Kategorie: Analysen

Grundlagentexte

NATO, Russland, Ukraine – ein Versuch Rote Linien zu erkennen

(Überarbeiteter und gekürzter Vortrag von der Konferenz:
„1955 – 2015: 60 Jahre BRD in der NATO – 60 Jahre Herausforderung für Friedenspolitik und Friedensbewegung“)

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Siebzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, im zweiten Jahr des ukrainischen Krieges findet die Moskauer Parade zum Sieg über den Faschismus in Abwesenheit der damaligen Alliierten und heutigen westlichen Partner, dafür in demonstrativer Gegenwart des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping statt. An der Parade auf dem Roten Platz beteiligen sich anstelle westlicher Abordnungen wie in den Jahren zuvor dieses mal Paradetruppen aus China, Indien, Kasachstan, Weißrussland, Tadschikistan, Kirgisien und der Mongolei. Demonstrativ führt Russland sein modernisiertes Waffenarsenal vor. In seiner die Parade begleitenden Rede fordert Putin allerdings nicht etwa die Weltherrschaft, wie manche Medien ihm andichten, sondern die Schaffung eines weltweiten Sicherheitssystems ohne Blöcke.

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Warum schützt die EU sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA?

Die Tatsachen sind unübersehbar: Europa, genauer die Europäische Union schützt sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA. In der Unterstützung der aktuellen Kiewer Politik, im Sanktionskrieg gegen Russland, in der Aufrüstung der NATO zu erneuter „Abschreckungsfähigkeit“ lässt sich die EU, darin insbesondere Deutschland, ungeachtet einzelner kritischer Stimmen, zur Speerspitze US-geführter Angriffe gegen Russland machen. Kritiken ... verhallen in der spärlichen Bundestagsopposition – oder bilden eine Art neuer außerparlamentarischer Opposition im Internet. ...

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Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum

Wer die Welt beherrschen will, muss Eurasien beherrschen. Wer Eurasien beherrschen will,  muss das eurasische Herzland, Russland beherrschen. Wer Russland beherrschen will, muss die Ukraine  aus dem Einflussbereich Russlands lösen, denn – wiederholen wir die Feststellung  Zbigniew Brzezinskis, die angesichts der Vorgänge um die Ukraine nicht oft genug wiederholt werden kann: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“[1]

Nach diesem, dem Britischen Commonwealth nachempfundenen Credo, haben die USA ihre Weltpolitik seit Auflösung der bipolaren Systemteilung 1989/90/91 entwickelt – einmal enger, einmal weniger eng am Drehbuch. Autor Brzezinski war immer wieder zur Stelle, um die Einhaltung der Grundausrichtung, die er nach dem Zerfall der Sowjetunion mit seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ 1996 skizzierte, mit öffentlichen Kritiken und Interventionen aus dem strategischen Soufflierkasten einzuklagen. Continue reading “Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum” »

Ein Jahr nach dem 22. Februar 2014

Ein Jahr nach dem  22. Februar 2014, an dem der Maidan zum Fanal wurde, wenige Tage nach der Niederlage der Kiewer Offensive gegen den Osten des Landes, am Wendepunkt der Frage, ob es weitere Eskalationen mit internationaler Ausweitung geben wird oder eine (zumindest vorläufige) Runde politischer Verhandlungen, ist es angebracht, angesichts der immer wieder durch neue Legenden erweiterten Mythen um den ukrainischen Krieg einige Tatsachen in Erinnerung zu rufen.

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Wladimir Putins Botschaft an den Westen: Ein Zeitfenster für Alternativen (so aktuell wie nie)

Wladimir Putins Rede auf dem Waldai-Forum in Sotchi am 24. Oktober 2014 war wohl der bisherige Höhepunkt verbalen Kräftemessens im Angesicht der gegenwärtigen globalen Krise. (1) Es war ein beachtlicher Auftritt mit dem Anspruch, eine globale Waldai Forum Putin RedeAlternative zu präsentieren.

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Der lange Weg der Eindämmung – ein Weg wohin?

Im Konflikt um die Ukraine ist es ruhiger geworden. Was verspricht diese Ruhe, was wird, was kann sie halten? ... Eine Waffenruhe zwischen den ukrainischen Konfliktparteien wurde vereinbart ...  Aber zugleich sickern durch die verschiedensten Kanäle Nachrichten in diesen Friedensraum, die das pure Gegenteil beinhalten: Die Waffenruhe wird trotz Friedenspuffer gebrochen. Beide Seiten verdächtigen sich gegenseitig die Waffenruhe lediglich für eine Neuaufstellung ihrer Streitkräfte zu nutzen.

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Russland verstehen

Russland verstehen?

„Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen,

mit allgemeinen Leisten nicht zu messen,

ihm eignet ein besonderer Charakter,

an Russland kann man einzig glauben„[1]

Dem ist heute dasselbe entgegenzusetzen, wie schon zu Zeiten Tjutjews, wie auch zum Beginn der 90er des zurückliegenden Jahrhunderts, als Russland erneut aus dem Verband der Sowjetunion heraustrat: Man kann Russland sehr wohl verstehen, wenn man bereit ist, seine historisch gewachsene Lage zwischen Asien und Europa als Basis des Landes wahrzunehmen – und dies nicht nur geographisch, sondern auch ethnisch, kulturell, politisch und ökonomisch bis in die Topografie des Landes und der Persönlichkeitsbildung der darin lebenden Menschen hinein.

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Ukrainisches Kaleidoskop – Krise globaler Interventionsstrategien

Wann begann die ukrainische Krise? Im November 2014, als Viktor Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnete? Am 21./22. Mai als Janukowytsch stürzte und eine auf die Maidan-Rechte gestützte provisorische Regierung die Macht übernahm? Am 1.3.2014, als Putin sich vom russischen Föderationsrat die Ermächtigung zur Intervention in die Krim geben ließ? Am 17.03.2014 als Russland das Referendum der Krim-Bevölkerung zum Beitritt des Krim anerkannte und der Westen mit Nicht-Anerkennung und Sanktionen gegenüber Russland reagierte?  Oder doch erst als Präsident Poroschenko mit seiner Offensive gegen den „Terror“ den Bürgerkrieg gegen die Autonomiebewegungen in den östlichen und südlichen Teile des Landes eröffnete?

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„We are the hub“ – wir sind der Angelpunkt. Obamas Anspruch auf eine globale Vorwärtsverteidigung.

„Von Europa bis Asien sind wir der Angelpunkt der Allianzen, wie sie es ihn in der Geschichte der Nationen noch nicht gab“, erklärte Barak Obama dieser Tage in einer für die Weltöffentlichkeit gedachten Rede vor Kadetten an der Militärakademie von Westpoint. ...

Mit einer „European Reassurance Initiative“, einem Sicherheitsversprechen der USA an Europa unterstrich Obama in einer Reise durch Polen, die Ukraine und Frankreich den so erneuerten US-Führungsanspruch:

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Ukrainische Alchemie

Das Schießen auf dem Kiewer Majdan wurde eingestellt. Ein Fahrplan wurde vereinbart, der vom bewaffneten Konflikt zurück in die politische Lösung der ukrainischen Krise führen soll: Bildung einer vorläufigen Regierung der nationalen Rettung binnen zehn Tagen. Rückkehr zur Verfassung von 2004,  das heißt, Rückführung von Kompetenzen des Staatspräsidenten zugunsten parlamentarischer Strukturen. Vorgezogene Neuwahlen zum Dezember 2014, statt März 2015... So weit, so erfreulich und aus vollem Herzen zu begrüßen, bis auf eine Kleinigkeit, nämlich, dass die durch ihre Militanz auf dem Majdan hervorgetretene Gruppe "Rechter Sektor" die Vereinbarung mit der Regierung als  Betrug betrachte. Sie fordert den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und will die "nationale Revolution" bis zum kompletten Sturz der Regierung fortsetzen.

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Ukrainische Perspektiven

Was geschieht heute in der Ukraine? Antworten auf diese Frage fallen schwer. Die Stimmen der Aktivisten auf dem Majdan, die abseits gelegenen, aber nicht minder wichtigen Schauplätze regionaler Proteste, die über die Ereignisse gezogenen medialen, diplomatischen und politischen Schleier internationaler Akteure bilden ein chaotisches, kaum überschaubares Feld.  Wer verstehen will, sieht sich gezwungen zu sortieren.

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Die Eurasische Union zwischen EU und SOZ

Die Gründung der Eurasischen Union ist die neueste Wendung im Prozess einer ins Globale erweiterten Perestroika. Besorgte Fragen tauchen auf, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland, insbesondere auf die zwischen Deutschland und Rußland haben werde...

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Das „chinesische Prinzip“: Ökonomische Freiheit – politische Lenkung: Der bessere Weg zur globalen Perestroika? Ein Vergleich.

Wer heute an China denkt, hat zwei Bilder vor Augen: Das eine wird von China-Reisenden als „happy China“ beschrieben, das andere als Parteiendiktatur, die die Menschenrechte nicht achte und jeden Ansatz zu einer Opposition ersticke. Wohin führt dieser Weg? Diese Frage wird in diesem Text anhand eines Vergleiches von Perestroika und den chinesischen Reformen vor dem Hingergrund der Geschichte beider Gesellschaften untersucht.

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„Reset“ im „Great game“? Vom Kaukasuskrieg zum „Northern Distribution Network“– Anmerkungen zur Annäherung zwischen NATO und Russland

Staunend schaut die Welt auf eine Annäherung zwischen NATO und Russland, die sich gegenwärtig anzubahnen scheint. Von strategischem „Reset“ ist die Rede, das mit Obama in die Politik gekommen sei, Medwedews Vorschlag für eine „Neue europäische Sicherheitsarchitektur“ erscheint NATO- und EU-Vertretern neuerdings „erwägenswert“, nachdem das Papier bei seiner Vorlage Anfang 2008 von ihnen kaum beachtet wurde. Die NATO arbeitet an einem neuen Konzept, das „neue Bedrohungen“, „breiter angelegte Partnerschaften“ und unter dem Stichwort „comprehensive aproach“ eine enge Zusammenarbeit mit „zivilen Akteuren“ vorsieht. Es soll im November verabschiedet werden. Russland soll über ein gemeinsames Raketenabwehrsystem einbezogen werden,

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Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sahen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen und erwarten von Medwedew die Fortsetzung dieses Kurses, nur in leicht liberalerer Variante. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten angesichts der globalen Krise wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat.

Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen  über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik  des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor Perestroika zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Saustausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleich sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender  Kolonialismus“ und schließlich noch der  „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.[1]

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten „Aufbau des Sozialismus“; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt.

Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 909er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren  Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe. Putin hat – gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt – diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte, Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nichts geändert.   Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen, bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, und so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell – und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern  bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.[2]

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins, Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion wie duie ganze neue herrschende Schicht Russlands bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür.[3] Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der sog. „Nationalen Projekte“, die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gaseinnahmen resultierenden Einahmen ergänzend zur Moedernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits- , des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft, sowie spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwjedew übernahm diese Staffette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“ Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, den er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten, ebenso wie kommunaler Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen – gewissermaßen exemplarisch.

Kai Ehlers

Unter www.kai-ehlers.de


[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Herausforderung Russland, Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung , dort das Kapitel: „Das Missverständnis vom kapitalismus – Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation“, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997

[2]Siehe dazu: Kai Ehlers,  „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung  aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

[3] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“,  April 2005 im Verlag Pforte/ Entwürfe

veröffentlicht in: Streifzüge

Weltmacht im Wartestand – ? Oder: Angst vor Russland, warum? Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin

Kurz vor dem Ausscheiden Wladimir Putins, zwanzig Jahre nach Michail Gorbatschow lautet die herrschende Frage des Westens wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse. Die Anlässe für diese Frage sind beliebig. Man ist versucht zu sagen: Gleich, was oben reingegeben wird – unten kommen immer Warnungen vor Russland heraus: Ob Putin ankündigte, keine dritte Amtszeit anstreben zu wollen, ob bei den letzten deutsch-russischen Konsultationen Ende 2007 offene Fragen anstanden, ob Russland gegen die Stationierung von US-Rakten in Ost-Europa protestiert, ob neue Bedingungen im Luftverkehr ausgehandelt werden müssen oder die  turnusmäßige Leitung des Nato-Russland-Rats durch einen Vertreter Russlands anstünde – der Tenor ist immer der gleiche: Der Kreml zeige Muskeln, eine neue Eiszeit nahe, ein neuer Kalter Krieg stehe bevor, ein russischer „Energiefaschismus“ drohe, gar der „Dritte Weltkrieg“, wie G.W. Bush sich Ende 2007 nicht scheute zu ‚warnen’.
Selbst Putins Mahnungen, Russland müsse sich gegen den Druck westlicher „Eindämmung“ mit einer neuen Sicherheitsstrategie schützen, dürfe sich aber nicht zu einem Rüstungswettlauf zwingen lassen, die er dieser Tage seinen Nachfolgern in ihre „Agenda bis 2020“ schrieb, und seine erneute Aufforderung an die NATO-Staaten sich um Kompromisse für die Neuregelung der KSZ-Vereinbarungen zu bemühen, führte auf Seiten der NATO lediglich zu der Forderung Die „unnötig aufgeheizte Rhetorik“ zu beenden. Die Fronten sind, wie leicht erkennbar, verhärtet bis aggressiv.
All diesen Mahnungen, Forderungen, Vorwürfen und noch einigen Fragen mehr muss selbstverständlich nachgegangen werden, um zu verstehen, was sich in unserer Welt abspielt. Auch mit Putins Autoritarismus muss man sich auseinandersetzen. Hier soll jedoch zunächst die Frage aufgeworfen werden, die sich hinter all diesem erhebt: Was steht hinter diesen Warnungen? Wovor fürchten sich die USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“, wie US-Stratege Brzezinski es bisher unübertroffen formulierte?  Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte? Wovor fürchtet sich sogar China – obwohl doch in einem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg?
Die Antwort ist  umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Russlands potentielle Anarchie speist sich aus zwei Quellen, aus den natürlichen Ressourcen, aber auch aus den – zumeist übersehenen – sozio-ökonomischen: die natürlichen – das sind Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw., die sozio-ökonomischen resultieren aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung auf der Grundlage der ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen. Beides zusammen gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als denkbare Kontrahenten. Dreimal versetzten diese Bedingungen Russland im Lauf  der neueren Geschichte bereits in die Lage, europäischen Eroberungsversuchen zu trotzen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939.
Heute ist es wieder so: Trotz Krise schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern noch gestärkt aus seiner Agonie hervorzugehen. Wladimir Putins Wirken spiegelt diese Tatsachen:
Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind die bürokratische Zentralisierung, die sich in der Einrichtung einer zentralisierten Kommandostruktur unter Leitung des Präsidialamtes gleich nach Putins Amtsantritt zeigte. Es ist die Ausrichtung der Medien, insonderheit des TV am nationalen Interesse, die im Westen als Abschaffung der Medienfreiheit wahrgenommen wurde, und schließlich die Disziplinierung der Oligarchen, die sich in der Flucht des Medien-Eigentümers Wladimir Gussinskis nach Spanien, der grauen Emenenz der Jelzin-Ära, Boris Beresowskis nach England und der Verhaftung und Verurteilung des Yukos-Chefs Michail Chodorkowski niederschlug.
Die Konsolidierung der neuen politischen Klasse ist noch nicht perfekt, reicht aber offensichtlich soweit, dass alte und neue, wie man in Russland sagt, Eliten sich darauf geeinigt haben, den Kampf aller gegen alle, der mit der Privatisierung Ende der 80er in den herrschenden Kreisen Russlands und zwischen Moskau und den Regionen Eurasiens ausgebrochen war, zugunsten der Verwaltung eines Rahmens einzuschränken, der die gemeinsame Ausbeutung des Landes ermöglicht. Dazu kommt – wenn auch auf den hohen Ölpreis gestützt – eine soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung in der zweiten Hälfte der Amtszeit Putins.
Konkret gesprochen: Unternehmen verpflichteten sich wieder Steuern zu entrichten, jahrelang nicht gezahlte Löhne, Gehälter, Pensionen, soziale Leistungen wurden endlich wieder zu zahlen. Ungeachtet der Tatsache, dass das so Gewonnene durch Privatisierung kommunaler Leistungen und Inflation für die Mehrheit der Bevölkerung sogleich wieder zerrann, trug es doch zur sozialen Beruhigung bei. Die hohe Zustimmung zu dem von Putin vorgeschlagenen gelenkten Machtwechsel an der Spitze des Staates, sowohl innerhalb der herrschenden politischen Klasse wie auch in der Bevölkerung, ist Ausdruck dieser Tatsache. Einfach gesagt: Wiederaufbau, nicht Protest steht auf der TO der russischen TO von heute und morgen.
Nach außen ist es die Kritik am hegemonialen Anspruch der USA. Stichworte dazu sind: Neue Militärdoktrin seit 2002, die das vom damaligen Außenminister Kirijenko formulierte Credo der Jelzin-Ära beendete, dass Russland heute keine Verteidigungsarmee mehr brauche. Einen Wendepunkt markierte Putins Auftreten bei der Münchner NATO-Tagung 2006, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er es formulierte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es ein Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft. Diese Entwicklung wurde möglich durch eine, so könnte man es nennen, konsequent „opportunistische“ Politik Russlands zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Mit dieser Politik kehrte Russland auf die Weltbühne zurück, während die ehemalige Neue Welt, die USA, in dem Versuch, ihre Weltherrschaft zu behaupten, sich in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen Autorität krankt.
Dabei ist anzumerken, dass die Tatsachen, die Putin in München vortrug, nicht neu waren: Die monopolare Welt, die nach dem Kalten Krieg „vorgeschlagen“ worden sei, erklärte er, sei nicht zustande gekommen, der Herrschaftsanspruch der USA habe mit Demokratie nichts gemein, amerikanische Werte würden anderen Staaten übergestülpt. Jede/r verstand, dass damit vor allem anderen die US-Abenteuer in Pakistan, im IRAK und die Kriegsdrohungen gegen den Irak gemeint waren. Neu war aber der Ton, in dem Putin seine Kritik vortrug: Die USA hätten ihre Grenzen fast in jeder Hinsicht überschritten, erklärte er, militärisches Abenteurertum, ausufernde militärische Gewalt und Missachtung des Völkerrechtes hätten die Welt gefährlicher gemacht. Die Politik der USA heize das nukleare Wettrüsten an. Niemand fühle sich mehr sicher. Neu war auch Putins kategorischer Protest gegen NATO-Pläne, in Polen und Tschechien Stationen für ein europäisches Raketenabwehrsystem  zu bauen. Vor allem anderen aber war es das Selbstbewusstsein, mit dem Putin diese Sicht dem NATO-Bündnis vortrug, das neu war: Sieben Jahre Putin hatten gereicht, um Russlands Kraft soweit wieder herzustellen, dass das Land seine historische Rolle als integrierender Faktor zwischen Asien und Europa wieder zu übernehmen bereit war – nämlich als Impulsgeber und stabilisierender Faktor einer kooperativ organisierten, multipolaren Weltordnung zu wirken, die es durch die aggressive Hegemonialpolitik der USA zunehmend gefährdet sieht. Diese Rolle war Russland in den Jahren seit Putins Amtsübernahme in aller Stille zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wurde sie vor aller Augen benannt. Mit dem Besuch Putins in Teheran Ende 2007, die zeitgleich zu Konferenzen des Shanghaier Bündnisses wie auch der Anrainer des kaspischen Meeres stattfand, zeigte Russland den USA auch praktisch die rote Karte. Die Teilnehmer der kaspischen Konferenz – Kasachstan, Tadschikistan, Iran, Aserbeidschan, Russland – versicherten sich gegenseitig, keine unabgesprochene Gas- und Ölförderung durch das kaspische Meer und keine Stationierung fremden Militärs auf ihrem Gebiet, die gegen eins der an der Konferenz beteiligten Länder gerichtet sei, zuzulassen. Das Shanghaier Bündnis der zentralasiatischen Staaten nahm den Iran demonstrativ als assoziiertes Mitglied in seine Runde auf.
Diese Entwicklung gibt Grund genauer hinzuschauen, woraus die potentielle Autarkie hervorgeht, aus der Russland seine neue Kraft schöpft: Sie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch. Das sind Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden konnten, sie haben eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch, waren es regionale Ausnahmen wie Sibirien, wie der Süden Russlands oder es waren vorübergehende Erscheinungen wie jene am Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als aus den dörflichen Strukturen private Industrie entstand. Ihre privaten Rechtsformen wurden jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt.
Im Ergebnis hat man es im alten Russland mit einer Organisation des Lebens zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit im Gegensatz zur europäischen Entwicklung als „asiatische Produktionsweise“ bzw. auch als „agrarische Despotie“ charakterisierten. Autarkie und Autokratie sind darin untrennbar miteinander verbunden. Die Moskauer Zaren waren Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die Struktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau, autonome Versorgung im Lande, die sich tief in die geo-soziologische Struktur des Landes und in die Mentalität seiner Bewohner/innen eingrub. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Marx und Engels kamen deswegen zu der Einschätzung, dass die russische Gesellschaft einen anderen Weg gehen werde al die europäische, sich aber nur im Zusammenhang mit einer Revolution in Europa weiter entwickeln könne.
In der Tat: Krisen gingen über das Land ohne diese Grundbeziehung von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin scheiterte am bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die gemeinschaftliche Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus. Unter Stalin steigerte sich der agrarische so zum industriellen Despotismus.
Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels – Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde. Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele – bei gleichzeitiger technischer Modernisierung der Gesellschaft.
Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: Es gelten offensichtlich Regeln, die sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: eine lang andauernde Stabilität endet in Stagnation. Phase zwei: Chaos tritt ein, eine „verwirrte Zeit“, russisch: Smuta, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses dieser Schicht auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt erhalten.
Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe besser erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“ und „Glasnost“) zielte auf eine gelenkte Befreiung dieser Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung.
Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen, vor allem auch die Folgen der Computerisierung unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem allgemeinen Zerfall führte. Die „Schocktherapie“ Boris Jelzins war Ausdruck dieser Dynamik.
Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktionsweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Auch für ihn galt: Nicht Nachvollzug westlicher Produktions- und Lebensweise, sondern Effektivierung der russischen Gesellschaft mit Anleihen aus dem Westen, der gemeinwirtschaftlichen Ordnung mit Elementen des Privatwirtschaft. Was dabei herauskommen wird, ist selbstverständlich offen – auf keinen Fall aber eine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus.
Es entsteht eine Mischkultur, deren widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Beitrittsabsichten zur WTO und Angleichung an deren Standards sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite, die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht Subventionen für die eigene Landwirtschaft beibehalten zu wollen und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung auf der anderen.     Klar gesprochen: Russland wird sich nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen, was nichts anderes bedeutet, als für die Länder, die wie es selbst von der asiatischen Produktionsweise herkommen, eine Impuls- und Führungsrolle gegen den unipolaren Herrschaftsanspruch der USA und für eine multipolare kooperative Weltordnung einzunehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, solange es die Quellen seiner doppelten Autarkie – natürliche Ressourcen und Fähigkeit zur Selbstversorgung – schützt und entwickelt. Jede „Liberalisierung“ des Welt-Ressourcenmarktes dagegen wie auch jede Verdrängung und Zerstörung der traditionellen Selbst- und Eigenversorgungsstrukturen durch forcierte Fremdversorgung und „Monetarisierung“ im Lande selbst schwächen und seine Identität tendenziell zerstören. Erfolg oder Misserfolg russischer Politik, innen- wie außenpolitisch, misst sich an diesen Vorgaben.
Wird Putins Politik daran überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Die Restauration staatlicher Grundelemente, die er durch seine Reformen von oben einleitete, war unausweichlich. Die Ergebnisse seiner Politik bringen selbst radikale Kritiker der russischen Neu-Linken wie Boris Kagarlitzki zu der Aussage, Putin dürfe sich als erfolgreichster Herrscher Russlands betrachten, dessen Politik nur den einen Fehler habe, dass das Erreichte nicht gerecht verteilt werde. Auch außenpolitisch sei das erfolgreiche internationales Come back unübersehbar. Dem ist zuzustimmen, wenn man nicht in bloße Kritikasterei á la Kasparow, Nemzow und anderen russischen Ultraliberalen verfallen will, die zum Liberalismus der Jelzinära zurückkehren wollen. Die Frage ist allein: wie weiter? Kann Putin selbst oder können seine Nachfolger die Geister bannen, die sie im Zuge dieser Stabilisierung riefen? Wird die im Rahmen der WTO geforderte Internationalisierung des Energiemarktes und die Monetarisierung des Landes die russische Autarkie beenden oder wachsen unter dem Schutz des von Putin erneuerten bürokratischen Konsenses neue Formen eigener russischer Produktions- und Lebensstrukturen heran, die den Rahmen der WTO sprengen?
Signale, die auf Sprengung hindeuten, gab es, als Putin erklärte, dass Russland zwar in die WTO wolle, aber „zu unseren Bedingungen“. Von selbst wird dies allerdings nicht geschehen, mehr noch, Putins Ansatz das Land durch eine Reform von oben zu modernisieren, findet seine Grenzen in sich selbst, insofern die Gefahr besteht, dass die Entwicklung von Initiative aus der Bevölkerung durch die unter Putin entstandenen Formen der „gelenkten Demokratie“ nicht gefördert, sondern eher gebremst werden. Das wird durch Putins Abschiedsrede im Kreml deutlich, ungeachtet der von ihm zutreffend benannten Erfolge, Steigerung des BIP um 8.1% im letzten Jahr, 22fach gesteigertem Kapitalzufluss gegenüber 1999 usw. usf, wenn er die mangelnde Arbeitsproduktivität beklagt, wenn er die „furchtbare Verhältnisse“ für russische Kleinunternehmer beklagt und auffordert, einen „innovativen Entwicklungsweg“ zu suchen.

Für die Wiederherstellung rudimentärer sozialer Funktionen des russischen Staates war die Phase der putinschen Restauration zweifellos unumgänglich, für die Zeit nach Putin stellt sich jedoch die Frage, wohin der von Putin beschworene innovative Entwicklungsweg führt, ob der in seiner Amtszeit geschaffene Rahmen die Entstehung neuer Initiativen von unten zulässt, die traditionelles Gemeinschaftsdenken und die Impulse neuer individualisierender Selbstbestimmung so miteinander verbinden, dass sie einer einseitigen, autoritären Ausrichtung der russischen Gesellschaft an den Interessen ausländischer und inländischer Investoren von unter her aktiv entgegentreten. Ansätze dazu hat es mit den massenhaften Protesten von 2005 gegeben, in denen Rentner, Studenten und andere die Absicht der russischen Regierung vereitelten, kommunale und soziale unentgeltliche Dienstleistungen und bestehende materielle Vergütungsstrukturen in Geldbeziehungen nach WTO-Vorgaben umzuwandeln. Neue Anläufe zur Monetarisierung sind aber bereits von der Regierung beschlossen. Ihre Umsetzung ist nach den Wahlen 2007/2008 geplant. In den zu erwartenden Auseinandersetzungen darum wird sich zeigen, ob Russland tatsächlich auf ein neues Niveau der Entwicklung kommt, das Sowjetismus und Kapitalismus gleichermaßen hinter sich lässt, anders gesagt, ob es eine Symbiose aus modernen Formen der Industriegesellschaft und Erhaltung, bzw. Weiterentwicklung der Selbstversorgung zu entwickeln imstande ist.

veröffentlicht in: Junge Welt

Russland –- Worüber lohnt es zu diskutieren?

Ist Russland eine Demokratie? Nein. Es ist ein Land im Übergang von einer zentralistischen Gesellschaft in eine ungewisse Zukunft. Sicher ist aber keine Kopie des Westens zu erwarten. Ist Putin ein Demokrat? Nein! Aber auch kein Diktator, wie immer wieder in westlichen Medien zu lesen ist. Putin war der mit großer Mehrheit gewählte und mit ebenso großer Mehrheit noch einmal im Amt bestätigte Präsident dieser Übergangsgesellschaft, dem die Aufgabe zufiel ein Minimum an Versorgungssicherheit im Lande wieder herzustellen und dem geschwächten Land wirtschaftlich und politisch wieder auf die Beine zu helfen. Er tat dies, indem er die von Gorbatschow eingeleitete, unter Jelzin aus dem Ruder gelaufene Privatisierung legalisierte, ihre Auswüchse einschränkte, den wirtschaftsliberalen Kurs fortsetzte, zugleich aber die Verwaltungsstrukturen zentralisierte, die Kontrolle des Staates über lebenswichtige Ressourcen wieder herstellte. Es war der Kurs einer restaurativen Modernisierung, der Russland innenpolitisch befriedete und außenpolitisch wieder handlungsfähig machte. Der Kurs war  autoritär und liberalistisch zugleich, es war pragmatische Machtpolitik im Interesse der neuen russischen Eliten. Ich bezeichne diesen Kurs als autoritäre Modernisierung. Die immens steigenden Weltmarktpreise für Öl- und Gas machten ihn möglich und erträglich für die Bevölkerung. Über diesen Verlauf der Geschichte gibt es eigentlich wenig zu streiten.

Die offene Frage ist vielmehr: Was wird jetzt geschehen? Will, kann und wird Putins Nachfolger Dmitri Medwedew, unterstützt durch einen Ministerpräsidenten Putin, die Zügel jetzt, auf dem Boden des Erreichten, wieder lockern, wie angekündigt, wird er die Bürokratie zurückschneiden, das Recht stärken, um mehr Möglichkeiten für private Initiative freizusetzen? Und kann Russland in der erkennbaren aktuellen Krise Impulse für eine Erneuerung der internationalen Beziehungen, nicht zuletzt der globalen Energieversorgung geben? Oder muss die Welt imperiale Abenteuer eines autoritären Energie-Riesen Russland fürchten?

Dies sind einige der Fragen, die sich zu diskutieren lohnen. Und wo Dr. Dr. Umland in seiner Replik zu Alexander Rahr und mir auf diese Fragen eingeht, da kann es interessant werden, die Situation von verschiedenen Seiten anzuschauen. Unter Umgehung akademischer Spitzen und Spitzfindigkeiten möchte ich daher geradewegs auf diese Fragen losgehen.

Da ist aus meiner Sicher zunächst Dr. Dr. Umlands Grundansatz, den er in seinem Vorwort vorausschickt, Politologie sei „de facto eine Demokratiekunde“ und „zudem eine ausdrücklich universalistisch orientierte Wissenschaft“, was im Fall des von ihm vorgelegten Beitrages ja wohl heißen soll, dass er die russische Entwicklung am Maßstab von demokratischen Werten misst, die er für allgemeingültig hält, auch wenn diese Politologie, wie er selbst angibt, „als solche zunächst in Großbritannien und den USA entstand.“

Nun sind Dr. Dr. Umland und ich vermutlich nicht unterschiedlicher Meinung, was die Wertschätzung der demokratischen Verhältnisse betrifft, in denen wir selbst hier in Deutschland leben dürfen. Und ich hoffe sehr, dass wir auch darin einig sind, dass demokratische Rechte verteidigenswert sind, wenn sie eingeschränkt werden. Aber hier beginnen schon die grundsätzlichen Fragen: Von welcher Demokratie sprechen wir? Vom deutschen Grundgesetz? Von der österreichischen Verfassung? Von EU-Recht? Von Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten durch Polizeirecht? Gehört ein Grundrecht auf materielle Versorgung mit zur Demokratie? Und wie sieht es mit dem Völkerrecht aus? War die Anerkennung des Kosovo völkerrechtlich richtig, die Anerkennung Abchasiens und Süd-Ossetiens dagegen nicht? Da gehen selbst im Westen die Meinungen der Völkerrechtler auseinander. Fragen über Fragen.

Ganz problematisch wird es aus meiner Sicht, wenn Dr. Dr. Umland behauptet, die „nachhaltige Stabilität“ des Westens scheine „ein – wenn auch nicht der einzige – Faktor zu sein, der den Westen international so dominant gemacht“ habe, um diese Aussage dann noch dahin zu steigern, der Westen sei „nicht nur demokratisch, weil er einen entsprechenden ökonomisch-sozialen Unterbau“ habe; er habe „diesen Unterbau und ist so relativ hochentwickelt, stabil sowie einflussreich, unter anderem weil er demokratisch ist“.

Ja, lieber Dr. Dr. Umland – „unter anderem“! Wie immer liegt der Teufel auch hier im Detail: Westliche Demokratie ist zunächst Produkt eines Jahrhunderte langen Raubens, Ringens und Schlachtens auf europäischem Boden, von wo aus Raubzüge, Ausrottung ganzer Völker und Kriege immer wieder die ganze Welt erfassten. Die „nachhaltige Stabilität“ des Westens ist „unter anderem“ eben auch Produkt von Imperialismus, Kriegen und Faschismus. Nicht zuletzt Russland war mehrfach Opfer dieser Entwicklung: Napoleon, 1. Weltkrieg, Hitler. Auch die „Demokratisierung“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ähnelte doch eher einer „feindlichen Übernahme“ Russlands durch den Westen, allen voran durch die USA als einer partnerschaftlichen Unterstützung auf dem schwierigen Weg der unvermeidlichen Perestroika.

Kurz, der Anspruch westlicher Politologie, die Entwicklungen anderer Gesellschaften, in unserem Falle Russlands ausschließlich unter dem Maßstab ihrer eigenen Werte zu beurteilen, erscheint mir nicht nur reichlich vermessen und hybrid, sondern auch sachlich nicht haltbar, auch wenn man selbst davon überzeugt sein mag, im besten aller Systeme zu leben – was, wie oben angedeutet, auch noch eine Frage von Auseinandersetzungen bei uns selbst ist. Der Anspruch der „Universalität“ westlicher Demokratie erweist sich bei genauerer Betrachtung als ideologische Brille, durch welche die Wahrnehmung der tatsächlichen Bewegung passend zur gegenwärtig gültigen westlichen Mode verzerrt wird, wenn nicht gar gewaltsame „Implantationen“ der eigenen Werte in fremde Gesellschaften erfolgen.

Sehr deutlich tritt dies in den weiteren Ausführungen Dr. Dr. Umlands hervor, mit denen er aus der von ihm so hervorgehobenen „nachhaltigen Stabilität“ des Westens die Schlussfolgerung zieht, „Das nichtendenwollende (sic) Plädoyer der Russen für eine ‚multipolare’ Welt“ wirke daher „pathetisch“: Die USA seien bisher der einzige Pol, „schlicht weil sie es sind“ und sie würden „aufgrund ihrer flexiblen Gesellschaftsstruktur“ diese Position auch halten. Russland habe „in der Welt wohl die geringsten Chancen, sich je zu einem ernsthaften internationalen Konkurrenten der USA zu entwickeln.“

Uff! Das klingt überzeugt. Aber wo sind die Fakten? Wie erklärt man sich dann die auch nach der Auflösung der Sowjetunion andauernden Bemühungen der USA Russland einzukreisen und klein zu halten? Wieso nimmt Russland in der Strategie Sbigniew Brzezinskis seit dem Ende der SU die Stelle eines „schwarzen Loches“ ein, das man eindämmen müsse? Am liebsten sähe er Russland dreigeteilt, ein westliches, ein östliches und ein mittleres Rest-Russland. Wieso wird diese Strategie Brzezinskis unter dem designierten Präsidenten Obama soeben noch einmal aktualisiert? Kurz: Unipolare Weltordnung oder multipolare – das ist doch heute keine Glaubensfrage mehr! Hier gibt es neue Fakten zur Veränderung der Rolle der USA, konkret ihre Schwächung als globaler Hegemon auf der einen Seite, zur Entwicklung neuer Integrationsräume auf dem Globus (China, Russland, Indien, EU, Südamerika ua.) auf der anderen, die mit den USA in neue Beziehung nicht nur treten werden, sondern bereits getreten sind und nun in die Phase der politische Realisierung dieser neuen Tatsachen steuern. Die gegenwärtige Finanz-Wirtschaftskrise ist ein Ausdruck davon. Ein anderer sind die anhaltenden Spannungen im Kaukasus, wo sich zwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion zeigt, dass das „atlantische Bündnis“ Russland trotz intensivster Bemühungen um den Ausbau eines Ost-West-Transport-Korridors am Bauch Russlands entlang nicht daran hindern konnten, über Gasprom erneut präsent im globalen Energiemarkt zu sein.

Hier ist auch anzumerken, dass „Ehlers Artikel zu kritisieren“ in der Tat schwierig ist, wie Dr. Dr, Umland in seiner Replik richtig beklagt, wenn man nicht auf die Argumente eingeht, die von Ehlers für die Tatsache vorgebracht werden, dass es Putin war, der Russland – anknüpfend an die ersten Maßnahmen einer „antiwestlichen“ Neuausrichtung Russlands durch Primakow nach der Krise 1998 – Schritt für Schritt als internationaler Partner wieder handlungsfähig gemacht hat, indem er die anarchisierten alten und neuen „Eliten“ des Landes auf Russlands Wiederaufbau orientierte. Dies, wie es bei Dr. Dr. Umland geschieht, nur unter der Rubrik „Nationalismus“ abzuhandeln, geht an der Sache vorbei, was nicht heißt, dass die in Russland zur Zeit zu beobachtenden fremdenfeindlichen Tendenzen zu verharmlosen seien. Dies aber ist, wie wir wissen, nicht allein ein russisches Phänomen. Tatsächlich war es am Ausgang der Jelzin Zeit, die so etwas wie einen  Selbstbedienungsladen der Privatisierung hinterließ, für das Überleben des Landes unabdingbar, einen – wenn auch immer noch brüchigen  – nationalen Konsens zu finden, in der Hoffnung auf einen Effekt, dass wieder Steuern, wieder Löhne, wieder Renten und andere soziale Leistungen auf unter Ebene gezahlt würden. Dieser Effekt einer Art Selbstdisziplinierung der zuvor außer Rand und Band geratenen „Eliten“ Russlands trat dann auch tatsächlich ein. Die Entwicklung der „Machtvertikale“, ebenso wie die Reduzierung der sich zu den Wahlen anbietenden Parteien von gut sechzig in der Zeit Jelzins auf eine überschaubare Zahl, die Einführung einer Selbstzensur in den russischen Medien gehört mit dazu. Dies alles sind zweifellos keine Schritte der Demokratisierung im Sinne einer funktionierenden formalen Demokratie; es waren Schritte, die die den Menschen ein Minimum an handlungs- und Möglichkeiten der Selbstbestimmung im wirtschaftlichen und sozialen Alltag zurückgaben.

Entscheidend ist die Frage, wie oben schon angemerkt, ob Medwedew das Programm der relativen Liberalisierung, mit dem er angetreten ist, jetzt tatsächlich umzusetzen in der Lage ist. Dies aber ist eine Frage, die nicht nach westlichen Maßstäben und nicht nur theoretisch zu diskutieren, sondern im Lande selbst und nach dessen Maßstäben zu untersuchen ist. Hinzu kommt, dass dieselben Fragen, verschärft und nunmehr unübersehbar geworden durch die globale Wirtschaftskrise, auch an westliche Demokratien zu stellen sind.

Bleiben am Ende noch ein paar Äußerungen Dr. Dr. Umlands, die eine weitere Debatte lohnen könnten: So seine Sicht, das Grundproblem russischer Geschichte sei die „Allgegenwärtigkeit der staatlichen ‚Machtvertikale’“. Klingt einleuchtend, wenn man an die Geschichte der russischen Selbstherrschaft denkt, die in der KPdSU ihre Fortsetzung fand und auch jetzt wieder durchbricht. Es ist dies aber nur die eine Seite, die zudem ohne nähere Auseinandersetzung mit den Bedingungen kritisiert wird, die ursächlich dafür sind. Vollständig wird das Grundproblem Russlands erst sichtbar, wenn die Polarität von Zentrum und Peripherie, von bürokratischer Lenkung und lokaler gemeinwirtschaftlicher (früher vor allem dörflicher) Wirtschaft ins Auge gefasst wird. Marx und Engels charakterisierten diese Grundstruktur des russischen Lebensraumes in Ermangelung einer genaueren Analyse seinerzeit in Anlehnung an ihrer Untersuchungen der indischen Gesellschaft als „asiatische Produktionsweise“. Diese sei dann gegeben, wenn eine gemeineigentümliche dörfliche Grundstruktur durch eine zentralistische Bürokratie verwaltet und beherrscht werde, die von diesen Dörfern lebe. Für die russische Geschichte gilt dies in extremen Maße: Selbstherrschaft plus Dienstadel und Kirche auf der einen Seite, auf der anderen die von dieser Bürokratie verwalteten, über weite Strecken der alten russischen, unter Stalin auch der neueren Geschichte geradezu versklavten Dörfer. Diese Grundstruktur der russischen Gesellschaft hat sich durch alle Modernisierungsschübe ihrer Geschichte hindurch immer wieder auf neuer Ebene durchgesetzt. Die Frage erhebt sich, ob die aktuelle Modernisierung einen Schritt darüber hinaus schafft. Das ist Russlands Grundfrage.

In diesem Zusammenhang scheint mir auch die Sicht Dr. Dr. Umlands, die „jüngeren Machenschaften des KGB-FSB und weniger die ‚russische Tradition’“ seien der „Hauptgrund für die gescheiterte russische Demokratisierung“ wesentlich zu kurz zu greifen. Erstens ist die „Demokratisierung“ Russlands noch keineswegs gescheitert, sondern hat vor dem Hintergrund der skizzierten Geschichte und auf Grundlage der soeben erfolgten Stabilisierung durch Putin noch mehrere Runden vor sich und zweitens ist der FSB nicht die Ursache der Zentralisierung in Russland, sondern eines ihrer Produkte. Die Ursache liegt zweifellos in der „Tradition“, wenn man unter Tradition nicht nur folkloristische Äußerlichkeiten versteht, sondern die geschichtliche Gewordenheit des sozio-kulturellen Gefüges der russischen Gesellschaft zwischen Asien und Europa, zwischen Zentrum und Peripherie, Selbstherrschaft und Dorf, um nur einige der dualen Pole zu nennen, die für Russland charakteristisch sind.

Richtig weist Dr. Dr. Umland dagegen darauf hin, dass bei den Ereignissen um die Auflösung des Volksdeputiertenkongresses (den ich zugegeben allzu umgangssprachlich unter „Duma“ in den Text eingeführt hatte) die Nazi-Truppe der Barkaschowzis ein unrühmliche Rolle gespielt haben, was natürlich die Motive der Abgeordneten von einer sehr undemokratischen Seite her beleuchtet. Da habe ich keinen Widerspruch zu Dr. Dr. Umlands Darstellung der Vorgänge. Das Anwerben der Barkaschowzis durch die damaligen Deputierten ist aber vermutlich kein Argument, mit dem irgendetwas zu beweisen wäre. Es zeigt sich hier vielmehr ein grundlegendes Problem des nicht – oder zumindest recht anders als im Westen – entwickelten gesellschaftlichen Diskurses in Russland: So wie 1993 die Barkaschowzis die Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses gegen die neue Macht unterstützten, so verbündet sich heute der von der Mehrheit der Westmedien als Vertreter d e r  demokratischen Opposition gehandelte ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow mit den Nationalbolschewiken des Schriftstellers Limonow oder auch dem Chef des Verbands sowjetischer Offiziere, Ex-General Alexej Fomin und anderen.

Auch Alexander Dugins Karriere muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Mit seiner klerikal-faschistischen Grundorientierung war Dugin in den ersten Perestrioka-Tagen und auch noch zu Jelzins Zeiten marginalisiert; mit der Krise des Liberalismus, d.h., mit der Verwandlung der Privatisierung in eine Prichwatisierung, der versprochenen Demokratisierung in soziale Verelendung gewann Dugin schon unter Jelzin zunehmenden Boden, nach Putins Antritt fand er Zugang zum Präsidentenapparat. Stimmt. Aus dieser Tatsache lässt sich jedoch keine nationalistische Politik Putins ableiten, eher eine Erkenntnis über die pragmatische Natur der Putinschen Politik, der nach allen Seiten gleichermaßen „think tanks“ zu sich heranzog. Dugin fand seinen Zugang als Berater über den kommunistischen Dumapräsidenten Selesnjow, in ähnlicher Weise arbeiteten Mitglieder der KPRF, Liberale wie auch andere Parteilose die einen formal, die anderen informell am Apparat.

Damit möchte ich meine Ausführungen für dieses Mal schließen, obwohl ich mir bewusst bin, auf viele Fragen noch nicht eingegangen zu sein. Sie müssen für ein anderes Mal offen bleiben. Nur gegen eine der von Dr. Dr. Umland vorgebrachten Spitzen muss ich mich am Ende doch noch verwahren, nämlich die, ich hätte die „Rhetorik“ der Putinschen Rezentralisierung reproduziert, wenn ich z. B. vom „faulen Frieden“ in Tschetschenien spräche.

Stellen wir klar: Dieser Frieden war oberfaul, brüchig und hat dementsprechend nicht lange gehalten. Die Vereinbarungen zum Wiederaufbau wurden weder von der Moskauer Zentrale, noch von tschetschenischer Seite eingehalten. Tschetschenien entwickelte sich nach dem „Friedensschluss“ von 1996 zum politischen und moralischen Niemandsland, in das sich kein Journalist mehr traute aus Angst für Lösegeld gekiddnapped zu werden. Auch der jetzige Friede ist noch nicht viel mehr als das Ende größerer Kampfhandlungen. Dies, wie die ganze grauenhafte Geschichte des ersten und des zweiten tschetschenischen Krieges wie auch der Separationskriege um Berg Karabach, Abchasien, Südossetien und Transnistrien gleich nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 ist ein weiteres Kapitel der jüngeren russischen Geschichte, bei dessen Darstellung man nicht mit Argumenten Pro-Jelzin und Contra-Putin hinkommt. Darin wird mir vermutlich auch Dr. Dr. Umland nicht widersprechen wollen. Insofern kann es bei dieser kleinen Richtigstellung bleiben. Im Übrigen ist die Entwicklung in Tschetschenien ein Thema, das uns leider auch in Zukunft beschäftigen wird, solange im Kaukasus keine Lösungen gefunden werden, die Konkurrenz um den Zugriff auf die kaukasischen und zentralasiatischen Öl- und Gasressourcen zwischen USA, EU und Russland friedlich im Einvernehmen mit den dort lebenden Völkern zu regeln, statt sie für die jeweils eigenen Interessen zu instrumentalisieren.

Veröffentlicht in : Eurasisches Magazin

Georgien – Aus der Nähe betrachtet

Georgische Geschichte ist untrennbar mit der russischen verbunden. Russen und Georgier haben nicht nur jüngst aufeinander geschossen, sie streiten auch darum, wer wem im Laufe der Geschichte mehr zu verdanken hat und wer wen jetzt verraten habe. Russen streiten sogar mit Russen und Geogier mit Georgiern um diese Frage.  Gute oder auch schlechte Gründe gibt es auf beiden Seiten: Die einen weisen darauf hin, dass Russland Georgien vor dem Untergang als Nation bewahrt und zur kulturellen Blüte gebracht habe.  Die anderen erklären, der Zarismus, danach die Sowjetunion hätten Georgien zum Vasallen erniedrigt und unterdrückt; Russlands Vorgehen im Krieg um Südossetien sei nichts anderes als der Versuch, diese mit der Auflösung der Sowjetunion beendete Situation wiederherzustellen.
Wer diese Auseinandersetzung verstehen will, muss weit in die Geschichte des Kaukasus zurückgreifen: Der Kaukasus ist von Alters her Durchgangsraum der Völker zwischen Asien und Europa, ebenso zwischen der eurasischen und der afrikanischen Landmasse. Teils friedlich, teils im Krieg vermischten die Völker sich miteinander. Am „Berg der Sprachen“ werden im Kaukasus heute, je nach Zählweise nicht weniger als 40 – 60 Sprachen gesprochen, manchmal in einem Dorf mehrere nebeneinander. Zugleich ist der Kaukasus auch das „wilde Land“. Von 76 Territorial- und Nationalitätenkonflikten, die der Auflösung der Sowjetunion 1990 folgten, betrafen mehr als zwei Drittel den Kaukasus. Im Zentrum dieser Konflikte steht heute Georgien.
Unter den staatenbildenden Völkern des Kaukasus blickt Georgien, heute ein Gebiet von der Größe Schleswig-Holsteins mit einer Bevölkerung von ca. 4,5 Millionen Menschen, auf die längste Geschichte zurück. In vorchristlicher Zeit, so die georgische Geschichtsschreibung , bildete der Kaukasus einen einheitlichen Kulturraum. Im sechsten Jahrhundert entwickelten sich darin zwei georgische Königreiche als herrschende Mächte, Kolchis und Iberia. Mit Schmiedehandwerk, besonders einer hochstehenden Goldschmiedekunst, mit Wein, Getreideanbau, Imkerei, Rinderhaltung, Leinenproduktion waren Kolchis und Iberia wirtschaftlich hoch entwickelt. Sie standen in Verbindung mit den griechischen Kolonien an der Nordküste des Schwarzen Meeres. Für die Griechen wurde der Kaukasus so wichtig, dass sie ihn in ihren „mythischen Kosmos“ mit einbezogen. Den König Aietes der Argonautensage siedelten sie in Kolchis an; Prometheus sahen sie an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet.
Im vierten Jahrhundert drang das Christentum in Kolchis und Iberia ein, gut 500 Jahre bevor es Russland erreichte. In den Jahrhunderten danach hatte das frühe Georgien wechselnde Angriffe der Römer, Perser, Byzantiner, Araber und Türken auszuhalten, die das Land immer aufs Neue verwüsteten. Im elften Jahrhundert gelang es georgischen Fürsten, das Land von türkischer, im zwölften dann auch von arabischer Vorherrschaft zu befreien. Unter dem König David IV. und der Königin Tamara Ende des 12. Jahrhunderts wurde Georgien zur beherrschenden Macht des kaukasischen Raumes zwischen Schwarzem und kaspischem Meer. Diese Hochblüte georgischer Kultur endete mit dem Sturm der Mongolen im 13. Jahrhundert, deren Herrschaft bis ins 14. Jahrhundert anhielt. Danach drangen Perser und Osmanen in Georgien ein, später noch einmal die Mongolen unter Timur Leng. Die ständigen Abwehrkämpfe brachten die georgische Kultur an den Rand des Unterganges. Das georgische Königreich zerfiel für Jahrhunderte in Kleinfürstentümer, Ethnien, Dörfer und Clans. Was das bedeutete, kann daran ermessen werden, dass noch im heutigen Georgien 26 Volksgruppen 23 verschiedene Sprachen sprechen.
Unter diesen Bedingungen, so kann man den georgischen Quellen übereinstimmend entnehmen , wandte Erekle II, König von Karti-Kacheti (Ostgeorgien) sich an Russland, das seit 1779 militärisch in den Kaukasus expandierte, um mit ihm einen Schutzvertrag abzuschließen. 1783 kam es zum „Georgiewsker Vertrag“. Georgien verpflichtete sich darin, keine Beziehungen zu islamischen Ländern zu unterhalten und erkannte die Oberhoheit und den Schutz des russischen Zaren an. Die Innenpolitik Georgiens sollte Angelegenheit des georgischen Königs bleiben. Russland stellte zwei Bataillone zum Schutz Georgiens zur Verfügung, verpflichtete sich aber, die territoriale Integrität Georgiens zu achten.
Mit der  Gründung der Festung Wladikawkas (Beherrsche den Kaukasus) 1784 wurde jedoch deutlich, dass Russland, das seit 1799 dabei war die kaukasischen Bergvölker zu unterwerfen, weitergehende Absichten für den Kaukasus hatte. Als die Perser 1795 erneut Georgien angriffen, blieb die russische Hilfe für das georgische Land aus. 1801 schickte Russland jedoch Truppen über den Kaukasus, setzte den georgischen König unter Bruch des Vertrages von 1783 ab und annektierte Ostgeorgien.  Im einem Manifest erklärte der russische Zar Alexander I. 1801, dass die Eingliederung Georgiens ins russische Reich “nicht zum Wachstum unserer Macht, nicht aus Habgier, nicht um die Grenzen des ohnehin schon größten Reiches der Welt auszudehnen“ erfolgt sei, sondern weil Russland die „Last des georgischen Zarentums“ auf sich genommen habe.
Von diesem Zeitpunkt an war Georgien Bestandteil des Zarenreiches, danach der Sowjetunion, nur unterbrochen durch eine kurze Periode der Unabhängigkeit nach der Revolution von 1917, nachdem  Georgien sich am 26. Mai 1918 zur unabhängigen Republik erklärt hatte. Am 25. Februar 2001 wurde es nach einem Sieg der Roten Armee über die menschewistischen Georgischen Truppen in die Sowjetunion eingegliedert, aus der es sich erst mit deren Zerfall 1991 löste. Das sind fast zweihundert Jahre gemeinsamer russisch-georgischer Geschichte. In ihr verhalten sich das kleine Georgien und das große Russland zueinander wie innere und äußere Matrioschka, die berühmte Puppe in der Puppe  – eigenständige Figuren, aber identisch in ihrer Lage zwischen Asien und Europa, identisch in ihrer Völkervielfalt, identisch in ihrer staatlichen Grundstruktur, die sich in der Polarität von Zentralstaat und Pluralität, ja, clanweise organisierten Anarchie bewegt, identisch in der patriarchalen Einheit von christlicher Kirche und Staat, später Partei, identisch in ihrer Sozialstruktur, in der das eigene Dorf, der eigene Clan, nicht der Staat die Lebenssicherheit bietet. Selbst das Phänomen einer „zweiten Ökonomie“ die berüchtigte realsozialistische Schattenwirtschaft, ist beiden aus einer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber einem säkularen profit- und effektivitätsorientiertem Denken gemeinsam; in der Sowjetunion übernahm Georgien dafür sogar die führende Rolle.  Nur kleinräumiger ist dies alles in Georgien, konzentrierter, extremer, immer auf Selbstbehauptung des nationalen Zentrums gegen äußere Angriffe und innere Zersplitterung orientiert. Es fehlt die Relativierung, die Russlands Autokratie, selbst der Stalinismus immer wieder durch die eurasische Weite erfuhr.  Georgien ist, so könnte man sagen, ein Konzentrat Russlands! Identifizierung und Abstoßung wechseln sich ab.
Politisch hat Georgien die russische, danach die sowjetische Herrschaft über den Kaukasus trotz der beständigen Träume der Georgier von eigener nationaler Selbstbestimmung stabilisiert. Man erinnere sich: Es war Georgien, das Stalin hervorbringen konnte. Er begann seine Laufbahn als Priesterschüler Iossev Bessarionisdse Dschughaschwili in Georgien. Auch sein Geheimdienstchef Berija kam aus Georgien. Er wurde als Sohn einer mingrelischen Bauernfamilie bei Suchumi in Abchasien geboren und begann seine Karrriere bei der georgischen Tscheka.  In der Politik dieser beiden flossen die Tradition der russischen Selbstherrschaft und georgisches Herrschaftswissen, das sich in der Auseinandersetzung mit der Völkervielfalt des Kaukasus herausgebildet hatten, zu einem autoritären Zentralismus zusammen.
Die Kämpfe um Abchasien und Südossetien stehen exemplarisch für diese Erfahrungen. Beide Völker wehrten sich schon in vorzaristischer Zeit gegen georgische Herrschaftsansprüche. Im 8. Jahrhundert bildete sich im heutigen Westgeorgien ein abchasisches Königreich; 929 wurde es vom georgischen geschluckt. Als das georgische Königreich Ende des 15. Jahrhunderts zerfiel, wurde Abchasien erneut ein selbstständiger Staat.  Mit dem „Georgiewsker Vertrag“ kamen beide unter den Einfluss der russischen Zaren. 1918 wurde ein bolschewistischer Aufstand in Abchasien von Georgischen Menschewiki niedergeschlagen; 1921, nachdem die Rote Armee die georgischen Menschewiki besiegt hatte, wurden Georgien und Abchasien Bestandteil der Sowjetunion. Beide erhielten den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik, waren einander also gleichgestellt. 1931 wurde Abchasien zu einer autonomen Republik innerhalb der georgischen SSR zurückgestuft.
Osseten und Georgier liegen ebenfalls seit Jahrhunderten im Konflikt miteinander. Die Osseten, die sich erst im 18. Jahrhundert dort ansiedelten, wo sie jetzt leben, werden von den Georgiern als Einwanderer betrachtet. Die „Neuankömmlinge“ wurden wiederholt zwischen Russland und Georgien hin und her geschoben; als Georgien sich 1918 zur Republik erklärte, wurde Ossetien in Nord- und Südossetien geteilt. Aufstände zur Vereinigung Südossetiens mit dem Norden in den Jahren 1918 – 1920 wurden von Georgien niedergeschlagen. Die Kämpfe kosteten mindestens 5000 Tote, 20.000 Südosseten flohen nach Nordssetien (bei damals ca. 100.000 Einwohnern Südossetien, davon 65.000 Osseten). Nach Eingliederung Georgiens in die UdSSR 1922 wurde Südossetien zum autonomen Gebiet innerhalb der georgischen SSR erklärt, Nordossetien verblieb in der UdSSR, bekam dort 1936 den Status einer autonomen Republik.
Das Ende der Sowjetunion ließ alle diese alten Konflikte aufbrechen und rückte eine Neuordnung des Kaukasus auf die Tagesordnung. Es begann mit Demonstrationen für eine abchasische Unabhängigkeit in Tiblissi 1989; sie wurden von der Roten Armee niedergeschlagen; 19 Menschen kamen ums Leben. 1989/90 bildete sich auch in Südossetien eine nationale Bewegung, Georgien erklärte daraufhin Georgisch, Ossetien im Gegenzug Ossetisch zur Amtssprache.   Im März 1991 deklarierte Georgien seine Unabhängigkeit. Der neue Präsident Georgiens, Gamsachurdija erhob – ohne dass darüber völkerrechtlich entschieden worden wäre – Anspruch auf Eingliederung Abchasiens und Südossetiens in das georgische Staatsgebiet und ließ einmarschieren. Im Krieg zwischen georgischen und abchasischen Milizen um die Autonomie Abchasiens kamen 1990/1 mindestens  8000 Menschen zu Tode; fast die Hälfte der Einwohner (meist Georgier, etwa 250 000) floh aus Abchasien.
1992 wurde Gamsachurdija gestürzt. Sein Nachfolger Schewardnaze, vormals sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow,  versprach eine gemäßigtere Politik in der „Nationalitätenfrage“. Trotzdem marschierten georgische Truppen in Abchasien ein. Im Verlauf des Jahres 1993 wurden sie von abchasischen Truppen zurückgeworfen. Russland erkannte zwar Georgiens Souveränität an, unterstützte dennoch die Abchasischen Truppen.
Nicht viel besser ging es in Ossetien zu: Am 20. September 1990 erklärte Ossetien sich für souverän, ein blutiger georgisch-südossetischer Krieg folgte. 1991 drangen georgische Milizen auf südossetisches Gebiet vor, zerstörten hundert Dörfer und belagerten Zchinvali. Moskau griff nur zögerlich ein. Unterstützung bekam Süd-Ossetien von Freiwilligen einer zuvor entstandenen „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Im Mai 1992 erklärte die Republik Südossetien endgültig ihre Unabhängigkeit. Erneut folgten schwere Kämpfe, in deren Folge Zchinvali erstmals zerstört wurde.
Nach dem Sturz Gamsachurdias kam ein erstes Friedensabkommen zustande, das zwischen Schewardnaze und Boris Jelzin ausgehandelt wurde. Es sah eine gemeinsame Friedenstruppe von 1500 Mann vor, die zu gleichen Teilen aus Russen, Georgiern, Süd- und Nord-Osseten bestand. Sie sollten in einem 15 km breiten neutralen Streifen rund um das südossetische Gebiet Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Als Zeichen des Goodwills räumte Schewardnaze den Russen darüber hinaus den Bau von vier Stützpunkten ein, veranlasste den Eintritt Georgiens in die GUS und dessen Teilnahme am Taschkenter Bündnis, das 1992 zwischen den Staaten der GUS „zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes“ abgeschlossen worden war.
Eine Kommission der OSZE, KSZE überwachte, von Minsk ausgehend, die Vereinbarungen Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Sie entwarf mehrfach Friedenspläne, die aber immer wieder auf Eis gelegt wurden; die Konflikte froren auf dem Stand einer De-facto-Existenz Abchasiens und Südossetiens ein. Eine internationale Anerkennung kam – wie auch zu Berg Karabach und der Djnesterrepublik – nicht zustande.
In der „Rosenrevolution“ 2003, die Schewardnaze stürzte, kam Michail Saakaschwili mit der erklärten Absicht an die Macht, Abchasien und Südossetien wieder unter „volle Kontrolle“ des georgischen Staatsgebietes bringen zu wollen. Die Beziehungen blieben zunächst noch entspannt. Saakaschwili stand sogar zur Mitgliedschaft in der GUS und hielt ausdrückliche Distanz zur NATO.
Im Mai 2004 jedoch, nach der Wiederwahl des ossetischen Präsidenten Eduard Kokoitys, der Saakaschwilis Eingliederungsabsichten mit nationalen Tönen beantwortet hatte, sperrten georgische Truppen die Grenze zu Südossetien und richteten Kontrollpunkte entlang der südkaukasischen  Fernstraße ein. Sie schlossen den Ergneti-Markt, Südossetiens wichtigste Einnahmequelle. Truppen wurden an der Pufferzone stationiert. Als Russland daraufhin zusätzliche Kräfte in die Region transportierte, brachen erneut Kämpfe aus.
Am 13. August 2004 wurde der Waffenstillstand erneuert. Seine Einhaltung wurde ab 2005 von der KSZE mit acht Militärbeobachtern kontrolliert. Seit 2006 jedoch häuften sich die Konflikte. Saakaschwili erklärte wiederholt, dass er auch militärisch die Einheit Georgiens wiederherstellen werde, wenn Südossetien sein Angebot eines Autonomiestatus nicht annehmen werde. Zchinvali lehnte dieses Angebot mit Hinweis auf seine faktische Selbstständigkeit ab.
Auch die Friedenstruppe wurde Gegenstand der Auseinandersetzung: Saakaschwili warf Russland vor, in der Friedenstruppe durch Unterstützung der Südosseten zweifach, zusammen mit dem nordossetischen Kontingent sogar dreifach vertreten zu sein. Er wertete das als Besetzung Georgiens durch russische Truppen. Zudem forderte er den Rückzug Russlands aus den von Schewardnaze 2004 zugestandenen Stützpunkten. Im Juli 2006 verlangte das georgische Parlament, die Friedenstruppen, vor ihren russischen Teil durch eine internationale Polizeitruppe zu ersetzen. Seit 2007 baute Georgien, gefördert von den USA und der NATO, ca. 20 km. von Zchinwali entfernt bei der Stadt Gori eine Militärbasis auf. Die Ausgaben für den Militärapparat hatten sich zu diesem Zeitpunkt von 0,5% des georgischen Bruttosozialproduktes im Jahr 2003 um das Sechsfache auf 3% im Jahr 2007 erhöht.
Politische Provokationen Saakaschwilis gegen Russland begleiteten diesen Kurs: so die offene Unterstützung der „orangenen Revolution“ in der Ukraine,  so die wiederholten Ankündigungen Saakaschwilis, dass Georgien die GUS verlassen, dafür in die NATO eintreten wolle, nicht zuletzt die offene Finanzierung dieses Kurses durch die USA: Nach Angaben des Statedepartments erhielt Georgien seit 2002 820 Millionen US-Dollar an Hilfe. Damit war Georgien der drittgrößte Empfänger von US-Hilfe per pro Kopf nach Irak und Armenien und noch vor Afghanistan.
Am    23. Mai 2005 konstituierte sich schließlich, ebenfalls gefördert von den USA, die GUAM (bei ihrer Gründung GUUAM genannt nach den Mitgliedstaaten Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbeidschan und Moldawien) unter Hinzutreten von Litauen und Rumänien neu als prowestlich orientiertes Konkurrenzbündnis zur GUS, nachdem Usbekistan und Aserbeidschan vorher ausgetreten waren.
Eine Zuspitzung der Konflikte trat ein, als am 27. September 2007 vier russische Offiziere in Georgien wegen Spionage verhaftet und öffentlich vorgeführt wurden. Russland antwortete mit nahezu totaler Wirtschaftsblockade Georgiens. Trotz westlicher Hilfe kam Saakaschwili auf diese Weise in einen immer stärkeren Zugzwang: Sein Wahlversprechen auf Herstellung territorialer Einheit konnte er nicht einlösen; die Wirtschaft zeigte zwar Zuwachs, der aber an der Mehrheit der Bevölkerung auf Grund von Korruption und Clanwirtschaft vorbeiging. Politische Morde und rätselhafte Todesfälle trübten das Bild der rosenfarbenen Revolution. „Der Regierungschef Surab Schwania, Vertreter der armenisch-jüdischen Minderheit, wurde im Februar 2005 vermutlich ermordet. Der in Ungnade gefallene Verteidigungsminister Irakkli Okruaschwili sucht seit Ende 2007 in Westeuropa nach politischem Asyl. Der Medienmogul Otar Patarkazischwili verstarb unter mysteriösen Umständen Anfang 2008 in seiner Villa in London.“
Anfang November 2007 kam es zu Massenprotesten in Tiblissi, die Opposition forderte den Rücktritt Saakaschwilis. Er ließ die Demonstrationen zusammenknüppeln und einen oppositionellen Fernsehsender schließen. In den vorgezogenen Wahlen am 5. Januar 2008  stürzte er auf 53% der Stimmen ab.

Wer dies alles vor Augen hat, wird verstehen, warum Saakaschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. 8. 2008 sein Heil schließlich in einer militärischen Flucht nach vorne suchte. Bleibt dennoch festzustellen, dass Russland in seiner Rolle als Friedensmacht selbstverständlich nicht ohne Widerspruch dasteht. Russlands primäres Interesse nach dem Zerfall der Union 1990 bestand zunächst darin, die eigene Staatlichkeit vor weiterem Zerfall zu bewahren. Folge war der Krieg in Tschetschenien und der Versuch, die Konflikte im Süden nicht eskalieren zu lassen. Solange Russland durch den Krieg in Tschetschenien geschwächt war, war das „Einfrieren“ der Konflikte aus russischer Sicht strategisch nützlich. Es half Russland Gewaltausbrüche an seinen südlichen Grenzen zu verhindern und zugleich differenzierten innenpolitischen Einfluss auf die beteiligten Konfliktparteien im Kaukasus ausüben. Eine „Gemeinschaft der nicht anerkannten Staaten“ bildete sich; auch das stärkte Russlands Einfluss. Konfliktträchtig war die Tatsache, dass die russischen Friedenstruppen zugleich Konfliktpartei waren. Sie partizipierten zudem mit illegalen Waffenverkäufen an der Halblegalität. Als Folge offener Grenzen zu Russland und georgischer Sanktionen wurden die Gebiete in den russischen Wirtschaftsraum eingesogen. Hinzu kam die Ausgabe russischer Pässe an Bewohner Abchasiens und auch Südossetiens seit 2002, außerdem die Auszahlung Renten durch den russischen Staat, die über dem georgischen Niveau liegen.
Es entstand, so Stephan Bernhardt im Eurasischen Magazin  in seiner Analyse weit vor der offenen Eskalation, eine „schleichende Annexion“ der Schutzgebiete durch Russland. Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA, Großbritannien und einige EU-Staaten im März 2008 gab Wladimir Putin den russischen Behörden zudem die Anweisung  quasi-staatliche Beziehungen mit Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Im Mai verstärkte Russland seine Truppen in Abchasien; im Juni 500 schickte es Fallschirmjäger nach Ossetien; im Sommer 2008 noch einmal 400 Mann zur Reparatur einer Bahnstrecke in Abchasien geordert. Am 15. 7. 2008 führte Russland ein Manöver „Kaukasus 2008“ an der Grenze zu Georgien durch. Kurz, es ist offensichtlich, dass Russland mit einem möglichen Vorstoß Saakaschwilis rechnete. Noch in den letzten Wochen vor dem Krieg gab es allerdings Versuche von russischer Seite, die Konflikte auf dem Verhandlungswege zu lösen. Selbst der Abschuss einer Drohne über Abchasischem Gebiet wurde von Russland öffentlich gemacht, um Saakaschwilis Mobilisierung zu stoppen. Saakaschwilis Erklärung, er habe einem russischen Angriff zuvorkommen müssen, entbehrt daher jeglicher Realität. Sie wird  selbst von seinen eigenen Militärs als Unwahrheit bezeichnet.  Ob mit dem russischen Gegenschlag die „Verhältnismäßigkeit“ überschritten und ob mit der anschließenden Anerkennung Abchasiens und Ossetiens das Völkerrecht verletzt wurde, ist eine andere Frage, die allerdings genauer Klärung bedarf.
Vom Völkerrecht, argumentieren selbst russlandkritische westliche Autoren –  wenn man denn in Bezug auf Krieg überhaupt völkerrechtlich argumentieren will – seien auch De-facto-Staaten, als die Abchasien und Ossetien nun einmal gelten müssten –  zweifellos geschützt, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits gegen Aggressionen von außen, andererseits könne ein solcher Staat sich Hilfe zum Selbstschutz von außen herbeirufen. Völkerrechtlich sei Russland auch zum Angriff berechtigt gewesen, weil die Friedenstruppen unter Bruch geltender Verträge von Georgien angegriffen und russische Soldaten dabei getötet worden seien. Auch Russlands Angriff auf Nachschubstellungen des georgischen Militärs sei gedeckt, soweit von ihnen Angriffe ausgegangen und weiter zu erwarten gewesen seien. Wie weit dabei die Verhältnismäßigkeit überschritten worden sei, sei eine Ermessensfrage, deren Beantwortung notwendig nach Einschätzung der Lage schwanke. Als problematisch dagegen gilt Russlands Begründung auch bei diesem offenen Verständnis des Völkerrechtes, Russland habe russische Staatsbürger schützen müssen, die im Besitz russischer Pässe gewesen seien.

Bei diesen Feststellungen könnte man es bewenden lassen. Es gibt da noch vieles in den zukünftigen Beziehungen zwischen Russland, Georgien, Achchasien und Ossetien zu klären. Ebenso in den anderen noch nicht gelösten „eingefrorenen Konflikten“ um die armenische Enclave Berg-Karabach in Azerbeidschan, um die von Moldau abgespaltene Dnjester-Republik. Die Zukunft wird es zeigen. Darüber hinaus gibt es jedoch einige Elemente in der Eskalationsgeschichte dieses Konfliktes, die noch einer weiteren Ausleuchtung bedürfen:
Da ist zuallererst die Tatsache, dass Georgien parallel zum russischen Manöver „Kaukasus 2008“ auf georgischem Territorium ein Manöver zusammen mit der NATO durchführte. Man könnte also meinen, dass auch die NATO vorbereitet war. Bemerkenswert ist weiterhin, dass zwei der über Abchasien und Ossetien im Vorfeld des Krieges abgeschossenen Drohnen Fabrikate israelischer Bauart (Elbit Hermes 450) waren, offenbar also nicht nur die USA, sondern auch Israel am Aufbau der georgischen „Sicherheitskräfte“ beteiligt war. Festzuhalten ist auch, dass die USA nicht nur bereit, sondern auch in der Lage waren, die 2000 Mann zählende georgische Hilfstruppe aus dem IRAK umgehend zur Unterstützung des georgischen Militärs nach Georgien einzufliegen.
Zu erinnern ist weiterhin an die NATO-Tagung in Bukarest, auf der Georgien und der Ukraine angesichts erkennbar gespannter Entwicklung der Lage im Kaukasus eine Beitrittsperspektive zur NATO zugebilligt wurde. Nur gestreift werden sollen hier schließlich die Kampfansagen aus den Tiefen des US-Wahlkampfes, in denen Russland vom Berater McCains, Randy Scheunemann, wieder unter die Schurkenstaaten eingereiht wurde.
Hinter der örtlichen Zuspitzung der Widersprüche taucht die große „stategische Ellipse“ auf, die NATO, EU und US-Planer immer wieder beschwören, wenn es um die globale „Energiesicherheit“ geht. Die „strategische Ellipse“ umfasst vom Süden her die arabischen Staaten und den Iran, von dort erstreckt sie sich über das schwarze Meer, den Kaukasus und das kaspische Meer bis in den mittleren Norden Russlands. Sie enthält 80% aller heute bekannten fossilen Ressourcen. Ihr südlicher Teil – Arabien und der Iran – ist vergeben, ihr nördlicher Teil ist Gegenstand der heutigen strategischen Auseinandersetzungen.
Seit 1990 wirken USA und EU gemeinsam an der Herstellung eines sog. Transportkorridores, der von West nach Ost am Bauch Russlands entlangführt.  Durch ihn soll Öl und Gas unter Umgehung russischer Beteiligung fließen. Die Pipelines, die dafür gebraucht werden, müssen und können nur  – sollen sie russisches Gebiet oder mit Russland befreundete Länder wie den Iran und Armenien umgehen – durch Georgien führen. Das ist die von den USA finanzierte Pipeline von Baku über Tiblissi nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste, nach den Transitstädten BTC-Pipeline genannt, sowie daran angeschlossen das EU-Projekt der Nabuco-Gaspipeline von Baku über Tiblissi, Ankara direkt nach Südeuropa. Diese Planung hat Georgien zum unverzichtbaren Transitland auf dem Schachbrett des „großen Spiels“ gemacht, von dem Sbigniew Brzezinksi , seinerzeit Sicherheitsberater Clintons, heut einer der Hintermänner Obamas, bereits 1997 sprach: Er nannte den Kaukasus das „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf den die USA sich den Zugriff als Weltmacht sichern müssten, indem sie verhindern das eine der dort beteiligten Kräfte sich auf Kosten anderer wieder zur Vormacht entwickeln könnte.  Für die USA sind Geogier, Abchasen und Osseten Bauern in diesem Spiel; für Russland sind sie Nachbarn; mit denen es seit Jahrhunderten gelebt hat und in Zukunft leben muss.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Aus persönlichem Briefwechsel im Herbst 2008
Dmitri Rogosin, ständiger Vertreter Russlands bei der NATO in der FAZ vom 20.08.2008: „,Russland hat die Georgier immer für Brüder gehalten …Aber niemand erinnert sich daran, dass es eigentlich Russland war, das eine lange Zeit die Unabhängigkeit und Integrität des georgischen Landes gewährleistete. Niemand erinnert sich auch daran, dass die Georgier seit dem 15. Jahrhundert nach einem russischen Protektorat strebten.“ FAZ, 20.08.2008
www.georgische Zeitung.de; www.georgienseite.de
Aus: Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008, Krisen Region  Kaukasus: Ursachen, Akteure, Perspektiven, S. 135
www.georgienseite.de
www.georgienseite.de: Die Geschichte Georgiens
Wikipedia; außerdem: Maria Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach (Hrsg.): Der Kaukasus, becksche reihe,, München 2008
www.kaukasische-zeitung.de; www.georgieenseite.de
Nach: deutsch kaukasische gesellschaft e.V./  www.abchasien.de u.a.
Handelsblatt, 26.08.2008
In der Matrioschka, der russischen Puppe in der Puppe stecken mehrere immer kleiner werdende Ausgaben ineinander, die bis auf die Größe vollkommen miteinander identisch sind.
Dazu auch ein sehr interessanter Aufsatz von Boris Forkel, Georgiens  Weg nach Europa. Förderliche und hemmende Einflüsse der Kultur auf den gegenwärtigen Transformationsprozess, webtext, 2008
ebenda
Einzelheiten u.a. gut bei Wikipedia
Informationen aus: Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008
Ebenda, A.123 ff, Der ungelöste Streit um Südossetien
Ebenda
Ebenda, S. 102 ff, Abchasien – Kämpfe um den schönsten teil der Schwarzmeerküste
Ebenda, S. 149 ff Internationale Organisationen – Hemmschuh oder Motor für eine Konfliktlösung im Kaukasus?
Siehe dazu: Stephen Bernhard, Nach der Rosenrevolution eine neue Revolution? Eurasisches Magazin 3/08 und 4/08; außerdem laufende Berichterstattung von ria-novosti und russland.ru
Russland Analysen 169/08, S. 4; Spiegel online,13. August 2008
www.georgien.ru
Stephan Bernhard, Eurasisches Magazin  3/08 und 4/08
Siehe NATO-Bericht in der FAZ vom 6.9.2008
Russland Analysen 169/08, S. 5 ff
Michel Chossudovsky, www.global research.ch, 10.8.2008
Robert Scheer, www.truthout.org, 12.08.2008
Osteuropa 9-10/2004, Europa unter Spannung, Energiepolitik zwischen Ost und West,
Einzelheiten zu den strategischen Programm des Korridors =  TACIS, TRACECA, INOGATE in: Kai Ehlers: Asiens Sprung in die Gegenwart, Russland, China, Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraumes „Inneres Asien“, Pforte, 2006
6. Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer bt 14358, 1997/99
Mehr zu diesem Thema: Kai Ehlers, Gasprom – Expansion oder Kooperation, in Hintergründe, 21.10.2008

Für die chronologischen Angaben wurde u.a. die thematisch rubrizierte Berichterstattung von ria-novosti und russland.ru genutzt

GAZPROM – Konfrontation oder Kooperation?

Über GAZPROM zu sprechen, heißt über gegenläufige Tendenzen der Globalisierung zu sprechen. Gazprom ist weit mehr als sein Name vermuten ließe, der übersetzt Gasindustrie bedeutet. Gazprom ist identisch mit Russlands Energiepolitik, korrekt gesprochen, rund 51% der Gazprom-Aktien sind Staatsbesitz. Der Vorgänger von Alexei Miller, des heutigen Chefs von Gazprom, Rem Wechirew pflegte zu sagen: Was Gazprom nützt, nützt Russland.. Gazprom ist der drittgrößte Konzern auf dem globalen Energiemarkt, Teil des internationalen Finanzgeflechtes mit Tendenzen einer Monopolisierung, was ihm von westlicher Seite den Vorwurf des Energie-Imperialismus einträgt. Allen voran geht dabei der Chefstratege der USA Zbigniew Brzezinski, der nach der Zerschlagung des Yukos Konzerns und der Inhaftierung dessen ehemaligen Chefs Michail Chodorkowski 2004 das Stichwort ausgab, Wladimir Putin wolle einen russischen „Energiefaschismus“ aufbauen. 1

Gazprom ist jedoch zugleich – nicht zuletzt auch von denselben Kritikern moniert – ein undurchsichtiger Gesamtzusammenhang von Staat, Geld und Gesellschaft, in dem nach wie vor keine „marktwirtschaftlichen“ Prioritäten gesetzt, sondern schlicht die Ressourcen des Landes verkauft, teilweise sogar noch im Tauschverkehr abgegeben werden.2 Von dem Verkauf lebt das russische Staatsbudget zu mehr als einem Drittel und mancher Betrieb und manche Kommune existiert nur dank geldloser Lieferungen von Gazprom. Was Gazprom schadet, könnte man sagen, schadet also auch Russland. Und in der Tat: Vor der Finanzkrise war Gazprom der Gewinner der exorbitant steigenden Ölpreise, in der momentanen Krise einer der stärksten Verlierer. Der Ölpreis stürzte fast über Nacht von 140 Dollar um mehr als die Hälfte, die 49% an der Börse handelbarer Aktien des Konzerns mit ihm. Der russische Staat musste mit Stützungsgeldern in Milliardenhöhe einspringen.3 „Mit dem Kopf in der Globalisierung und mit den Füßen im Garten“ dürfte daher nach wie vor eine passende Beschreibung für den widersprüchlichen Charakter dieses Riesen sein.4 Kurz: Gazprom ist ein authentischer Ausdruck Russlands.

Aber was resultiert aus dieser Sachlage? Sind die hysterischen Stimmen ernst zunehmen, die davor warnen, dass Gazprom die EU wegen ihrer Abhängigkeit von russischen Energie-Lieferungen in die Zange 5 nehmen könne? Immerhin bezieht die EU heute 44% ihrer Gasimporte aus Russland.6 Oder muss man umgekehrt fürchten, dass Gazprom sich in Krisenzeiten als unfähig erweisen könnte, seine Lieferverpflichtungen zu erfüllen und damit die Gesellschaften der EU in eine Wirtschaftskrise reißen könnte? Fragen dieser Art werden nach dem georgischen Krieg im August 2008 auf westlicher Seite wieder heftig hin und her bewegt 7 , nachdem sich die letzte Welle der Unsicherheit anlässlich der Preisstreitigkeiten zwischen Gazprom und der Ukraine bei der Vertragserneuerung am Jahresende 2005 einigermaßen gelegt hatte.

Eine Antwort auf diese Frage muss man in den Tatsachen suchen: Auf Gazprom entfallen 85% der russischen und rund ein Fünftel der weltweiten Erdgasförderung. Für das Pipelinenetz in Russland hält Gazprom das Monopol. Gazprom entstand im Zuge der Auflösung der Sowjetunion aus dem sowjetischen Ministerium für Gas- und Ölförderung und dem dazugehörigen Verteiler- und Zulieferernetz. Der Konzern hatte vor dem Finanzcrash einen Börsenwert von 360 Milliarden Dollar. Genau 50,002 % der Aktien befinden sich heute in der Hand des Staates, 29,482 gehören anderen Gesellschaften, 13,068 Privatpersonen, 6,5 % der deutschen E.ON Ruhrgas, 0,948“ ausländischen Personen.

Gazprom hat mehr als 50 Tochtergesellschaften, darunter viele, die nicht im Gasgeschäft tätig sind, unter anderem Gazprom-Neft (Öl) Gazprom-Bank, Gazpro-Media, dazu die mit der deutschen Wintershall zusammen gebildete Nordstream AG, ganz zu schweigen von dem Geflecht der Regionalniederlassungen, Service- und Zuliefererfirmen in den verschiedensten Sektoren.

Obwohl der Staat heute über 50,002% der Gazprom-Aktien hält, noch ergänzt durch andere Teilhaber von Gazprom, in denen der Staat ebenfalls Anteilseigner ist, also faktisch die absolute Mehrheit der Gesellschafterstimmen bei Gazprom innehat, bestimmt nicht der russische Staat, sondern Gazprom die Abnehmer-Preise. 8 Im Juli 2008 sah die russische Regierung sich sogar veranlasst, Gazprom wegen der von ihm im Inland verlangten Monopolpreise auf Benzin zu verwarnen.9 Zuvor war Alexei Miller bereits von Putin scharf darauf hingewiesen worden, dass Gazprom sein Pipeline-Monopol anderen Firmen gegenüber nicht ausspielen dürfe. Seit April 2008 läuft eine gerichtliche Klage eines kleineren Betreibers gegen Gazprom vor der russischen Antimonopolbehörde. Grund dürften interne Differenzen zwischen Gazprom und Rosneft, einer der privaten Ölfirmen, um den russischen Ölmarkt sein.10

Anzumerken ist auch noch: Gazprom macht bis heute keine „Marktpreise“, sondern entscheidet nach sozialen und politischen Kriterien. Zwei Drittel der Lieferungen gehen ins Inland, aber mit ihnen macht Gazprom nur ein Drittel des Umsatzes. Gazproms Auslandspreise sind bis heute politisch gestaffelt: Als Folge der immer noch nicht vollständig gelösten Versorgungslinien der Sowjetzeit zahlen ehemalige Sowjetrepubliken entsprechend ihrer politischen Nähe zur Russischen Föderation in unterschiedlicher Weise. Einen Sonderpreis bekommt Weißrussland; mit 130 Dollar pro 1000m³ liegt auch die Ukraine trotz der Erhöhung um 40% bei Vertragswechsel von 2005 noch unter dem Weltmarktpreis. Sonderkonditionen erhalten Südossetien, Dnjesterrepublik, Serbien, selbst noch Georgien.
Tendenziell will Gazprom die Vorzugspreise abbauen – sowohl im Inland als auch im Ausland – und mit seinen Preisen insgesamt auf Weltmarkniveau kommen, aber hierfür gibt es kein zeitliches Limit. Das heißt, Gazprom befindet sich noch im Umbruch, wenn es denn überhaupt dahin kommt. Umgekehrt ist Gazprom seit 2007 dazu übergegangen beim Abschluss neuer Verträge für den Bezug von Gas aus Turkmenistan und Kasachstan günstigere Bedingungen anzubieten als die westlichen Abnehmer, in der Absicht die Quellen dieser Länder für den eigenen Pipelineverbund zurückzugewinnen, nachdem die alten Verbindungen seit 1990 unterbrochen waren.11

Im Juni 2008 erschreckte der Vorstandsvorsitzende Alexei Miller die westliche Welt mit der Ankündigung, angesichts des steigenden weltweiten Gasbedarfs sei offensichtlich, dass die Bedeutung Gazproms in der Zukunft nur wachsen könne. In den kommenden Jahren werde Gazprom „nicht nur eine der großen Gesellschaften der Welt sein, sondern die einflussreichste auf dem Energiesektor.“ Gazprom plane zudem, das Netzwerk der Gas exportierenden Länder zu einer ständigen Organisation auszubauen, zu einer Art Gas OPEC. Im Unterschied zur bestehenden OPEC jedoch seien die prinzipiellen Ziele dieses Gas-Forums „nicht allein die Verteilung laufender Produktionsquoten, sondern langfristige Aktivitäten und Investitionspläne in der Gasindustrie“. Über den bloßen Export hinaus wolle Gazprom ein weltweites Verteilernetz direkt bis zum Endverbraucher hin ausbauen: „Wir schlagen unseren europäischen Partnern ein Projekt über die Schaffung eines dichten Netzes mit Gas-Tankstellen unter Beteiligung von Gazprom vor,“ so Miller. Für die nächsten zehn Jahre, in denen der Ölpreis voraussichtlich auf 250 Dollar steigen werde, sei keine bessere Alternative in Sicht.12 Alle aktuell von Gazprom betrieben Projekte, so Miller, wie die Ostseepipeline, die „South Stream“, die „Precaspian Gas Pipeline“, die „Stockmannfelder“ entwickelten sich sehr schnell. Mit Indien und China stehe man in Verhandlungen. Mit Nigeria stehe man kurz vor einem Abschluss. Darüber hinaus habe Gazprom Projekte in Nord Amerika, ebenso wie in Asien und Süd Amerika. „Nord Amerika“, hob Miller besonders hervor, “sehen wir als Region unseres strategischen Interesses“. 13

Spätestens diese Äußerung führte zu einer Eskalation gegenüber US-amerikanischen Interessen. Die Reaktionen kamen prompt und sie fielen sehr lautstark aus. US-Senator Richard G. Lugar beschwor kurz darauf vor dem „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ die Energieversorgung Europas als Waffe in der Hand Russlands. Ein Abstellen des russischen Gashahns käme einer militärischen Attacke auf ein Land gleich. Und der „Chefstratege“ Zbigniew Brzezinski legte bei derselben Veranstaltung im Juli 2008 nach, Russland wolle die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline übernehmen und drohe bereits Georgien. (s.w.u.)

Blick zurück

Doch der aktuelle Energiepoker ist nur vor dem Hintergrund der Entwicklung und Geschichte des russischen Akteurs und Energiegiganten Gazprom zu verstehen.

Gazproms Vorgeschichte, so könnte man sagen, beginnt mit der Erschließung der kaukasischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts. Das geschah wesentlich durch westliches Kapital, erst britisches, nach der Revolution 1917 amerikanisches. Erst ab 1923 begann die Sowjetunion selbst den Weltmarkt zu beliefern. Zu dem Zeitpunkt wurden 75% der in der SU benötigten Energien im kaspischen Raum gewonnen. Hitlers Angriffe auf Baku zwangen die Sowjetunion zur schnellen Erschließung und Ausbeutung neuer Felder in Sibirien. Die Bedeutung des kaspischen Raums ging zurück. Zudem gewann die Gasförderung gegenüber der des Öls seit den 70er an Bedeutung. „Wurden Anfang 1950 noch knapp 40% des Rohölbedarfs der Sowjetunion aus der Region Baku gedeckt, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1980 auf nur etwas über 2%“14 Die Förderungen konzentrierten sich auf die neuen sibirischen Vorkommen. Die alten Anlagen verfielen, die neuen wurden überstrapaziert. Ende der 80er bestand für die gesamte Gas- und Ölindustrie dringender Modernisierungsbedarf.

Die Umwandlung des Branchenministeriums der Gas-Versorgung in einen Staatskonzern 1989, dessen Privatisierung als Aktiengesellschaft 1992 ließ eine autonome Organisation mit quasi hoheitlichen Funktionen entstehen. Die Modernisierung jedoch blieb stecken. Die Bevölkerung erlebte Gazprom als Selbstbedienungsladen ehemaliger Funktionäre und deren Klientel. Die Ölbranche ging eigene Wege; sie entwickelte sich zum Eldorado privater Oligarchen.

André Kolganow, Dr. der Ökonomie an der Moskauer Staatsuniversität, führendes Mitglied der Neulinken Gruppe „Alternative“15 charakterisierte die Situation des Konzers Mitte der 90er Jahre als „zur Zeit ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. (…) Seit der Privatisierung verfügt Gazprom über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von Gazprom unterstellt. Gazprom führt also Aufsicht über sich selbst. Gazprom ist eine merkwürdige Organisation: Nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. Gazprom ist überhaupt eine mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“ Interessant seien die „eigenen sozialen Strukturen“, die Gazprom befähigten sich „einen eigenen sozialen Kompromiss mit seinen Arbeitern zu leisten“16 Kolganow meinte damit die Gründung einer eigenen, Gazprom zugehörenden „gelben“ Gewerkschaft.

Ein leitender Mitarbeiter von Gazprom brachte die Verhältnisse in einem nicht-öffentlichen Untersuchungsgespräch auf den Nenner: „Was die transnationalen Aktivitäten anbetrifft, so handelt Gazprom wie eine normale europäische, westliche Kooperation. Was Gazproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der extrapolaren Wirtschaft, aber über sie ist Gazprom doch gezwungen , sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“17

„Extrapolare Wirtschaft“ ist ein Stichwort des russischen Ökonomen Prof. Theodor Schanin, mit dem er und die von ihm gegründeten „Moskauer Schule für Politik und Soziales“ die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Realität Russlands definieren, die nicht als sozialistische, aber auch nicht als kapitalistische, sondern als zwischen diesen Modellen befindliche „extrapolare“ beschrieben werden müsse.18 Gemeint ist das Ineinandergreifen von Geld- und Tauschwirtschaft in einer Symbiose von Industrieproduktion und Strukturen der ergänzenden familiären und kollektiven Selbstversorgung.

Für westliche Augen war diese Struktur einfach ein Rätsel: „Die Firma übernahm das sozialistische Erbe der Verantwortung für Kindergärten, Schulen, Wohnungen in den Gaszentren des Nordens; wo das ‚blaue Gold’ bei minus 30 Grad aus dem Eisboden geholt wird“, schrieb beispielsweise die „Zeit“. „Betriebsspartakiaden für die Belegschaft und Yachtclubs für das Management rundeten den Kleinkommunismus ab. Gazprom schluckte Milchfabriken, Banken, Metallhütten, Chemiebetriebe und Zeitungsredaktionen. Doch der Niedergang hatte begonnen. Die Gesamtproduktion von Gazprom sank von 602 Milliarden Kubikmetern 1992 auf 520 im Jahr 2001, während die Förderung im privaten Ölsektor steil anstieg. (…) Der Gasinlandsmarkt ist ein Plansystem der Quoten und der staatlich festgeschrieben Niedrigpreise, sodass Gazprom gezwungenermaßen ganze Industriezweige subventioniert. Eine Aufteilung des Konzerns in die Sparten Förderung und Transport und Verkauf würde verdeutlichen, wo Werte geschaffen oder vernichtet werden. Doch die Intransparenz ist vielen nützlicher.“ Fazit der „Zeit“: „So blieb Gazprom der größte russische Betrieb, der nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegt.“19

„Was Gazprom genau ist“, wunderte sich auch das deutsche „Managermagazin“, „lässt sich kaum in einen einzigen Begriff pressen (…) Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an? In der Region verwischen sich die Konturen. Was Bayer für Leverkusen oder VW für Wolfsburg, diese Rolle des sozialen Korrektivs nimmt die Firma für ganz Russland ein. In Westsibiriens Kreisstadt Badym lebt nahezu die komplette Kommune vom Geld des Megakonzerns.(…) Überall schimmert er durch, der eingebrannte Stolz auf die Autarkie“20

Gazprom wurde das Feld, auf dem sich die Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs Russlands in den 90er Jahren konzentrierten. Der bekannteste Rechte Russlands, Alexander Prochanow charakterisierte diese Auseinandersetzung mit den Worten: „Gazprom ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist eindeutig nützlich für den Staat. In ihr gewinnt man riesige Gelder. Gazprom bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat Gazprom die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. Gazprom hat aber zugleich die Verbindung zum Business. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist übel. Außerdem arbeitet Gazprom leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen beiseite. Aber über Gazprom verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. Gazprom reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt sich auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf Gazprom zur Zeit die Angriffe: Allzu schmackhaft sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski21 . Deshalb ist der Kampf um Gazprom wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistische Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen“22

Ein Korridor gegen Russland

Parallel zur inneren und äußeren Auflösung der Sowjetunion gingen die westlichen Industriemächte daran, allen voran die USA und in ihrem Gefolge die EU, seit Anfang der 90er einen sog. Ost-West-Transportkorridor, romantischer auch „Projekt-Seidenstraße“ genannt, an Russlands „Bauch“ entlang zu führen, durch den zentralasiatisches und kaspisches Öl und Gas unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols nach Westen geschafft werden könne. Milliardenschwere Programme wurden dafür aufgelegt, Technische Entwicklungshilfe für die GUS (TACIS), das gigantische eurasische Pipelineprogramm (INNOGATE) und das Programm zu Modernisierung von Trassen-, Schienen und Hafenanlagen (TRACECA) – alles mit dem Ziel, den kaukasischen und zentralasiatischen Raum durch den Ausbau von Ost-West-Verbindungen von der bisherigen Zentrierung auf Moskau zu lösen. 23 Von einer Beratung und Mitwirkung bei diesen Programmen war und ist Moskau expressis verbis ausgeschlossen.24

Den strategischen Hintergrund für die Programme konnte man in Bzrezinskis Buch „Die einzige Weltmacht“ nachlesen.25 Eurasien sei der „geopolitischer Hauptgewinn“ der USA schrieb er. Russland müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen: von Seiten der NATO und EU-Erweiterungen im Westen, durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan im Osten, durch Eingriffe im „Eurasischen Balkan“ am „Bauch“ Russlands im Süden des eurasischen Kontinentes – Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem südlichen Raum gehe es für die USA darum, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern. Mit TACIS, INOGATE und TRACECA folgte die EU dieser Vorgabe.

Ergebnis dieser Programme war als Erstes der „Jahrhundertvertrag“ von 1993, der die Ausbeutungsrechte globaler Multis, außer Gazprom, versteht sich, am aserbaidschanischem Öl für 30 Jahre regelte. In den Verhandlungen um die zukünftigen Transportwege setzten sich die USA mit ihren Vorstellungen durch, den neuen Transportkorridor sowohl an Russland als auch am Iran vorbei über Georgien und die Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu bauen. Die zentralasiatischen Felder sollten durch Zuleitungen am Boden des kaspischen Meeres mit einbezogen werden. 2005 konnte die Pipeline, noch ohne diese Zuleitungen, in Betrieb gehen; nach den Anfangsnamen der Städte Baku, Tiblisi, Ceyhan heißt sie heute BTC-Pipeline. 26

Zweites wesentliches Ergebnis war der seit 2006 auf Vorschlag der USA verfolgte Plan der EU eine Gas-Pipeline, genannt Nabucco-Pipeline vom Osten der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis ins österreichische Baumgarten an der March führen. Von dort soll das Gas über das Verteilernetz des österreichischen Energiekonzerns OMV in die EU weitergeleitet werden.27 Baubeginn ist für 2009 geplant, Betriebsbeginn für 2013.

In Verbindung mit den EU- sowie NATO-Osterweiterungen, sowie der am 23. Mai 2006 beschlossenen Deklaration der Rest-GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldawien) eine „Brücke zur NATO und zur EU“ unterhalten zu wollen, konnten USA und EU sich als vorläufige Sieger in der Auseinandersetzung um den Zugriff auf die zentralasiatischen und kaspischen Energievorkommen betrachten, auch wenn der ökonomische Nutzen der BTC-Pipeline ohne die zentralasiatischen Zuleitungen noch zu wünschen übrig ließ.

Straffung durch PUTIN

Mit der Krise 98, noch unter Jelzin setzte die Gegenbewegung Russlands ein. Im Ergebnis der Krise löste Russland sich, nicht unbedingt freiwillig, aber effektiv, vom Tropf der IWF-Kredite. Unter der Vorgabe, die eigenen Kräfte zu stärken, machte Putin sich dann daran, die in den 90er gewachsene Macht der privaten Privatisierungsgewinnler zugunsten eines wieder erstarkenden russischen Staates zurückzudrängen. Das traf 2001 zuallererst die Führung von Gazprom. An die Spitze von Gazprom traten jetzt Alexei Miller als Vorstandsvorsitzender und Dimitri Medwedjew, der jetzige Präsident Russlands, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wjechirew und sein Klientel mussten gehen. Von ihnen gehaltene Anteile gingen an den Staat über. Der private Charakter des Konzerns als AG sowie seine halbmarktwirtschaftliche Grundstruktur jedoch blieben erhalten.

Mit dem so erneuerten Instrument Gazprom ging Putin gegen den Medien-Oligarchen Gussinski und die graue Eminenz der Jelzin-Zeit Beresowski vor, die beide das Land verließen. Wendepunkt im Kampf um den Zugriff auf die Ressourcen wurde der Prozess gegen Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Als die Prozesse gegen Chodorkowski begannen, hatte Yukos seinen Firmensitz in New York und Chodorkowski war drauf und dran große Anteile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco US-Kapital zu verkaufen. 28 Die Auseinandersetzung endete mit der Eingliederung des Öl-Konzerns Sibneft in den Gazpromverband. Damit war die (Wieder)Zusammenführung von Gas- und Öl-Industrie eingeleitet.

Nach der inneren Neuordnung der Energiewirtschaft gingen Putin und sein „Kommando“ planmäßig daran, verlorenes Terrain auf dem Energiemarkt zurückzugewinnen:
2005 schließen Gazprom mit Wintershall einen Vertrag zum Bau der Ostsee-Pipeline (North-Stream), die russisches Gas unter Umgehung der Transitländer Osteuropas direkt ins Herz der EU liefern soll. Sie soll ihren Betrieb spätestens 2013 aufnehmen.
Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) am 15. Juni 2006 schlägt Putin die Gründung „eines SCO Energieclubs“ vor. Er weist darauf hin, dass die SCO-Mitglieder 20 Prozent der Weltölreserven und 50 Prozent der Weltgasreserven kontrollieren. Bei einem Besuch Putins in Algerien erlässt er dem Land die Schulden und stellt umfangreiche Waffenlieferungen in Aussicht. Danach beginnen Gazprom und der algerische Energiemulti Sonatrac mit „geologischen Erkundungen“.
Beim Petersburger Treffen der G8 im Jahr 2006 bietet Russland sich als Kontrolleur des Welt-Energiemarktes an. In den deutschen Börsennachrichten vom 24.4.2007 wird gemeldet, Russland wolle Milliarden aus seinen gewaltigen Öl- und Gaseinnahmen in internationale Konzerne investieren. Man werde Anteile in diversen Branchen zeichnen, unter anderem im Öl- und Gasgeschäft. Auch Investitionen im Immobiliensektor seien möglich.
Am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline (South-Stream) zusammen29: Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga/Noworossisk auf dem Grund des Meeres nach Varna an der bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen30 .

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vertrag mit Serbien im Januar 20083 1, mit Ungarn im Februar32 , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an Nabucco als auch an North-Stream beteiligen. Ein Joint Venture von Nabucco und Gazprom unter der Bezeichnung „New Europa Tansmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen.33 Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“ 34

Im Juli offeriert Gazprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen.35 Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa.36 Gazproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom sich auch nach Osten37 : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation.38 Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein.39 Zudem rechne Gazprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“40

Energie als politische Waffe

Die Erfolge Gazproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Bereits im November 2006 hatte US-Senator Richard G. Lugar auf dem NATO-Gipfel in Riga erklärt, die von Gazprom geplante OPEC sei eine „explizite Bedrohung“, die unter den Artikel 5, Beistandsverpflichtung des NATO-Bündnisvertrages falle und die „Erpressung durch Einstellung der Energieversorgung“ komme einer „militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration“ gleich.41 Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“ und ähnliche Aussagen konnte man wenige Wochen später in den deutschen Mainstream-Medien lesen und hören.42

Auch die Gas-OPEC geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sogennante „NOPEC“_Gesetz. 43

„Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“44

Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive45 . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gazproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Aserbaidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblisi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren, die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der Nabucco Pipeline gedient“ werde.

Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien (vor), die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache darin liege, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“46

Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er unter anderem damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Linie bombardieren wollen.

Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“, habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“47

Gebremste westliche Alternativen

Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und bedauernd konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde.48

Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen Nabucco und Süd-Strom liege in der Frage der Eigentümer: Nabucco werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, die ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“49

Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn turkmenisches und kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ vom südrussischen Schwarzmeerhafen Noworissisk durchs Schwarze Meer nach Samsung an der türkischen Nordküste zu verlegen. Kapazitätsverluste für Nabucco wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novororossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossetien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen.50

Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmenisches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.

Gebremste Alternativen

Wie sehr der Aufruf Brzezinskis, Russland zu isolieren, vom Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen. Nach dem Ende der Kämpfe in Georgien gab man dort – höchst widerwillig – bekannt, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom’“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“51

Verhängnisvoll? – ja, wenn BTC- und Nabucco-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wäre die Antwort dagegen, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von Nabucco und „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, wenn es auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll.52 Die tatsächlich stattfindenden Vorbereitungen für den Bau von „North Stream“ und „South Stream“ zeigen ebenfalls in diese Richtung. Ökonomische und politische Vernunft spricht für solche Lösungen – solange noch keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind.

Muss die Welt eine solche Entwicklung fürchten? Auf diese Frage gab der Vize-Vorstandschef von Gazprom, Alexander Medwedew, im Sommer 2007 der Presse eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom’ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risiken enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird.53

Dem ist nur noch die Frage hinzuzufügen, ob die EU und USA an einem solchen Partner interessiert sind.

Quellen:

1 Sbigniew Brzezinski in Wallstreet, 20.9.2004
2 So von dem Anwalt Michail Chodorkowskis, Robert Amsterdam in ww.robertamsterdam.com,
vom 6.1.2008: (…) Gazproms achievements are exaggerated for many reasons, perhaps the most important being that it is not actually a company, corporation, or purely commercial entity in the traditional sense of the term. Neither is Gazprom a Government, but rather the lines are so blurred between the two, as many OECD reports have noted, that it is often difficult to tell, which is the horse und which is carriage.”
3 Novosti, 17.9.2008 und folgende Tagesmeldungen
4 U.a. in: Kai Ehlers, Erotik des Informellen , edition 8, 2004, S. 53ff
5 Spiegel online 18.01.2008
6 Greenpaper, Towards a european strategy fort he security of energy reply, european communities, 2001
7 Handelsblatt, 01.10.2008, Gespräch mit Energiekommissar der EU, Andris Piebalgs
8 Russland Analysen 170/08, S. 13 ff
9 Russlan aktuell, 14.07.2008
10 russland aktuell, 28.4.2008
11 Lfde. Berichterstattung 2008 von rusland.ru
12 Gazprom, Pressezentrum, 26.Juni 2006
13 Süddeutsche Zeitung, 27.06.2008 und Wirtschaftsblatt, 23.06.2008
14 Angaben nach Markus Brach-von Gumppenberg, in: Der Kaukasus, Hrgn. von Maria-Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach, becksche Reihe, München 2008, S. 159ff ; außerdem: Europa unter Spannung, Energiepolitik zwischen Ost und West, Osteuropa, 9/10-2004
15 So genannt nach der von der Gruppe herausgegebenen Zeitschrift
16 In „“Gazprom – Anatomie eines Giganten“, Kai Ehlers, NDR-Forum, 12.08.2000
17 „Gazprom – Anatomie eines Gazprom – Feature im NDR Forum, 12.8.2000
18 Kai Ehlers, Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation“, edition 8, Zürich, 2004
19 Zeit Online, 12/2004
20 Manager Magazin 6/1999, S. 130ff
21 Bekanntester Oligarch der Jelzin-Zeit und Haßobjekt aller Kritiker des Privatisierung.
22 In “Gazprom – Anatomie eines Giganten“, Kai Ehlers, NDR-Forum, 12.08.2000
23 TACIS = Technical Assistance to the Commenwealth of Independent States; INOGATE = Interstate OIL and Gas Transport to Europa; TRACECA = Transport Corridor Europa-Caucasus-Central Asia (Unter diesen Abkürzungen auch im Internet auffindbar)
Siehe dazu: Kai Ehlers, Asiens Sprung in die gegenwart, Russland China, Mongolei – Die Entwicklung eines Kulturraumes ‘Inneres Asien’”
24 Evaluation of TACIS/TRACECA programme. Transport Corridor Europa Caucasus Asia, Request for Services No. 2002/47681, Final Report, Jacobs Consultancy, London, Juli 2003 Caucasus Asia
25 Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer tb, 14358, 1997
26 Angaben z. T. nach Markus Brach-von Gumppenberg, in: Der Kaukasus, Hrgn von Maria-Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach, becksche Reihe, München 2008, S. 159ff
27 Michael Liebig, www.solon.online.de
28 Kai Ehlers, Der Fall Chodorkowski oder: Russland im aktualisierten „Great Game“, Ralph-M. Luedtke/Peter Strutynski (Hrsg.), Neue Kriege in Sicht, Verlag Winfried Junio, Kassel 2006
29 Novosti 16.09.2008
30 Solon online, 7.07.2007
31 Novosti 16.09.2008)
32 Novosti 16.09.2008
33 Russlandktuell12.2007
34 Novosti, 29.04. 2008
35 Taz, 26.07.2008
36 ebenda
37 Novosti, 10.12.2008
38 Focus, 14.7.2008
39 Russland Taz, 07.10.2008
40 russland.ru, Juli, 2008
41 Energy and NATO, Senator Lugar´s keynote speech t the German Marshall Fund Conference on Monday; November 27, 2006 in Riga, Tavia, in advance of the NATO Summit, zitiert nach Jürgen Wagner, der russisch – Europäische Erdgaskrieg, Linksnet1, August 2007
42 Focus, 21.08 06
43 Linksnet, JÜRGEN Wagner in Ausdruck
44 Backgrounder, published by The Heritage Foundation, No 2083, November 5, 2007
45 OIL; Oligarchs and Opportunity: Energy from Central Asia To Europa, Committe on Foreign Relations The Uniated States, Julne, 12, 2008
46 ebenda
47 Welt, 11.8.2008
48 Oil, Oligarchs and Opportunity: Energy From Central Asia to Europa, Dr. Leon Fuerth, 12.06.2008
49 ebenda
50 www.steinbergrecherche.com
51 polskaweb.eu, 2.09.2008
52 Russlandktuell12.2007
53 Gazprom pressezentrum, 17.06.2007

veröffentlicht in: Hintergrund

„Ökonomisch denken – solidarisch handeln? Regionales Wirtschaften durch Grundeinkommen.

Beitrag im Attac-Buch:

Hat die „Arbeitsgesellschaft“ noch eine Zukunft?

Ehrlich gesagt, die Hauptfrage des Buches, ob die „Arbeitsgesellschaft“ noch eine Zukunft habe, ebenso wie die konkrete Themenstellung des Aufsatzes, zu der ich eingeladen wurde und die Sie jetzt lesen, nämlich: „Ökonomisch denken – solidarisch handeln“ halte ich für keine besonders glückliche Formulierung. Jedenfalls fordert sie meinen Widerspruch heraus und ich kann es nicht unterlassen, mit einerkleinen Polemik zu dieser Fragestellung zu beginnen., auch wenn bei dem einen oder der anderen damit offene Türen einrennen sollte, insbesondere natürlich bei den Attac-Freunden, die mich zu diesem Beitrag eingeladen haben. Aber es gibt heute doch so viele Leute im Chor der Grundeinkommens-Befürworter, die allen Ernstes von einem Ende der Arbeit“ sprechen, dass es wohl einen Sinn macht, von dieser Irritation auszugehen und zunächst einmal Klarheit zu schaffen, wovon wir eigentlich sprechen.
Arbeiten muss der Mensch, so lang er lebt – und sei es nur, dass er sich den Tisch deckt, das Bett macht, die Wohnung in Ordnung hält und dergleichen. Eine Existenz wie der letzte Kaiser in China, der sich weder allein ernähren noch selber ankleiden konnte, ist persönlich kaum wünschenswert und gesellschaftlich ist klar, dass es niemals in der Geschichte der Menschheit eine Situation gegeben hat und auch in Zukunft keine geben wird, in der eine ganze Gesellschaft nicht arbeitet – selbst wenn die Bananen reif zum Verzehr auf den Bäumen wachsen. Dann müssen sie doch immer noch heruntergeholt werden.
Auch eine hoch-entwickelte, hoch-automatisierte Industrie-Gesellschaft muß doch wenigstens die Verteilung ihrer Güter organisieren, um die Versorgung ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Selbst die Auszahlung eines Grundeinkommens, wenn dies denn eines Tages als bedingungsloses und allgemeines verwirklicht wird, was ich hoffe und unterstütze, wird nicht ohne die Mühe der Steuereinnahme und der Auszahlung der Unterhaltsbeträge zu haben sein.
Nun könnte man, zugegeben, auch diesen Prozess noch rationalisieren, indem die steuerlichen Einnahmen wie die Auszahlungen des Grundeinkommens nur einmal im Jahr vorgenommen würden, die Organisation weitgehend computerisiert würde usw.; es biebe aber doch selbst in diesem Falle ein Minimum an physikalischer Organisation zu bewältigen, solange man es noch mit einer lebendigen Gesellschaft bestehend aus lebendigen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Wünschen etc. zu tun hat, von anderen Dingen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens wie der Beschaffung von Grundnahrungsmitteln, der Gewinnung und Veredlung von Naturressourcen, der Herstellung von Kleidung, der Gewährleistung von Heizung, Verkehr, der Produktion der banalsten Gegenstände des alltäglichen Lebens wie Teller, Tassen , Löffel  usw., von Toiletten und allgemeiner Müllbereinigung ganz zu schweigen. Völlig außen vor bei dieser kurzen Aufzählung blieben dabei noch die pflegerischen Notwendigkeiten – vom Aufbringen der Kinder über die Ausbildung der Jugend und die Weiterbildung der Erwachsenen bis hin zur Pflege der Kranken, Alten und Sterbenden. Also, kurz und banal: Ohne Arbeit wird es auch in Zukunft nicht abgehen.
Zum Zweiten: „Öknomisch denken – solidarisch handeln?“ Nein! Mit der gleichen Logik könnte man sagen: „Solidarisch denken – ökonomisch handeln.“ Das klänge schon besser, wäre aber im Kern ebenso wenig akzeptabel. Im ersten Fall wäre zu klären, was denn „ökonomisch denken“ bedeuten soll. Von welcher Ökonomie ist die Rede? Ist damit die herrschende Logik der Profitmaximierung gemeint? Wenn ja, dann muss jede Aufforderung „ökonomisch (zu) denken“ und „solidarisch (zu) handeln“ ein frommer Wunsch bleiben, der offen lässt, ob dem „ökonomischen Denken“ entsprechend, in Kritik daran oder gar in Konfrontation dazu gehandelt werden soll. Wie auch immer, läuft die Formulierung auf eine Irreführung hinaus.
Mit der Umkehrung könnte schon eher ein Schuh daraus werden, also „Solidarisch denken – ökonomisch handeln“ – vorausgesetzt allerdings, das solidarische Denken wirkte sich auf die Art und Weise des „ökonomischen Handelns“ aus. Das hieße aber nichts anderes, als Ökonomie und ökonomisches Handeln unter dem Gesichtspunkt der Solidarität neu zu denken. Zu reden wäre dann über eine andere, eben eine solidarische Ökonomie. Aber was ist eine solidarische Ökonomie?
Mit dieser Umstellung der Prioritäten könnten wir schon mitten im Thema sein, wenn da nicht noch eine weitere Anmerkung notwendig wäre, denn auch die Formulierung „Regionales Wirtschaften durch Grundeinkommen“ muss in guter marxistischer Tradition erst vom Kopf auf die Füße gestellt werden, bevor wir weiter fortfahren können. Die jetzige Formulierung legt nämlich nahe, dass regionales Wirtschaften durch ein Grundeinkommen ermöglicht werde. Nun würde ein Grundeinkommen, das bedingunglos an jedes Mitglied einer Gesellschaft ausgegeben würde, zweifellos jedes Wirtschaften erleichtern, aber ein Grundeinkommen ist ebenso wenig V o r a u s s e t z u n g  für eine Änderung regionalen Wirtschaftens, wie „ökonomisches Denken“ ohne Veränderung der herrschenden ökonomischen und sozialen Denk-Gewohnheiten, Vorurteile und Tabus Voraussetzung des „solidarischen Handelns“ sein kann. Eher schon ist regionales Wirtschaften eine Voraussetzung, wenn auch nicht die einzige, für die Entwicklung einer Gesellschaft, die ein Grundeinkommen einführen möchte
Das klingt jetzt weniger plausibel als die vorhergehenden Richtigstellungen in der Priorität von Ökonomie und Solidarität. Es trifft aber im Wesen das gleiche Problem: Grundeinkommen im großen Stil, damit will ich sagen, nicht nur innerhalb einer Familie oder einer überschaubaren Solidargemeinschaft, die ihre Mitglieder ohne Ansehen von deren jeweiliger Tätigkeit Verfassung grundversorgt, sondern bedingungslos und allgemein für jedes Mitglied der Gesellschaft ohne Ansehen ihrer Tätigkeit, körperlichen oder geistigen Verfassung, Rasse, Geschlecht oder Religion, wird nur dann überhaupt möglich sein, wenn es ein regionales, man könnte schon fast sagen, überhaupt wieder ein überschaubares Wirtschaften gibt. Das heißt ja nichts anderes, als dass eine andere Art des Wirtschaftens entwickelt wird, welche die zur Zeit herrschende Form des Wirtschaftens ablöst, zumindest tendenziell zurückdrängt.
Jetzt sind wir endlich da angekommen, wo es um die grundsätzlichen Fragen geht, die mit der Frage der Einführung eines Grundeinkommens verbunden sind, nämlich nicht o b, sondern w i e wir zukünftig arbeiten und w i e wir wirtschaften wollen und können, wenn es unter den zur Zeit herrschenden Verhältnissen nicht mehr möglich ist und wir es auch nicht mehr wollen.
Die zur Zeit herrschenden Verhältnisse – das ist eine privatwirtschaftliche Organisation der Wirtschaft, deren oberstes Ziel nicht die Bedürfnisbefriedigung, sondern die Profitmaximierung und Selbstverwertung des Kapitals ist, eine Wirtschaft in der Menschen auf die „Ware Arbeitskraft“ zum einen und „Kaufkraft“ für die produzierten Waren zum anderen reduziert werden.
Die zur Zeit herrschenden Verhältnisse – das ist weiterhin die Rationalisierung, Konzentration und global orientierte mobile Standortpolitik des Kapitals, welche die Schere zwischen unmittelbarem Produzenten und Konsumenten immer weiter auseinander treibt, die Menschen einerseits vom Produkt der eigenen Arbeit in rasant zunehmendem Maße entfremdet, bzw. sie als Arbeitslose ganz von der Arbeit trennt und damit den Regionen und darin lebenden Menschen die Lebensgrundlage entzieht, so daß sie nur noch als Konsumenten übrigbleiben, andererseits diese Rolle aber ebenfalls nicht mehr wahrnehmen können, da ihnen mit der Entlassung aus Lohnarbeit die Grundlage zum Kauf der Waren fehlt.
In dieser Situation ist aus Sicht des Kapitals die Einführung eines Grundeinkommens die einzige logische Konsequenz, um die Schere zwischen Produktion und Konsum nicht vollkommen aus dem Gelenk schnappen zu lassen: Nur wenn die hiesige Bevölkerung mit Geld versorgt wird,  kann sie die Produkte kaufen, die andernorts produziert werden. Dies ist die Argumentation, wie sie von dem Drogerieketten-Besitzer Götz Werner  vorgebracht wird.
Ich behaupte, er kann das nur, weil – und solange – eine solche Entwicklung objektiv im Interesse des Kapitals liegt. Es würde aber aus einer Einführung eines Grundeinkommens mit diesem Begründungszusammenhang k e i n e s f a l  l s  automatisch eine irgendwie geartete Belebung der regionalen Wirtschaft folgen – im Gegenteil. Der Spagat zwischen ausgelagerter globaler Produktion und lokalem Konsum wird zementiert und verschärft! Das heißt, die herrschende wirtschaftliche Grundorganisation, Selbstverwertung des Kapitals durch zunehmende, bessere Ausbeutung der „Ware Arbeitskraft“ einerseits und bessere Motivierung, um nicht zu sagen Nutzung des Menschen als „Kaufkraft“ auf der anderen Seite wird weiterhin ihrer Klimax entgegengetrieben.
Die Einführung eines Grundeinkommens, so betrachtet, wäre erst einmal nichts Weiteres als eine Notbremse, mit der einsichtige Vertreter des Kapitals das Auseinanderfallen von zunehmend produktiver Produktion einerseits und überblähter Konsumption andererseits, anders gesagt, zunehmender Arbeitslosigkeit und daraus folgender Verelendung einer wachsenden Zahl von Menschen auf der einen Seite und ebenso zunehmender Überschwemmung der globalen Märkte mit Produkten, die immer weniger Menschen sich leisten können, sie weil aus dem Lohnarbeitskreislaf herausfallen, auf der anderen Seite auffangen kann. Hierhin gehört die Argumentation Götz Werners, der unmissverständlich erklärt, dass „die Wirtschaft“ einen mit Grundeinkommen ausgestatteten Konsumenten braucht, wenn sie nicht zusammenbrechen soll. Mit dieser Argumentation ist er  zweifellos k e i n  Revolutionär, schon gar nicht einer sozialistischen Herkommens. Entsprechend grenzt er sich auch klar von allen Versuchen ab, ihn mit Marx, Engels oder sozialistischen Experimenten in Verbindung zu bringen. Mit Sicherheit aber ist er zur Zeit der radikalste Denker seiner Klasse, der ungeschminkt auf den  P u n k t bringt, was die herrschenden Wirtschaft braucht, um nicht abzustürzen, sondern sich weiterentwickeln zu können.
Interessantester Ausdruck dieser Position ist Götz Werners Argumentation, „wir“ hätten uns von früheren Formen der Selbstversorgung zu einer Gesellschaft der Fremdversorgung entwickelt und es müsse nun alles dafür getan werden, einen Rückfall in die Selbstversorgung, die er als rückständig charakterisiert, zu verhindern. Diese Beweisführung scheint unmittelbar einleuchtend, weil niemand hinter die Moderne zurückfallen möchte. Tatsächlich liegt aber genau hier der Knackpunkt, an dem die reale Entwicklung über das hinausgehen wird, was Götz Werner oder auch andere gut meinende und subjektiv durchaus ehrliche Befürworter des Grundeinkommens, die ähnlich argumentieren, mit der Einführung eines Grundeinkommens verbinden.
Selbstverständlich müssen und wollen wir  n i c h t    z u r ü c k    k e h r e n  zu überlebten Formen der vorindustriellen Selbstversorgung. Sehr wohl aber müssen und wollen wir  v o r a n s c h  r e  i t e n  zu neuen Formen der Wiederaneignung von Möglichkeiten und Fähigkeiten einer eigenproduktiven Selbstversorgung auf dem Niveau der technischen Entwicklung von heute, die es erlaubt, sich auf dem Niveau von heute wieder durch Einsatz eigener Arbeit mit den notwendigen Produkten des alltäglichen Lebens, des einfachen, ggflls. auch gehobenen technischen Bedarfs zu versorgen – wenn man das muß, weil man nicht mehr anders an die Waren herankommt oder auch wenn man es aus eigener Entscheidung heraus möchte.
Schon heute praktizieren Menschen auf diese Weise eine  a n d e r e, neue Stufe der Ökonomie. Das geschieht lange  b e v o r  ein allgemeines Grundeinkommen überhaupt im öffentlichen Gespräch war. Es geschieht auf der Basis der heute bestehenden sozialen Netze, die ja eine rudimentäre Form des Grundeinkommens sind.
Meine Vorstellung zu dieser Entwicklung, genauer meine Wahrnehmung dazu ist, dass unsere 100jährige Arbeits- und Lebensorganisation in einem prinzipiellen Wandel begriffen ist, in dessen Zuge sich die heute übliche Lohnarbeit auf bestimmte eingegrenzte Bereiche der Produktion und gesellschaftlicher Tätigkeit konzentriert und noch weiter konzentrieren wird, während viele andere Arbeiten, die bisher noch als Lohnarbeit organisiert waren, in die unterschiedlichsten Formen eigenproduktiver Selbstversorgung übergehen, z. T. auch radikal abgedrängt werden. Das geht vom individuellen Subunternehmer über den softwaregestützten geistigen oder auch handwerklichen Homeworker bis hin zu sich selbst versorgenden Produktions- oder Solidargemeinschaften, die sich selbst erhalten müssen und wollen. In diesem Prozess, in vielen Fällen zunächst von der Not diktiert, deutet sich eine neue Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung an. Sie enthält drei Elemente:
–    hochkonzentrierte, roboterisierte Industrieproduktion, Verwaltungs- und Organisationsarbeit mit schrumpfendem Anteil von Lohnarbeit,
–    gemeinschaftliche eigenproduktive Selbstversorgung im lokalen und regionalen Rahmen
–    Eigentätigkeit, die über Tätigkeiten in diesen beiden Bereichen hinaus wahrgenommen werden kann.
Ich bin weit entfernt davon diese Entwicklung zu romantisieren. Die reale Entwicklung führt durch die Verelendung all derer, die von dem schrumpfenden Lohnarbeitssystem ausgestoßen oder auf der Seite derer, die noch Arbeit haben, noch brutaler ausgebeutet werden. Dennoch liegt hier – ich bin versucht zu sagen – der historische Ansatz für eine neue Organisation der Arbeitsteilung und er ist  untrennbar verbunden mit einer Transformation unserer allgemeinen gesellschaftlichen Organisation. Es ist ein Prozess, der die allgemeine Industrieproduktion, eine eigenproduktive gemeinschaftliche Selbstversorgung auf dem technischen Stand von heute im lokalen und regionalen Maßstab und freibestimmte eigene Tätigkeit auf neue Weise miteinander verbindet.
Wer jetzt Utopie ruft, mag sich nur umsehen: Ansätze, die in diese Richtung weisen, sind allerorten zu sehen, wo die Automation und Konzentration des Kapitals massenweise Arbeitslose schafft, die keine andere Chance haben, als sich selbst zu versorgen, wenn sie nicht von unsicheren Staatszuweisungen abhängig sein oder – im schlimmeren Fall – verelenden und verkommen wollen.
Diese Entwicklung ist, wie gesagt, auch ohne Grundeinkommen möglich, genauer, sie hat auch ohne Grundeinkommen bereits begonnen. Mehr noch: In einer Gesellschaft, die kein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen kennt oder seine Einführung verweigert, ist die Entwicklung von Formen der eigenproduktiven Selbsthilfe der vor Abhängigkeiten, autoritärer Sozialkontrolle und letztlich Hungerkatastrophen oder allgemeinem Blutvergießen schützt. Mit Einführung eines Grundeinkommens ist die Chance für die Entwicklung solcher solidarischer Formen der Ökonomie selbstverständlich größer. Damit sind die Relationen benannt.
Anders gesagt: Niemand muß auf die Einführung eines allgemeinen flächendeckenden Grundeinkommens warten. Er oder sie kann jetzt, hier und sofort, im eigenen Umkreis beginnen, Grundsätze einer solidarischen Ökonomie selbst zu praktizieren, indem er oder sie das Prinzip des Grundeinkommens im kleinen Rahmen der eigenen Solidargemeinschaft, einer Gemeinde, Kommune, Region vorwegnimmt – und somit zugleich die Bedingungen für die allgemeine Einführung  eines Grundeinkommens erprobt und verbessert. Ich nenne diesen Prozess die Entwicklung einer integrierten Gesellschaft, in welcher Lohnarbeit, eigenproduktive gemeinschaftliche Selbstversorgung und freie selbstbestimmte Eigenarbeit der einzelnen Menschen eine dynamische Verbindung miteinander eingehen. Letztlich wird hier auch eine allgemeine Entwicklungslinie deutlich, die geeignet sein kann, die Selbstverwertungsspirale des Kapitals zu durchbrechen, indem Produkte hergestellt werden, die in den lokalen und regionalen Versorgungsgemeinschaften für die Entwicklung einer eigenproduktiven Selbstversorgung gebraucht werden.
Voraussetzung solidarischen Handelns, heißt das alles, ist ein  ökonomisches Denken, in dem die Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens nicht als Befreiung von der Arbeit, sondern als U n t e r s t ü t z u n g  zur Wiedergewinnung der Möglichkeit und Fähigkeit kreativer selbstbestimmter eigener
Arbeit in selbst gewählten Gemeinschaften begriffen wird, wo Arbeit und Konsum nicht mehr den Selbstverwertungsinteressen des Kapitals untergeodnet, sondern dem B e d a r f  orientiert sind.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Mehr zu dem Thema:
Kai Ehlers: „Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“, Pforte, September 2006

Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“

Drei Anmerkungen vorweg:

Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.

Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.
Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.

Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de

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Der Fall YUKOS/Chodorkowski:

Das Verfahren gegen den russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski ist zentraler Ausdruck einer strategischen Auseinandersetzung zwischen der russischen Staatsmacht und dem privaten Kapital, das sich im Zuge der Privatisierung in Russland herausgebildet hat. Es ging um die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die russischen Öl- und Gas-Ressourcen hat, die immerhin zu 40% das russische Staatsbudget füllen und 55 Prozent der Exportgewinne betragen. Mit dem Vorgehen gegen Chodorkowski wurden die Auswüchse der russischen Privatisierung exemplarisch zurück geschnitten und die Verfügungsgewalt des Staates über die Ressourcen des Landes wiederhergestellt. Das war erklärte Politik Wladimir Putins, die sich in der Person des von den USA unterstützten Chodorkowski zugleich gegen den globalen Hegemonialanspruch und die daraus folgende Interventionspolitik der USA wandte. Mit der Auflösung des Konzerns und der Verurteilung des ehemaligen YUKOS-Chefs hat Putin dieses Ziel vorläufig erreicht. Gut 70% der russischen Bevölkerung waren laut Umfragen damit einverstanden. Nach dem Ende des Prozesses beginnt nunmehr eine neue Runde der Auseinandersetzungen

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Wie alles anfing: Chodorkowskis Aufstieg und Fall[1]

Michael Chodorkowski wurde am 26. Juni 1963 in Moskau geboren. Er war aktiv im Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband, der das Sprungbrett seiner Karriere in der freien Wirtschaft wurde insofern die Kommunisten in den meisten Schlüsselpositionen saßen und es war ein Vorteil „Verbindungen“ zu haben. 1987 gründete Chodorkowski auf dieser Grundlage das ”Zentrum für wissenschaftliche und technische Kreativität der Jugend” (HTTM), war bis 1989 Leiter dieses Zentrums. 1988 machte er seinen Abschluss als Chemietechnologe und Finanzierungsexperte an der Moskauer staatlichen Universität. 1987, noch als Student, gründete er die „Innovative Kommerzbank für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“ (später Menatep-Bank), deren Aufsichtsratsvorsitzender er von Mai 1989 bis 1990 war. 1990 kaufte die Bank das HTTM-Zentrum und taufte es in „Menatep Invest Zentrum für branchenüberschreitende wissenschaftliche und technische Programme“ um. 1990/91 war Chodorkowski Generaldirektor der Menatep-Bank. Von August 1991 bis April 1996 hatte er die Funktion eines Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Kredit- und Finanzgesellschaft Menatep inne.
Seine ersten Millionen machte Chodorkowski am Anfang der 90er-Jahre, zu Zeiten der sog. wilden, das heißt noch gesetzlosen Privatisierung unter Gorbatschow, als er Menatep Aktien in privatisierten Betrieben zu teilweise spektakulär niedrigen Preisen kaufte. Seine Verbindungen innerhalb der kommunistischen Partei spielten dabei eine bedeutende Rolle.
Unter Gorbatschows Nachfolger Jelzin ergaben sich größere Chancen für Chodorkowskis Expansionskurs:1992 wurde er mit 29 Jahren Leiter des Investitionsfonds für die Energieindustrie und erhielt durch diese Aufgabe den Status eines russischen Vizeministers für Treibstoff und Energie, gleichzeitig wurde er Berater des Präsidenten. Im März 1993 wurde er offiziell zum Stellvertreter des russischen Ministers für Treibstoff und Energie ernannt – eine vorteilhafte Position zur Förderung seiner privatwirtschaftlichen Geschäfte.
1994 übernahm Chodorkowski zusammen mit Platon Lebedew Aktien des Düngemittelproduzenten APATIT. Später wurde ihnen zur Last gelegt, daß sie das Aktienpaket erschwindelt und die Gesellschaft ausgeplündert hätten, indem sie Dünger zu extrem niedrigen Preisen durch Privatfirmen aufkauften und zu den üblichen Weltmarktpreisen weiter verkauften. Ab September 1995 wurde Chodorkowski zudem noch Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Rosprom, des zentralen russischen Industrie-Entwicklungs-Konzernes.

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Aufstieg von YUKOS

Im Dezember 1995 wurde eine Auktion durchgeführt, in der 45 % der Aktien der Ölfirma YUKOS angeboten wurden. Vermittelt über die Menatep-Bank konnte Chodorkowski die Aktien und die damit verbundenen Investitionsverpflichtungen für 350 Millionen Dollar, freundlich formuliert, zu extrem günstigen Bedingungen an sich bringen. Gleich nach der Übernahme erwarb er über Menatep im Frühling 1996 weitere 7,06 Prozent von YUKOS in einer erneuten Auktion. Im Herbst 1996 erweiterte YUKOS sein Aktienkapital; mit dem Erlös aus den ausgegebenen neuen Aktien wurden die Holdinggesellschaft und ihre Tochtergesellschaften refinanziert.
Jelzins erster Premierminister Jegor Gaidar, der Pate der russischen Privatisierungskampagne und der Einführung der sog. freien Marktwirtschaft unter Jelzin, sagte in einem Interview mit der New York Times über Geschäftsleute, die zu teilweise lächerlichen Preisen russische Staatsbetriebe übernommen hatten: „Selbstverständlich gab es Verletzungen (des Gesetzes). Aber vor allem wegen fehlender Klarheit über diese Gesetze … Es gibt keine reichen Engel in Russland. Alle haben eine Reihe Gesetze gebrochen und eine Menge schlechter Dinge getan um ihr Vermögen aufzubauen. Innerhalb der verschiedenen Industriezweige wurden viele getötet. Die meisten großen Vermögen sind mit Tötungsdelikten verbunden“. Chodorkowski, kommentiert Kreuzenbeck das von ihm vorgestellte Zitat, wurde der reichste und mächtigste der russischen Oligarchen:
Ab April 1996 war Chodorkowski der erste Vizepräsident der Ölgesellschaft YUKOS. Seit Juni 1996 hatte er die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden des wachsenden Konzerns. Im Februar wurde er zusätzlich zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Betriebsgesellschaften Rosprom ernannt. Nach der Neuorganisierung von YUKOS wurde Chodorkowski Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft YUKOS-Moskau. Von November 1999 bis Oktober 2000 war er Mitglied des Aufsichtsrats im Ministerium für Treibstoff und Energie der Russischen Föderation. Ab Oktober 2000 engagierte sich als ein führendes Mitglied in der Russischen Union der Industrieführer und Geschäftsleute. Alles in allem eine nützliche Zusammenführung von Funktionen in einer Person.

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Neuer Wind unter Putin

Die Ablösung Boris Jelzins durch Wladimir Putin im Frühjahr 2000 brachte einen politischen Richtungswechsel in Russland. Wladimir Putin betrat die Arena mit der Ankündigung, eine „Diktatur der Gesetze“ schaffen zu wollen. Das richtete sich unmissverständlich gegen die wilde und zum Teil sogar kriminelle Privatisierung. Sie wurde als „Prichwatisierung“, das heißt Raub, vom Volksmund eindeutig klassifiziert. Während Chodorkowski zu Jelzin und den von ihm eingesetzten Regierungen ein sehr enges Verhältnis hatte, einerseits Jelzins Protegé war, diesem andererseits 1996 mit seinem Kapital zur Wiederwahl verhalf, also eine Hand die andere wusch, entwickelte sich das Verhältnis zu Putin von Anfang an im Konflikt: Chodorkowski unterstützte Parteien, die in Opposition zu Putin standen – neben der kleinen liberalen Partei Yabloko auch die die kommunistische Partei der russischen Föderation, KPRF. Jabloko bestätigte die Unterstützung durch YUKOS öffentlich, während sowohl Chodorkowski als auch die Kommunistische Partei jegliche Verbindung miteinander dementierten. Ein weiterer YUKOS-Großaktionär jedoch, Sergej Muravlenko, war aktiver Unterstützer der KPRF, ohne dass dies dementiert wurde.

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Wende 2003: Chodorkowski verhaftet

Im Jahre 2003 war Chodorkowski einer der reichsten Männer der Welt (Nr. 26 auf der Forbes-Liste, die im folgenden Jahr veröffentlicht wurde). YUKOS war nach der Fusion mit Sibneft die viertgrößte Ölgesellschaft der Welt. „Chodorkowski präsentierte sich in der Öffentlichkeit“, so erzählt Kreuzenbeck, „als moderner Geschäftsmann, der seine Betriebe in einer offenen und westlichen Weise leitete und die Gesetze befolgte, also als zäher, aber gerechter Industriekapitän. Er war der erste Oligarch, der sich in die Bücher schauen ließ – allerdings nur in die der letzten Jahre und offensichtlich nicht in alle. Der ganze Konzern wurde in dieser Weise zurechtgetrimmt, damit er für ausländische Investoren attraktiv würde. Die YUKOS-Führung polierte ihr Englisch, heuerte teure ausländische PR-Firmen an und peppte ihre öffentlichen Statements mit Phrasen wie TRANSPARENCY und WESTERN CORPORATE GOVERNANCE auf.“
Eine ganze Reihe Amerikaner zogen ins oberste Management ein; Teile des Konzern wurden bereits aus New Yorker Büros geführt. Im Frühjahr 2003 schickte Chodorkowski sich an, große Teile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco zu verkaufen. Es ging um eine bis zu 50% Übernahme. Bestandteil der Verhandlungen war auch der Bau eines eigenen Pipeline-Netzes, mit dem das staatliche russische Monopol über die Ölpipeline gebrochen werden sollte, um das Öl am russischen Fiskus vorbei auf den Weltmarkt lenken zu können. Hinzu kam die Einrichtung einer Reihe von ausgelagerten Offshore-Niederlassungen im Ausland, die dem gleichen Zweck dienten. Gigantische Kapitalmengen verließen auf diese Weise das Land. Der Verkauf hätte den Konzern dem Zugriff des russischen Staates faktisch entzogen. Beobachter sprachen damals von einer „Art eigener Außenpolitik“, die Chodorkowski entwickle. Der „Spiegel“ nannte ihn einen, „gehobenen Perspektiv-Agenten“ der USA.

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Erinnerung an den strategischen Hintergrund

Als Hintergrund hierzu muss noch einmal auf die von Zbigniew Brzezinski und anderen formulierten strategischen Zielsetzungen der USA verwiesen werden, die Entscheidungen um die neue Weltordnung auf dem „eurasischen Schachbrett“ zu suchen. Dem entsprach ein taktischer Doppelschritt in der Zeit des ausgehenden kalten Krieges: Der erste Schritt bestand darin, die Sowjetunion in die „Afghanistan Falle“ laufen zu lasen, um sie politisch und wirtschaftlich zu destabilisieren, die zweite zielte darauf – nachdem der erste gelungen war, wie Brzezinski sich später öffentlich rühmte[2] – das nachsowjetische Russland durch „Demokratisierung“ und „Internationalisierung“ der Ölförderung wie auch des Ölhandels von ihrem aus Sowjetzeiten stammenden Monopol auf die eurasischen Ölquellen zu trennen. Mit der Auflösung der Sowjetunion war eine veränderte Weltlage entstanden: Ihr Kern ist die Neuaufteilung des Zugriffs auf die Weltressourcen an fossilen Rohstoffen, die bis zur Auflösung der Sowjetunion unter deren Verfügung standen, des Zugriffs also auf die kaukasischen, zentralasiatischen und auf die russischen Öl-Felder und Gas-Vorkommen. Von ihrer Ausbeutung versprechen sich die Regierungen der Industrienationen, die fossile Brennstoffe heute als Grundlage ihrer zukünftigen Existenz betrachten, eine größere Unabhängigkeit von der OPEC, insonderheit von den Ländern am persischen Golf, bzw. niedrigere Preise durch die erweiterte Konkurrenz wischen den Energie-Rohstoffe produzierenden Ländern. Die neue Geografie der Versorgung wird auf den Karten der Globalstrategen als „strategische Ellipse“ beschrieben. Achtzig Prozent der fossilen Brennstoffe konzentrieren sich in diesem Gebiet, das sich vom persischen Golf über den kaspisch-kaukasischen Raum bis ins mittlere Russland hinein erstreckt.
Anders als die USA, die ihren Anspruch auf den privilegierten Zugriff auf die Weltressourcen, insbesondere auf die neu zugänglichen des eurasischen, also kaspischen, kaukasischen und auch russischen Raums durch ihren Altstrategen Zbigniew Brzezinski unmissverständlich formulierten und in ihrer Politik mit dem Versuch einer systematischen Einkreisung, Neutralisierung und Isolierung Russland seither gezielt umzusetzen bestrebt sind[3], tat Europa sich bisher schwer, eine einheitliche Strategie zu finden. Europa schwankt zwischen einem privilegierten Zusammengehen mit Russland gegen den Verfügungsanspruch der USA und einem Zusammengehen mit den USA gegen das Monopol Russlands, um damit der eigenen Abhängigkeit von den Energielieferungen Russlands entgegenzuwirken: Strategische Partnerschaft von EU und Russland auf der einen Seite, Entwicklung eines Korridors von Europa nach Zentralasien, der Russland bewusst ausgrenzt und von seinen Ressourcen im Kaukasus, in Zentralasien und im Iran trennt, auf der anderen.[4] Kurz gesagt, in der EU-Politik weiß die Linke, die Zusammenarbeit will, offenbar nicht, was die Rechte tut, die auf Konfrontation im Nachtrab zur USA setzt. Man könnte auch vermuten, dass bewusst eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche gefahren wird. Angesichts der Zerstrittenheit der erweiterten EU in der Beziehung zu Russland wäre das aber vermutlich eine Überschätzung der strategischen Fähigkeiten der EU-Bürokratie.
Ergänzend zu all dem der Hinweis: Condoleeza Rice, die heutige Außenministerin des Kabinetts Bush, war vor ihrer Ernennung zur Nationalen Sicherheitsberaterin zehn Jahre lang im Aufsichtsrat von Chevron tätig. US-Vizepräsident Richard Cheney nahm eine Schlüsselposition bei den Verhandlungen um die Neu-Verteilung des Zugriffs auf das kaspische Öl ein; im Caspian Pipeline Consortium spielte Chevron die stärkste Rolle.

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Putins „Kommando“ im Angriff

Als Chodorkowski sich im Frühjahr 2003 auch noch auf die Seite der US-Kriegspläne gegen den IRAK stellte, ging die russische Regierung gegen ihn vor: Im Mai veröffentlichte der „Rat für nationale Sicherheit (SNS) einen Bericht über eine „Verschwörung einiger Oligarchen zur Machtergreifung in Russland“. Wenige Wochen später wurde Alexej Pitschugin, der Sicherheitschef von YUKOS, wegen Anstiftung zum Dopppelmord festgenommen, Anfang Juli dann Platon Lebedew wegen der unrechtmäßigen Aneignung von 283 Millionen Rubel (8 – 9 Millionen Euro) des Chemieunternehmens Apatit. Im September kaufte Chodorkowski die bis dahin liberale Zeitung „Moskowski Nowosti“, um den Angriffen publizistisch entgegenzuwirken. Im Juni 2003 begann der russische General-Staatsanwalt seine Nachforschungen in der YUKOS-Sphäre. Im Oktober wurde Chodorkowski selbst verhaftet und Anklage gegen ihn erhoben.. Die Staatsanwaltschaft legte ihm Gesetzesverstöße in sieben Fällen zur Last begangen als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, unter anderem Unterschlagung, Steuerhinterziehung, betrügerische Übernahme der Apatit-Aktien; außerdem habe er über Offshorefirmen auf betrügerische Weise in die eigene Tasche gewirtschaftet. Die Rechnung, die die Staatsanwalt aufmachte, belief sich auf über einer Milliarde US-Dollar.

Chrystia Freeland, Vize-Herausgeberin der Financial Times, so Kreuzenbeck, schrieb in ihrer Zeitung nach der Verhaftung Chodorkowskis über dessen Eigenschaften als Geschäftsmann: ”Chodorkowski zeigte eine Aggressivität und Raffiniertheit, die selbst jene Geschäftsleute in Erstaunen versetzte, die sich normalerweise durch nichts überraschen lassen. Minoritätsaktionäre wurden mit massiver Ausdünnung ihrer Werte bedroht. Ein komplexes Netz von mysteriösen Offshore-Gesellschaften wurde kreiert. Technische und physische „Straßensperren“ wurden errichtet, um zu verhindern, dass Investoren mit abweichender Meinung auf wichtigen Aktionärsversammlungen ihre Stimme abgeben konnten“.

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Opponent gegen Putin
Chodorkowski als möglicher Präsidentschaftskandidat
und Verteidiger der Freiheit…

Nach seiner Verhaftung wurde Chodorkowski als möglicher Anti-Putin-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2004 aufgebaut. KP-Sekretär Gennadij Zhuganow erklärte, er könne sich eine Kandidatur von Millionären auf der Liste der KP durchaus vorstellen, allerdings ohne Chodorkowski direkt zu nennen. Der Pressesprecher der Kommunisten, Ilja Ponomarjow, der von 1998 bis 2002 eine Führungsposition bei YUKOS innehatte, sah in einer eventuellen Kandidatur Chodorkowkijs eine Möglichkeit für ihn politische Immunität zu erhalten: ”Ist er als Kandidat registriert, wird man ihn freilassen müssen“. Auch der Oligarch Boris Beresowskij äußerte sich aus seinem Londoner Exil positiv über eine mögliche Kandidatur Chodorkowskis.

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Kritik des Liberalismus

Aus Chodorkowskis Kandidatur wurde jedoch nichts. Stattdessen meldete er sich nach der Wahl, die einen starken Machtanstieg Putins gebracht hatte, mit einem radikalen Aufsatz zur „Krise des Liberalismus“, in dem er die Umverteilungspolitik der Liberalen als gescheitert und als Raub am Volksvermögen kritisierte. Die Liberalen hätten 90% der Bevölkerung getäuscht, so Chodorkowski, hätten die Augen vor der russischen Wirklichkeit verschlossen, als sie mit einem Federstrich die Privatisierung beschlossen. Sie hätten keinen Gedanken an die Sparguthaben der Bevölkerung verschwendet, sich nicht um eine Bildungsreform gekümmert, soziale Stabilität und sozialen Frieden außer Acht gelassen. Als einer der größten Sponsoren habe er selbst in der der Wahl 1996 bereits für ein Bündnis der Liberalen mit den Kommunisten plädiert, sei aber nicht gehört worden. Nun komme „die Stunde der Buße“.
Chodorkowski verblüffte die Öffentlichkeit mit einer harschen Selbstkritik: „Für mich ist Russland meine Heimat“, schrieb er: „Hier möchte ich leben und sterben und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit in die Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber spät als nie.“
Chodorkowski forderte eine „neue Strategie der Zusammenarbeit“ von Unternehmern und Staat, er forderte, die „Wahrheit in Russland und nicht im Westen“ zu suchen und „auf(zu)hören, die Legitimität des Präsidenten in Frage zu stellen.“. Die Unternehmer müssten gezwungen werden mit dem Volk zu teilen, die Privatisierung müsse vor der Bevölkerung legitimiert werden, zum Beispiel durch eine „Besteuerung der Rohstoffe und andere Schritte“. Und schließlich erklärte er, ganz Staatsmann: „Es ist besser, derlei Schritte selbst zu unternehmen und sie dadurch zu beeinflussen und steuern zu können, als zum Opfer eines blinden Widerstandes gegen das Unausweichliche zu werden.“
Das Schreiben endete mit der Forderung, dass Geld in echte zivilgesellschaftliche Strukturen investiert werden müsse.

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Linke Wende

Im August 2005 legte Chodorkowski mit einer weiteren Erklärung nach, in welcher er eine linke Wende für Russland prognostizierte. Er prognostizierte, dass in der Bevölkerung Russlands als Reaktion auf die Jahre der räuberischen Privatisierung und der darauf folgenden autoritären Modernisierung putinschen Typs nunmehr eine Linkswendung bevorstehe und rief die verbliebenen Liberalen, Neu- und Alt-Linken dazu auf, unter Führung der National-Linken ‚Rodina’ (Heimat) sowie der Kommunistischen Partei und in Zusammenarbeit mit einer nach links geöffneten vereinigten liberalen Szene eine Front gegen das autoritäre Regime Putins zu bilden. Chodorkowski scheute sich dabei nicht, Oligarchen wie sich selbst, als Räuber und Betrüger zu bezeichnen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion in krimineller Weise auf Kosten des Volkes bereichert hätten und denen nunmehr soziale Verantwortung abzuverlangen sei.
Man mag von Chodorkowski halten, was man will, seine Analyse der russischen Entwicklung ist bemerkenswert: Die von ihm geschilderte räuberische Privatisierung unter Jelzin, danach die autoritäre Modernisierung Putins hat zwar die Linke, ebenso wie die Liberalen bis hin zu deren verheerender Wahlniederlage bei der Wahl zur Duma im Jahr 2004 zur Marginalie werden lassen, in weiten Kreisen der Bevölkerung aber die latente Resistenz gegen die marktorientierte Westwendung in zunehmend offene Proteste verwandelt. Eine soziale und politische Polarisierung der russischen Gesellschaft in eine von der putinschen Büroklatur repräsentierte Mitte und sich radikalisierende Ränder der Gesellschaft sind unübersehbar. Auf der linken Seite sind neue Führungsfiguren wie der national und sozialistisch argumentierende Gennadij Glasjew aufgetaucht; die neue Linke sammelt sich in informellen Zirkeln wie dem russischen „Sozialforum“, Anti-Globalisierungs-Zirkeln usw. Die Liberalen, also die Union Rechter Kräfte (SP) und die Jawlinski-Partei ‚Jabloko’, seit ihrer Gründung 1991 in Rivalitäten zerstritten, haben beschlossen, ihre Streitigkeiten in Zukunft beiseite zu lassen. Ein Komitee des bekannten Schachspielers Garri Gasparow stellt sich als pro-westliche Alternative zu Putin für die Präsidentenwahlen des Jahres 2008 auf.
Die von Michail Chodorkowski prognostizierte Linkswende bleibt allerdings potentiell, solange es der Regierung gelingt, ihre Renten-, Stipendien und sonstigen Fürsorgeansprüche mit den neuerdings wieder einfließenden Öl- und Gas-Dollars zu beschwichtigen. Hier stimmen zwar Chodorkowskis Analysen, seine damit verbundenen Ambitionen beißen sich jedoch ganz mächtig in den eigenen Schwanz, denn diese Politik der Regierung ist nur möglich, weil, seitdem und solange es ihr gelingt, die Einnahmen aus dem Verkauf der Ressourcen, vor allem an Öl und Gas, in die Staatskasse zu lenken, und das heißt vor allem anderen ganz konkret, weil es ihr gelingt, durch ihr Vorgehen gegen den Raub-Privatisierer, Steuerbetrüger und Offshore-Spekulanten Chodorkowski die Ressourcen des Landes ansatzweise wieder in den Griff zu bekommen. Chodorkowskis Aufruf zur Linkswende entpuppt sich damit unversehens als Anklage in eigener Sache, bzw. schlichtweg als widersprüchlich oder wie es die Web-Zeitung ‚russland.ru’ an anderer Stelle formulierte: ‚Seine Überlegungen haben nur den Haken, dass es ihnen an Legitimität fehlt.’

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Das Verfahren

Kein Zweifel, das sei hier deutlich betont, um jedes Missverständnis auszuschließen, die Art und Weise des Verfahrens – angefangen bei der martialischen Verhaftung Chodorkowskis durch vermummte Sonderkommandos bis hin zum drakonischen Urteil von neun Jahren Lagerhaft – entsprach nicht den Menschenrechtstandards der UNO oder dem EU-Wertekanon. Folgerichtig erklärte Amnesty International Chodorkowski nach anfänglicher Weigerung zum politischen Gefangenen.
Bedauerlicher Weise jedoch, am Ende möglicherweise sogar zu Chodorkowskis eigenem Leidwesen, wurde er Objekt einer politischen Kampagne, die Töne des kalten Krieges gegen Russland neu auflegte. Es begann wieder einmal mit einem Artikel Zbigniew Brzezinskis, Unter der Überschrift „Der Moskauer Mussolini“. („The Wall Street Journal, 20.9.2004) verbreitete dieser im September 2004 nach der Wiederwahl Putins zum Präsidenten die Behauptung, Putin versuche in Russland einen Faschismus nach dem Muster Mussolinis aufzubauen; Russland entwickle sich zu einem `faschistischen Erdölstaat`.
Brezinskis Stichwort des „faschistischen“ Russland wurde von Neo-konservativen Amerikas aufgegriffen. Bruce Jackson, Reisender in Sachen „Project on Transsitional Democracies“ griff zusätzlich noch zum Knüppel des Antisemismusvorwurfs: Wörtlich: „Seit Putin gewählt wurde, waren alle führenden Figuren, die wegen Wirtschaftsverbrechen exiliert oder arretiert wurden, jüdisch. In Dollar gerechnet, sind wir Zeugen der größten illegalen Enteignung von jüdischem Kapital seit der Nazi Beschlagnahmung in den 30gern…. „ Und weiter zu Chodorkowski: „Die Inhaftierung eines Mannes hat uns das Signal gegeben, das unsere gut gemeinte Russland Politik gescheitert ist. Wir müssen nun erkennen, das eine massive Unterdrückung von Menschenrechten stattgefunden hat und die Errichtung einer Administration in Moskau vom Typ eines de-facto Kalten Kriegs.“ (Washington Post, 28.10. 2003)
Es folgte der „Offene Brief“ an die Führungen von NATO und EU am 28.9.2004, der von 150 Personen aus Europa und den USA, u.a. der Führung der Grünen, unterzeichnet wurde. Unter Benutzung von Menschrechtsrhetorik griff er direkt in die russische Politik ein und forderte die Unterstützung der „demokratischen Kräfte“ in Russland. Unter den Unterzeichnern waren eine Reihe bekannter neo-konservativer Amerikaner. Am 5. Oktober 2004 legte die Grüne Böllstiftung mit einem weiteren „Aufruf für Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Fall Chodorkowski“ und der Durchführung einer Solidaritätsveranstaltung für Chodorkowski in Berlin nach, ebenfalls mit unterzeichnet und getragen von einer Reihe von US Neo-Konservativen.
Zum besseren Verständnis ist noch einmal daran zu erinnern, dass Chodorkowski, allen patriotischen Beteuerungen zum Trotz, am Beginn des Jahres 2003 drauf und dran war, den Öl-Giganten YUKOS durch die Fusion mit SIBNEFT, CHEVRON und EXXON zu einem Multinationalen Konzern zu erweitern, der sich dem Zugriff der russischen Staatlichkeit zu entziehen anschickte. Seine politischen Verbindungen in die USA hatten sich entsprechend entwickelt: In der International Herald Tribune wurde derzeit berichtet, Chodorkowski versuche mit viel Geld, sich Zutritt zu den geschlossenen Zirkeln Washingtons zu verschaffen. Dafür soll er seit 2001 jedes Jahr 50 Millionen Dollar aufgewendet haben, davon eine Million für die US-Kongressbibliothek und 500.000 Dollar für die Carnegie-Stiftung – die ihrerseits NGOs in Russland davon finanzierte. Chodorkowski verteilte großzügige Spenden an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner eigenen Stiftung „Offenes Russland“ für einflussreiche US-Amerikaner wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Henry Kissinger oder den britischen Bankier Lord Rothschild. Erinnert werden muss auch noch einmal daran, dass er in den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg im Interesse der YUKOS-Expansion gegen die Schröder-Chirac-Putin-Ablehnungs-Front für eine russisch-amerikanische Kriegs-Allianz agierte.

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Berufungsverfahren

Die russische Staatsanwaltschaft ließ sich durch die Kritiken nicht aufhalten. Im Mai 2005 wurde Chodorkowski in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden und zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Jukos wurde die Erstattung der Steuerschulden in einer Höhe auferlegt, die praktisch zur Liquidation des Konzerns führen mussten. Davor rettete ihn nur die Versteigerung eines seiner einträglichsten Zweige, des Yoguskneftegas, der in den Besitz einer bis dahin unbekannten Baikal-Finanz-Gruppe überging. Chodorkowski selbst hatte seinen Platz im Aufsichtsrat von YUKOS schon vorher geräumt. Damit war das YUKOS- Imperium praktisch zerschlagen. Chodorkowskis strengte sofort ein Berufungverfahren an, mit dem er sich zugleich die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Nachwahl zum Unterhaus der russischen Staatsduma und damit Immunität sichern wollte. Doch noch bevor es zur dieser Wahl kommen konnte, wurde das Berufungsverfahren von der Staatsanwaltschaft abgeschmettert. Das Gericht hielt das Urteil wegen Betrug und Steuerhinterziehung aufrecht, nur in einem Punkt, der Veruntreuung von zwei Milliarden Rubel aus dem YUKOS-Vermögen, erklärte es das erstinstanzliche Urteil für nichtig. Die neun Jahre Haft aus der ersten Instanz wurden auf acht reduziert; die allerdings muss Chodorkowski nunmehr im offenen Lagervollzug antreten. Bei guter Führung kann er auf der Hälfte entlassen werden. Seine Anwälte kündigten an, sowohl beim russischen Verfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof noch einmal in die Berufung gehen zu wollen.

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Erneuerung á la Chodorkowski?

Nach seiner Verurteilung meldete Chodorkowski sich aus seiner soeben angetretenen Lagerhaft nahe der sibirischen Stadt Tschita erneut mit einer öffentlichen Erklärung, dieses mal mit einem „Programm der radikalen Modernisierung Russlands bis zum Jahr 2020“ zu Wort. Darin bringt er sich mit Vorschlägen für die Zeit nach Putin in Position.
Angemerkt werden muss an dieser Stelle, daß Chodorkowski entgegen Spekulationen, die man nach dem Prozess lesen, sehen und hören konnte, die russische Regierung wolle ihn nach dem Prozess verschwinden lassen, gleich in den ersten Tagen seiner Einlieferung ins Lager einen dreitägigen Besuch seiner Frau empfing, den ersten seit seiner Inhaftierung vor zwei Jahren. Mit seinen Rechtsanwälten erörterte er ein Berufungsverfahren. Neben einer Arbeit als Näher in der lagereigenen Kleiderproduktion, die er zwei Stunden am Tag ableisten muss, wird er eine Tätigkeit als Lagerdozent ausüben können; er kann TV und Kühlschrank beantragen, Presse abonnieren; von fünfzig Zeitungen ist die Rede, der er sich bestellt habe. Bei guter Führung, ließ die Lagerleitung mitteilen, bestehe die übliche Chance auf frühzeitige Entlassung, kurz, er ist ein ganz normaler, aber prominenter Häftling.
Scharf greift Chodorkowski in seiner Erklärung den Präsidenten Putin an: Der stehe einem Apparat von Schmarotzern vor, die unfähig seien, das Land zu modernisieren. Die einzige Frage, die sie bewege, laute, wie man möglichst schnell etwas vom Staat bekommen könne. Aber dieser parasitäre Ansatz trage nicht mehr; das Land brauche eine neue Elite, welche die Regierung nach Putins Ausscheiden im Jahr 2008 übernehmen könne. Sie müsse ihre Aufgabe in einem langfristigen Aufbau des Landes und nicht wie bisher in der bloßen Umverteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten sehen.
Die neue Elite werde mit einer Reihe objektiver Probleme konfrontiert sein: der demographischen Schrumpfung des Landes, dem Verschleiß der Infrastruktur, dem Zusammenbruch des Maschinenbaues, der Krise des Rüstungskomplexes, dem Verlust der Kontrolle Moskaus über den Kaukasus, dem Zusammenbruch der Streitkräfte usw. Statt einer Politik der „vertikalen Macht“ brauche das Land eine föderale Ordnung, die den Regionen mehr Kompetenzen zubillige und die Selbstverwaltung stärke. Eine „Ökonomie des Wissens “ müsse Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen entwickeln. Der Staat müsse Familien fördern, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuarbeiten, mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben, anstatt sich nur auf seine Energieressourcen zu verlassen. Das größte Problem sieht Chodorkowski im „brain drain“ des Landes, der gestoppt werden müsse. Das Kaderproblem sei aber lösbar: „Schaut, was ich aus YUKOS gemacht habe“, erklärt er selbstbewusst. Die Geschichte von YUKOS zeige doch, dass eine Ausbildung neuer Kader und eine Modernisierung möglich sei.
Zur Finanzierung schlägt Chodorkowski die Einführung einer doppelten Steuer vor. Auf bereits privatisiertes Volksvermögen möchte er eine Privatisierungssteuer erheben. Das werde dem Staat das nötige Geld einbringen, den Zahler zugleich als legitimen Eigentümer ausweisen und damit die Eigentumsverhältnisse des Landes stabilisieren. Zum Zweiten spricht Chodorkowski sich für eine Ressourcensteuer aus, welche die private Ausbeutung und Verschwendung der Ressourcen unterbinde. Aus den Einnahmen beider Steuern könne der Staat die Kosten für die Wiedereinführung der traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie kostenlose medizinische Versorgung, Ausbildung problemlos tragen, bevor die 90% der Armen das in die eigenen Hände nähmen.

Dies alles sieht nach ernsthaften Versuchen des ehemaligen YUKOS-Managers aus, sich aktiv in die Gestaltung der russischen Politik einbringen zu wollen. Vom Vorstand des Unternehmverbandes ist er aus eigenen Stücken mit der Begründung zurückgetreten, er sei nach dem Ausscheiden aus den YUKOS-Aufsichtsräten kein Unternehmer mehr, sondern eine Privatperson und als solche wolle er sich mit ganzen Kräften dem sozialen und demokratischen Aufbau des Landes widmen.
„Mir persönlich hat Russland viel gegeben“, schreibt Chodorkowski, „in den 70er und 80er Jahren bekam ich eine Ausbildung, auf die man stolz sein kann. In den 80er Jahren machte es mich (Laut ‚Forbes’) zum reichsten postsowjetischen Menschen. Im zurückliegenden Jahrzehnt nahm es mir aber das Eigentum weg und steckte mich ins Gefängnis, wo es mir die Möglichkeit bot, eine weitere Ausbildung zu bekommen – dieses mal eine gesamtmenschliche und humanitäre.“
Das klingt prinzipiell: Wurde aus Saulus ein Paulus? Diese Frage muss offen bleiben. Angesichts der Umstände, unter denen er seine bisherigen Positionen gegen den Liberalismus und für eine linke Wende nunmehr in einem politischen Programm konkretisiert, darf man jedoch annehmen, dass er für sich mit einer führenden Position in einem solchen Bündnis rechnet.

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Der neue Stand

Offen ist auch, wie lange Michael Chodorkowski tatsächlich sitzen muss. Sicher ist dagegen, dass die Zerschlagung des YUKOS-Konzerns ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung um die Verfügungsgewalt über die russischen Gas- und Ölressourcen eröffnet hat. Aktuelles Signal dafür ist der, parallel zum Abschluss des Prozesses gegen Chodorkowski, vollzogene Verkauf des Öl-Multis SIBNEFT an den halbstaatlichen Gasgiganten GAZPROM. Mit den beiden Megadeals, YUGANSKNEFTEGAZ noch während des Prozesses, SIBNEFT nach dem Prozess, baute GAZPROM seinen Marktanteil im Ölsektor kontinuierlich aus. Er stieg binnen eines Jahres von rund sechs auf über 30 Prozent. Dafür bezahlte der Staat 22,5 Mrd. Dollar. Im November 2005, gab GAZPROM bekannt, am Aufkauf weiterer Gruppen interessiert zu sein. Dieses mal war es SLAWNET. Mit diesem Kauf würde der Kreml seinen Einfluss im Ölsektor weiter erhöhen; GAZPROM würde mit diesem Schritt etwa 15 Prozent der russischen Ölförderung kontrollieren. Mit dieser Entwicklung wurde Russland hinter Saudiarabien zum zweitgrößten Ölförderer der Welt..

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Punktsieg für Putin

Die Zerschlagung des YOKUS Konzerns und Verurteilung Michail Chodorkowskis, ist, wie immer man die Methoden beurteilen mag, mit denen die Auseinandersetzung geführt wurde, ein Etappensieg für Wladimir Putins erklärtes Ziel, Russland auf dem Weg einer eigenständigen Entwicklung zu re-stabilisieren, und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen konnte Russland mit der Zerschlagung von YUKOS den Versuch des Westens insonderheit der USA zurückweisen, Russland auf dem Umweg über eine „Internationalisierung“ dieses Konzerns die Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen zu entreißen.
In einer bemerkenswerten Analyse der Web-Plattform ‚Saar-Zeitung’ wird darüber hinaus die äußerst pikante Vermutung vorgebracht, Michail Chodorkowski sei – ungeachtet seiner eigenen Motive – nur ein Spielball westlicher Intrigen gewesen. Man habe ihn von dieser Seite jahrelang aufgebaut und in seine illegalen Finanztransfers unterstützt, aber in dem Augenblick der russischen Justiz ausgeliefert, als man sicher zu sein glaubte, durch seine Verhaftung in den Besitz der Konzernmehrheit zu kommen. Grundlage für dieses Vorgehen, so diese durch Geheimdienstdossiers belegte Variante, lägen in den Statuten der Finanzgruppe Menatep, in der die YUKOS-Eigentümer ihren Besitz organisiert hätten. Danach hatte Chodorkowski im Falle seines Todes, einer Entführung, Haftstrafe oder beim Verlust eines wichtigen YUKOS-Teilbetriebes seine Rechte an YUKOS abzugeben, wie die Moskauer Wirtschaftszeitung ‚Wedemosti’ berichtet hatte. Belastendes Material, das gegen Chodorkowski wie gegen alle Oligarchen jederzeit ausreichend vorlag, habe man der russischen Regierung zu einem Zeitpunkt zugespielt, als der Konzern seine größte Ausdehnung gefunden habe. Als Überbringer des „Kompromats“, d.h. der kompromittierenden Dossiers, habe der deutsche BND fungiert. Dadurch habe man die russische Regierung zum Handeln, d.h. eben auch zur Teilenteignung zwingen wollen. Wladimir Putin habe diese Pläne jedoch erkannt und durchkreuzt, indem er die Anklage zwar habe erheben, den Prozess aber so lange habe hinauszögern lassen, dass die russische Regierung Zeit genug finden konnte, den wichtigsten Teilbetrieb von YUKOS, Yuganskneftegas, durch eine fingierte Auktion zu übernehmen, so dass der bei Chodorkowski verbleibende Rest von YUKOS-Anteilen nur noch eine relativ wertlose Hülle blieb. Danach erst sei der Prozess gegen ihn beschleunigt worden. Manches spricht für eine solche Manipulation; wer sich ein genaueres Bild von diesem Global-Krimi machen möchte, lese den ganzen Bericht der ‚Saar-Zeitung’. (www.saar.echo.de)
Aber auch ohne abenteuerliche Konkretisierungen dieser Art sind die Interessen in der YUKOS-Angelegenheit so offenkundig, dass von westlicher Seite heute unisono festgestellt wird, Putin habe die Ressourcen „re-nationalisiert“. Das stimmt allerdings nur in dem Sinne, dass die russische Regierung sich als Mehrheitsaktionär in die russische Öl-Gas-Branche eingekauft hat. Von Re-Nationalisierung im Sinne einer allgemeinen Rückführung der Privatisierung ist nicht die Rede; im Gegenteil erklärt Wladimir Putin bei jeder Gelegenheit, dass die privaten Besitzrechte in Russland heute gewahrt seien und auch in Zukunft gewahrt werden sollen.
Der zweite Effekt des YUKOS-Prozesses ist die faktische Bewältigung der russischen Budgetkrise, indem Russlands Oligarchen durch das Vorgehen gegen YUKOS dahin gebracht wurden, ihre Steuern wenigstens teilweise zu bezahlen und die gigantischen Off-shore Verbindungen aufgedeckt und zum Teil unterbunden wurden, über die die potentiellen Steuergelder der russischen Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken durch Dumpinggeschäfte an der russischen Staatskasse vorbeigeleitet wurden. Im Ergebnis des Prozesses und seiner Wirkung auf die übrigen Oligarchen Russlands verfügt der russische Staat jetzt über ausreichend Gelder, die von ihm vorgenommenen Reformen politisch durch große sowie sozial durch kleine Bestechungsgelder abzufedern und so Proteste zu unterlaufen. Der russische Präsident wies die Regierung sogar an, über eine Amnestie der früheren Steuersünder nachdenken.
Das eine wie das andere, die Wiedereingliederung der russischen Ressourcen in die staatliche Verfügung über GASPROM, ROSNEFT und andere russische Unternehmen mit staatlicher Beteiligung wie auch die Füllung des russischen Budgets richtet sich unmittelbar gegen die Politik der strategischen Schwächung Russlands durch Intervention in die wirtschaftliche und politische Souveränität Russlands, wie sie die von den USA betrieben wird und in abgestuftem Maße auch von der EU, die damit ihre eigene Abhängigkeit von russischen Rohstoffen „sicherheitspolitisch“ kompensieren will.
Statt sich selbst über die „Internationalisierung“ von YUKOS den Zugriff auf die russischen Ressourcen und damit auch den Einfluss auf die innenpolische Situation Russlands verschaffen zu können, mussten die USA nicht nur mit ansehen, wie es Wladimir Putin gelang, dem russischen Staat den verlorenen Zugriff wieder zurückzuholen, sie mussten auch erleben, dass die schnell gegründete Baikal-Finanz-Gruppe, die Yuganskneftegas ersteigerte, mit chinesischen Krediten ausgestattet wurde, wofür sich China privilegierten Zugang zu russischem Erdöl ausbedang. Damit ist Wladimir Putin eine entscheidende Weichenstellung im neuen Spiel um die eurasischen Ressourcen gelungen, die ihm Freiraum gibt, seinen Kurs der autoritären Modernisierung fortsetzen, mit dem er Russland zu einer unabhängigen Kraft zwischen Ost und West machen will

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Aussichten:
Vom Kampf um den materiellen Zugriff aufs Öl
zum Kampf um den ÖL-Dollar

Dies ist aber nur eine Etappe in der aktuellen Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt nach dem Ende der Systemteilung des letzten Jahrhunderts, weitere und möglicherweise schärfere Auseinandersetzungen um den Zugriff auf die eurasischen und andere Ressourcen werden mit Sicherheit folgen.
Die „SAAR-Zeitung“ schrieb dazu:
„Mit dem Schuldspruch gegen Chdorkowski wird deutlich, daß russische Außenpolitik wieder eine eigene Kontur annimmt, Russland beginnt, sein eigenes geopolitisches Konzept durchzusetzen. Gegen den Interventionismus der US Politik – wie er in der Brzezinksi-Doktrin zum Ausdruck kommt – setzte Putin ein Konzept des behutsamen multipolaren Pluralismus, der sowohl Asien als auch Europa einbezieht und Russland als Integrationsknoten einer Multipolaren Ordnung begreift. „Das Urteil gegen Chodorkowski kennzeichnet dabei den sichtbaren Wendepunkt in der russischen Außenpolitik, die plötzlich nicht mehr konzeptionslos erscheint“ Es sieht so aus als könne der „eurasische Spagat“ gelingen.“ (Saarzeitung, 16.05.2005)

Die Ereignisse, die den „Fall“ Chodorkowski begeleiteten, sprechen für sich:
– Der Irak-Krieg und seine Folgen.
– Die beginnende Diversifizierung der weltweiten Leitwährung.
– Die Initiativen für ein „Neues Bretton Woods“, das heißt, für internationale Kontrolle der globalen Kapitalflüsse.
– Die Bildung eines neuen Kräfteschwerpunkts in den Völkerbeziehungen, BRIC mit dem Zentrum der Schanghai Organisation, die Russland, China, Iran und Indien zusammenführt.
– Die Vorschläge im Kreis der Asiatischen und der Amerikanischen Staaten, Öl im Tausch gegen Waren, statt über Dollar oder Euro zu handeln.
– Russlands neue Beziehungen zu Arabischen Staaten und zum Iran.

Ein paar Daten mögen die einzelnen Aspekte noch verdeutlichen:

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Dollar unter Druck

Wenige Tage nach der Verkündung des Urteils gegen Michail Chodorkowski einigten sich Russland und die EU auf eine engere Zusammenarbeit; Moskau sandte gleichzeitig ein entscheidendes Signal in Richtung EU: Russland wird in Zukunft seine Devisenreserven in Dollar herunterfahren, dafür den Euro-Anteil auf 50:50 Prozent erhöhen. Zur Zeit liegt das Verhältnis bei 80: 20; bereits zum Jahresende 2005 soll der Euro-Anteil nicht 20, sondern 30 betragen, danach schnell auf 50 erhöht werden.
Damit machte die russische Regierung wahr, was die „Iswestija“ bereits im März 2004 berichtet hatte, dass Putin nämlich nach der Wahl plane, die Bindung der russischen . Währung an den US-Dollar gegen eine Bindung an den Euro zu verändern.
Eine Reform des Währungssystems war bereits seit längerem im Gespräch: Schon auf der IWF-Jahrestagung von 1994 wurde die Einrichtung eines „Neuen Bretton Woods“ mit einem System fester Wechselwährungen vorgeschlagen. Seit 1998 forderten europäische Politiker eine Kontrolle der Finanzmärkte – allen voran übrigens Oscar Lafontaine, der als deutscher Finanzminister gern „Dompteur der Finanzmärkte“ werden wollte. Auch er schlug eine Erneuerung des zusammengebrochenen „Bretton Woods Systems“ vor, allerdings nicht unter der Leitwährung des Dollar, sondern in einer festen Wertrelation von Dollar, Yen und Euro. Die Einführung des Euro 2002 konkretisierte alle diese Tendenzen; sie relativierte den Dollar als Welt-Reservewährung.
Hindernis gegen ein Abrücken vom Dollar als alleinige Weltleitwährung ist die Bindung des Öl-Handels an den Dollar. Seit 2000 rührt sich auch dagegen Widerstand. Gewünscht, vorgeschlagen, gefordert wird ein Übergang vom Dollar als Öl-Leitwährung auf den Euro oder gar die generelle Abkoppelung des Öl-Handels von einer Leitwährung:
Vorreiter für die Entthronung des Dollars war Saddam Hussein. Er wagte es im November 2000 als Erster laut darüber nachzudenken, den Ölhandel von Dollar auf Euro umzustellen; 2002 riskierte er diesen Schritt. Im Ergebnis wurde der IRAK mit Krieg überzogen. Die USA fürchteten einen Domino-Effekt in der arabischen Welt. Nach der Invasion wurde die Umstellung auf Euro rückgängig gemacht.
Bei einem OPEC-Gipfel im Jahr 2000 schlug Venezuales Präsident Hugo Chavez vor, den Ölhandel der OPEC-Länder mit den Entwicklungsländern im Barter-Verfahren durchzuführen, also Öl gegen Ware zu handeln, um auf diese Weise sowohl Dollar als auch den Euro bei den Geschäften zu meiden.
Ende 2002 ging Nordkorea zum Euro als Devisenrücklage über.
Seit 2003 forderte auch der Iran offiziell Euro-Abrechnungen für Öl, sogar für solches, das vorher zu Dollarpreisen gehandelt worden ist. Schon vorher hatte der Iran seine Währungsreserven auf Euro umgestellt. Die Gründung einer eigenen Börse für den Ölhandel im Iran steht bevor. Dazu ist anzumerken, dass das iranische ÖL 10% der Weltölreserven ausmacht – ein neuer Kriegsgrund für die USA.
Im April 2004 debattierten die Parlamente von Iran und Russland über eine mögliche Übernahme des Euro für Ölverkäufe. Die meisten Länder der OPEC signalisieren seitdem mehr oder weniger offen ein Interesse am Euro als Ölwährung. Saudi-Arianien ist dagegen.
Im Oktober 2004 wurde die Umstellung vom Petro-Dollar auf den Euro im Norwegischen Parlament diskutiert.
Im März 2005 verursachte die Südkoreanische Zentralbank einen Kursverslust des Dollar um 1,5 Prozent innerhalb von zwei Tagen. Grund: Sie hatte angekündigt ihre Diversifizierung auf Euro umstellen zu wollen.
Im März 2005 wurde die Initiative für ein neues Bretton Woods im italienischen Parlament diskutiert.
Am 2.August 2005 erschien im FAZ-Net die Meldung, dass nach Russland nunmehr auch die arabischen Staaten ihre Währungsreserven diversifizieren wollen.

Dies alles bedeutet, dass die Auseinandersetzung um die Ablösung des Dollars als Leit- und Öl-Währung sich zuspitzen. Die USA-Dominanz wird zunehmend bedroht. Wenn jetzt auch Russland in diese Bewegung mit einsteigt, dann ist das für die USA Alarmstufe ROT; nur Saudi-Arabien verhindert bisher die Ablösung des Dollars im OPEC-Geschäft.
Nach der Beendigung Kriegs um die unmittelbaren Zugriff auf russische Ressourcen, heißt das, zeichnet sich nunmehr eine neue russisch-amerikanische Konfrontation ab, dieses mal auf dem Gebiet der internationalen Finanz- und Währungsparketts.

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Zweitens: BRIC

Ebenfalls seit zwei Jahren kristallisieren sich neue Handels-, Wirtschafts- und Bündnisstrukturen heraus, deren Urheber Peking, Moskau, Delhi und neuerdings auch Teheran sind. Ende des Jahres 2002 unterzeichneten sie einen Handels- und Kooperationsvertrag, BRIC genannt, nach den daran beteiligten Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China.
Wenige Stichworte reichen, um die Brisanz dieses Bündnisses zu verdeutlichen:
China: Inzwischen zweitgrößter Öl-Importeuer; 2004 kauft China Jukos-Anteile, kreditiert die Baikal-Finazgruppe für den Kauf von Yuganskneftegas, kauft sich in Kanadas Ölsand-Felder ein, betreibt Öl- und Gas-Projektes mit dem Sudan am Nil. Im November 2004 besucht Chinas Präsident Hu Jintao Brasilien, Argentinien und Venezuela; Hugo Chávez erwidert den Besuch in China. Im Herbst 2004 schließen China und Iran ein Handelsabkommen, insonderheit zu Öllieferungen, das in allen Punkten gegen die US-Sanktionen agiert.
Indien: Der Indische Ministerpräsident bereist im Jahr 2003 China; 2004 gehen China und Indien eine „Kooperation für Energiesicherheit“ ein, zugleich schließt Indien eine „Strategische Allianz mit Russland“. Im Jahr 2004 entsteht ein „Runder Tisch der asiatischen Energieminister“, entwickelt sich ein regionaler asiatischer Petroleummark, wird die Schaffung einer asiatischen Bank für Energiefinanzen beschlossen. 2004 vereinbart Indien Sonderzölle mit den MERCOSUR-Staaten Südamerikas;. 2005 schließt Indien ein Handelsabkommen mit Russland, zeigt Interesse an iranischen Ölfeldern
Am 10. November 2005 schreibt die Zeitung India Daily:
„Der russische Präsident Putin nimmt eine führende Rolle in der mächtigsten Koalition der Regional- und Supermächte unserer zeit ein. Diese Koalition besteht aus Indien, China, Russland und Brasilien und wird die Vorherrschaft der Supermacht Amerika brechen.“
Ausdruck der neuen Stärke des russisch-asiatischen Dreiecks ist die Weiterentwicklung des Shanghaier Bündnisses (Shanghai Cooperation Organisation – SCO) zu einem asiatischen Pakt, in dem China, Russland, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan gemeinsam agieren, Iran ist interessiert.

Auf der anderen Seite des eurasischen Spagats stehen Treffen von Putin und Schröder im September 2004 in Oslo: Schröder bittet Putin um 20% Beteiligung von Wintershall an Gasprom statt der bisher 6%. Wenig später schließen Deutschland und Russland eine Gaspipeline durch die Ostsee. Die Deutsche Ban wird zum größten Finanzier der geplanten Aufkäufe von Öl-Firmen durch GAZPROM. Von der Erneuerung des strategischen Bündnisses zwischen Russland und der EU nach Zerschlagung von YUKOS war schon die Rede. Damit schließt sich der eurasische Kreis.

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Drittens: Gegenwind von Süden

Soeben war die Pleite für das panmerikanische Freihandelsabkommen ALCA zu beobachten, das in Mar el Plata in Kraft treten sollte. US-Präsident Bush war anwesend, konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen rief Hugo Chavez, Präsident von Venezuela dazu auf, anstelle von ALCA eine Alternative Bolivariana (ALBA) zu gründen, so genannt nach Simon Bolivar, der den Norden Südamerikas von spanischer Kolonialherrschaft befreite.
Dazu passt die Durchführung eines Kongress „Kapitalismus reloaded“ in Berlin im Oktober 2005: Siebenhundert Menschen aus Asien, Afrika Lateinamerika nehmen teil. Sie demonstrieren Zustimmung China, Indien, die BRIC-Staaten, zeigen neues Selbstbewusstsein..

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Die arabisch-islamische Karte

Ein herausragendes Zeichen, das auch die letzten Sicherheiten der USA in Bewegung bringen könnte, die diese mit ihrem „antiterroristischen“ Krieg“ unter dem Namen „enduring freedom“ gerade festzuklopfen versuchen, setzte die russische Regierung – ungeachtet des von ihr in Tschetschenien geführten Krieges – mit ihrer seit 2003 betriebenen Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC). Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“ Inzwischen nimmt Russland an den Konferenzen der OIC mit Beobachterstatus teil.
Parallel zur Annäherung Russlands an die OIC fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.
Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem Treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines ‚United Energy Systems’ zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten und vergegenwärtigt man sich die Bewegungen zur Entthronung des Dollar als Leitwährung, der Aktivitäten der BRIC-Staaten, der Entwicklungen im Dreieck zwischen China, Indien und Russland, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem seitens seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein. Was daraus folgt ist offen.

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Nachklänge
NGOs in Russland:
Achtung: Grenzüberschreitung?

Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten zwei Jahre schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein.
Neu wäre darüber hinaus eine Aufteilung zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken.

Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer Intervention hinaus, es käme einer Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention gleich. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.

Kai Ehlers
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Putin und Beresovski – zwei Reformer der besonderen Art

Rückwärts zum Zentralstaat?

Regionen, Föderalismus, Völker, Globalisierung.
Rückwärts zum Zentralstaat?

Anfang Juni 2000 legte die Kreml-Administration der Staatsduma eine Gesetzesvorlage vor, der zufolge der russische Präsident zukünftig das Recht haben soll, die Gouverneure der Regionen zu ernennen und abzusetzen, wenn sie gegen Föderationsgesetze verstoßen. Die gewählten Gouverneure sollen aus ihrem seit 1993 bestehenden Machtzentrum, dem Oberhaus der russischen Volksvertretung, Föderationsrat genannt, ausziehen und durch ständige Vertreter ersetzt werden. Zudem sollen sie durch Generalgouverneure überwacht werden, die in sieben Super-Regionen herrschen sollen, welche der russische Präsident per Erlass vor kurzem geschaffen hat. Dazu soll auch ein eigener neuer Überwachungs- und Polizeiapparat in den sieben Regionen aufgebaut werden. Als Ausgleich erhalten die Gouverneure das Recht, mit den Lokalgrößen entsprechend zu verfahren. Das Ganze läuft unter dem Label der Fortsetzung der Demokratisierung durch Einführung einer „Diktatur des Gesetzes“ im Kampf gegen Korruption und Kriminalität. Die Mehrheit der Duma stimmte begeistert zu. Selbst aus den Reihen der Gouverneure gab es kaum offenen Widerstand. Doch dann geschah das für viele Unerwartete: Vladimir Beresovski, vor der Wahl des Senkrechtstarters Vladimir Putin zum neuen russischen Präsidenten als dessen Sponsor, Gönner und Manager aktiv hervorgetreten, stellte sich öffentlich gegen die Politik des neuen Präsidenten. Die von Putin betriebene Rezentralisierung beseitige die Gewaltenteilung, erklärte er. Sie führe zu einer Wiederbelebung des sowjetischen Systems, bringe eine korrumpierte Elite hervor und zerstöre die Selbstverwaltung sowie jegliche Initiative von unten.
Dass Beresovskis Interesse weniger demokratisch als eher geschäftlich begründet ist, dürfte klar sein. Dafür hat er in den Jahren der kriminellen Privatisierung reichlich Zeugnis abgelegt. Er hat in vielen Regionen Russlands wirtschaftliche Interessen, was er gerade wieder bei Übernahme der Krasnojarsker Aluminiumwerke bewiesen hatte, nachdem deren erster privater Besitzer Sergej Bykov vom Gouverneur Krasnojarks, Alexander Lebed, hinter Schloss und Riegel gebracht worden ist. Beresovski braucht gute Beziehungen zu den Gouverneuren und den örtlichen Machthabern; er braucht freie Hand für seine Geschäfte. Das ist alles andere als demokratisch. Doch eben dadurch ist Beresovskis Opposition, obwohl nicht ohne paradoxe Züge, auch grundsätzlicher Natur. Er wendet sich gegen das von Vladimir Putin angestrebte Herrschaftsmodell, das auf dem Primat der Bürokratie und der Sicherheitsdienste, einschließlich des Militärs beruht. In einem solchen Staat, so muss Beresovski offenbar fürchten, wäre für die Oligarchen kein Platz mehr. Könnte es sein, dass er sich dieses Mal verrechnet hat? Jetzt gibt es nämlich keinen Boris Jelzin mehr, der wie bei den Präsidentenwahlen 1996 einen zu sehr emporgekommenen Ordnungspolitiker Alexander Lebed durch seinen anarchischen Autoritarismus wieder relativiert. Spielt Putin vielleicht sogar mit dem Gedanken, sich von Jelzins „Familie“ loszusagen und auf andere Kräfte zu stützen? Wie auch immer, dieses Mal, so scheint es, muss Beresovski die Geister, die er rief, selbst wieder bannen.
Die Antwort aus den Reihen des Präsidenten ließ nicht lange auf sich warten. Putin müsse gegen Beresovski vorgehen, tönte einer der Berater Putins, Pavlovskij, aus dem Kreml. Putin solle noch in diesem Jahr die „Schattenregierung“ der russischen Oligarchen beseitigen, andernfalls könne es sein, dass er schon im kommenden Jahr nicht mehr Präsident sein werde. Putin müsse die demokratischen Institutionen vom „Druck eines privaten Clubs“ einiger Großunternehmer zu befreien. Diese hätten einen parallelen, verfassungsfeindlichen Schattenstaat geschaffen. Während Vladimir Putin vom Volk gewählt sei, würden die Massenmedien von Leuten wie Beresovski und Gussinskij kontrolliert, die immer dann als Retter der russischen Demokratie aufträten, wenn sie sich gefährdet fühlten. Nun müsse die Mehrheit, die Vladimir Putin unterstützt, verhindern, dass sich die Gegner des Präsidenten zu einer Front zusammenschlössen.

Front gegen Putin?
Mit diesem Schlagabtausch bricht der Burgfriede auf, unter dem Vladimir Putin Anfang des Jahres 2000 zum Präsidenten gewählt wurde. Der Burgfriede war durch drei Faktoren begründet: Durch Vladimir Putins Bereitschaft, die „tschetschenische Frage“ zu lösen, durch sein Versprechen, Boris Jelzin und seiner „Familie“ Immunität zu garantieren und durch die politische Leerstelle, die der Newcomer Vladimir Putin anstelle eines Programms präsentierte. Der Konflikt tritt nun just an jener Stelle zutage, an der alle drei Elemente miteinander verzahnt sind – an der Frage der föderalen Struktur des Landes.
Laut Verfassung hat Russland 89 sogenannte föderale Subjekte – Verwaltungsgebiete, autonome, meist nach Ethnien benannte Republiken, autonome Gebiete und die Städte Moskau und St. Petersburg. Unter Boris Jelzin, dessen Amtsantritt als russischer Präsident gleichbedeutend war mit der Auflösung des sowjetischen Zentralstaates, setzte sich die Regionalisierung auf dem Gebiet der nunmehr Russländische Föderation genannten vormaligen Russischen SSR, fort. Gleichzeitig wuchsen die Tendenzen der Rezentralisierung. Der erste tschetschenische Krieg war der krasseste Ausdruck dieser widersprüchlichen Entwicklung. Er löste das Problem nicht, sondern verschob es und verschärfte es damit. Im zweiten tschetschenischen Krieg geht es nicht mehr hauptsächlich um Tschetschenien – weder um dessen Unabhängigkeit noch deren Verhinderung –, sondern um den inneren Zusammenhalt Russlands, um die Stiftung einer neuen Identität. Am Beispiel Tschetscheniens versuchen Vladimir Putin und sein „Kommando“ eine doppelte Sinngebung: Den einen wird mit der Lösung der „tschetschenischen Frage“ ein identitätsstiftendes kollektives Ziel und eine Ablenkung von der eigenen Dauermisere angeboten; den anderen wiederum wird demonstriert, was mit jenen geschieht, die sich dem Anspruch Moskaus auf Wiederherstellung seiner Machtstellung nicht beugen wollen. Mit dem Vorstoß gegen die Gouverneure soll der durch den tschetschenischen Krieg erzeugte politische Druck nun auch formal auf das ganze Land übertragen werden. Das trifft insbesondere diejenigen Teile des Landes, die sich, wie die ethnischen Republiken an der mittleren Wolga, allen voran Tatarstan, in den letzten Jahren eine relative wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit gegenüber der Zentralregierung erkämpfen konnten.

Wie russisch ist Russland?
In Russland leben, auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, immer noch rund hundertfünfzig verschiedene Völker. Das ist Russlands Konstituante. Wer Russland verstehen will, muss sich mit diesen Tatsachen beschäftigen. An der mittleren Wolga beispielsweise, in dem Gebiet, das in der Regel für den russischsten Teil Russlands gehalten wird, leben auf einem Raum von der Größe Frankreichs oder der Türkei sechs nicht-slawische Völker in sechs sich überschneidenden Siedlungsgebieten nebeneinander. Die Kerne ihrer Siedlungsgebiete bilden jeweils eine autonome Republik: Tatarstan, Baschkortastan, Utmurtien, Mordawien, Tschuwaschien und El Mari. Die Angehörigen dieser Völker stellen rund die Hälfte der in dem Gebiet lebenden Einwohner, die andere Hälfte sind slawische Russen. In den einzelnen Autonomen Republiken wicht die prozentuale Zusammensetzung leicht voneinander ab.
Diese Völker, die heute an der Wolga leben, sind im fünften Jahrhundert mit den Hunnen, im dreizehnten noch einmal mit den Mongolen nach Westen gezogen und nach deren Rückzug dort geblieben. Mit der Eroberung Kasans durch Iwan IV., den sogenannten Schrecklichen, kamen sie unter russische Oberhoheit. Seitdem ist die Staatssprache der Völker russisch. In den Dörfern aber werden nach wie vor die Sprachen gesprochen, die sie aus dem Altai, aus der Mongolei und aus Sibirien mitgebracht haben. Das sind turk-tatarische Dialekte bei den Tataren, Baschkiren, Utmurten, Mordawiern sowie den Tschuwaschen, und finnougrische Varianten bei den Mari. Die Mehrheit der Völker, bis auf die Tschuwaschen und Teile der Mari, gehört heute dem Islam an, soweit sie sich religiös orientieren. Die Tschuwaschen sind in ihrer Mehrheit christlich, haben jedoch starke naturreligiöse Elemente bewahrt. Bei den Mari finden sich Islam, Christentum und naturreligiöse Anschauungen in unentschiedener Mischung. Der russische, später sowjetische Lebensstil hat vor allem die Städte geprägt. In den Dörfern aber konnte sich viel mehr der traditionellen Kultur – wie es sich im Gebrauch des Tatarischen, Baschkirischen, Utmurtischen, Mordawischen, Tschuwaschischen und Marizischen ausdrückt – erhalten. Starke nationale Bewegungen seit Mitte der Achtziger Jahre forderten vor allem die Gleichberechtigung der eigenen Sprache mit dem Russischen. Den Tataren ist es gelungen, Moskau die Gleichberechtigung der Sprachen abzutrotzen. Seit 1991 sind in Tatarstan Russisch und Tatarisch gleichermaßen Amtssprache. Die anderen Republiken haben dieses Ziel nicht erreicht oder sind, wie die Tschuwaschen, auf halbem Wege stehen geblieben. So liest man heute in Tschuwaschien Straßennamen auf Tschuwaschisch und Russisch, es gibt auch tschuwaschische Schulen, aber Amtssprache ist allein Russisch. Ähnlich ist es in den übrigen Republiken.
Ende der Achtziger und Anfang der neunziger sorgten Vorstellungen einer unabhängigen Wolga-Ural-Republik für Unruhe. Sie zielten auf eine Vereinigung der turk-tatarischen und finnougrischen Wolgavölker unter tatarischer Führung. Diese Ideen sind heute weitgehend abgeklungen. Tatarstan aber ist für die übrigen Wolgavölker nach wie vor ein Vorbild. Mehr noch, das „Modell Tatarstan“ wurde zum erfolgreichen Gegenentwurf gegenüber dem unglücklichen Tschetschenien, dem es aber zugleich in religiöser, ethnischer und politischer Solidarität verbunden ist. Gemeinsam mit Türken und Aserbeidschanern orientieren sich die nationalen Bewegungen der turk-tatarischen Republiken ebenso wie die tschuwaschische an der Entwicklung eines einheitlichen turksprachigen Kulturraumes, zu dem sie nicht nur sich selbst, den Kaukasus (insbesondere Tschetschenien) und Zentralasien, sondern auch verschiedene Republiken Sibiriens zählen. Altai, Chakasien, Burjatien sind die kleineren unter ihnen, Jakutien die größte, die fast den gesamten Nord-Osten Sibiriens einnimmt. 1990 fand der erste „Alltürkische Kongress“ in Moskau statt, 1991 in Kasan; 1992 gab es in der Hauptstadt Aserbaidschans, Baku, den ersten allgemeinen großen „Kurultai“, die Beratung der turksprachigen Völker. Seitdem trifft man sich zu jährlichen Kurultais in Baku oder Ankara, auf denen über eine einheitliche Entwicklung des turksprachigen Kulturraumes betraten wird. Ähnliches vollzieht sich auf der finnougrischen Linie: Die nationale Bewegung El Maris zielt auf die Vereinigung der finnougrischen Völker, der Finnen, Esten, Ungarn und versprengter Gruppen. Einmal im Jahr trifft man sich in Tallin zum finnougrischen Festival.
All dies, sowohl die turksprachige als auch die finnougrische Erneuerungsbewegung wird teils offen, teils versteckt von den Republikführungen unterstützt; am stärksten tritt Tatarstan hervor, das sich als Zentrum turk-tatarischer Kultur in Russland und als Begegnungsstätte zwischen Ost und West versteht. Versuche der politischen Einflussnahme von außen bleiben bei dieser Konstellation nicht aus. Das betrifft die Türkei zum einen, Finnland und Estland zum anderen. Über die Religion versucht auch der Iran Einfluss zu nehmen. Mit der neuen Gouverneursverfassung, welche die Sonderrechte, die sich Republiken wie Tatarstan im Laufe des Jahrzehnts Jelzinscher Politik sichern konnten, nivelliert, versucht Moskau dieser Entwicklung entgegenzutreten. Kurzfristig könnte dem Zentrum das gelingen, wenn es die immer noch bestehenden zentralen Monopole wie GASPROM oder den Elektroriesen RAO EUS sowie die Eisenbahn, von denen die regionale Produzenten abhängig sind, als Druckmittel einsetzt. Auf Dauer wird es aber die Entwicklung, die auf eine größere Selbstständigkeit der in 70 Jahren Sowjetindustrialisierung allen Mängel zum Trotz herangereiften Regionen sowie auf neue eigenständige Beziehungen zwischen ihnen hinausläuft, nicht aufhalten können. Auch nicht mit Polizeigewalt. Dafür ist das Land zu weit und die Zahl der darin lebenden Völker sowie der Trassen und Pipelines, die inzwischen nicht mehr nur in Richtung Moskau, sondern in alle anderen Himmelsrichtungen gebaut werden, zu groß. Der Stalinismus, das heißt, die Zeit der militärisch organisierten Zwangsindustrialisierung ist irreversibel am Ende. Neue Lebens- und Wirtschaftsräume sind entstanden, die jetzt zu intensiver Entwicklung übergehen müssen – wenn sie nicht verrotten wollen. Wer aber will das.

„Heute Tschetschenien – morgen wir?“ – Bericht von einer Rundreise an der Wolga
Ein aktueller Streifzug durch die Wolgarepubliken kann einige Antworten auf die Frage geben, welche Folgen der Krieg in Tschetschenien auf die innere Verfassung Russlands und konkret auf die mit den Tschetschenen ethnisch verwandten und zudem in ihrer Mehrheit auch noch religiös verbundenen Wolgavölkern hat. In Čšeboksary, der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik, verlaufen die Gespräche informativ, ruhig, ohne große Überraschungen. Im Grunde ist alles wie erwartet: Das kleine tschuwaschische Kulturzentrum, konkret sein Vorsitzender Michail Juchma – als Nationaldichter nicht nur in Tschuwaschien bekannt und geachtet –, müht sich redlich, sich der großen Zustimmung, welche die Politik Vladimir Putins hier erfährt, entgegenzustellen. Aber es ist ein Kampf gegen den Strom. Die Mehrheit der Bevölkerung liebt den undurchdringlichen Geheimdienstler Putin zwar nicht und verurteilt den von ihm in Tschetschenien geführten Krieg, hat aber doch mit gut 40 Prozent der abgegebenen Stimmen für die von ihm verheißene Ordnung gestimmt. Die andere Hälfte stimmte für den kommunistischen Kandidaten. Vieles, was zum Krieg in Tschetschenien, was zur Wahl und anderen politischen Ereignissen gesagt wird, trägt daher den Charakter folgenloser Klagen. Am Stärksten tritt das in einer Figur wie dem Rentner Rosov zutage, der ein zu Sowjetzeiten regional bekannter Filmemacher ist. Er wurde mir als jemand vorgestellt, der schon zum ersten tschetschenischen Krieg 1994–96 ein Bataillon von Freiwilligen aufstellen wollte. Er macht viele heiße Worte um diese Sache, spricht von Genozid, von russischem Neo-Kolonialismus, von der Gefahr eines allgemeinen Bürgerkrieges; man spürt, dass ihm das Gemüt kocht – aber gefragt, ob er denn tatsächlich Leute aufstelle und dorthin verbringe, antwortet er, das werde ihm erstens durch die Behörden der tschuwaschischen Republik verboten und zweitens habe er kein Geld. Seine Pension reiche nicht einmal für eine Reise nach Kasan.
Auf demselben Niveau bewegen sich auch die übrigen Positionen, die ich bei meinen Gesprächen im tschuwaschischen Kulturzentrum zu hören bekomme – einschließlich der von Michail Juchma, obwohl er mit seiner eigenen Arbeit und über das „Tschuwaschische Kulturzentrum“ immerhin einigen Einfluss auf die öffentliche Meinung nimmt. Soeben wurde er vom aserbaidschanischen Präsidenten Alijew wieder einmal zu einem Treffen nach Baku eingeladen, das dem Kulturaustausch zwischen den turksprachigen Völkern dienen soll, weshalb wir unsere Besuche in den Nachbarrepubliken ohne seine Begleitung bewerkstelligen mussten. Immerhin blieb uns der von Michail Juchma organisierte Fahrer erhalten. Ohne ihn wären die Entfernungen nicht zu bewältigen gewesen. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass einer der Sponsoren des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“, Nikolai (ein Bienenzüchter, den ich schon lange den Bienenkönig nenne) soeben zum Vorsitzenden der tschuwaschischen Sektion der von Michail Gorbatschov gegründeten Sozialdemokratischen Partei wurde. Man traf sich in Moskau. Nikolai zeigte Bilder von der gerade eben vollzogenen Gründungsversammlung der Partei in Moskau, bei der die in Moskau ansässigen Tschuwaschen in einer Reihe mit den aus Tschuwaschien angereisten Delegierten rund um Gorbatschow herumstehen.
Viele Details wären hier zu berichten, nur eins noch: Es herrscht wieder Angst! Nach einem Gespräch mit dem Assistenten des obersten Mufti der tschuwaschischen Republik, der sich gegen den, wie er sagte, Missbrauch des Islam durch Extremisten wie Bassajev, Chattab und andere tschetschenische Warlords wandte und Putins Politik verteidigte, äußerten die Mitglieder des Kulturzentrums ihre Befürchtung, dass der junge Mann nun schnurstracks beim FSB, dem Inlandgeheimdienst, ausplaudern werde. Man fühlt sich wieder bespitzelt. Auch wenn diese Befürchtungen übertrieben sein sollten, so ist doch der Wandel gegenüber den Vorjahren, wo frank und frei agitiert wurde, doch sehr deutlich zu spüren.
Nicht viel anders ist es in Joschkar Olar, der Hauptstadt der Nachbarrepublik El Mari. Im Gegensatz zum tschuwaschischen Kulturzentrum wird das marizische immerhin staatlich unterstützt. Freundlich werden die Gäste begrüßt und mit großer Bereitschaft wichtige Gesprächspartner herbeitelefoniert. Man ist empört über den Krieg gegen die Tschetschenen: Genozid – lautet auch in El Mari das eindeutige Urteil. Aber man ist doch weit entfernt von irgendeiner politischen, gar effektiven politischen Einflussnahme. Selbst der sehr radikale Ethnologe, dem wir dort begegnet sind, Teilnehmer vieler westlicher Symposien über Minderheitenschutz in Russland, kommt wohl letztlich, wie es scheint, über starke Worte nicht hinaus. Er äußert sich sarkastisch und resigniert über die zahnlose Republikverwaltung, die zwar das Kulturzentrum unterstütze, ansonsten aber vor Moskau, aktuell vor allem vor Putin, kusche. Eine rührende politische Hilflosigkeit offenbart sich beim Treffen im „Haus des Druckes“ der Union der marizischen Schriftsteller, die ebenfalls staatlich unterstützt wird. Sie begnügen sich mit Toasts auf die literarische Selbstverwirklichung in marizischer Sprache und mit harmlosen folkloristischen Ritualen.
In Kasan aber weht ein anderer Wind. Das tatarische Kulturzentrum „TotZ“, wo ich 1992 erstmalig, dann wieder vor zwei Jahren zusammen mit Michail Juchma anlässlich der Rundreise zu den Gedenkstätten tschuwaschischer Geschichte war, machte noch einen im Gegensatz zu damals etwas vernachlässigten, abseitigen Eindruck. Dann aber: Das Islamische Zentrum – da ist man doch gleich mitten im Leben, mitten in den Widersprüchen zwischen orthodoxer und islamischer Kirche! Vom Assistenten des obersten Mufti Tatarstans wird mir eine Äußerung Putins übermittelt, die er vor einem Kreis eingeweihter FSBler getan haben soll: „Wenn wir mit den Tschetschenen fertig sind nehmen wir uns die Chane vor.“ Das, fügt der Mufti-Assistent hinzu, könne nur die Tataren, bzw. die an der Wolga ansässigen Mohammedaner meinen, allen voran natürlich Tatarstan selbst, das Moskau mit den von ihm abgerungenen Sonderrechten ein Dorn im Auge sei. Im „Haus der Freundschaft“ wird uns dann das „Modell Tatarstan“ vorgeführt: entschlossener auf dem Weg zur Eigenständigkeit, aber im engen Zusammenhalt der alten euroasiatischen Strukturen; Gleichberechtigung der russischen und tatarischen Sprache, Verfügung über die eigenen materiellen Ressourcen, selbstständige Kultur- und Religionspolitik – bei all dem aber friedliches Zusammenleben zwischen tatarischer und russischer, zwischen christlicher und islamischer Bevölkerung. Kasan – so die stolze Selbsteinschätzung meiner Kasaner Gesprächspartner und auch mein eigener Eindruck – ist Drehscheibe zwischen Osten und Westen, halb russisch, halb tatarisch in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht. Sie ist auch Klammer zwischen kaukasischem und zentralasiatischen Süden, und eine Stadt mit Geschichte und Zukunft.
Zentrum der nationalen Bewegung Tatarstans ist dennoch nicht Kasan, sondern Naberežnaja Čellni, eine Industriestadt mit 500.000 Einwohnern und Einwohnerinnen im Herzen Tatarstans, an der Kama gelegen, 250 km östlich Kasans. Naberežnaja Čellni ist eine künstlich angelegte Agglomeration von Plattenbauten, die wesentlich von der Produktion schwerer LKWs vom Typ „KAMA“ lebt. „Stadt der Verbrechen“ wird der Ort vom Volksmund zur Zeit genannt. Der Stillstand der KAMA-Werke bringt Arbeitslosigkeit, die Arbeitslosigkeit Armut, Drogenmissbrauch, Aids und Kriminalität.
Das örtliche „TotZ“ in Naberežnaja Čellni erweist sich als Zentrum des tatarischen Nationalismus. Rafis Kasapov, sein Leiter, gilt als ein energischer Kämpfer für ein „Einheitliches Wolga-Ural unter tatarischer Führung“. Er bemüht sich – und das mit Erfolg – die tatarisch orientierte Intelligenzija des Ortes zum Gespräch einzuladen und vermittelt uns gleich dazu noch ein Treffen mit den russischen Nationalisten der Stadt. Das gibt es wohl nur in Russland! Die Gewerkschafter, die auch noch kamen, schickt er – weil zu spät – leider wieder fort. Schade, sie hätten viel erzählen können, über den Zusammenhang zwischen sozialer Entwurzelung und nationaler Radikalisierung. Kern aller Gespräche in Naberežnaja Čellni ist der tschetschenische Krieg – Verurteilung als Genozid, exemplarischer Charakter des Krieges, konkrete Hilfe bis hin zum effektiven Aufgebot von Freiwilligen. Es versammelten sich im „TotZ“ mit uns: Rafis Kasapow selbst, der humanitäre Hilsexpeditionen nach Tschetschenien, aber auch die jährlichen Feierlichkeiten und Umzüge zum Gedenken an den Fall Kasans im Jahre 1152 organisiert; ein Wahabiter“, Vorsitzender des örtlichen „Islamischen Komitees“, ein vollbärtiger junger Mann, der Freiwillige in den „Heiligen Krieg“ nach tschtschenien schieckt,; ein Baschkire, Vorsitzender des örtlichen Baschkirischen Kulturzentrums, ein Exil-Tschetschene, Chef der tschtschtschenischen Diaspora an der Wolga; ein Chef einer Bulgar-Gesellschaft, die sich die Aufarbeitung der vor-mongolischen Geschichte des Woplgaraumes zur Aufgabe gesetzt hat, und noch einige – alles in allem eine mächtig beeindruckende Versammlung von Menschen, die mit Vladimir Putins Krieg in Tschetschenien nicht einverstanden sind, weil sie sehen, dass er auch gegen sie gerichtet ist. „Heute die Tschetschenen, morgen wir“ steht hier über jedem Gespräch, das wir führen. Der Unterschied ist nur“, so Rafis Kasapow, „daß wir nicht so heißblütig sind wie die Tschetschenen. Sonst hätte der Krieg uns auch bereits eingeholt.“
Ein Höhepunkt ist die Begegnung mit dem Vorsitzenden der tschetschenischen Gesellschaft,. Er lässt ein krasses Bild von der tschetschenischen Diaspora entstehen. Bei seinen Erzählungen nimmt das Gespenst des KGB-Staates beängstigend reale Formen an: Als Vladimir Putin kürzlich im Rahmen seiner Wahlkampfreisen seinen Besuch in Nabereschnaja Tschlni angekündigt hatte, wurden die männlichen Mitglieder der in der Stadt lebenden achtundzwanzig Familien samt und sonders und ohne Angabe von Gründen für drei Tage inhaftiert und erst wieder auf freien Fuß gesetzt, nachdem Vladimir Putin die Stadt verlassen hatte.
Insgesamt hinterlässt der Streifzug entlang der Wolga den Eindruck, dass der tschetschenische Krieg nicht nur in Tschetschenien geführt wird. „Heute bekämpfen sie die Tschetschenen, morgen uns“, ist die häufigste Formulierung, die man zu hören bekommt. Weniger schroff ist die Variante, dass der tschetschenische Krieg Rassismus und Diskriminierung in den ethnischen Republiken fördere. Putins Erklärung, sich die Chane vornehmen zu wollen, wird so verstanden, dass er den Republiken, insbesondere den ethnischen Ihre hart errungenen Sonderrechte wieder nehmen will. Der Besuch im „Russischen Zentrum“ macht das dankenswert klar: Mit erhobener Stimme wird dort die Wiederherstellung einer einheitlichen russischen Gesetzlichkeit gefordert. „Wofür brauchen wir 89 Präsidenten“, lärmt der Vorsitzende der Gesellschaft, der im Übrigen mit seinen Kontakten zur DVU in Deutschland protzt, „wir haben doch unseren Präsidenten in Moskau!“ Es ist klar, dass solche Positionen auf eine Revision des „ Modells Tatarstan“ und darüber hinaus auf eine Kündigung des Völkerkonsenses in der russischen Föderation hinauslaufen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der mongolische Vorhang –
Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der Osten spielt in der linken Solidaritätsbewegung allem Gerede über Globalisierung zum Trotz bisher nahezu keine Rolle. Haben diejenigen Recht, die den Grund dafür in einem „linken Rassismus“ sehen und die eine linke Position zu Menschenrechten und humanitären Aktionen einfordern?
Die Frage ist dazu geeignet, bisher gültige Kategorien durcheinanderzuwirbeln: „Linke“ Menschenrechte? „Linker“ Rassismus? „Linke“ Humanittät? – Solche Eingrenzung der Fragen sind ganz sicher ungeeignet, unseren gegenwärtigen Problemen auf den Leib zu rücken oder Perspektiven zu entwickeln. Nicht „linker“ Rassismus ist das Problem – sondern einfacher alltäglicher, europäischer Rassismus. Er besteht zuallererst einmal darin, dass Geschichte, Kultur und Lebensrecht der Völker des Euroasiens, einschließlich seiner Verbindungen zum asiatischen und orientalischen Raum auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer schlichtweg nicht existiert.
Nach der Öffnung des eisernen Vorhanges kommt ein weitaus kräftigerer, undurchdringlicher Vorhang im europäischen Bewusstsein zum Vorschein, der mongolische Vorhang; man kann ihn auch den hunnischen Vorhang nennen. Dieser Vorhang macht es den Europäern – mit Differenzierungen von Westen nach Osten – schwer, irgendetwas anderes als Europa jenseits des Ural zu erkennen. Das Europa der Europäer reicht selbstverständlich bis nach Wladiwostok. Dass es im euroasiatischen Raum außer den Titularnationen, die den jeweiligen Staaten die Namen geben, weitere Hunderte von Völkern und Kulturen gibt, die heute zwar keine Staatsnationen sind, die aber eine lange Geschichte und Kultur haben, entzieht sich dem alltäglichen europäischen Blick.
Der europäische Blick ist nicht nur durch die eigene koloniale Geschichte verstellt, sondern auch durch die Russlands, an der sich die Westeuropäer in ihrem Drang nach Osten immer wieder zu beteiligen versuchten. Die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“, das einen Raum ohne Volk sucht, ist keineswegs erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden. Sie hat ihre Wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte West-Europas.
Der Mongolische Vorhang rasselte spätestens im 13. Jahrhundert zwischen der westeuropäischen Welt und dem Rest Euroasiens nieder, nachdem er als hunnischer schon im fünften Jahrhundert niedergegangen war. Russland übernahm die Rolle des Vorhangschließers, bzw. Öffners. Westeuropäische Kultur festigte sich in der Abwehr der Hunnen, später der „Mongolischen Pest“. Die Völker und Kulturen des euroasiatischen Raumes wurden nicht als Reichtum, sondern als existenzielle und permanente Bedrohung wahrgenommen, Russland als ungeliebter vorgeschobener Posten gegen diese Bedrohung und zugleich als ein Teil von ihr.
An dieser Konstellation hat sich im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung bis heute wenig geändert – auch wenn die neuen geopolitischen Verhältnisse, die wir gegenwärtig unter dem Begriff der Globalisierung fassen, einfach schon deswegen daran rütteln, weil Europa nicht mehr das Zentrum der Entwicklung ist, sondern ein Zentrum unter mehreren, ja, vielen. Russland knackt an dieser Koordinatenverschiebung ebenso wie Europa und interessanterweise existiert der mongolische Vorhang nicht nur für Europa, sondern auch für Russland – wiewohl er in Russland schon durch die Vielvölker-Realitäten immer wieder in Frage gestellt wird.
Über diese historisch gewachsenen, in Politik und Kultur Europas eingeschriebenen Tatsachen, die sich im Unterbewusstsein der dort lebenden Menschen als tief verwurzelte Vorurteile festgesetzt haben, muss man sprechen, wenn man die Blindheit der europäischen Bevölkerung für die von ihr aus gesehen östlichen Völker verstehen will. Man vergegenwärtige sich nur das von Hitler gezeichnete Bild des östlichen Untermenschen, um zu erkennen, wie tief das Bild der kinderfressenden hunnischen, mongolischen, türkischen oder anderer euroasiatischer Teufel sich im Unterbewusstsein der europäischen Bevölkerung festgesetzt hat. Mit dem Ende der Sowjetunion bricht dieses Bild heute auf. Ein neuer Blick auf die Welt, allen voran die östliche, aber nicht nur sie kann sich entwickeln, in der nicht nur die Systemteilung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch die Ost-West-Polarisierung der Welt durch neue, multipolare Beziehungen zwischen den Völkern und multikulturelle innerhalb der einzelnen Staaten verdrängt wird. Es ist die dritte, letzte große Welle der Entkolonialisierung, nachdem der erste Weltkrieg, danach der zweite den von Westeuropa aus gespannten kolonialen Rahmen bereits gesprengt hatten. Die Voraussetzungen dafür sind im Schoße der bipolaren Welt herangereift, ohne dass diese Tatsache bereits ins allgemeine Bewusstsein der alten Welt eingedrungen wäre. Dieses Bewusstsein zu schaffen und damit der auf Durchbruch drängenden multipolaren Lebens- und Weltordnung auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, dürfte der Sinn einer Kritik der Globalisierung sein. Der „linke“ Ansatz könnte dabei sein, diesen Durchbruch so sozial, friedlich und ökologisch verträglich wie möglich zu gestalten.

Veröffentlicht in:  Ost-West-Gegeninfo

Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung

An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden.

In seinen bisher seltenen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert Dmitri Medwjedew auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“
Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte zum Beispiel der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man natürlich abwarten müsse, was tatsächlich geschehe. Wer wissen möchte, was auf Russland zukommt und was sich hinter den wohl klingenden Ankündigungen der „Entbürokratisierung“ andeutet, muss genauer hinschauen.
Schon Michail Gorbatschow versprach: Uskorennije, Perestroika und Glasnost, wirtschaftliche Beschleunigung, Umbau und Transparenz. Boris Jelzin puschte Gorbatschows Ansatz zum „Schockprogramm“ der uneingeschränkten Privatisierung hoch, gab die Preise frei, setzte auf Selbstregulation des Marktes, flankierte das Ganze mit den Aufforderungen „Nehmt Euch soviel Souveränität wie ihr braucht!“ und „Bereichert Euch!“ Ein „Volk von Kapitalisten“ sollte so entstehen.     Ergebnis war die wilde bis kriminelle Privatisierung, war  das Ende der Sowjetunion bis hin zur katastrophalen Zersetzung der sozialen Netze des Landes – insonderheit der betriebsbasierten Gemeinschaften, die als kommunale Basisstruktur die soziale Versorgung der Bevölkerung getragen hatten. Gleichzeitig wurde der bis dahin unentgeltliche Wohnraum privatisiert. Versuche Jelzins auch für kommunale Leistungen wie Miete, Gas, Wasser, Strom uä. individuelle Zahlung einzuführen, scheiterten jedoch.
Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden; es ist jedoch wichtig daran zu erinnern, um zu verstehen, was unter Putin im sozialen Bereich geschah und was nun geschehen kann.
Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sich entzogen hatten. Das hieß auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug er mehrere mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Übertreibungen, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige bereiche wieder her und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.
Putins Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Eine Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde derzeit nicht diskutiert. Gesundheitswesen ebenso wie das Bildungswesen verwandelten sich, verursacht durch katastrophale Unterfinanzierung, in ein El Dorado der Korruption. Wer damals durchs Land fuhr, konnte erleben, dass Menschen in Krankenhäusern von ihren eigenen Verwandten verpflegt und mit Medikamenten versorgt werden mussten.
Als Putin nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 nun auch an die Privatisierung der sozialen Sphäre gehen lassen wollte, musste er vor massiven landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus, der sich auch Studenten, Lehrer und Ärzte anschlossen. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen blieb in halben Maßnahmen stecken.
Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern.
Kern der putinschen Vorschläge war ein Finanzierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte Medwjedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen. Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Millairden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.
Die Reaktion Putins im Herbst 2005 war eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwjedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem man nun wirklich keine besondere Liebe für Putin nachsagen kann, zum Ende der Ära Putin kurz vor den Duma- und Präsidentenwahlen,  könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“.
Das Problem der putinschen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte. „Im Großen und Ganzen“, fasst Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums  darauf beschränken, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.
Kurz, es muss nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wird nach ihnen gesucht. Hier treten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und gerade eben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird.
Da war beispielsweise in den monatlich erscheinenden „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa kurz nach Propagierung der „nationalen Programme“ Anfang 2006 zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“ Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.
Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten zur Produktionsstruktur auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte.
Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.
Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.
Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von den älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden.
Im Übrigen ist hier noch anzumerken: Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.
Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern eine Frage der Lebensweise sein, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.
Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen.    Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw. , die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.
Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, selbst nicht die angekündigte Entbürokratisierung. Neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles in Zukunft im Zentrum eines Regierungshandelns stehen soll, welches seinerseits erklärtermaßen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen will.
In dieser Perspektive kündigt sich die Entschlossenheit der russischen Führung an, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften und schließlich, selbstverständlich, ein zweiter Versuch, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen. Dies klingt in der Tat „spektakulär“.
Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung des erreichten Standes der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht.
Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwjedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die nicht nur von steigenden Öl- und Gaspreisen beantwortet wird.      Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur     indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen dieser Monetarisierung könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Rußland: Normalisierung oder Mafianisierung – eine Bilanz der russischen Wirklichkeit am Ausgang der 2. Privatisierung.

Um die russischen Reformen ist es still geworden. Ohne großen Lärm stimmte die Duma nach einem Appell Boris Jelzins noch Ende letzten Jahres dem Haushaltsplan für 1998 zu. Mit einer weiteren Entmachtung Anatolij Tschubajs Ende Januar dieses Jahres scheint Ruhe in die Regierungspolitik einzukehren. Boris Jelzin sucht neues Glück in der Außenpolitik. Die Bewertungen der internationalen Kommentatoren schwanken zwischen Stabilität und Stillstand. Es ist Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Anfang des Jahres 1997 wechselte Boris Jelzin die Mannschaft. Die neuen Favoriten waren: Anatoli Tschubajs, ehemaliger Beauftragter für Privatisierung, später Leiter des Präsidialamtes und in dieser Funktion auch Organisator des Wahlkampfes für seinen Präsidenten; er wurde stellvertretender Ministerpräsident. Mit ihm rückte sein Leningrader Kommando in erste Posten. Hinzu kamen Boris Nemzow, zuvor Gouverneur in Nischninowgorod, und Oleg Susujew, davor Bürgermeister von Samara. Hinter ihnen tauchten auch einige jener neuen Geldmagnaten wie Wladimir Potanin und Boris Beresowski in der Regierung auf, die Jelzins Wahlkampf finanziert hatten.
Die neue Mannschaft war im Schnitt um die Hälfte jünger als der alternde Präsident. Sie kündigten eine zweite Phase der Privatisierung an, einen neuen Reformschub, das Ende des wilden Kapitalismus. Ihre wichtigsten Stichworte lauteten: Etat-Konsolidierung, Reform des Steuer-, des Renten- und des Sozialsystems, Regulierung der sog. natürlichen Monopole, also solcher wie Energie, Wasser, Post, Bahn Wohnungsbau usw. und Durchsetzung des Konkursrechtes.
Bis 1997 umfaßte die Privatisierung vier Schübe: Erstens die „wilde Privatisierung“ von 1989 bis 1991, die sich vor Beginn der gesetzlichen vollzog; zweitens die „kleine Privatisierung“ ab Dezember 1991 bis Ende 1993, mit der die gesetzliche Phase der Privatisierung begann – sie betraf vor allem kleinere und mittlere Betriebe und Dienstleistungsgewerbe; drittens die „Voucher“-Privatisierung von Ende 1992 bis Junli 1994 – sie war als Volksprivatisierung deklariert, die das nationale Vermögen in die Hände der Bevölkerung überführen sollte; viertens die „Geld-Privatisierung“ ab Juli 1994, die der Konzentration von verstreuten Aktienanteilen zu entscheidungsfähigen Mehrheitspaketen dienen sollte. Schließlich darf – fünftens – die Privatisierung auf dem Lande nicht vergessen werden, die seit 1989/90 parallel zu den gesamten vier Phasen verlief.
Ergebnis der Privatisierung war aber nicht Entmonopolisierung, nicht ein freier Markt konkurrenzfähiger Unternehmer, nicht die Entlastung des Staatsbudgets, sondern neue Monopole, Geldimperien auf der Basis von Ex- und Import, die den russischen Markt unter sich aufteilten. Die Produktion Rußlands reduzierte sich dagegen glatt um die Hälfte. Der Staat ist praktisch bankrott. Die Mafia wurde zum festen Bestandteil der russischen Gesellschaft; statt eines konkurrenzfähigen Mittelstandes entstand ein von den neuen Monopolen, von Staatszuwendungen und von der Mafia abhängiger Bereich von Dienstleistungen. Der Angriff auf die kollektiven Versorgungs- und Bildungsstrukturen schließlich führte nicht zu deren Ersetzung durch neue Träger, sondern zur Zerüttung des sozialen Versorgungssystems.
Kein Wunde, daß sich die Reformen schließlich an der Verweigerung der real existierenden Versorgungskollektive brachen: der Sowchosen, Kolchosen, der branchenmäßigen, vor allem aber der regionalen Betriebs-, Wirtschafts-  und Lebenseinheiten, die mit formaler Umbenennung der Privatisierung Genüge taten, im übrigen aber weitermachten wie bisher. Deren größte sind solche korporativen Vereinigungen wie der Öl- und Gas-Riese GASPROM oder andere der „natürlichen Monopole“. Die Verweigerung führte bis zu Widerstand, zur bewußten Aufrechterhaltung oder gar bis zur Wiederherstellung der geschädigten kollektiven Strukturen.
Als Anfang 1997 die Privatisierung der „natürlichen Monopole“ in Ausssicht gestellt wurde, bedeutete das, daß jene kollektiven Strukturen jetzt endgültig beseitigt werden sollten. Aber auch diesmal stand nicht Entmonopolisierung dabei im Vordegrund, sondern die Entflechtung der Produktions- und der Reproduktionssphäre dieser Betriebe. Freigegeben werden sollten die Preise im Wohnungsbereich, für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr, Bahn, Post und diverse andere Dienstleistungen, die in vielen Fällen immer noch vom betrieblich-kommunalen Versorgungssystem getragen werden. Für ein solches Programm stand der jugendliche Boris Nemzow, der in Nischninowgorod mit einer Privatisierung dieser Art Modellpolitik gemacht hatte.
Der Westen nahm die neuen Signale erleichtert auf. Sie öffneten Boris Jelzin im Juni ´97 die Tür zur „G-8“. Westliche Beobachter schöpften Hoffnung, daß die von ihnen seit jahren eingeforderten „grundlegenden Strukturreformen“ nun endlich verwirklicht würden.
Wenige Monate danach war von einem zweiten  „Reformschub“ schon nicht mehr die Rede, stattdesen schon im Mai von einem drohenden Zusammenbruch des Investitionsmarktes, von der Budgetkrise, von einem zu erwartenden „heißen Herbst“, von „deja vues“ usw. Ende des Jahres zitierte das „Handelsblatt“, sonst eher zu Ermutigungen potentieller Investoren geneigt, Ergebnisse westlicher Experten, die sich gezwungen sahen, eine „beträchtliche Deindustrialisierung“ in Rußland zu konstatieren.
Der neue Reformschub verwirklichte sich vor allem als „Krieg der Banken“, deren Vertreter sich und ihre Lobby in der Regierung mit „Kompromaten“, also öffentlich vorgetragenen Korruptionsvorwürfen, gegenseitig diskreditierten. Im Ergebnis mußten mehrere der neuen Reformer, allen voran der Privatisierungsminister Alfred Koch, ihren Hut nehmen. Anatolij Tschubajs behielt seinen Posten als Vizepremier, verlor aber sein Amt als Finanzminister; Boris Nemzow wurde aus dem Ministerium für Energie gedrängt. Präsident Jelzin enthob den Geldmann Beresowski seines Amtes als Chef des Sicherheitsrates, die anderen finanziellen Hintermänner der Tschubajs-Mannschaft mußten sich von ihm zu „zivilisiertem“ Handeln ermahnen lassen.
Gewinner des Gerangels wurde Premierminister Viktor Tschernomyrdin, der als ehemaliger Chef von GASPROM den institutionellen Widerstand gegen die neue Entflechtungswelle repräsentiert. Die von ihm im Januar vorgenommene neuerliche Regierungsumbildung, die Anatoli Tschubajs nunmehr auf den Bereich des Sozialen, Boris Nemzow auf Transport- und Wohnungswirtschaft zurückgedrängt, war der bisher letzte Ton im Abgesang der neuen Reformer.
Die Privatisierungen der „natürlichen Monopole“ sind damit vorerst verschoben, die Steuer-, die Sozial- und Rentenreform blieb stecken. Von der Durchsetzung des Konkursrecht hört man nichts.
Der von der Opposition angekündigte Widerstand andererseits, gar Massenprotest blieb ebenfalls aus oder verzehrt sich in lokalen und regionalen Strohfeuern, allen voran immer wieder im Kusbass. Im Januar 98 wurde nach öffentlichem Säbelrasseln Ende 1997 im „Vierergremium“ zwischen Präsident Jelzin, Vizepremier Viktor Tschernpmyrdin und den Präsidenten der beiden Duma-Kammern zwar eine Eingung zum Haushalt ´98 getroffen. Dies ähnelt aber eher einem Stillhalte-Abkommen zwischen Teilen des Establishments, mit dem die Öffentlichkeit beruhigt werden soll, denn beim Stand der Dinge sind die in dem Entwurf vorgesehenen Ausgaben weder – wie früher geplant – aus der Privatisierung, noch aus einem erhöhten Steueraufkommen zu bestreiten, noch durch Regorganisation des Sozial- und Rentensystems einzusparen. Das zu erwartende Defizit wird allein durch ausländische Kredite zu decken sein.
Dies alles erweckt den Eindruck, als ob die russischen Wandlungen zum Stillstand gekommen seien. Immer öfter hört man im Lande selbst das Wort Normalisierung. Nicht einmal die seit Anfang des Jahres stattfindende „Denominierung“, wie die Abwertung des Rubel um drei Nullen genannt wird, kann die Bevölkerung gegenwärtig aufregen. „Drei Nullen mehr oder weniger“, lauten die Kommentare“, „wo ist der Unterschied? Wir werden ohnehin betrogen und ausgenommen. Ich kümmere mich um meine eigenen Dinge.“
Die „eigenen Dinge“, das ist die zweite, oft sogar die dritte schwarz ausgeführte Arbeit, dazu noch die Datscha, die die Grundversorgung der Familie zu garantieren hat. Sie erfordert jede freie Stunde.
Was heißt also Normalisierung? Endgültige Öffnung in Richtung Markt, wie von Seiten der Regierung immer noch behauptet? Endgültiger Sieg der Mafia, wie ihre kommunistischen Kritiker sagen? Die Etablierung eines kriminellen Korporativismus, wie etwa Grigori Jawlinski es nennt?
Marktöffnung? Die russische Wirtschaft vollzieht sich zu mehr als der Hälfte als Barter-, Tausch- und Naturalwirtschaft. Nicht mehr, sondern weniger Kapitalismus ist entstanden. Wenn die Wirtschaft der russischen Föderation auch unter den letzten Experimenten nicht zusammengebrochen ist, dann deswegen, weil sie immer noch vom Verkauf ihrer Naturschätze lebt.
Mafia? Ja, es gibt die „Dächer“, unter deren Schutz man sich begeben muß, wenn man in Rußland etwas werden will. Es gibt die Aufteilung des Landes nach kriminellen Clans, es gibt die kriminalisierte Regierung. Die russische Öffentlichkeit ist von dieser Realität und diesen Begriffen inzwischen so durchdrungen, als wäre das völlig normal. Nach dem Scheitern der b´neuen reformwelle ist das noch offensichtlicher als zuvor.
Doch erklärt der Hinweis auf die Mafia nicht alles: Es gibt den legalen Sektor eines im westlichen Sinne modernisierten, neuen Busyness; es gibt Ansätze eines legalen Mittelstandes; es gibt kontrollierte Staatsbetriebe; es gibt kommunale Wirtschaftseinheiten in den Regionen; Zahlen dazu bewegen sich zwischen zehn und dreißig Prozent – aber auch diese Kräfte arbeiten nicht in der offenen Konkurrenz, sondern in Absprache miteinander. In gegenseitiger Hilfe und Absprache – auch mit der Mafia – liegt die einzige Chance ihrer Existenz zwischen Bürokratismus, wildem Kapitalismus und organisierter Kriminalität.
Es hat sich das auf Neuer Stufe etabliert, was Tatjana Saslawaskaja, soziologische Schrittmacherin der Perestroika, Mitte der siebziger Jahre „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nannte und was Rußlands Soziologen heute als „bürokratisch-korporatives Clanregime“ bezeichnen. Es ist, könnte man sagen, die Wiedergeburt des Russischen im Kapitalismus. Die Basis dafür bilden die in der russischen Geschichte wurzelnden Gemeinschaftsstrukturen, die keineswegs erst von den Bolschwiki oder gar von Stalin erfunden wurden. Die Bolschewiki fanden sie bereits vor und konnten sie nutzen. Es handelt sich um das, was im Russischen „Obschtschina“ genannt wird, die gemeineigentümliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft.
Die heutige Form der Obschtschina ist aus der Bauerngemeinschaft und der agrarischen Struktur Rußlands hervorgegangen. Im Zuge der industriellen, dann auch der politischen Revolution wurde sie zur Struktur der gesamten Gesellschaft. Es ist die Kolchose, das Produktionsdorf, die Fabrikstadt, das regionale, sogar landesweite Kombinat, die Wissenschaftskommune usw. Sogar die geschlossenen Städte und die geschlossenen „Zonen“, das heißt Lagerbereiche, waren  nach diesem Prinzip organisiert.
So wie alle früheren Versuche der Zerschlagung der Obschtschina auf halbem Wege steckenblieben, ja, zu ihrer Stärkung führten, bis sie als Sowchose und Kolchose zum Modell der sowjetischen Gesellschaft wurde, mußte auch Boris Jelzin Jegor Gaidar bereits wenige Monate nach seinem Antritt als Radikalreformer 1991 zurückpfeifen. Wenn jetzt zu beobachten ist, daß eben jene Normalität sich stabilisiert, die man einen oligarschischen Korporativismus, eine bürokratische Verteilungswirtschaft, im Sinne Tatjana Saslawskajas eine „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nennen kann, dann läßt das erkennen, daß auch der neue Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Was sich gegenwärtig in Rußland entwickelt, ist Pluralismus der oligarschischen Korporationen statt Markt und Demokratie, sind regionale Kompromisse zwischen regionaler Elite und kommunalen, gemeineigentümlichen  Strukturen, ist das Wiedererstarken gemeineigentümlicher Elemente der Wirtschaft im Gewande der Privatisierung. Paradebeispiel ist Moskau, das unter der Führung seines Bürgermeisters Juri Luschkow zum Vorzeigestück einer Privatisierung wird, aus der das Staaseigentum nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht: Die „Boom-town Moskau“, wie die Stadt von manchen heut genannt wird, ist heute Moskaus größter und effektivster Unternehmer.
Ein anderes Beispiel ist das sibirische Irkutsk, wo sich eine regionale Verbindung aus selbstverwalteten Kommunen, Belegschaften, örtlichem Kapital und regionaler Bürokratie gemeinschaftlich gegen Moskau, bzw. die von Moskau aus agierenden korporativen Monopole organisiert, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.
Ergebnis ist in beiden Fällen das, was man in Rußland „Renationalisierung“, auf deutsch, Stärkung des Gemeineigentums gegenüber dem Privateigentum nennt. Der Kuhhandel um den Haushalt ist ein weiterer Ausdruck dieses Kompromisses, in dem sich die gewachsenen korporativen Strukturen auswirken. Ihre Auflösung könnte nur unter Einsatz rohester Gewalt geschehen. Wem aber könnten solche Reformen nützen?