noch verstärkt.
Angesichts solcher Ergebnisse wird verständlich, dass es inzwischen nicht wenige Menschen in Russland gibt, die diese Reformen nicht nur als Fehler betrachten, sondern dahinter die politische Absicht des Westens, speziell der USA vermuten, den sowjetischen, danach auch noch den russischen Konkurrenten zu schwächen und in einer Spirale von wechselnden Kreditversprechungen und deren Verweigerung von sich abhängig zu machen und zu neutralisieren. Daraus ist eine antiwestliche Stimmung von gefährlicher Kraft entstanden, die sich ausbreitet.
Die Kritik von Horst Köhler, dem Präsidenten der Osteuropabank, dass der Westen damit aufhören müsse, Russland seine Vorstellungen per Kreditpolitik des IWF aufzuzwingen und stattdessen an den gewachsenen Strukturen des Landes anknüpfen solle, wenn er Demokratie und Marktwirtschaft ein Russland stärken wolle, war die schärfste, die aus den eigenen Reihen kam.
Würde man sie ernst nehmen, was durchaus zu wünschen wäre, dann würde sie als Erstes bedeuten, das Primat der Privatisierung aufzukündigen, das die letzten Jahre bestimmt hat. Die Reformen haben ja zum Teil den Charakter einer Zwangsprivatisierung angenommen. Unterstützenswert ist statt dessen die Entwicklung einer gemischten Wirtschaft, in der die immer noch bestehenden Staatsbetriebe in privatwirtschaftlich organisierte Beteiligungsmodelle verwandelt werden, während das neu entstandene und weiter entstehende Privatkapital andererseits einer Sozialpflichtigkeit unterworfen wird. Solche Reformen können nur auf den gewachsenen kollektiven sozioökonomischen Strukturen aufbauen. Das bedeutet, sie müssen von der realen Existenz der kollektiven Landwirtschaft, also den Gemeinschaftsproduktionen von Kolchosen und Sowchosen, der Existenz ganzer Betriebsdörfer oder Produktionsstädte ausgehen, die als bloße Ansammlung privatisierter Individuen nicht existenzfähig wären, im Verlauf der Reformen aber in vielen Fällen Träger einer kollektiven Privatisierung wurden. Dies ist nicht nur die einzige, es ist auch die von der tatsächlichen Entwicklung der letzten Jahre vorgezeichnete Alternative zu den vom IWF vorgeschlagenen Massenentlassungen und der einzige Weg zu Verhältnissen, die demokratischen Charakter tragen, auch wenn die paternalistischen Formen dieser Demokratie nicht westlichen Vorstellungen entsprechen.
Neu wären auch die Beziehungen Europas zu Russland zu definieren. Der Westen muss die Tatsache anerkennen, dass Russland nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, politisch und sogar ethnisch zwischen Asien und Europa liegt. Es ist vollkommen unsinnig, Russland zu einem Teil Europas oder gar des atlantischen Verteidigungsbündnisses machen zu wollen – und es dann durch die NATO-Erweiterung wieder auszugrenzen.  Es müssen vielmehr neue Formen gefunden, bzw. auch vorhandene wie KSZE oder OSZE so entwickelt werden, dass Russland zum Teil eines Sicherheitssystems werden kann, welches Asien und Europa verbindet, das heißt, eines weltweiten Netzes. Darin haben die russisch-deutschen, bzw. die russisch-europäischen Beziehungen den Stellenwert bilateraler Beziehungen, die sich in das Gesamtnetz einfügen.
Schließlich müsste eine Politik auf der von Köhler skizzierten Linie sich von der Zentrierung allein auf Moskau lösen. Die Unterstützung regionaler Entwicklungsprojekte von deutscher Seite ist nicht nur im Interesse kontrollierbarer Effektivität dringend geboten. Sie würde auch die Umwandlung des Zentralstaats in eine Organisation gleichberechtigter politischer Subjekte und somit eine langfristige Demokratisierung und Stabilisierung der Beziehungen zwischen Ländern und Völkern auf dem euroasiatischen Kontinent stärken. Sie muss sich dabei aber hüten, innerrussischen Entscheidungen vorzugreifen, die sich in der Fragestellung „Föderation oder Konföderation“ ausdrücken.
An der Haltung zu diesen drei Punkten: Privatisierung, Europabindung Russlands, Moskauer Zentralismus wird eine zukünftige deutsche Russlandpolitik gemessen werden müssen.

Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hamburg und des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg unter dem Thema: „Krise in Russland – Welche Perspektiven bieten Demokratie und Marktwirtschaft?“