Schlagwort: staatliches Machtmonopol

Begriffe neu denken – über Armutsbekämpfung, Wirtschaft, Staat, Eigentum

Regionale, nationale und globale Armutsberichte zeigen eines: die Armut in der Welt nimmt in dem Maße zu, wie die Potenz der Produktivkräfte wächst. Das ist eine beängstigende Schere, die – bei wachsendem gesellschaftlichem Reichtum – immer mehr Menschen hervorbringt, die unter das Existenzminimum rutschen.

Im Bemühen um die Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft wachsen daher heute rundum Forderungen nach allgemeiner Grundsicherung heran. Sie reichen von Zähmung des Kapitalismus durch gemeinwirtschaftliche Formen solidarischer Wirtschaft nach den Vorgaben Christian Fellmers, über die Entwicklung kommunitärer Strukturen im Zuge der Kommune- und  „Commons“-Bewegung auf den Spuren von Elinor Ostrom,  bis zu Ansätzen für eine neue Arbeitsteilung in der gedanklichen Nachfolge der von Rudolf  Steiner entwickelten Dreigliederung der Gesellschaft,  beispielhaft vertreten von Nicolas Perlas und praktiziert in einer Vielzahl von Öko-Höfen und -Dörfern rund um den Globus. Die Zahl der Initiativen ist so unüberschaubar wie ihre Vielfalt; darin liegt ihre Stärke und Schwäche zugleich.

Im Zentrum dieser Entwicklung steht zurzeit die inzwischen international geführte Debatte um die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens und dessen praktische Erprobung in einer Reihe von Ländern. Befürworter sehen in dieser Form der Grundsicherung den entscheidenden Weg zur Bekämpfung der Armut, weil sie zu gerechterer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums führe.  Gegner wenden ein, dass die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens die Armut eher befördern werde, insofern sie zu einer Abschaffung der heutigen Sozialleistungen führen und – in der radikalen Form des bedingungslosen Grundeinkommens für alle – zur weiteren Demotivation der ohnehin schon demotivierten Armen beitragen werde, wenn Wohlversorgte wie Benachteiligte das Grundeinkommen gleichermaßen erhielten.

Die Debatte um das Grundeinkommen, wie auch andere Formen der Grundsicherung, soll sie fruchtbar werden, braucht klare Begriffe und eindeutige Positionen, klarer und eindeutiger als bisher.  Armutsbekämpfung in der Form erster Hilfe ist unerlässlich in jeglicher Form und schon aus Gründen der Solidarität und der Förderung des globalen Friedens zwingend geboten. Das duldet keine Fragen und ist sowohl politisch als auch privat zu unterstützen.  Zugleich kann aber auch nicht übersehen werden, dass erste Hilfe für die Armen, wie groß angelegt auch immer, wenn sie bei bloßen Sachspenden oder finanziellen Hilfen für die Bedürftigen bleibt, letztlich dazu verurteilt ist, genau die Verhältnisse zu stabilisieren, die für die heute grassierende globale Armut ursächlich sind. Auch Forderungen nach gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in Form einer Grundsicherung führen darüber nicht hinaus.

Was ansteht, ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Grundorganisation, die diese Armut hervorbringt. 

 

An die Wurzeln gehen

In der Gesellschaft des globalisierten Kapitals dient die Produktion ja nicht mehr der Befriedung von Bedürfnissen, sondern Bedürfnisse werden produziert, um die Selbstverwertung des Kapitals zu ermöglichen, während immer mehr Menschen aus dem Produktionsprozess und damit aus der Gesellschaft hinaus gedrängt werden. Der Staat, seit der französischen Revolution ohnehin mehr und mehr zum geschäftsführenden Ausschuss der Wirtschaft geworden, wird heute zunehmend zum bloßen Handlanger dieses Prozesses. Das viel beschworene Wachstum, weit entfernt davon eine Lösung der Krise sein zu können, erweist sich als deren Quelle.

Eine Überwindung dieser Krise, wenn sie zu einem zukunftsfähigen sozialen Organismus führen soll, kann daher nicht aus einer staatlich garantierten finanziellen Grundsicherung allein resultieren, mag sie nun als Mindestlohn, Bürgergeld, bedingungsloses oder bedingtes Grundeinkommen organisiert werden. Eine zukunftsfähige Lösung muss die Diktatur der Selbstverwertung des Kapitals mit seiner Ideologie des Wachstums um des Wachstums willen grundsätzlich hinter sich lassen, wenn sie nicht zu einer allgemeinen Almosenzuteilung verkommen soll, welche die bestehenden Verhältnisse fixiert, statt sie zu verändern.

Eine soziale Struktur ist gefordert, welche die Schere zwischen dem Anwachsen der Produktivität in der industriellen Produktion und einer relativ dazu sinkenden Zahl in ihr benötigter Arbeitsplätze so organisiert, dass die frei werdenden Kapazitäten der Arbeit mehr und nicht weniger Freiheit und Lebensqualität bringen und zwar für die gesamte Gesellschaft und nicht nur für einzelne ihrer Glieder.

Eine solche Entwicklung geht über bloßes Wachstum, wie es von den herrschenden Kreisen heute gepredigt wird, selbstverständlich weit hinaus. Sie zielt auf Verhältnisse, in denen Staat und Gesellschaft nicht mehr identisch sind mit einer Produktion, welche die materiellen Grundlagen und traditionellen Fähigkeiten zur Selbstversorgung zerstört und sie durch industrielle Produkte ersetzt; sie orientiert stattdessen auf eine Symbiose von Produktion und gemeinschaftlicher Selbstversorgung sowie Eigenproduktion auf dem Niveau des heutigen technologischen Standes. Dabei kann sie auch an den heute noch bestehenden vorindustriellen Verhältnissen anknüpfen, von denen die ‚entwickelte Welt‘, was Armut und Reichtum betrifft, das menschliche Maß neu lernen kann. Generell gesprochen, kann sich darin die ökologische Orientierung unserer Zeit verwirklichen.

 

Die Abhängigkeit von der Lohnarbeit überwinden

Die Krise der Lohnarbeit, sichtbar in der weltweit grassierenden Lohnarbeitslosigkeit, ist ja kein Betriebsunfall des Kapitalismus; Lohnarbeitslosigkeit ist dem Kapitalismus immanent; sie ist eine Bedingung seines Funktionierens, insofern die Lohnarbeitslosen als industrielle Reservearmee den Preis der Arbeitskraft als Ware drücken. In Deutschland stellt die heute stattfindende tendenzielle Demontage des Sozialstaats nur diesen Normalzustand des Kapitalismus wieder her, der durch die deutsch-deutsche Ausnahmesituation verdeckt war. Über Deutschland hinaus ist das aktuelle Ausmaß der allgemeinen, europäischen und globalen Lohnarbeitskrise ein Signal dafür, dass die Entwicklung des Kapitalismus ein neues Stadium erreicht hat, in dem das Kapital Kapazitäten freisetzt, die nicht mehr genutzt werden können.

Sieht man es von der möglichen Entwicklungsdynamik her, dann wird erkennbar, dass durch die Zunahme der Produktivität über die notwendige Arbeit hinaus frei verfügbare Arbeits-Potenzen entstehen, die für die soziale und moralische Entwicklung der Gesellschaft genutzt werden könnten – satt die Armutsstatistiken hochzutreiben.

Das ist ein gewaltiges Potential, Ausdruck eines großen Reichtums, welcher der Gesellschaft in pflegerischer, sozialer und kultureller Weise zugutekommen, auch in den notwendigen ökologischen Umbau und in aktive internationale Projekte eingehen könnte, wenn die Gesellschaft bereit wäre, die Lohnarbeitslosen frei zu lassen, statt sie, wie in Deutschland, durch Harz IV zu knebeln oder anderweitig in abhängiger, entwürdigender Armut zu halten.

Kurz, die Forderung nach der Einrichtung einer Grundsicherung für alle weist in die richtige Richtung; es muss aber klar gesagt werden, dass die damit verbundene Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf eine zwar tendenzielle, so oder so aber doch grundsätzliche Umwälzung der gesellschaftlichen Organisation hinausläuft, hinauslaufen muss. Darüber hinaus muss der Empfang eines finanziellen Grundeinkommens mit einer Anbindung des Einzelnen an einen sozialen Körper gekoppelt sein, über welche die Grundabsicherung sich mit der nach wie vor immer noch notwendigen Lohnarbeit, mit den neu zu entwickelnden Elementen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und der Versorgung anderer Menschen in sozialer Verantwortung verbinden kann.

  

Eine andere Arbeitsordnung

Was sich als Lösung andeutet, ist eine andere soziale Grundorganisation als die heute herrschende Lohnarbeitsordnung, in welcher sich Kapital und Arbeit in einer Weise gegenüberstehen, dass die Arbeitenden sich durch ihre eigene Produktivität um ihre Arbeitsplätze und damit um die Sicherheit ihrer Existenz bringen, weil für sie der bezahlte Arbeitsplatz Voraussetzung des Überlebens ist. Am Horizont eine Arbeitsorganisation, bei der die einzelnen Menschen nicht nur für ihr eigenes Überleben, sondern zum Nutzen des gesamten Betriebes, der gesamten Gesellschaft, allgemeiner gesprochen, nicht nur zum eigenen Nutzen, im tiefsten Sinne aus egoistischen Motiven, sondern zum Nutzen ihrer Mitmenschen arbeiten können, deren Gewinn an die in dieser Weise Tätigen als ihre Grundsicherung zurückfließt. Das wäre eine Ordnung, in der die Arbeit nicht nur dem eigenen Wohl diente, sondern das eigene Wohl über den Einsatz für das Wohl des Anderen erreicht würde. Das wäre eine Ordnung, die den gegenseitigen Nutzen, statt die gegenseitige Konkurrenz zum Leitprinzip gesellschaftlichen Miteinanders erhöbe. Hierin liegt der Impuls für eine grundlegende Wandlung der gegenwärtig herrschenden Leistungsgesellschaft‘, der über bloße organisatorische Reformen in eine solidarische Zukunft hinausweist.

Der mögliche Weg dorthin wäre eine gemeinschaftliche Organisation der Arbeit, in der Betriebsleitung und Belegschaft sich in Teilungsverträgen miteinander zur Kooperation auf gemeinschaftlicher und gleichberechtigter Basis verpflichten. Erhaltung und Erneuerung des Kapitals, Vergütung aller an der Produktion und Distribution Beteiligten und Abgaben an die Gesellschaft wären als Ganzes nach einem rechtlich geregelten Schlüssel so zu regeln, dass für alle Beteiligten eine Grundsicherung unabhängig von ihrer konkreten Tätigkeit garantiert ist – solange der Betrieb von ihnen aufrechterhalten wird, versteht sich. Und selbstverständlich wird sich das Prinzip des Teilens über den einzelnen Betrieb hinaus in der Weise fortsetzen, dass  die Abgaben eines Betriebes über die eigene Basis hinaus in Verantwortung für die Grundsicherung des gesamtwirtschaftlichen Prozesses der Gesellschaft stehen, also ggfls. auch schwächere Betriebe und Arbeitszusammenhänge gestützt werden, so dass auch dort sowie für außerbetriebliche Kollektive und einzeln lebende Menschen eine Grundsicherung möglich ist. Das gleiche Prinzip wird sich dann notwendigerweise auch auf internationale Beziehungen erstrecken.   

 

Staat als Diener

Die Entwicklung einer allgemeinen Grundsicherung, gleich in welcher Variante, ob als vom Staat ausgegebenem bedingungslosem Grundeinkommen für alle oder als Sachzuwendungen auf betrieblicher oder kommunaler Ebene führt unvermeidlich zur Forderung  nach einem anderen Verständnis von Staat, nach einem Staat heißt das, den die Gesellschaft sich als Verwaltungshilfe, als Organ des Austausches, als Förderer für selbstverwaltete Betriebs- und Lebensstrukturen selbst schafft. Dies gilt keineswegs nur für Deutschland oder Europa. Es ist ein Erfordernis der heutigen Zeit.

Der Weg in eine solche Gesellschaft ist selbstverständlich lang. Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte mag das verdeutlichen. Die Entwicklung, Erhaltung und Pflege der physischen Existenz ist die Grundlage menschlichen Lebens und aller Kultur. Solange es Menschen gibt, geht ihr Streben dahin, sich von der täglichen Versorgung des physischen Leibes unabhängig zu machen, um Kultur entwickeln zu können. So sind wir von der täglichen Versorgung zur Vorsorge geschritten. Vorsorge macht frei, aber sie bindet auch. In der Sicherung der Vorsorge liegt die Ursache für die Entstehung des Staates als Kontrollorgan, der Ausübung von Herrschaft über andere. Im Lauf der Geschichte haben sich zahllose Mischformen dieser Kontrolle herausgebildet, in denen unterschiedliche Kräfte an der Spitze dieser Organisationen standen. Ihnen hatte sich alles unterzuordnen selbst bei Strafe des wirtschaftlichen Ruins. Das geschah hier im priesterlichen Gewande, dort im oligarchischen oder auch  durch das blanke Schwert.

Im Laufe der Geschichte hat sich die Staatsmacht schrittweise – besser gesagt, in einem labyrinthischen Prozess von Versuch und Irrtum – differenziert. Einen entscheidenden Einschnitt brachte die Entflechtung von Religion und Staat durch das Christentum, die in der westlichen Tradition schließlich zur Trennung von Staat und Kirche führte. Von erheblicher Bedeutung ist die Entwicklung der Wirtschaft als eigenständige Kraft, die sich in der französischen Revolution von der unmittelbaren Vormundschaft des Staates befreite. Seither kennen wir die gedankliche Dreiteilung des gesellschaftlichen Organismus in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, geschlechtsneutral gesagt, Solidarität. Das bedeutet im Ansatz ja nichts anderes als die Forderung nach einem gleichwertigen Nebeneinander von Glaube, Staat und Wirtschaft.

Aus der Bewegung, die zur französischen Revolution führte, haben wir zudem die Dreiteilung der staatlichen Gewalt nach den Vorschlägen von Montesquieu in Exekutive, Legislative und Judikative, die als großer Fortschritt gegenüber dem absolutistischen Staatsverständnis der Zeit vor der französischen Revolution wie auch gegenüber despotischen Staatsorganisationen zu anderen Zeiten und in anderen Gebieten der Welt ein durch nichts zu bezweifelnder Gewinn in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darstellt. Hinter diese Gliederungen der Gesellschaft zurückzufallen hat katastrophale Folgen  – wie die totale Monopolisierung aller gesellschaftlichen Bereiche durch den Staat im Faschismus und Stalinismus gezeigt hat.

Diese Totalisierung von Staatsmacht, die den einzelnen Menschen unter Zusammenfassung aller Lebensbereiche zum Schräubchen einer allein dem materiellen Fortschritt verschriebenen Megamaschine erniedrigte, steht als Mahnung vor der heutigen Menschheit, was sie erwartet, wenn es ihr nicht gelingt eine Wiederholung dieser Geschichte in noch größerem Ausmaß zu vermeiden. Sie steht zugleich als Aufforderung, weiterführende zeitgemäße Gliederungen des gesellschaftlichen Lebens zu fördern, die einem Rückfall in solche monolithischen Strukturen entgegenwirken.

Im Zentrum steht dabei die Lösung von Wirtschaft und kulturellem Leben vom Machtmonopol des Staates. Die Wirtschaft wie auch das geistig-kulturelle Leben müssen ihren eigenen Gesetzen in Selbstverantwortung, wenn auch in gegenseitiger Anregung und Kontrolle folgen können, ohne von der Politik, von einem allmächtigen Staat gegängelt zu werden. Staat in einem die historischen Erfahrungen berücksichtigen Sinne, kann nur in der Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, zwischen Gruppen und Individuen bestehen, nicht in deren Beherrschung durch Überwachung, Kontrolle und Machtmonopol, dem das gesamte gesellschaftliche Leben unterworfen ist. Als rechtlicher Regulator, als Vermittler, als Berufungsinstanz bei Konflikten zwischen selbstverwalteten Bereichen kann der Staat vom Herrscher zum Diener werden.

 

Der Realität ins Auge sehen

Die Realität ist zur Zeit allerdings eine andere: Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft ist zwar zugleich die Krise des Sozialstaates, genauer des nationalen Einheitsstaates, der die Versorgung seiner Mitglieder nicht mehr garantieren kann, obwohl die Produktivität des Wirtschaftslebens es mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit erlauben würde. Aktuelle Folge sind zurzeit allerdings nicht Demokratisierungs-, nicht Differenzierungsprozesse, sondern Nationalisierungs- und Zentralisierungstendenzen. Staaten wandeln sich zusehends zum Instrument privilegierter Minderheiten, die das Leben ‚ihrer ‘ Bevölkerungen kontrollieren, einschränken, illegalisieren und sogar existenziell gefährden. Statt eines Rückzuges des Staates, der zu begrüßen wäre, wenn es darum ginge, autoritäre Auswüchse des Fürsorgestaates bismarckscher, faschistischer oder auch sowjetischer Prägung aus der Vergangenheit zugunsten selbstverwalteter demokratischer Strukturen weiter abzubauen, sind gegenwärtig  Tendenzen zu beobachten, den Staat neuerlich zu totalisieren und als Sicherheitsstaat gegen die Proteste der marginalisierten und unterprivilegierten Mehrheit von Armen im nationalen, im europäischen und globalen Rahmen in Stellung zu bringen, statt den Ursachen der Armut an die Wurzel zu gehen. 

Angesichts dieser Perspektiven kann es keinen anderen Weg geben als das Credo der herrschenden Verhältnisse, die auf Privateigentum von Kapital basierende Lohnarbeitsordnung, grundsätzlich in Frage zu stellen, zugleich demgegenüber Elemente der Selbstverwaltung, der Kooperation in Teilungsverträgen, der demokratischen Vielfalt, der weiteren Gliederung der globalen Gesellschaft zu stärken. Andernfalls drohen Zivilisation und Kultur in den Revolten der Armen und dem Versuch sie niederzuhalten gewaltsam unterzugehen.

Diese Feststellung mag zynisch oder fatalistisch klingen, sie ist aber bei unvoreingenommener Betrachtung nur die Beschreibung der Realität, mit der wir heute konfrontiert sind, wenn wir nicht den Mut haben, die heute herrschenden Lebensverhältnisse in dem oben beschriebenen Sinne zu verändern.

Woher aber den Mut nehmen? Diese Frage ist allein zu beantworten, wenn erkannt wird, was es bedeutet, wenn der Reichtum der ‚entwickelten Gesellschaften‘ weiterhin in zunehmendem Maße Armut und Verzweiflung hervorbringt – und das nicht nur als materielle Not, sondern auch als emotionale Verödung und geistige Leere im Leben der globalen Gesellschaft insgesamt. Der Kampf gegen die Armut umfasst nicht nur die materielle Grundsicherung, er braucht auch neue geistige, moralische, ethische Impulse, sagen wir es ruhig, er braucht eine spirituelle Erneuerung der Beziehung der Menschen zueinander und zu ihrem Sein in der Welt. Ohne Grundsicherung allerdings kann auch dieser Kampf nicht geführt werden. Aus diesem Widerspruch gibt es kein Entrinnen.  

(Dieser Text erschien zuerst in „Hintergrund“ 4/2018)
 

 

Weiterführendes diesem Thema:

  • Kai Ehlers, Grundeinkommen für alle als Sprungbett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte 2007
  • Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, BoD, 2016

Beide Bücher zu beziehen über den Autor www.kai-ehlers.de

Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

Ukraine, Syrien, Libyen, Irak, Türkei, Afghanistan – unter dem Druck der Flüchtlingsströme von Süden in den Norden des Globus jetzt auch die Europäische Union: das Kampffeld, auf dem nationale Souveränität in Frage gestellt wird und wo sie umso radikaler behauptet wird, weitet sich zusehends aus. Die großen Mächte schieben nationale Souveränität beliebig beiseite, kleine Völker wie die Kurden, wie die Uiguren Chinas, wie Indigene Südamerikas ringen um Autonomie oder „nationale Widergeburt“, arbeiten vergessene Geschichte in eigenen Epen auf. So etwa die Tschuwaschen Russlands, deren neuestes „Nationalepos“ soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Bei all dieser nationalen Selbstbesinnung und ihrer gleichzeitigen Zerstörung stellt sich die Frage, welche Bedeutung Autonomie, nationale Wiedergeburt, genereller nationale Souveränität, Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung, die heute als Norm gilt, in der gegenwärtigen Krise hat.
Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
Und weiter: Als Nationalstaaten galten und werden faktisch auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings die EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien gehandelt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine „nationale“ Gültigkeit, genauer, keine nationalen Grenzen mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Missachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de