Kategorie: Buch

Die Kraft der Überflüssigen | Erweiterte Neuauflage

Die Kraft der Überflüssigen Book Cover Die Kraft der Überflüssigen
Erweiterte und kommentierte Neuauflage
Kai Ehlers
06.12.2016
311
10,99

Überflüssig? Abgedrängt? Kein Ausweg? Keine Perspektive? Nur noch der große Crash? Nur noch Selektion von Nützlichen und nicht Nützlichen? Oder Revolten?

Schauen wir genau hin: Die „Überflüssigen“ sind nicht das Problem, das entsorgt werden müßte – sie sind die Lösung. Sie sind Ausdruck des über Jahrtausende angesammelten Reichtums der Menschheit – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Sie sind Ausdruck der Kräfte, welche die Menschheit heute zur Verfügung hat, um vom physischen Überlebenskampf aller gegen alle in eine ethische Kulturgemeinschaft überzugehen, die am Aufstieg des Menschen zum Menschen orientiert ist und keinen Menschen mehr ausschließt.

Das vorliegende Buch zeigt: Wer die „Überflüssigen“ sind, welche Kräfte in ihrem „Überflüssigsein“ liegen, welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien der heute Mächtigen ihr Aufbruch ausgesetzt ist, welche Kraft die „Überflüssigen“ bilden, wenn sie sich entschließen, ihr Leben selbst zu organisieren – und schließlich, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
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    Selektion von Nützlichen und nicht Nützlichen? – Revolten oder Alternativen?

    Liebe Leserinnen, lieber Leser,

    Die Kraft der ‚Überflüssigen’“ – warum dieses Buch? Wie ist dieser Titel zu verstehen? Was kann Kraft mit „Überflüssigen“ zu tun haben? Ist diese Formulierung nicht ein Widerspruch in sich? Ein unsinniges Paradoxon? Und überhaupt, macht es einen Sinn von „Überflüssigen“ zu reden? Wer ist damit gemeint? Wer spricht so?

    Lassen Sie mich zunächst aus eigener Erfahrung antworten.

    Es waren meine eigenen Kinder, die mich mit solchen Fragen bestürmten: Wo ist mein Platz in der Welt, wenn schon alles besetzt ist? Wofür werde ich noch gebraucht, wenn ich doch nichts ausrichten kann? Wer bin ich, wenn jede meiner Initiativen schon zahllose Vorgängerinnen im Internet hat? Ein Klick auf Facebook und es gibt mich in 10.000 Facetten. Wohin kann ich mich mit meinen Sehnsüchten wenden, wenn sich doch alles nur noch um Geld dreht? Wie soll ich in einer Welt leben, in der ich einer von sieben Milliarden Menschen bin, von denen jedes Jahr Millionen verhungern? Was kann ich glauben, wenn im Namen der Menschenrechte gemordet und Kriege geführt, im Namen der Religion Bomben gelegt werden?

    Sinnfragen junger Menschen sind natürlich nicht neu. Jede Generation stellt sie und jede Generation muss ihre eigene Antwort finden. Die Antwort meiner Generation war die Kulturrevolution der 60er und der folgenden Jahre; danach war es der ökologische Umschwung. Heute sehen sich alle Generationen gemeinsam einer aus dem Ruder laufenden globalen Profitkultur gegenüber, die dabei ist, die Bewohnbarkeit des Planeten unwiederbringlich zu zerstören.

    Was zählt der Mensch noch in dieser Welt?

    Vor Jahren schrieb ich meinem heranwachsenden Sohn einen Brief zu diesen Fragen, den ich hier in Auszügen voranstellen möchte:

    „Mein Lieber, Du möchtest schöpferisch in einer Weise tätig sein, die den ganzen Menschen fordert, fördert und erfreut – triffst aber auf eine Situation, in der man Dich zum Erfüllungsgehilfen eines bereits stattfindenden, zunehmend automatisierten Prozesses degradiert, in dem dir nur noch die Funktion zufällt, von der großen Zivilisationsmaschine vorgegebene Muster zu bedienen… Das erscheint natürlich als ein persönliches Problem, muss auch von jedem Einzelnen als persönliches Problem gelöst werden, ist aber selbstverständlich kein persönliches Problem, sondern eben Ausdruck der genannten Tatsache, dass die Maschine den Menschen in wachsendem Maße zum Erfüllungsgehilfen eines allgemeinen organisierten technischen Prozesses macht.

    Also, was tun? Hier ist der erste Reflex, den ich bestens verstehe: Ausbrechen! Der zweite, den ich ebenso verstehe: den ganzen Mist zerschlagen! Der dritte, auch verständlich, aber natürlich tödlich: Resignation. Zynismus, Nihilismus. Ist alles klar! Geht Dir so, geht all denen so, die in diese Erniedrigung gedrückt werden – das ist die Mehrheit. Eine Minderheit paßt sich dem Apparat an – und bedient ihn. Das ist scheinbar ein Privileg, in Wirklichkeit ist auch das ätzend – Streß pur, in dem die Menschen, scheinbar mächtig sind, scheinbar selbstständig, doch sehr schnell verbrannt werden.

    Für Menschen wie Dich, die das Pech oder auch das Glück haben, über den eigenen Bauchnabel hinaus zu schauen/schauen zu müssen, gibt es nur eines: die eigene „Überflüssigkeit“ als Chance, als Aufforderung zur Entwicklung von Perspektiven zu nutzen, die über die bloßen Effektivitätsanforderungen der Gegenwart hinausführen …

    Ich muss hier zurzeit nicht mehr darüber sagen.

    Vielleicht nur noch dies: Mir geht es ja nicht anders – die  aktuelle   Vernutzung des Menschen als Erfüllungsgehilfe der maschinisierten Zivilisation halte auch ich nur aus, indem ich die Perspektive herausarbeite, dass eben diese Zivilisation Kräfte freisetzt, die bisher gebunden waren. In Leben verwandeln kann man diese Kräfte nur, denke ich, wenn man ihren Ursprung aus dem konkreten Prozess der Über-Effektivierung, der Automatisierung etc. pp. erkennt. Das bedeutet einfach: Das Überflüssig-Werden nicht nur als Krankheit der Gesellschaft und als ausweglose eigene Situation zu begreifen, sondern als Freiheitsgewinn, als Aufforderung; die freigesetzten Kräfte anders einzusetzen…“

    Es waren die Gespräche mit meinen Kindern und ihren Freunden, die mich dazu brachten, der Frage der „Überflüssigen“ so nachzugehen, wie Sie es auf den folgenden Seiten lesen können; nicht zuletzt war es auch die Tatsache, dass ausgerechnet meine Tochter, vom Ansatz her eher an künstlerischen Fragen als an Politik interessiert, die Weitergabe traumatisierender Erfahrungen am Beispiel des 2. Weltkrieges und die damit verbundene Auseinandersetzung mit immer noch nicht überwundenen Folgen des Faschismus als Thema für ihre Diplomarbeit wählte. Schließlich waren es aber auch, das muss ich unbedingt hinzufügen, nachdem ich es beinahe selbst übergangen hätte, die vielen Begegnungen mit den Menschen der ehemaligen Sowjetunion, später Russlands und anderer Gebiete des ehemals sozialistischen Raumes, die aus meiner jahrelangen Erforschung der Perestroika und ihrer Folgen hervorgingen.

    In diesen Begegnungen erlebte ich in großem und erschreckendem Maßstab, wie aus sozial abgesicherten Menschen, aus strammen oder auch weniger strammen Sozialisten, aus „Helden der Arbeit“ quasi über Nacht ein ganzes Heer von „Überflüssigen“ hervorging, sozial entwurzelt, ratlos, ihres Glaubens beraubt, Menschen, die verzweifelt nach neuen Wegen suchten und immer noch suchen. In dem von dieser Situation ausgehenden Transformationsdruck liegt ein weiterer Impuls, der mich zu diesem Buch führte.

    Bevor ich Sie aber aus dieser Einleitung entlasse, möchte ich Ihnen noch einen Text mit auf den Weg geben, der mich auf den verschiedenen Etappen, in denen ich den Fragen der „Überflüssigen“ nachging, die ganzen Jahre über begleitet hat. Es handelt sich um die Geschichte, wir könnten auch ruhigen Gewissens sagen, das Gleichnis vom alten Eichbaum, das sich in den philosophischen Erzählungen Chuang Dsi’s, dem Geistesverwandten und Nachfolger des bekannten chinesischen Weisen Laotse, unter dem Thema „In der Menschenwelt“ findet. Die Geschichte steht dort neben weiteren ähnlichen, die sich alle um die Nutzlosigkeit des Nutzens drehen und die alle sehr lesenswert sind.

    Der Zimmermann Stein“, so erzählt Chuang Dsi‘s liebevoll übersetzt von dem Sinologen Richard Wilhelm, „wanderte nach Tsi. Als er nach Kü Yuan kam, sah er einen Eichbaum am Altar, so groß, dass dessen Stamm einen Ochsen verdecken konnte¸ er maß hundert Fuß im Umfang und war fast so hoch wie ein Berg. In einer Höhe von zehn Klafter erst verzweigte er sich in etwa zehn Äste, deren jeder ausgehöhlt ein Boot gegeben hätte. Er galt als eine Sehenswürdigkeit in der ganzen Gegend. Der Meister Zimmermann sah sich nicht nach ihm um, sondern ging seines Weges weiter, ohne innezuhalten. Sein Geselle aber sah sich satt an ihm; dann lief er zu Meister Stein und sprach: ‚Seit ich die Axt in die Hand genommen, um Euch nachzufolgen, Meister, habe ich noch nie ein so schönes Holz erblickt. Ihr aber fandet es nicht der Mühe wert, es anzusehen, sondern gingt einfach weiter, ohne innezuhalten: weshalb?’

    Jener sprach: ‚Genug! Rede nicht davon! Es ist ein unnützer Baum. Wolltest du ein Schiff daraus machen, es würde untergehen; wolltest du einen Sarg daraus machen, er würde bald verfaulen; wolltest du Geräte daraus machen, sie würden bald zerbrechen; wolltest du Türen daraus machen, sie würden schwitzen; wolltest du Pfeiler daraus machen, sie würden wurmstichig werden. Aus dem Baum lässt sich nichts machen, man kann ihn zu nichts gebrauchen. Darum hat er es auf ein so hohes Alter bringen können.’

    Der Zimmermann Stein kehrte ein. Da erschien ihm der Eichbaum am Erdaltar im Traum und sprach: ‚Mit was für Bäumen möchtest du mich denn vergleichen? Willst du mich vergleichen mit euren Kulturbäumen wie Weißdorn, Birnen, Orangen, Apfelsinen, und was sonst noch Obst und Beeren trägt? Sie bringen kaum ihre Früchte zur Reife, so misshandelt und schändet man sie. Die Äste werden abgebrochen, die Zweige werden geschlitzt. So bringen sie durch ihre Gaben ihr eigenes Leben in Gefahr und vollenden nicht ihrer Jahre Zahl, sondern gehen auf halbem Wege zugrunde, indem sie sich selbst von der Welt solche schlechte Behandlung zuziehen. So geht es überall zu. Darum habe ich mir schon lange Mühe gegeben, ganz nutzlos zu werden. Sterblicher! Und nun habe ich es so weit gebracht, dass  mir das vom größten Nutzen ist. Nimm an, ich wäre zu irgendetwas nütze, hätte ich dann wohl diese Größe erreicht? Und außerdem, du und ich, wir sind beide gleichermaßen Geschöpfe. Wie sollte ein Geschöpf dazu kommen, das andere von oben her beurteilen zu wollen! Du, ein sterblicher, unnützer Mensch, was weißt denn du von unnützen Bäumen!’

    Meister Stein wachte auf und suchte seinen Traum zu deuten.

    Der Geselle sprach: ‚Wenn doch seine Absicht war, nutzlos zu sein, wie kam er dann dazu, als Baum beim Erdaltar zu dienen?’

    Jener sprach: ‚Halte den Mund, rede kein Wort mehr darüber! Er wuchs absichtlich da, weil sonst die, die ihn nicht kannten, ihn misshandelt hätten. Wäre er nicht Baum am Erdaltar, so wäre er wohl in Gefahr gekommen, abgehauen zu werden. Außerdem ist das, wozu er dient, von dem Nutzen all der anderen Bäume verschieden, sodass es ganz verkehrt ist, auf ihn die (gewöhnlichen) Maßstäbe anwenden zu wollen.’“

    Ein paar Sätze weiter beschließt Chuang Dsi sein Kapitel über die Menschenwelt mit den Worten: „Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein, und niemand weiß, wie nützlich es ist, nutzlos zu sein.“

    Wenn wir nun noch einmal fragen, was dies alles mit der „Kraft der „Überflüssigen“ zu tun hat, dann heißt es: Überflüssiger als der hier geschilderte Baum kann wohl kaum etwas sein. Der Baum hat alles, was ein Baum braucht und mehr: einen mächtigen Stamm, eine Höhe wie ein Berg, Äste vom Volumen eines Bootes, lauter Superlative und ist doch zu nichts nutze – aber eben darum ist er wichtig und eben darum kann er am Erdaltar dienen.

    So auch die „Überflüssigen“ – eben darum, weil sie in einer Welt des Überflusses „überflüssig“ sind, werden sie eine Kraft. Man muss es nur verstehen. Dieses einfache Paradoxon, das unsere Welt gegenwärtig erlebt, möchte ich jetzt genauer beleuchten.

    Zu diesem Zweck lade ich Sie ein, mit mir zusammen nach der labyrinthischen Methode, das heißt, Umlauf für Umlauf in einer allmählich enger werdenden Pendelbewegung, von der Bestandsaufnahme des Überflusses über die Grenzen und absehbaren Gefahren, durch die heute schon stattfindenden Transformationsprozesse zu möglichen Alternativen und schließlich zu den eigentlichen Kraftquellen vorzudringen.

    Ich wünsche Ihnen eine angenehme und ertragreiche Lektüre, Kai Ehlers

    Vorwort:
    Warum dieses Buch? 11

    Teil I – Wer darf leben? 16

    Überfluss: 17
    Sieben, acht, neun Milliarden 25
    Kräfte der Zukunft 26
    Wer sind die „Überflüssigen“? 30
    Die jungen Empörten 32
    Die aktiven Alten 35
    Kranke, Behinderte, Hypersensibilisierte 37
    „Spinner“, Spieler, Forscher und Künstler 41
    Proletariat, Prekariat, Drohnen 47
    Exkurs – Unbekannte Antipoden: Marx und Steiner 49
    Ethnologische Korrekturen 53

    Grenzen – neue Zäune: 58
    Nach wie vor Raubbau 59
    Fesselung der Initiative 60
    Die Alten: ausgedient und abgedrängt 62
    Krankheit als Risiko 63
    Virtuelle Selbstverlorenheit 65
    Präventionswahn 67
    Die Geburt von „Transferbabies“ begrenzen? 73
    „Bruch mit der Mangelpflege“ und 79
    Zukunft durch „Anthropotechniken“?
    DOK – Definition von Eugenik 84
    Ein Blick auf die biomächtige Gesellschaft 87
    Zwei notwenige Ergänzungen – 93
    nicht-faschistische Eugenik und Grenzen des Genom-Wahns
    Blick in den Abgrund 100 8

    Transformationen – Angebote an die verlorene Seele: 104
    Globale Perestroika
    Russland 107
    Fragen über Fragen 112
    Islam: „Prinzip des mittleren Weges“ 120
    Islam Banking 125
    Der große Zeigefinger 128
    Das chinesische Prinzip 131
    Kontrollierte Experimente statt „Schocktherapie“ 134
    „Den Bauch füllen und die Knochen stärken“ 138
    Zukunft ohne Hölle? 142
    Die Vielen und die Wenigen 144
    Stärke aus Schwäche 147
    Afrikas Immunschwäche 149
    Der vieldimensionale Tisch 154

    Teil II – Am Horizont die neue Allmende 156

    Eine Hymne anstimmen: 157
    Ein Signal aus Oslo 161
    DOK – „Kollektive Bedarfsgemeinschaft“ 165
    „Tragödie der Allmende“ 166
    „Trittbrettfahrer“ 170
    Soziales Kapital 171
    Stichwort Arbeit – Stichwort Versorgung 177
    Stichwort Versorgung 182
    Arbeit & Versorgung neu verknüpfen 186
    Eine mögliche Struktur 188
    Der Praxis auf der Spur 192
    Und endlich der Rest der Hymne… 200
    Von der Produktionsgesellschaft zur Bedarfsgesellschaft –
    Der Staat 203
    Aufbruch in die Empathie? 208 9

    Teil III – Der Weg 121

    Das radikale Ich: 214
    Stirner und Steiner
    Ort der Umstülpung 218

    Das solidarische Du: 224
    Instinkt und Moral 226
    Mensch, Natur, Technik 230

    Wir und die Heimat: 237
    Im Gespräch 238
    Die Kunst der Pause 244
    Ausflug ins metamorphe Feld 246
    Terra Nova – eine Pause für die Erde 249

    Ausgang 258

    Alles hat seine Zeit 259

    Anhang

    Die Krise nutzen: 270
    Ausbruch oder Aufbruch aus der Wachstumsbrache?
    Vom ökonomischen zum sozialen und kulturellen Wachstum.
    Welches sind die Entwicklungskräfte heute?
    Annäherung an einen Kulturraum der Entschleunigung
    DOK – Manifest der Empörten 285
    DOK – Bestuschew-Lada: Die Welt im Jahr 2000 287

    Verwendete Literatur
    – Bücher 291
    – Borschüren, Aufsätze 303
    – Kai Ehlers, Über den Autor, Eigene Bücher 305 10

    Teil I  – Wer darf leben?

    Überfluss

    Beginnen wir also mit dem offensichtlichsten Widerspruch unserer Zeit, den wir heute beobachten können: Er zeigt sich darin, dass in einer Welt des Überflusses und der zunehmenden globalen Entgrenzung immer mehr Menschen als überflüssig bezeichnet werden oder sich selber so fühlen und immer höhere Zäune gezogen werden.

    Unworte wie „Reichen-Ghetto“ oder wie „menschlicher Müll“ bezeichnen heute Realitäten, wenn die Reichen und Superreichen sich hinter immer höheren Mauern verschanzen, während die Ärmsten der Armen auf den Abfallbergen der Welt vegetieren. Von einer 20:80-Gesellschaft ist die Rede, also von einer Gesellschaft, in der 80% der Menschheit zu den „Überflüssigen“ zu zählen sei; geredet wird auch von einem Ansturm der „Überflüssigen“ auf die „Zivilisation“, die verteidigt, von einem „schrumpfenden Europa“, das geschützt werden müsse. Unausgesprochen, aber unüberhörbar wird die Frage gestellt: Wer darf leben? Und wie? Eine Wiedergeburt eugenischen Denkens im Gewand einer präventiven Sicherung der Zukunft erscheint da am Horizont.

    Aber erschrecken Sie nicht angesichts dieser kategorischen Feststellungen. Niemand muss diese Tatsachen für unabwendbar halten. Kein Mensch, einmal geboren, ist von Natur aus überflüssig, das sei hier vorausgeschickt, so wenig wie unser Globus, das Sonnensystem oder das Universum überflüssig sind. Jeder Mensch, der geboren wird, das durfte ich von einer russischen „Nanja“, Kinderfrau lernen, der ich einst mit ihren Schützlingen in der Transsibirischen Eisenbahn begegnete, bringt etwas Neues in die Welt, nicht anders als jeder Stern. Diese Botschaft gibt sie ihren Kindern mit, wenn diese ihre ersten Fragen nach dem Sinn des Daseins stellen. Damit können die Kleinen leben, denke ich.

    Auch ist das Wort „überflüssig“ von seinem Wesen her keineswegs ein Schimpfwort. Unsere Sprache erzählt da ihre eigene Geschichte: „Überfluss“ habe ursprünglich „große Fülle“, „Reichlichkeit“, das davon abgeleitete Wort „überflüssig“ habe „strömen“ und „überquellen“ bedeutet. Das lässt sich in jedem etymologischen Lexikon nachlesen. Erst im 16. Jahrhundert verengte die Bedeutung des Wortes „überflüssig“ sich auf  „überreichlich“, im 18. Jahrhundert auf „nutzlos“ oder auch „zwecklos“.

    Beides, ‚vor Fülle überströmen’ wie auch ‚nutzlos sein’ im Sinne von ‚zwecklos’ könnte also gemeint sein, wenn von „Überflüssigen“ die Rede ist.

    Doch Perspektiven wie die oben genannten provozieren die Frage: Wollen wir wirklich so leben? Soll es wirklich so weitergehen? Es ist ja nicht das erste Mal, dass Zäune gebaut und Menschen, seien es Einzelne, Gruppen, Stände, Klassen oder ganze Völker ausgegrenzt und gar vernichtet werden. Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Ausgegrenzten um Teilhabe kämpfen. Es ist aber das erste Mal, dass solche Kämpfe den ganzen Globus erfassen, dass schon die bloße Zahl der „Überflüssigen“ den Abbau der Zäune, vielleicht sogar deren gewaltsames Niederreißen erwarten lässt. Darin liegt Chance und Bedrohung zugleich.

    Es war Jean Jaques Rousseau, der die Abfolge von immer wiederkehrender Ausgrenzung und deren Überwindung durch „Überzählige“ am Vorabend der französischen Revolution zum ersten Mal aus einem  unhinterfragten Naturkreislauf heraushob und als gesellschaftliche Tatsache aussprach. In seinem Bemühen, seinen Zeitgenossen einen Weg aus der Ungleichheit zu zeigen, formulierte er im Jahre 1755, wenige Jahre vor dem Ausbruch der französischen Revolution, in seinem programmatisch nach diesem Ziel benannten „Diskurs über die Ungleichheit“ die seither immer wieder zitierte Passage:

    „Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend  und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemanden.’“

    Auf knapp hundert Seiten beschrieb Rousseau sodann, wie die Ungleichheit unter den Menschen durch schrittweise Zerstörung des Naturzustandes entstanden sei, welche die „Überzähligen“, dazu gezwungen habe „ihren Lebensunterhalt aus der Hand der Reichen entweder zu empfangen oder zu rauben und wie daraus, je nach den verschiedenen Charakteren der einen und der anderen, die Herrschaft und die Knechtschaft oder die Gewalt und die Räubereien entstehen.“ Und weiter dann: „Dies war, oder muss der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen  neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben. die natürliche Freiheit unwiederbringlich zerstörten, das Gesetz des Eigentums  und der Ungleichheit  für immer fixierten, aus einer geschickten Usurpation  ein unwiderrufliches Recht machten  und um des Profites einiger Ehrgeiziger willen fortan das ganze Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend unterwarfen.“

    Die Französische Revolution fegte die so beschriebene Ungleichheit für ein paar Jahre hinweg, nicht allerdings, ohne zugleich neue Zäune zu errichten. Die Guillotine wütete nicht nur gegen den Adel, mit ihr entledigte sich die neue bürgerliche Herrschaft zugleich der  proletarischen Elemente der Revolution, die weitergehende Vorstellungen zu Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit hatten als allein die Freiheit des Geldes herzustellen.

    Was sich durchsetzte, war ein auf Profitstreben ausgerichtetes Bürgertum, das aufgebrochen war, die Welt zu erobern. Renaissance, Reformation, religiöse Impulse wie die Prädestinationslehre der Calvinisten, wie die Leistungsaskese englischer Reformierter, wie die nach Amerika ausgewanderten „Pilgrim-Fathers“ und andere ganz der Diesseitigkeit verpflichtete Gottsucher hatten die Wurzeln für eine Kapitalisierung der Welt gelegt, die scharf zwischen erfolgreichen,  also gottgefälligen und nicht erfolgreichen Menschen zweiter Klasse, jenen, die Rousseau die  „Überzähligen“ genannt hatte, unterschied.

    Seit den Tagen der französischen Revolution hat die Auseinandersetzung um die „Überzähligen“ und die „Zäune“ ihre Geschichte. Als überflüssig bezeichnete der britische Ökonom Thomas Robert Malthus noch während der französischen Revolution die von der einsetzenden Industrialisierung in England hervorgebrachten Armen. In einem 1798, also ein Jahr vor dem Ende der Revolution, veröffentlichen „Essay on the principle of population“ definierte er die Frage einer möglichen Überbevölkerung als ökonomisches Problem. Er behauptete, mit mathematischer Präzision belegen zu können, dass sich in einer industriellen Gesellschaft wie der damals in England entstehenden Menschen mit unausweichlicher Naturnotwendigkeit schneller vermehrten als Lebensmittel – wenn nicht Krankheiten, Elend und Tod immer wieder für ein Gleichgewicht sorgten.

    Berüchtigt wurde Malthus` Verdikt: Ein Mensch,  der in einer schon „occupirten Welt“ geboren werde und dessen Familie nicht die Mittel habe, ihn zu ernähren oder dessen Arbeit von der Gesellschaft nicht benötigt werde, habe „nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedeck für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.“

    Karl Marx war es, der diesen Thesen fast hundert Jahre später, 1887, mit seiner Analyse des Kapitals entgegentrat. Statt die „Paupers“ zu einer die Existenz Englands bedrohenden Überbevölkerung hochzurechnen, wie Malthus es getan habe, statt also von „absolutem Überwuchs“ zu reden, so Marx, müsse vielmehr von einer „relativen Überzähligmachung“ gesprochen werden, mit der sich das Kapital eine „industrielle Reservearmee“ halte.

    Damit war der Grunddissens benannt, in dem sich die Beurteilung des Phänomens der „Überflüssigen“ weiter entwickelte: Hier eine angebliche natürliche, geradezu biologische Unvermeidlichkeit, dort eine von der kapitalistischen Wirtschaftsweise, also von Menschen hervorgebrachte Erscheinung, die folgerichtig auch von Menschen zu korrigieren ist.

    Marx hat, um das noch klarer zu sagen, die Entstehung der „Reservearmee“ als unvermeidlichen, wenn auch in seinen sozialen Folgen zu kritisierenden Fortschritt beschrieben; erst im Übergang zur proletarischen Revolution könne dieses Problem bewältigt werden. Für Paul Lafargue, den Schwiegersohn von Karl Marx, war dieser „Fortschritt“ Anlaß, sein berühmtes Pamphlet zum „Lob der Faulheit“ zu verfassen, in welchem er rät, die durch Maschinen eingesparte Arbeitskraft für Erholung, Bildung und Kultur einzusetzen, statt sie für die weitere Steigerung der Produktion überflüssiger Produkte zu verbrauchen.

    Ähnlich argumentierten andere Vertreter emanzipatorischer Grundideen, die mit dem Proletariat verbunden waren, bis hin zu Rudolf Steiner. Sie alle gingen dabei davon aus, dass die „Überflüssigen“ keine natürliche Erscheinung, sondern Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, konkret, sozialer Ungerechtigkeit seien.

    Aus der Malthusschen Argumentation entwickelte sich dagegen eine geistige Bewegung, die über die Rassismuspropaganda des 18. Jahrhunderts – Arthur de Gobineau und andere – direkt in die Eugenik des 19. und 20. Jahrhunderts führte und – traurig zu sagen – aller historischen Erfahrungen zum Trotz bis in die heutige Genetik führt

    Für überflüssig hielten schließlich selbst die proletarischen, nicht anders als die pseudo-proletarischen, nationalen Revolutionäre bis hin zu den Nationalsozialisten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, darin Friedrich Nietzsche variierend, das Bürgertum, verdammt dazu, einem „neuen Menschen“  zu weichen, sei es als technokratische, sei es als ideologische Schöpfung; Faschismus und Sozialismus gaben ihm die jeweilige Form: Der wirkliche Mensch degenerierte zum „Volksgenossen“ oder zum „Schräubchen“.

    Diese hier skizzierte Entwicklung wird im Verlauf des Buches genauer beleuchtet werden.

    Was könnte also gemeint sein, wenn heute von „Überflüssigen“ gesprochen wird? Und worin könnte ihre Kraft bestehen?

    Nun, es heißt zunächst, wenn wir die engste Bedeutung anschauen, mit der das Wort heute gebraucht wird, dass immer weniger Menschen im profitorientierten Produktionsprozess benötigt werden, weil immer mehr, immer kompliziertere, immer intelligentere und immer effektiver arbeitende Maschinen den Einsatz physischer menschlicher Arbeitskraft, tendenziell sogar geistiger in zunehmendem Maße überflüssig machen.

    Immer mehr Arbeitsprozesse werden roboterisiert; Menschen werden, um dies in einem Bild zu verdeutlichen, „unten“ aus ihren Subsistenzen heraus in die industriellen Lohnarbeitsprozesse hineingezogen, dort als Arbeitskraft verwertet, um dann „oben“ in beschleunigtem Maße als nicht mehr benötigt wieder ausgestoßen zu werden.
    (siehe dazu die nebenstehende Skizze)

    Unten ihrer lokalen, ihrer traditionellen Möglichkeiten der Selbstversorgung beraubt, oben als Erwerbslose ohne Einkommen und Lohn ins Nichts entlassen, werden sie unten wie oben an den Rand der menschlichen Gemeinschaft gedrängt, die Gelderwerb durch Lohnarbeit zum Gradmesser des Menschseins erhoben hat. Gleichzeitig werden die, die noch in Lohnarbeit stehen, immer intensiveren Anforderungen unterworfen, die sie hinnehmen müssen, wenn sie nicht ebenfalls zu den Entlassenen gehören wollen.

    Schema des globalen Verwertungswolfes:

    An der Basis der beiden Füße befinden sich Subsistenz/Eigenversorgung/lokale Wirtschaft; in der Mitte, wo beide Schenkel des X zusammenkommen dreht sich die Produktionsspirale; nach oben hinaus über die beiden auseinandergehenden Schenkel werden links und rechts die Entlassenen ausgespuckt. Es entsteht der Eindruck eines stehenden Fleischwolfes, der von der Basis Menschen rundherum aufsaugt, sie in der Mitte auspresst, und oben leer wieder ausscheidet. Dabei stellt die Mitte den aktiven Tel der Gesellschaft dar, unten und oben befinden sich die Felder, auf denen die „Überflüssigen“ als Rückstand zurückbleiben – unten mit zerstörter Subsistenz, oben als Lohnarbeitslose, (oder auch beides zugleich).

    Im Gefolge des technologischen Fortschritts entsteht so eine doppelte Entwürdigung des Menschen, der in die vollkommene Abhängigkeit verfällt – der eine durch Ausgrenzung vom gemeinsamen Wohlstand, der andere in die intensivierte Produktion eingeschlossen, durch die er als Inhaber  einer Erwerbsarbeitsstelle zwar über finanzielle Mittel verfügt, selten aber noch über die Kraft und die Fähigkeit, sich ausreichend um sich selbst als Mensch zu kümmern. Diese Entwicklung zieht sich heute durch alle Gesellschaften, gleich, aus welcher Geschichte sie kommen; besonders krass tritt sie in Ländern hervor, die sich auf dem Weg der nachholenden Industrialisierung befinden. Dort werden Millionen von Menschen aus ihren traditionellen Versorgungsverhältnissen gerissen, wie seinerzeit bei Beginn der Industrialisierung in England und dann im übrigen Europa, ohne einen neuen Platz finden zu können, von dem aus sie sich und ihre Familien menschenwürdig versorgen könnten.

    Merke gut: Dies alles geschieht heute, obwohl der industrielle Entwicklungsprozess, evolutionär betrachtet, eine zunehmende Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit beinhaltet, sein Überleben durch Einsatz seiner physischen Arbeitskraft zu sichern. „Eigentlich“ liegt in dieser zunehmenden Freisetzung „überflüssiger“ Kräfte bei steigender Produktivität heute die Chance für die unterschiedlichen Gesellschaften, ja, für die Menschheit insgesamt, sich mehr als bisher anderen Aufgaben als denen des bloßen physischen Überlebens zuzuwenden. Das wären gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Zuwachses an Freiheitsgraden und Menschenwürde, wenn Freiheit und Menschenwürde an der Fähigkeit des Menschen gemessen würde, sich als Mensch verwirklichen zu können und Formen des Miteinander Lebens zu entwickeln, die den Engpass der gegenwärtigen Produktions- und Lebensverhältnisse hinter sich ließen – und wenn die Verhältnisse, unter denen die „Überflüssigen“ heute freigesetzt werden, als das erkannt würden, was sie sind, als Überfluss nämlich, und wenn dieser Überfluss genutzt würde, die „Überflüssigen“ zu Eigeninitiativen zu ermutigen, statt sie als  „Arbeitslose“, genauer als Erwerbslose, die nicht einmal mehr ihre ihnen im Kapitalismus zugedachte Mindestrolle als Konsument ausfüllen können,  unter Kontrolle zu halten.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Erweiterte und korrigierte Neuauflage im September 2016

    Herausgegeben bei:
    Verein zur Förderung der deutsch-russischen Medienarbeit e.V.
    Fössestr. 77, 30451 Hannover
    Gestaltung: Michaela Jordan
    Zeichnungen auf den Seiten 247-250 von Herman Prigann. COURTESY Erbengemeinschaft Herman,
    Copyright VBK Wien 2013.
    Umschlagbild: Kai Ehlers
    Zeichnungen: Kai Ehlers

    Anmerkung:
    Die 2013 beim Verlag Pahl-Rugenstein erschienene Ausgabe des Buches (unter der ISBN 978-3-89144-463-4) wird durch diese eigene Neuausgabe komplett ersetzt.

    Die neue ISBN lautet: 9783741298066

    Dikoe Pole, Wildes Feld. Eine dokumentarische Erzählung aus dem transnistrischen Krieg

    Dikoe Pole, Wildes Feld Book Cover Dikoe Pole, Wildes Feld
    Jefim Berschin
    Fiction
    BoD – Books on Demand
    30. September 2016
    280
    9,99

    Geschichte wiederholt sich nicht – oder doch? 1992 ein blutiger Sprachenkrieg unter den Schlachtrufen „Für ein einheitliches Moldawien“ am südlichen Rand der zerfallenden Sowjetunion. Fünfundzwanzig Jahre später der ukrainische Krieg unter der Forderung „Ukraine für die Ukrainer“.

    Das Muster ist das Gleiche. Es ist das Gift des Nationalismus, der ethnischen und der kulturellen Säuberungen, das in den durch den Zerfall der Sowjetunion frei gewordenen Vielvölkerraum nördlich des Schwarzen Meeres eindringt.

    Jefim Berschins Bericht lässt den transnistrisch/moldauischen Sprachenkrieg als Präzedenzfall einer Region erkennen, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion heute wieder in das „wilde Feld“ zu verwandeln droht, das sie als ethnischer, kultureller und politischer Durchgangsraum über Jahrhunderte war. Was 1992 mit Transnistrien begann, sich mit Ossetien, Berg-Karabach und anderen Konflikten fortsetzte, steigert sich heute im ukrainischen Krieg.

    Wer die Geschichte dieses Raumes, die Triebkräfte seiner Konflikte, die Dimension des Kulturbruchs verstehen will, in das die Völker am Ende der systemgeteilten Welt geschleudert wurden und immer noch werden, findet in Berschins Bericht ein bewegendes, höchst aktuelles Zeugnis.

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      Aus dem Russischen von Jefim Berschin, Hrg. Kai Ehlers. Ein Déjà-vu für die Ukraine.

      Geschichte wiederholt sich nicht. Und wenn sie sich doch wiederholt, dann nur als Farce, wie wir heute zu sagen gewohnt sind. Manches Mal offenbaren sich die Ereignisse von gestern allerdings auch als die embryonale Form nachfolgender Kataklysmen.

      So ist es mit dem moldauischen Sprachenkrieg, über den der Moskauer Schriftsteller und Poet, Jefim Berschin, der als Korrespondent der „Literaturnaja Gazeta“ direkt in die Geschehnisse hineingezogen wurde, in seiner dokumentarischen Erzählung Zeugnis ablegt.

      Mit Gewalt versuchte eine moldauisch sprechende Mehrheit, der nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion soeben in die Unabhängigkeit taumelnden sozialistischen Sowjetrepublik Moldau, im Sommer 1992 der Bevölkerung des seit Jahrhunderten vielsprachigen Moldauer Raumes im Namen einer nationalen Einigung die moldauische Sprache als einzige aufzuzwingen.

      Der Versuch führte zu einem eruptiven Gemetzel, kurz, aber extrem brutal und blutig, das mehr als 1500 Menschen das Leben kostete. Eine Einigung wurde nicht gefunden. Die jenseits des Dnjestr lebenden Teile der Bevölkerung Transnistriens, die die gewaltsame Verengung ihrer Vielvölkerkultur auf das Moldauische nicht akzeptieren wollten, erklärten sich zur unabhängigen Republik. Völkerrechtlich wurde sie bis heute von niemandem anerkannt. Die unentschiedene Beziehung zwischen Moldau und der Dnjester-Republik schwelt, um es paradox zu formulieren, heute als einer der „eingefrorenen Konflikte“ im Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen. Russland, unterhält dort eine Friedenstruppe von ca. 1000 Mann.

      Was damals in einer kurzen Eruption geschah, wiederholt sich mehr als 20 Jahre später in einem um Vieles erweiterten Maßstab im ukrainischen Krieg, in dem wieder versucht wird in diesem extrem pluralistischen Raum des süd-östlichen Europa, zudem in unmittelbarer Nachbarschaft zum moldauischen Schauplatz von 1992 eine nationale Einheit, diesmal die ukrainische mit Gewalt gegen sprachliche und kulturelle Minderheiten zu erzwingen. Mindestens 10.000 Menschen fanden bei diesem gnadenlosen Schlachten bisher den Tod, nicht gerechnet die ungezählten die Opfer von Unterernährung, von Krankheit und die mehr als eine Million Flüchtlinge, die Zerstörung der Potenzen eines von Natur aus reichen Landes, die die Bevölkerung ins Elend gestürzt hat.

      Der ukrainische Krieg erscheint wie ein in überdimensionales aufgeblasenes Déjà vue des Moldauer Sprachenkrieges. Hieß es 1992 ‚Moldawisch für ein einheitliches Moldawien‘, heißt es fünfundzwanzig Jahre danach ‚Ukrainisch für eine einheitliche Ukraine‘. Im Namen europäischer Werte, die für sich den Anspruch erheben eine totalitäre Vergangenheit durch Solidarität, Menschenrechte, Selbstbestimmung und Toleranz anders Denkenden und anders Lebenden gegenüber zu überwinden, tobt sich ein bestialischer, menschenverachtender nationalistischer Terror aus.

      Und so wenig der Konflikt im moldawischen Raum beigelegt, eben nur “eingefroren“ ist, so wenig ist es bisher auch der in der Ukraine zurzeit tobende, auch wenn gegenwärtig wenig geschossen wird.

      Mehr noch, im Juni 2015 trat der Ukrainische Präsident Poroschenko in Absprache mit den Präsidenten Rumäniens, Klaus Johannis sowie dem Moldaus, Nikolae Timofti zusammen mit dem kurz davor zum Gouverneur von Odessa im Süd-Osten der Ukraine ernannten ehemaligen Georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili mit der Ankündigung in die Öffentlichkeit, den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Transnistrien, wie sie die Dnjesterrepublik nennen, und der Moldauischen Republik „auftauen“ zu wollen, damit, wie sie erklärten, ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität und nationale Einheit wieder erlangen könne. Die Ankündigung dieser Absicht wurde bis heute nicht zurückgenommen.

      Man vergegenwärtige sich die Lage der Dnjesterrepublik als schmalen Landstreifen am östlichen Ufer des Dnjestr, eingeklemmt zwischen der südlichen Ukraine und der auf Revision dringenden Republik Moldau, unterstützt durch rumänische Expansionsgelüste und man ersetze in Ergänzung zu den genannten moldauischen Konfliktparteien die Dnjesterrepublik durch die Republiken Donezk und Lugansk in der Ost-Ukraine sowie Moldau durch die Kiewer Ukraine, dann hat man das mögliche Szenario eines solchen „Auftauens“ klar vor Augen – die Gefahr einer Wiederentfachung der 1992 am Dnjestr und soeben im ukrainischen Raum vorläufig eingedämmten nationalistischen Exzesse zu einem den gesamten Raum erfassenden Flächenbrand.

      Es ist klar, dass eine solche Entwicklung Russland als unmittelbaren Nachbarn auf den Plan rufen müsste. Eine geopolitische Konfrontation, die neben dem transnistrischen und dem ukrainischen auch andere „eingefrorene Konflikte“ des Raumes wie Berg Karabach, Abchasien oder Ossetien mitreißt, ist in dieser Konstellation angelegt – und sie kann jederzeit durch neue Provokationen aktiviert werden, wenn es den hinter dem Vorstoß vom Juni 2015 stehenden strategischen Kräften nützlich erscheint. Der „eingefrorene“ Konflikt am Djnestr eignet sich vorzüglich zum Zündeln.

      Vor diesem Hintergrund gewinnt die dokumentarische Erzählung Jefim Berschins, die sich nicht auf die Schilderung des Krieges beschränkt, sondern die historisch gewachsene Gemengelage des Durchgangsraumes nördlich des Schwarzen Meeres – Bessarabien, Novorossija, kaukasische Sowjetunion – insgesamt sichtbar macht, beißende politische Aktualität. Hier gilt wieder einmal: der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

      Noch nicht benannt ist dabei das Entsetzen, das der Bericht angesichts einer Gesellschaft vermittelt, die von einem Tag auf den nächsten von einer gewachsenen Sprachen- und Kulturgemeinschaft unterschiedlicher Völker in eine Masse hemmungsloser Folterer, Vergewaltiger und Mörder auseinanderbricht. Diesen Kulturbruch im Detail zu beschreiben und Fragen dazu zu stellen, wollen wir nunmehr dem Autor überlassen.

      Nur eins vielleicht noch: Selbst der wütendste nationalistische Terror, von wem auch immer benutzt, kann die Tatsache nicht verdecken, das heute unter den Bedingungen der Globalisierung immer mehr Menschen und Völker nach Selbstbestimmung und Autonomie, gebunden an Toleranz verlangen. Dieses Verlangen wächst nicht zuletzt gerade aus dem Entsetzen über die Abgründe, die sich auftun, wo diese Werte fehlen oder ihre Verwirklichung niedergeschlagen werden soll. Eine globale Katharsis kündigt sich an, die den Menschen über den Wahn des Nationalismus hinausführt. Jefim Berschins Bericht ist ein Zeugnis dieser möglichen Katharsis.

      Kai Ehlers … 15.05.2016

      TDie erschossenen 10 Gebote
      Vorwort zur Ausgabe

      I Am Anfang war die Zeit
      Die Apokalypse beginnt in den Köpfen
      Ein verspätetes Vorwort
      Krieg der Plätze
      „Du sollst nicht töten!“

      II Tod eines Pioniers

      III Der Duft der Jahrhunderte
      Die Rückkehr
      Zwischen Polen und Türkei
      Die Erschaffung Babylons
      Unter rumänischer Fahne
      Staaten und Phantome
      Zur Aufführung nicht empfohlen
      Erinnerung aus Blut

      IV Theater der Unabhängigkeit
      Die mitgiftlose Braut

      V Der Staat – das sind wir
      Die Demokratieerfahrung
      Die Geburt der Republik

      VI Die Segnung zum Blutvergießen
      Auf der Suche nach dem rumänischen Geist
      Der Feldzug auf Budzhak
      Die Liebesmetamorphosen
      Die ersten Opfer

      VII Ein Maler stellte es uns dar…

      VIII Russland, das es nicht gab
      Die Erschaffung der Armee
      Die Wissenschaft zurückgeben

      IX Nach den Gesetzen des Windes

      X No Dubossaran!
      Der Notstand
      Informationen zum Denken
      Tote und Tote

      XI Die Landschaft im Hintergrund der Schlacht
      Mit der Aussicht auf den Krieg
      Der Weg zu Kotschiery
      Porozhan
      Die Kosaken
      Die Hitze
      Kostjasch

      XII Das trojanische Pferd
      Benderysche Guernica

      XIII Der General und seine Armee
      Alexander Lebed

      IVX „An ihren Werken werdet ihr sie erkennen…“
      Odessa
      Der Wahnsinn
      Die Brücke

      Die außerehelich Geborenen
      (Statt eines Nachwortes)

      Grigorij Pomeranz
      Das sind wir, oh Herr

      Ylttanbik – letzter Zar der Wolgabolgaren

      Ylttanbik - letzter Zar der Wolgabolgaren Book Cover Ylttanbik - letzter Zar der Wolgabolgaren
      Kai Ehlers
      Rhombos
      14. Januar 2015
      B5, Hardcover
      392
      39,00 €

      Kampf (der heutigen Tschuwaschen) gegen die mongolischen Invasoren bis zum Untergang des bolgarischen Reiches und die Folgen für die damalige Eurasische Ordnung. Umfangreicher wiss. Apparat,  wissenschaftliche Begleittexte, reiche Bebilderung, Karten, tschuwaschischer Originaltext.

      Details

      Kai Ehlers (Hrsg.)

      Ylttanbik – letzter Zar der Wolgabolgaren (Tschuwaschisches Epos).
      Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts

      Zusammengetragen von Mischi Juchma. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Kai Ehlers. In Zusammenarbeit mit Christoph Sträßner und Eike Seidel.
      1. Aufl. 2016, 392 Seiten, Format B5, Hardcover, ISBN 978-3-944101-25-5, Preis: 39,80 Euro, Rhombos-Verlag, Berlin, 15. Januar 2016

      Zum Buch

      Migration ist das Thema unserer Zeit.. Migration war auch das Thema des 13. Jahrhunderts, von der das Epos berichtet, das in diesem Buch vorgestellt wird. Erzählt wird die Geschichte von Yltanbik. Er war der letzte Zar des Bolgarischen Reiches, einer für die damalige Zeit hochentwickelten Gesellschaft im Gebiet zwischen Ural und Kaspischem Meer. Das Reich unterhielt intensive Beziehungen des Handels und der Diplomatie mit allen Fürstenhäusern im damaligen europäischen Raum und verstand sich darüber hinaus als Teil des islamischen Kulturraumes, der zu der Zeit als der Mittelpunkt der Welt galt. Gegen das Bolgarische Reich richtete sich der erste Stoß der mongolischen Eroberer auf ihrem Weg nach Westen. Dreißig Jahre vermochte das Reich dem Ansturm aus eigener Kraft zu widerstehen. Mit seiner Zerstörung war der Weg für die mongolischen Eroberer nach Westen frei. Nach dem Fall des Reiches erlagen die vereinigten westlichen Heere ebenfalls der mongolischen Übermacht. Aber statt Europa zu besetzen, wandten die Eroberer sich nach Süden, wo sie das Bagdader Kalifat zerschlugen. So konnte  Westeuropa zu dem aufsteigen, was es heute ist, während der muslimische Kulturraum zurückblieb und der Osten Europas für lange Zeit unter mongolische Herrschaft kam. Warum die Eroberer sich dem Süden zuwandten statt den Westen Europas zu besetzen, und wie sich die Mitte der Welt dadurch verschob, wird in ausführlichen begleitenden Kommentaren dieses Buches beleuchtet.

      Vorwort

      Das tschuwaschische Original „Ylttanbik“ wurde zusammengetragen und herausgegeben von Michail Juchma, tschuwaschischer Volksschriftsteller. Eine wortgetreue Rohübersetzung des tschuwaschischen Originals aus dem Tschuwaschischen ins Deutsche erstellte Tatjana Philippowa Nikolajewna, Studentin der Germanistik in Tscheboksary/Tschuwaschien. Eine russische Übersetzung, von Michail Juchma autorisiert, erstellte Wladimir Nikolaew in Tscheboksary. Aus dem Russischen ins Deutsche wurde der Text von Kai Ehlers und Christoph Sträßner übersetzt. Die Zusammenführung der tschuwaschischen Rohübersetzung und der russischen Fassung ins Deutsche und die endgültige Form der deutschsprachigen Ausgabe des Epos, der Kommentare, der Anmerkungen und der Bebilderung besorgte Kai Ehlers. Historische Hintergründe lieferten Christoph Sträßner und Eike Seidel, soweit sie nicht aus Schriften von Michail Juchma entnommen werden konnten.

      Einleitung

      Liebe Leserinnen, lieber Leser
      In dem Buch, das Sie jetzt zur Hand genommen haben, wird ihnen das Epos von Ylttanbik, dem letzten Zaren der Bolgaren, erzählt. Zeitrahmen 1223 – 1236 nach Christi Geburt. Erzählt wird aus der Sicht der Tschuwaschen, die sich als Nachkommen der Bolgaren sehen. Die Tschuwaschen leben in einer nach ihnen benannten autonomen Republik der Russischen Föderation an der Wolga mit der Hauptstadt Tscheboksary. Sie sprechen neben dem Russischen auch heute ihre eigene Sprache. Für sie ist der Untergang Bolgarstans Teil ihrer eigenen Geschichte; geschichtsbewußte Menschen unter ihnen nennen sich deswegen auch Bolgar-Tschuwaschen oder Tschuwasch-Bolgaren.

      Die Legende von Ylttanbik ist ein Erzählstoff, der bis ins 19. Jahrhundert hinein mündlich von tschuwaschischen Legendenerzählern überliefert und erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Michail Juchma, „Tschuwaschischer Nationaldichter“, der sein Leben der Bewahrung der tschuwaschischen Kultur geweiht hat, verschriftlicht wurde. Zu Stalins Zeiten waren solche Aktivitäten verboten und nicht wenige Menschen, die es wagten, sich mit ihnen zu befassen, erlitten Verfolgung und sogar den Tod. Auch nach Stalins Tod stand die Befassung mit Fragen der kulturellen Selbstbesinnung „kleinerer Völker“ in der Sowjetunion immer noch unter dem Generalverdacht des Nationalismus.

      Heute, nach Perestroika, steht der Pflege der eigenen Kultur nur noch die Tatsache entgegen, dass sie bei den Nachkommenden in Vergessenheit geraten könnte. Dass das Epos von Legenden- und Märchenerzählern überliefert wurde, heißt jedoch nicht etwa, dass es sich bei dem Epos nur um Märchen handelt. Das Epos überliefert vielmehr tatsächliche historische Vorgänge, konkret die Ereignisse beim Einfall der Mongolen in den Westen Eurasiens am Anfang des 13. Jahrhunderts.

      Erzählt wird die ins Mythische verdichtete Geschichte des Kampfes, den die Wolgabolgaren gegen die von Osten heranstürmenden mongolischen Eroberer führten – also, um es von der weltgeschichtlichen Bedeutung her zu sagen, erzählt wird, wie die zweite Welle nomadischer Völkerbewegungen Eurasiens, die des 13. Jahrhunderts, auf die erste, die hunnische aus dem vierten und fünften Jahrhundert prallt, die zu der Zeit bei Beibehaltung vieler nomadischer Traditionen, schon längst in Ackerbau und Städtebildung ausgelaufen war.

      In der tschuwaschischen Geschichte treffen sich diese beiden Bewegungen – mongolische Reiterheere gegen sesshaft gewordene Nachkommen der Hunnen, Steppennomaden gegen Reichsnomaden, im Kern also Verwandte.

      Gern wird in der Geschichtswissenschaft deshalb von hunnischer und mongolischer Völkerwanderung gleichermaßen gesprochen, obwohl sich beide Bewegungen im Wesen sehr unterscheiden. Die eine, die hunnische, vollzog sich als spontaner Prozess eruptiver Expansion mit der wenige Jahre währenden Herrschaft Attilas als kurzfristige Krönung, die andere war als systematischer militärischer und politischer Eroberungsfeldzug mit dem Ziel einer Weltherrschaft angelegt, die sich, mit Differenzierungen in Teilreichen, über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren hielt. Mit Erstaunen kann man hören, wie die Nachkommen der einen von dem als Held verehrten Führer der jeweils anderen Seite – Attila hier, Dschingis Khan da – noch heute als Verbrecher, Henker oder Völkermörder sprechen.

      „Ylttanbik“ ist das zweite tschuwaschische Epos neben dem anderen, früheren unter dem Namen „Attil und Krimkilte“, das vom tschuwaschischen Kulturzentrum veröffentlich wurde und das auch in deutscher Sprache bereits vorliegt.1 Im Epos „Attil und Krimkilte“ wird der Gründungsmythos des Bolgarischen Staates aus der Zeit der Hunnenstürme erzählt, als Teile der hunnischen Völkerschaften, unter ihnen die Bolgaren, die nach Attilas Tod aus dem westlichen Europa zurückfluteten und sich zunächst an der Donau, nach der Teilung des Donabulgarischen Reiches dann auch an der Wolga als Wolgabolgaren ansiedelten – zu beachten: Bulgaren die einen, Bolgaren die anderen.2 Der Zusammenstoß zwischen den Nachkommen der hunnischen Völkerbewegungen des 4. und 5. Jahrhunderts und der von den Mongolen im 13. Jahrhundert angetriebenen Bewegung endete mit der Zerschlagung des Wolgabolgarischen Reiches. Er öffnete den Mongolen den Weg in den Westen, ins heutige Russland und in die Ukraine und von dort in den muslimischen Kulturraum im Süden, wo sie Bagdad in Flammen aufgehen ließen. Für die Bolgaren führte er zu ihrer Integration ins russische Imperium.

      Das Epos beschreibt diesen Übergang an der Gestalt Ylttanbiks. In der Gestalt Ylttanbiks verkörpern sich die damaligen Tugenden eines Reiches zwischen Ural und Kaspischem Meer, das sich in seiner Lage zwischen Ost und West, zwischen den Nordländern und in enger Verbindung zum islamischen Kulturraum, wie es Ylttanbik im Epos in den Mund gelegt wird, selbst als „Mitte der Welt“ verstand. Nach der Zerschlagung Bolgariens und der darauf folgenden Eroberung Kiews, der sich daran anschließenden Zerstörung Bagdads verschob sich diese Mitte nach Europa, das trotz der Niederlage der vereinten europäischen Kräfte in der Schlacht bei Liegnitz 1241 von den mongolischen Eroberern nicht besetzt wurde. In der Folge dieser Ereignisse konnte Europa sich zur neuen Mitte der Welt entwickeln, entstand ein abgetrenntes Moskowien, das spätere Russland, das seinen eigenen Weg nach Osten suchte, auf dem es das vorherige Bolgarien wie auch andere Völkerschaften unwiederbringlich absorbierte; der muslimische Kulturraum dagegen stagnierte. Er konnte, auch wenn er unter den Osmanen wieder auflebte, seine frühere Blüte nicht wieder erreichen.

      Es stellt sich die Frage: Welche Rolle die mongolische Expansion am Anfang des 13. Jahrhunderts für den Niedergang der mittelalterlichen islamischen Kultur, für den Aufstieg der westlichen Zivilisation und für die Entstehung von Russland gespielt hat. Anders gefragt: Was war der Grund für die Teilung des Eurasischen Kontinentes in Europa als „Westen“ und als sich herausbildende neue „Mitte der Welt“ auf der einen und den verbleibenden Teil Eurasiens als „Osten“ auf der anderen Seite? Der Osten ging ja unter dem Stichwort des Sammelns der russischen Erde einen vom westlichen Europa getrennten Weg einer ganz eigenen Kolonisation. Wie ging das vor sich – und schließlich, aber nicht zuletzt: kann diese Teilung der Welt heute überwunden werden – oder wird sie in einer erneuten, dieses Mal globalen Völkerbewegung einfach fortgespült werden?

      Es war Wolgabolgarien, das nach dem Tod Attilas und dem Rückzug der hunnischen Völker zum stärksten Reich im Gebiet zwischen Wolga, Ural und kaspischem Meer anwuchs. Wolgabolgarien war stark verbunden mit dem Kalifat von Bagdad, der Hauptstadt des islamischen Imperiums, das sich – nach Mohammed – zur führenden Kultur in der westlichen Hemisphäre jener Zeit entwickelt hatte. Wer sich dem damaligen Wolgabolgarien nähert, wird finden, dass nicht die Russen die erste Welle der mongolischen Eroberer stoppten, wie im gängigen westlichen, von den Russen gezeichneten Geschichtsbild verankert, sondern die Bolgaren, nachdem die Russen an der Kalka bereits vernichtend von den Mongolen geschlagen worden waren.

      Am interessantesten ist die Tatsache, dass es nur einen sehr kurzen Zeitabschnitt gibt, eine Art Korridor am Eingang zum 13. Jahrhundert, in dem sich nicht nur die zukünftige Entwicklung Eurasiens, sondern die unserer Welt als Ganzes entschied: Der Korridor beginnt mit der Niederlage der Russen an der Kalka 1223, setzt sich fort in dem zwölfjährigen blutigen Krieg zwischen Mongolen und Bolgaren von 1224, in dem die Bolgaren den mongolischen Eroberern Widerstand leisteten. Er endete mit der völligen Zerstörung des Bolgarischen Reiches 1236, das für die Mongolen eine Art Pfropfen im Flaschenhals auf ihrem Weg in den Westen war. Erst jetzt konnten die mongolischen Truppen weiter nach Westen ziehen. 1241 schlugen sie bei Liegnitz die westlichen Heere, 1258 zerstörten sie Bagdad.

      Warum dies? Warum besetzten die mongolischen Eroberer nach der Schlacht bei Liegnitz den Westen Europas nicht, obwohl nach der katastrophalen Niederlage der westlichen Heere das west-europäische Gebiet vollkommen schutzlos vor ihnen lag? Die Mehrheit der westlichen Historiker spricht von einem Rätsel, das nicht erklärt werden könne. Die herrschende Meinung ist bis heute, dass die mongolischen Heerführer wegen des Todes ihres höchsten Khans nach Karakorum hätten zurückkehren müssen. – Das klingt plausibel, weil Herrschaftsfragen bei den Mongolen durch Akklamation im Großen Kurultai3 entschieden wurden. Blicke auf die Geschichte Wolgabolgariens lassen jedoch einen weiteren möglichen Grund erkennen, der nicht alternativ zu dem schon genannten stehen muss: Gegen 1240/41 ging die Bevölkerung Wolgabolgariens noch einmal in einen Aufstand gegen die mongolische Fremdherrschaft, nachdem sie schon in den Jahren davor den Partisanenkrieg gegen die Fremdherrschaft entwickelt hatte. Das bedeutete, dass die mongolischen Truppen, wenn sie über Liegnitz hinaus vorgerückt wären, von ihrem Hinterland hätten abgeschnitten werden können. So mögen denn die mongolischen Führer sich auch aus diesem Grunde zum Rückzug entschieden haben, um den Aufstand niederzuschlagen und im nächsten Schritt dann vorgezogen haben, Bagdad zu erobern und niederzubrennen, das ein „engerer“ Feind für sie war als die damaligen Gebiete des heutigen Europa.

      Es gibt zu diesen Vorgängen einige neuere archäologische Funde in der Nähe Pensas im heutigen Süden Zentralrusslands aus dem Zeitraum 1237 – 1241 über blutige Schlachten zwischen Mongolen und dem bolgarischen Widerstand, die zu berücksichtigen sind. Darüber berichtet Michail Juchma im dritten Teil dieses Buches. Zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, dass es den Mongolen offenbar wichtiger schien, die hochentwickelten islamischen Länder zu unterwerfen, als das gering entwickelte Europa. Schließlich ging es auch um Beute, und davon war in den hochentwickelten Kulturen des muslimischen Raumes damals wesentlich mehr zu holen als in den gering entwickelten westlichen Fürstentümern.

      Sagen wir es so: Die Ereignisse rund um die beiden Daten – 1241 Liegnitz und 1258 Bagdad – veränderten die Beziehungen zwischen Ost und West fundamental: Niedergang des islamischen Kulturraums, Aufstieg Europas: Europa übernahm tendenziell den Platz des Kalifates als neuer globaler Hegemon, Russland wurde zur Grenze zwischen Osten und Westen. Die Mitte der Welt wanderte vom Zentrum Eurasiens an seinen äußersten westlichen Rand. Von dort aus wurde, nach dem Einbruch der großen Pest, die den globalen Verwüstungen am Eingang des 13. Jahrhunderts folgte, in den kommenden Jahrhunderten die gesamte Welt bis auf die Völker Eurasiens kolonisiert, die sich mit Moskau zu einem eurasischen Vielvölkerorganismus verbanden. Stellvertretend für diese Verbindung steht der „Gang nach Moskau“4, mit dem sich die tschuwaschischen Nachfahren der Bolgaren im 16. Jahrhundert „auf ewig“ mit Moskau verbanden.5
      Und heute? Es scheinen lange Wellen der Geschichte zu wirken, was besser zu verstehen sein kann, wenn wir untersuchen, wenn wir begreifen, was der Ursprung der früheren Wellen war – Hunnensturm, Mongolensturm – wie sie aufeinander folgten und – nicht zuletzt – in welcher Weise sie in der Erinnerung der Völker gegenwärtig sind.

      Zu ergänzen ist selbstverständlich, dass die Wandlungen im 13. Jahrhundert nicht nur als Ergebnis der mongolischen Invasion zu verstehen sind! Es gab weiter und tiefer zurückliegende Gründe, die diese Entwicklung möglich machten: die Nachwirkung des Zerfalls des Römischen Reiches in Ost-und West-Rom, die Herausbildung der muslimischen „Umma“ seit dem siebten Jahrhundert als neue einigende Weltmacht, dem gegenüber die Spaltung der christlichen Ökomene in Ost- und Westkirche, generell gesprochen, die Herausbildung eines muslimischen Einheitsanspruches zum einen, einer sich differenzierenden und individualisierenden, tendenziell nationale Eigenheiten herausbildenden christlichen Welt zum anderen. Mit der Zerstörung Wolgabolgariens und Kiews zugleich konnte Moskowien sich als Puffer, als Alternative, als Ordnungsnacht ganz besonderer Art zwischen dem mongolischen Großreich und dem westlichen Europa entwickeln.

      Diese und noch eine Menge weiterer Tendenzen hatten sich herausgebildet. Sie müssen bedacht werden, wenn man verstehen will, warum und wie die Teilung des Eurasischen Kontinentes in ein westliches Europa und den „verbleibenden Rest“ nach dem Sturm der Mongolen stattfand. So oder so aber steht als Tatsache zweifelsfrei fest: Hätten die mongolischen Eroberer n i c h t erst Wolgabolgarien zerstört, hätten sie n i c h t Europa von einer Besetzung ausgespart und stattdessen zugleich Bagdad zerstört, dann hätte die innere Dynamik des Eurasischen Kontinentes einen sehr anderen Weg genommen. Und das bedeutet, dass sie in Zukunft auch wieder einen anderen Weg nehmen kann.

      Alle diese Ereignisse und Tendenzen, die mit der Konfrontation der Kinder Attilas und den mongolischen Eroberern im 13. Jahrhundert zusammenhängen, können an der epischen Erzählung über den letzten Zaren Bolgariens gezeigt werden. Man könnte sagen, der Untergang Bolgariens ist das historische Opfer auf dem Weg zur Entstehung der europäisch dominierten Weltordnung. Hätten die Bolgaren dem Ansturm widerstanden, hätte der Freundschaftsvertrag, mit den westlichen Völkern, vor allem den russischen, aber auch den muslimischen „auf ewig“ Bestand gehabt, wie er in dem Epos beschworen wird … aber er hat es nicht. Die Geschichte ist anders verlaufen.

      Wie auch immer – für die Tschuwaschen ist das Epos ein Teil ihrer Geschichte, für Russland ist es ein Teil seiner Völkervielfalt, für Muslime eine Erinnerung an frühere Größe ihrer Kultur. Für westliche Leserinnen und Leser kann es eine Gelegenheit sein, die dritte große Völkerbewegung unserer Menschheitsgeschichte, die sich heute in der weltweiten Migrationsbewegung ankündigt, unter der Frage zu betrachten, wohin sich die Mitte der Erde heute verschiebt. Oder anders gefragt, ob es nicht in Zukunft mehrere „Mitten“ geben könnte, die auf andere Art als in der traditionellen Hackordnung miteinander leben könnten.

      Und noch etwas schließlich: Auch wenn in den Gesängen des Epos Krieg und Schlachten geschildert, wenn Schwerter und Helden gepriesen werden, ist es doch nicht als Aufforderung zu militaristischem Heldentum zu verstehen. Es ist vielmehr eine Tragödie, die zeigt, wie schwer es ist in Frieden zu leben und die zum friedlichen Miteinander auffordert.

      Wichtig erschien es deswegen auch, nicht nur die kriegerischen Fanfaren des Epos ertönen zu lassen, sondern auch die Hintergründe der Zeit auszuleuchten – einschließlich der mongolischen Seite. Ohne miteinander in einen offenen Dialog um die Geschichte zu gehen, wird es keine Heilung historischer Traumata und keinen Dialog für eine gemeinsame menschenwürdige Zukunft geben können. Davon sind alle, die am Zustandekommen des vorliegenden Buches beteiligt waren, zutiefst überzeugt.

      Zum Abschluss noch ein paar Hinweise zur Übertragung des Epos in die deutsche Sprache:
      Zur Übersetzung lagen zwei Varianten vor – eine tschuwaschische aus dem Jahre 1992 und eine danach veröffentlichte russische. Wir haben uns entschieden, die zuerst verschriftlichte tschuwaschische Variante als „Original“ zu betrachten – und sie durch den einen oder anderen schönen Satz aus der später veröffentlichten russischen Fassung zu ergänzen. Im Grunde stellt sich die Frage des Originals ohnehin nicht. Im Kern erzählen beide Varianten den gleichen Stoff. Sie unterscheiden sich in Details der Darstellung, wie es in der mündlichen Überlieferung von Generationen unermüdlicher Legendenerzähler in den tschuwaschischen Dörfern nicht anders war. Das schließt die Form mit ein, die der Sänger Jemendei dem epischen Gesang im 19. Jahrhundert schließlich gab und auch das, was der tschuwaschische Schriftsteller Michail Juchma, darin den deutschen Brüdern Grimm vergleichbar, in der Erforschung der Überlieferungen jetzt schriftlich zusammenstellen konnte.

      Und so haben wir, Entdecker des Epos, Übersetzer, Historiker und Herausgeber uns auch bemüht, die Form zu finden, die dem Stoff authentisch gerecht wird und zugleich auch im Deutschen der lebendigen Gesangsform am nächsten bleibt. Das betrifft die gelegentliche Vermischung von Erzählung und Kommentar durch die – im Lauf der Überlieferung mehrfach gestaffelten – Erzählerinnen und Erzähler, das betrifft die häufig unvermittelten Einfügungen von Sinnsprüchen in den Verlauf der Handlung, das betrifft die sprunghaften Zeitenwechsel, die ihren Sinn aus der Vortragssituation finden und das gilt besonders für die Hochzeitslieder, die sich dem übrigen Textverlauf nicht ohne Weiteres einfügen wollen, wenn dort Brautführer auftreten, die von weither geritten kommen, um die Braut abzuholen, das heißt, die Braut in den Stamm des Bräutigams holen wollen, während im Handlungsfaden des Epos Braut und Bräutigam doch aus demselben Hause kommen – vom Hof Ylttanbiks. Hier geht die epische Erzählung ganz offensichtlich in eine ritualisierte Beschreibung eines traditionellen Hochzeitsablaufes über…

      All dies versuchen wir in der Lebendigkeit weiterzugeben, wie sie sich in hunderten von Jahren als Erzählfluss gebildet hat. Dabei haben wir darauf verzichtet, die strenge Form der Stab- und Endreime zu imitieren, in der die tschuwaschische, aber auch die russische Fassung gehalten ist. Wir haben stattdessen eine Sprache gewählt, die es erlaubt, die im Tschuwaschischen wie auch im Russischen sehr viel knapperen Sprachfiguren so wiederzugeben, dass die Sprache inhaltlich rhythmisiert wird, dabei aber so nah wie möglich an den vorgegebenen Inhalten, Redewendungen und Bildern bleibt. Nur allzu fremde Bilder haben wir „übersetzt“, nur gröbste Unstimmigkeiten, die allzu sehr irritieren könnten, haben wir geglättet oder, wenn unvermeidbar, mit Anmerkungen kommentiert.

      Eine Erklärung braucht schließlich noch unser Umgang mit der Selbstbezeichnung der heutigen Tschuwaschen als Tschuwaschen-Bolgaren oder auch umgekehrt der historischen Bolgaren als Bolgar-Tschuwaschen. Im tschuwaschischen Original ebenso wie in seiner russischen Fassung ist durchgängig von Tschuwaschen-Bolgaren die Rede; wir haben uns entschieden, wo es möglich ist, bei den historischen Namen zu bleiben, um den Übergang von der bolgarischen Geschichte zu deren Fortsetzung als tschuwaschische nicht zu verwischen. Es kann nur der Klarheit dienen.

      Kai Ehlers

      Herausgeber und Autoren

       Michail Juchma (nach eigenen Angaben)

      Michail Nikolajewitsch Juchma wurde 1936 im Dorf Suguty im Bezirk von Batiresko in der tschuwaschischen Republik der russischen Föderation geboren. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaft. Seine ersten Veröffentlichungen erschienen im Jahre 1962, 1964 wurde er in den Verband der Schriftsteller aufgenommen. Seit 1993 trägt er den Ehrentitel eines „tschuwaschischen Volksschriftstellers“. Juchma ist Wissenschaftler, Aufklärer und ein Mann der Öffentlichkeit. Er hat über zweihundert Werke verfasst, darunter Prosa, Gedichte, Dramaturgie, publizistische Beiträge, sowie grundlegende Forschungsarbeiten zur alten und mittelalterlichen Geschichte des bolgar-tschuwaschischen Volkes. Werke von Juchma wurden in einige Dutzend Sprachen übersetzt, teilweise auch in Lehrbücher (in das Schulprogramm) der Länder Asiens, Europas und Afrikas aufgenommen. In allen seinen Werken ist M.N. Juchma als einfühlsamer Lyriker, Kulturliebhaber und Kenner der Psychologie, als Philosoph, Denker und Maler präsent.

      M.N. Juchma wurde mit zahlreichen sowjetischen, russischen sowie internationalen Auszeichnungen und Preisen geehrt Für sein Engagement um die Wiedergeburt der Kultur der kleinen Völker erhielt er einen Internationalen Preis sowie die goldene UNO-Medaille. 2006 erhielt er eine weitere Auszeichnung für Verdienste um die tschuwaschische Republik, 2009 wurde M.N. Juchma mit dem internationalen M. A. Scholochow – Kunst- und Literaturpreis ausgezeichnet.

      M. N. Juchma ist der Gründer und Präsident des tschuwaschischen Kulturzentrums und der tschuwaschischen Abteilung der Internationalen Akademie für Informatisierung. Außerdem leitet er den Vorsitz des Schriftstellerverbandes der tschuwaschischen Republik.

      Adresse:

      55-Juchma.jpg

      Mischi Juchma
      c/o Tschuwaschisches Kulturzentrum
      (ЧОКЦ – Чувашский общественно-культурный центр)
      (Chuvashskiy obschestvenno-kul‘turnyy centr.)
      428032  Russland, Tschuwaschische Republik
      Tscheboksary, Ulitza Leningradskaja 16
      Website des Tschuwaschischen Kulturzentrums: http://chokc.blogspot.ru/

      Ehlers

      Kai Ehlers, 1944, Hamburg, aktiv in der außerparlamentarischen Opposition und der nachfolgenden neuen Linken Westdeutschlands, ist selbstständiger Forscher, Publizist und Buchautor. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt heute auf den Wandlungen im nachsowjetischen Raum und deren lokalen wie auch globalen Folgen, denen er durch Untersuchungen, Gespräche und Aktivitäten vor Ort nachgeht. Mit Mischi Juchma, dem tschuwaschischen Kulturzentrum und dessen Umkreis verbindet ihn eine intensive langjährige Freundschaft. In Deutschland engagiert Kai Ehlers sich in der Debatte um gesellschaftliche Alternativen, in der es ihm darum geht, die Erfahrungen der nach-sowjetischen Transformation zukunftsbildend zu verarbeiten. (Bücher, Projekte, Veröffentlichungen von Kai Ehlers unter: https://test.kai-ehlers.de/ ; E-Mail: info@kai-ehlers.de)

      50_d_Seidel.jpgEike Andreas Seidel, geboren 1949. Ab Herbst 2015 im Unruhestand als IT-Berater. Jugendbewegung, Alt-68er, ehemals Mitglied im Kommunistischen Bund, Mitarbeiter der Zeitung „Arbeiterkampf“ (Heute: „Analyse und Kritik“). Mitverfasser mehrerer Bücher und Broschüren zum Thema Neofaschismus in Deutschland. Seit 1999 insgesamt neun Reisen in die Mongolei; Betreibt mit seiner Frau eine Webseite: www.munx-tenger.de zur Mongolei. Engagiert in Fragen der Umweltzerstörung in der Mongolei. Mehrere Veröffentlichungen zu mongolischen Themen (Jugendbewegung und Mongolei, „Die Dreiheit der Welt“ – mongolische Spruchweisheiten, „25 Jahre als Tierarzt in der Mongolei“ – Die Lebenserinnerungen von Dr. Helmut Splisteser). Eike Seidel lebt in Buchholz in der Nordheide.

      Strässner

      Christoph Sträßner, geboren 1967 in München, lebt heute in Hamburg. Studium der Geschichte, Slawistik und Politologie an der Universität Bonn, Abschluss als Magister 2003, Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte Nowgorods, der Völker Russlands und Zentralasiens, sowie in der des europäischen Mittelalters mit besonderem Schwerpunkt auf Kultur- und Religionsgeschichte, Ihn interessiert, der Kulturimpuls Eurasiens und wohin er treibt ebenso wie die Sagen der Völkerwanderungszeit und des Mittelalters. Im Mittelpunkt steht für ihn dabei die Frage, welchen Beitrag die kleinen Völker zur Kultur und Geschichte Russlands und zum Kulturimpuls Eurasiens leisten. Heute ist Christoph Sträßner in Hamburg als Antiquar und Referent tätig.
      Kontakt: Christoph Sträßner, christoph.straessner@web.de

      Inhaltsverzeichnis

      Einführung 7
      Teil 1 Das Epos 17
      Kurzer Überblick über die Gesänge des Epos 19
      Das Epos „Ylttanbik“ – in 15 Gesängen 21
      Teil II Das Umfeld des Epos 141
      Erbe aus alten Zeiten – historische Realitäten des Epos
      Von Michail Juchma 145
      Ylttanbik – Ein bolgarischer Tschuwasche?
      Historische Forschungen von Michael Juchma, eingeleitet von Kai Ehlers 159
      Tschuwasch-Bator
      Von Michail Juchma 161
      Die Grenzen Bolgariens
      Von Michail Juchma 169
      Archäologischer Nachtrag: Funde bei Pensa
      Von Michail Juchma 173
      Teil III Das 13. Jahrhundert 177
      Das „goldene Bolgarien“
      Von Michail Juchma 179
      Das Reich der Bolgaren an der Wolga und die Mitte der Welt
      Von Christoph Sträßner 185
      Der Mongolensturm aus Sicht der Mongolen
      Von Eike Seidel 194
      Anmerkungen 211
      Literatur 221
      Namensregister 225
      Kleiner Anhang zu tschuwaschischen Göttern 230
      Ausstellung von Sandskulpturen 231
      Daten zum 13. Jahrhundert 238
      Abbildungsverzeichnis 243
      Biographisches zu Michail Juchma 245
      Dokumentation des tschuwaschischen Originals 251

      Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki – Innenansichten zur neueren russischen Geschichte

      Vorgestellt durch den Autor selbst.

      .
      Soeben erschien der zweite Band des der zweibändigen Ausgabe „25 Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki. Gesprächspartner Kagarlitzkis und Autor des Buches ist Kai Ehlers. Der erste Band zeigt die Zeit von Gorbatschow bis Jelzin; der zweite nunmehr Jelzins Abgang, Putin, Medwedew und wieder Putin. Verlag, LAIKA

      Im öffentlichen westlichen Bewusstsein wird das Einsetzen der Perestroika vor 25 Jahren heute als Reform eingeordnet, bei einigen ganz verwegenen Zeitgenossen als Revolution, bei manchen sogar als letzte Revolution. Zu schweigen von denen, die nie etwas von Perestroika gehört haben.

      Eine etwas andere Sicht erschließt sich aus den in dem Buch vorliegenden Gesprächen, die aus direkter Betroffenheit heraus Schritt für Schritt am konkreten Geschehen und im Bemühen um analytische Klarheit entstanden im Verlaufe von 25 Jahren sind.

      Die Gespräche beginnen mit einer ersten Kontaktaufnahme zwischen der damaligen westdeutschen Neuen Linken der 80er Jahre (vertreten durch den ‚Kommunistischen Bund’ (KB), gemeinhin mit dem Zusatz ‚Nord’ versehen und einem Sprecher der Perestroikalinken Moskaus. Diese ersten Begegnungen stehen noch unter der Parole der von der Perestroika in den Jahren nach Gorbatschows Antritt als Generalsekretär der KPsSU 1985 hervorgebrachten informellen Bewegung, die von sich sagt: „Wir sind der linke Flügel der Perestroika“.
      Sehr schnell folgen die ersten Ernüchterungen, als deutlich wird, dass Perestroika nicht die Reform des Sozialismus, nicht mehr Selbstbestimmung, nicht einen demokratisch kontrollierten Markt bringt, sondern mehr Leistung bei gleichzeitigem Abbau von sozialen Sicherungen fordert und schließlich zur Einführung eines Notstandsregimes führt, dass aber auch diejenigen, die sich wie Boris Jelzin Reformer nennen, ebenfalls nicht den Sozialismus reformieren, sondern ihn zugunsten einer ‚demokratischen Elite’ abschaffen wollen.
      So geht es Schritt für Schritt. Jedes Gespräch skizziert eine neue Wendung, einen neuen Verlust bisher verbriefter sozialer Garantien. Der Krise Gorbatschows folgt der sog. Putsch. Er wird im Westen im Allgemeinen als Versuch der ‚Ewig Gestrigen’ wahrgenommen, die Entwicklung zurückzudrehen; in Wahrheit ist er eine Machtergreifung, derer, die die Sowjetunion mit größerer Beschleunigung hinter sich lassen wollten.
      Und schon geht es weiter zu nächsten Krise, wenn die neue Führung unter Jelzin und das ‚Volk’, vertreten durch den Kongress der Volksdeputierten, in einen unlösbaren Konflikt über die Geschwindigkeit, die Art und den Umfang der Privatisierung geraten. An seinem Ende steht die Revolte der Deputierten, die Jelzin mit Panzern niederschlagen läßt. Die Berichte zu all diesen Vorgängen klingen in diesen Gesprächen anders als in den weichgespülten Jelzin-Lobeshymnen der damaligen Zeit und auch anders als in seiner nachträglichen Verklärung als ‚erster demokratisch gewählter Präsident Rußlands’.
      Und weiter geht es auf dem mühsamen Weg der Festigung der ‚neuen Macht’ bis hin zur Ankunft Wladimir Putins und den darauf folgenden Tandemmanipulationen Putins und Medwedews, die – Demokratie hin, Demokratie her – in der Manier der alten russischen Selbstherschaft die Ämter unter sich aushandeln. Offen bleibt, wie es heute weitergeht.
      Dies alles wird in den Gesprächen nicht aus der Perspektive der Kremlastrologie erörtert, sondern vom Standpunkt des alltäglichen, des gewerkschaftlichen Lebens, aus der Sicht derer, die an einer theoretischen und praktischen Erneuerung des Sozialismus aus der Kritik des Gewesenen und unter den Bedingungen des Bestehenden interessiert sind. Viele Gespräche werden noch zu dokumentieren sein, wenn wir verstehen wollen, was in den zurückliegenden funfundzwanzig Jahren tatsächlich geschehen ist.
      Der russische Partner der in diesem Buch vorliegenden Gespräche, Boris Kagarlitzkij, ist der heute im Westen bekannteste russische Reformlinke. Seine Stimme hat Perestroika von ihren Anfängen unter Gorbatschow, durch das Chaos bei Jelzin bis in die heutige Putinsche Restauration hinein kontinuierlich begleitet. Er wurde 1958 geboren, schloß sich als Student einerer ‚Marxistischen Gruppe’ an, wurde noch unter Breschnjew verhaftet. Er saß anderthalb Jahre im Gefängnis. Mit einsetzender Perestroika wurde er freigelassen. Seitdem ist er aus sowjetkritischer Position heraus um eine Erneuerung des Sozialismus auf marxistischer Grundlage bemüht. Mit diesen Positionen ist er nicht mehr nur politischer Dissident der UdSSR, sondern unter verdrehten Vorzeichen auch im postsowjetischen Russland. Boris Kagarlitzkij ist heute Direktor des ‚Instituts für Globalisierung und soziale Bewegung’ (IGSO) in Moskau, Initiator und verantwortlicher Herausgeber des in Moskau erscheinenden Monatsbulletins ‚Linke Politik’ und Redakteur an der Internetplatform ‚www.RABKOR.ru’

      Die Einteilung der beiden Bände folgt den wesentlichen Phasen, in denen sich der Verlauf der Perestroika vollzogen hat: Aufkündigung des Alten durch Michail Gorbatschow bis hin zur Auflösung und effektiven Zerstörung der sowjetischen Strukturen durch Jelzin. Das betrifft nicht nur die Auflösung der Union 1991 durch Jelzin, sondern umschließt auch noch die systematische Auflösung, bzw. Zerstörung der sowjetischen Strukturen im Lande selbst nach dem, was man auch den zweiten Putsch nennen kann, also nach der gewaltsamen Auflösung des obersten Sowjet durch Jelzin 1993. Gegen Ende der zweiten Hälfte der Jelzinschen Amtszeit geht die Auflösung nach einer ruhigeren Übergangsphase ´96/97 und der darauf folgenden innerrussischen Bankenkrise von 1998 in eine offene Restauration unter dem Stabilisator Wladimir Putin über. Von daher ist es keineswegs zufällig, daß Boris Kagalitzki und ich unser längstes und am tiefsten in die sozialen Strukturen vordringendes Gespräch im Herbst `97 führen konnten – nach Jelzins Wiederwahl und vor dem Zusammenbruch von 1998. Danach folgen ‚nur noch’ Stadien der Wiederherstellung des Staates unter neuen, nicht mehr sowjetischen, sondern ‚demokratischen’ Vorzeichen der von Putin betriebenen autoritären Modernisierung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

      So bestreiten der Initiator Gorbatschow und der Beschleuniger Jelzin also Band eins, der kränkelnde Jelzin und der Stabilisator Putin (unterstützt durch Medwedew) Band zwei.

      Zur Orientierung ist jedem Gespräch eine knappe Situationsskizze und Kurz-Chronologie beigegeben, unter welchen Umständen und wann es stattgefunden hat. Eine durchlaufende Chronologie im Anhang ermöglicht zudem eine Einordnung in den zeitlichen Gesamtzusammenhang. Zusätzlich gibt es einen INDEX, über den alle im Text erwähnten Personen oder Organisationen aufgesucht werden können. Dieser Aufbau macht die beiden Bände über die einzelnen Gespräche hinaus auch zu einem Nachschlagewerk der neueren russischen Geschichte.

      Beude Bände sind im Buchhandel und direkt beim Autor zubeziehen

       

      Ein Spiel mit dem Feuer

      Ein Spiel mit dem Feuer Book Cover Ein Spiel mit dem Feuer
      Peter Strutynski
      Russia (Federation)
      Verlag Papyrossa
      2014
      216
      12,90 €

      Die Ukraine, Russland und der Westen. Darin: Globaler Maidan? Liste häufig gestellter Fragen.

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        Ukraine im Visier

        Ukraine im Visier Book Cover Ukraine im Visier
        Kai Ehlers (Hrg. Ronald Thoden, Sabine Schiffer)
        Selbrund Verlag, Frankfurt
        2014
        315
        16,80 €

        Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen. Darin: Und immer noch die Ukraine. Spielball auf dem Weg  zu einer multipolaren Welt.

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