Wer die Bilder vom Treffen der beiden Präsidenten, Janukowytsch und Putin, gesehen hat, die sich gegenseitig in bester Laune zuzwinkern, der weiß, daß in Moskau etwas vereinbart wurde, was außerhalb der üblichen Spielregeln heutiger Politik liegt.
Schlagwort: Russland
Aufruhr in der Ukraine
Das zurückliegende Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“ sollte sich mit der Frage beschäftigen, was Regionalisierung im Kaukasus bedeutet. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine haben das Thema ganz und gar in Richtung der ukrainischen Ereignisse verschoben.
Gauck´s „strategischer Fehler“ – geht es wirklich um Sotschi?
Etwas, scheint es, hat Gauck nicht verstanden. ...Wer der Frage nachgeht, was das sein könnte, trifft auf das Problem des Strategiewechsels, der sich in der US-Politik seit Beginn der zweiten Amtszeit Barak Obamas vollzieht...
Ukraine – was heißt hier „Nationaler Verrat“?
Aufruhr in der Ukraine. Hunderttausende auf den Straßen. Julia Timoschenko wirft dem Präsidenten „Verrat der nationalen Interessen der Ukraine“ vor. Was hält davon einer nüchternen Bestandsaufnahme der Situation der Ukraine stand?
Initiative: 30 Jahre Tonarchiv nachsowjetischer Wandel Aufruf für ein Archiv-Projekt: 30 Jahre O-Ton zum nachsowjetischen Wandel
30 Jahre Gespräche in Rußland und Eurasien: Situationen, Hintergründe, Analysen über Transformation und Zukunft
Ich suche: Interessenten, Unterstützer, Förderer für die Umwandlung meines umfangreichen Tonarchivs (russisch) in einen öffentlich nutzbaren Forschungs-Fundus.
Die Eurasische Union zwischen EU und SOZ
Die Gründung der Eurasischen Union ist die neueste Wendung im Prozess einer ins Globale erweiterten Perestroika. Besorgte Fragen tauchen auf, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland, insbesondere auf die zwischen Deutschland und Rußland haben werde...
Pussy Riot – ein Mythos entsteht
Zwei Jahre Lagerhaft, die U-Haft von 5 Monaten wird angerechnet. Eine Berufung ist möglich. Das war das vorläufige Ergebnis des Prozesses gegen die drei Frauen der Aktionsgruppe „Pussy Riot“ ...
Russische Innenansichten – „Einen Plan B gibt es nicht.“ Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki, Gründer des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“
Als Analytiker des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“ ist Boris Kagarlitzki einer jener Kritiker Putins, die über die Tagesproteste und kurzatmige Aufgeregtheiten hinaus denken. Das Gespräch dreht sich um die Frage, welche politischen Entwicklungen nach den zurückliegenden Duma- und Präsidentenwahlen zu erwarten sind. Das Gespräch fand im Juli in den Räumen des Institutes in Moskau statt.
Putin hat leider recht … Anmerkungen zum neuen russischen Versammlungsgesetz
Es ist fatal: Wenn man Wladimir Putin und den von ihm jetzt eingeschlagenen Kurs kritisch bewerten möchte, muß man wieder einmal aufpassen, von der geballten Macht der westlichen Besserwisser und Demagogen nicht mitgeschleift zu werden. - Ja, Putin hat eine Verschärfung des Versammlungsrechtes unterzeichnet. Kein gutes Zeichen. Aber Polizeistaat, Diktatur? Man muß schon genauer hinsehen...
In Tscheboksary an der Wolga
Da wo die riesige Statue der vorchristliche Matuschka, obwohl erst nach Perestroika errichtet, ihren uralten Segen mit weit ausgebreiteten Armen über die Stadt schickt, entstand ein kleines, provisorisches Labyrinth.
Brennpunkt Syrien
Auswertung des 17. Treffens zu „Brennpunkt Syrien“ vom 12.05.2012
und Einladung zum Treffen am Sonntag 10.06.2012, 16.00 Uhr;
Thema: Charta für ein Europa der Regionen
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Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,
das Thema „Syrien“ geht zur Zeit jeden Tag durch die Medien. Es soll hier daher nicht der tägliche Informationsstand referiert werden. Ich werde mich in diesem Bericht auf die Benennung der Grundfelder beschränken, auf denen sich das Gespräch im Forum bewegt hat – und darauf, worauf es sich unseres Erachtens bewegen sollte.
Anders als andere Themen, die uns bewegen, sahen wir uns außerstande, das Thema „Syrien“ auf eine Hauptfrage zu fokussieren – es sei denn man nehme die Tatsache, daß hier das gegenwärtige labile Gleichgewicht des Weltfriedens, besser zu sagen vielleicht, des Nicht geführten Weltkrieges zur Debatte steht.
Womit beginnen? Wie immer, versteht sich, mit dem Versuch einer Bestandsaufnahme der Interessenfelder, die sich hier in vielfältigster, kaum entwirrbarer Form überlagern:
Syrien als ein Glied in der Kette der muslimisch geprägten arabischen Welt. Das ist offensichtlich. Da gelten die gleichen allgemeinen Entwicklungstendenzen wie im gesamten arabisch-mittelmeerisch-muslimischen Kulturraum: Aufbruch einer sich rapide vermehrenden Bevölkerung in dem Wunsch der Teilhabe an den Errungenschaften der europäisch geprägten Moderne, konkret an den im Westen (Europa, USA und auch Rußland) als Ergebnis ihrer Jahrhunderte dauernden kolonialen Vorherrschaft konzentrierten wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten.
Gleichzeitig treten starke Tendenzen der Rückbesinnung auf die Qualitäten der eigenen muslimischen Geschichte und Kultur auf – von gemäßigten bis zu radikalen Positionen.
Diese Motive und Strömungen im Einzelnen, wie sie in Syrien jetzt in Erscheinung treten, auseinander zu halten und nach fortschrittlich oder rückschrittlich, berechtigt oder unberechtigt zu sortieren, dürfte zur Zeit nicht einmal Spezialisten gelingen – und ich denke auch, daß es nicht unsere Aufgabe ist, solche Sortierungen von außen her vorzunehmen.
Sicher ist, daß die unterschiedlichen Strömungen und gesellschaftlichen Fraktionen im Zuge der allgemeinen Entwicklungsprozesse des arabisch-mittelmeerischen Raumes heute an dem gewaltsam hergestellten Konsens einer nach-kolonialen autoritären Modernisierung rütteln, die nicht der Mehrheit der Bevölkerung, sondern nur Teilen der zur Zeit Herrschenden zugute kommt. Sicher ist auch, daß dies eine Entwicklung ist, durch die sich eingesessene Herrschaftsinteressen der westlichen Welt existentiell bedroht sehen.
Der arabische Modernisierungsprozeß, ist nicht als eindeutige Hinwendung zum Westen, aber auch nicht als Rückwendung zu einem wie immer gearteten muslimischen Fundamentalismus zu begreifen. Es geht um eine Besinnung auf die Kraft der eigenen Kultur, aber auch um Überwindung von Entwicklungshemmnissen in der eigenen Kultur. Das ist ein Prozeß, der seine eigene innere Dynamik hat, in den einzugreifen für den Westen nicht ratsam ist.
Darin waren wir uns einig. Es gehen in diesen Prozeß, über diese Tatsachen hinaus, aber auch noch schwer kalkulierbare ethnische und kulturelle Konfliktpotentiale mit ein, die aus den von den westlichen Kolonialmächten zu vorgenommenen willkürlichen Grenzziehungen am Ende der Kolonialzeit hervorgehen – ein syrischer „Nationalismus“, der nur durch die Macht der Einparteienherrschaft der Bathpartei aufgebaut werden konnte und der jetzt innerhalb des Gebietes, das heute Syrien umschließt, gegenüber diversen Sonderinteressen im wesentlichen autoritär gehalten wird.
Strukturell dürfte sich Syrien damit wenig von den anderen Staaten des arabisch-mittelmeerischen Raumes unterscheiden – ausgenommen Israel und Palästina, die sich unter dem Druck des israelisch-palästinensischen Dauerkonfliktes gewissermaßen in das verwandelt haben, was man, ins Internationale gehoben, eine „Einpunkt-Bewegung“ nennen könnte: für oder gegen ein Existenzrecht Israels in diesem Teil der Welt.
Konkret aber sieht es so aus, als ob die Fraktionierung der im syrischen Gebiet lebenden Bevölkerung auf Grund des historisch undefinierten ethnischen und kulturellen Pluralismus eines Durchgangsraumes zwischen den unmittelbaren Nachbarn der Türkei im Norden, des Irak und des Iran im Osten, des Dauerkrisengebietes Israel/Palästina im Süden und den dies alles durchziehenden globalen Interessen der USA, Rußlands, Chinas weitaus tiefer gehen als in den übrigen Ländern der arabisch-mittelmeerischen Welt.
Das alles bedeutet, daß eine innere Destabilisierung des Landes, ebenso wie eine einseitige Orientierung an einer der genannten regionalen oder auch globalen Mächte sich sehr schnell zu einer Destabilisierung des gesamten mittelmeerisch-arabischen Raumes auswachsen kann. Dies gibt der Herrschaft Assads eine Rolle, die nicht einfach umgangen werden kann, ohne unkontrollierbare Folgen für den Raum nach sich zu ziehen.. Einfach gesagt: Syrien ist nicht Libyen.
Es wären dem bisher Gesagten selbstverständlich noch reichlich Einzelheiten hinzuzufügen, um die Zerrissenheit des Landes und die darauf als Klammer sitzende autoritäre Struktur noch besser zu verstehen. Hier soll aber jetzt zur entscheidenden Frage weitergegangen werden; sie lautet: Wie sollen, wie können wir, wie kann die Welt sich zu „Syrien“ verhalten?
Zwei „Optionen“ stehen sich gegenüber, beide auch benannt in den Texten, insbesondere dem, des österreichischen Friedensforschers Galtung, die wir das letzte Mal mit herumgegeben hatten. Kurz und direkt gesagt: die westliche „Libysche“ Variante (NATO-„Hilfe“ für einen Regimewechsel) und die russisch-chinesische Variante der „Gespräche“
Vor dem Hintergrund, daß jedes gewaltsame Eingreifen von außen, in diesem Gebiet der Welt speziell von Seiten des Westens als Dejá vu des westlichen Kolonialismus erlebt wird, vor dem weiteren Hintergrund, daß eine Beseitigung der mit dem Iran verbundenen Herrschaft Assads den Weg für westliches (Israelisch/amerikanisches) Vorgehen gegen den Iran freimachen würde und schließlich angesichts unbestreitbaren Tatsache, daß die „Friedensmissionen“ der NATO in Afghanistan, Pakistan, Libyen keineswegs zu demokratischen Verhältnissen und geführt haben – und selbstverständlich aus prinzipiellen Erwägungen heraus, daß tragfähiger Frieden und eine tatsächliche demokratische Entwicklung nicht mit Waffengewalt erzwungen werden können, sondern die Erhaltung einer Mindest-Stabilität dafür Voraussetzung ist, kamen wir in unserer Gesprächrunde darin überein, uns für die russische Variante zu entscheiden, d.h., einen „runden Tisch“ zwischen allen Beteiligten – Assad und Kritikern – zu fördern, auch wenn klar ist, daß dies der schwierigere Weg ist und auch dann noch und immer wieder, wenn schon keine Hoffnung mehr zu bestehen scheint. In der Realität vor Ort hat Leben immer Priorität!
Wobei die Paradoxie offenkundig ist und auch Bestandteil der komplizierten Gemengelage in der syrischen Problematik, daß die Variante des „runden Tisches“ ausgerechnet von autoritär regierten Staaten wie Rußland oder auch China vorgeschlagen wird, die ihrerseits reichlich Probleme mit, freundlich gesprochen, verschleppten Reformen haben.
Sich für Gespräche einzusetzen bedeutet daher nicht, das sei unmißverständlich gesagt, das blutige Vorgehen der herrschenden syrischen Kräfte gegen ihr Kritiker, zu rechtfertigen oder auch nur gut zu heißen, es bedeutet auch nicht Rußland oder China zu Mustern demokratischer Politik zu erklären, es bedeutet nur einfach, sich der Dämonisierung Assads nach Art der Dämonisierung Saddam Husseins oder Gaddaffis zu widersetzen – wie gesagt: das Leben hat Priorität! In dieser Frage folgen wir einstimmig der Argumentation des Friedensforschers Galtung. (Wir geben sie deshalb diesem Bericht zur nochmaligen Kenntnisnahme bei).
Wir kamen damit wieder einmal zu der Frage, was wir selbst, über die Enttarnung der in den Medien betriebenen Desinformation hinaus zur Entwicklung von tatsächlichen demokratischen Kräften beitragen können. Unsere vorläufige Antwort:
Wir werden uns beim nächsten Treffen mit der in Entstehung begriffenen „Charta für ein Europa der Regionen“ befassen. In ihr geht es darum, ein Europa zu denken und zu gestalten, daß bei sich selbst Ernst macht mit Selbstorganisation, Entwicklung demokratischer Strukturen und – Menschenrechten.
Wir treffen uns zu dieser Frage am Sonntag, d. 10. Juni 2012 um 16.00 Uhr
Anmeldung über Kontakt zu mir
Zur Vorbereitung liegt diesem Bericht eine vorläufige Fassung der „Charta für ein Europa der Regionen“ samt erläuternden (ebenso vorläufigen) Anhängen bei, außerdem bisher noch nicht eingearbeitete kritische Anmerkungen von mir. (Kai Ehlers). Es handelt sich bei dem jetzigen Stand der „Charta“ nicht um eine endgültige Vorlage für eine endgültige Verfassung, sondern um ein Diskussionsangebot für ein anderes als ein imperial-bürokratisches Europa.
Erarbeitet wurde dieser Entwurf als Ergebnis des „Kongresses integrale Politik“ vom August 2008 in St. Arbogast/Österreich. Er soll dem diesjährigen zweiten „Kongreß integrale Politik“ als Vorlage zugeführt werden. Wir können unseren Beitrag mit einfließen lassen.
Wer aktiv teilnehmen möchte, kann das Vorbereitungsmaterial bei mir über Kontakt bestellen.
Liebe Freunde, liebe Freundinnen, wir würden uns freuen, Dich und Dich und Dich in diesen Diskussions- und Findungsprozeß mit einbeziehen zu können: Die Zeit ist reif. Wir freuen uns auf Dein Kommen oder auch auf Deinen Beitrag.
Im Namen des „Forums integrierte Gesellschaft“
Herzlich, Kai Ehlers
Russland nach der Wahl Putins
Auswertung des 16. Treffens vom 21.04.2012
Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,
unser Thema war: Rußland nach den Wahlen. –
Vieles ist dazu schon gesagt; wir hatten als Ergänzung zur Einladung zudem eine analytische Betrachtung der Nach-Wahl-Situation mit herumgeschickt. Dem ist auch nach Ablauf mehrerer Wochen wenig Neues hinzuzufügen. Unser Gespräch kreiste daher in der ersten Hälfte um Details der in dieser Analyse angegebenen Aspekte. Das soll hier nicht wiederholt werden. (Für die, die den Text nicht mehr präsent haben: www.kai-ehlers.de /Eingangsseite /Rußland nach den Wahlen: Aufstand der Mittelklasse)
Auch ein Skype-Kontakt zum Schriftsteller und Journalisten Jefim Berschin in Moskau, den wir uns während des Treffens gönnten, bestätigte im Wesentlichen den Stand, wie er direkt nach der Wahl war. Das Land befindet sich im Übergangszustand zwischen Noch-Präsident Medwedew und dem zukünftigem Präsidenten Putin. Regierung, Duma und außerparlamentarische Opposition ordnen ihre Kräfte, bereiten sich für die Tage nach der Amtsübergabe vor. Große Überraschungen nach Art der Proteste in der Zwischenwahlzeit um Weihnachten und Anfang dieses Jahres sind nicht zu erwarten.
Interessant wird die Entwicklung der realen Politik nach der Amtseinführung Putins. Putin wird in der neuen Konstellation zum einen auf die außerparlamentarischen Kräfte zugehen müssen und auch wollen, d.h., eine gewisse Dialog-Bereitschaft in Sachen demokratische Rechte demonstrieren. Ziel wird sein, die Kritiker, wo es geht zu integrieren, zugleich die Bewegung entlang ihrer sozialen Bruchzonen zu spalten – also in Alt-Liberale, politisch undefinierte Mittelklässler, extreme Rechte, extreme Linke zu sortieren. In den zurückliegenden Monaten waren diese Kräfte alle auf die Anti-Putin-Kampagne focussiert.
Das Hauptproblem, mit dem Putin und seine neue Konstellation sich konfrontiert sehen werden, liegt aber nicht in den mittelklässlerischen Protestpotentialen, das Hauptproblem liegt in den, man könnte sagen, ungelösten sozialen Fragen, die durch die Tandem-Politik quasi verschoben worden waren – auf den wieder ins Präsidentenamt zurückkehrenden Putin aber jetzt als unaufschiebbare Aufgaben zukommen.
Zu erinnern ist an die „nationalen Projekte“, mit denen Medwedew antrat: Erschwinglicher Wohnraum, Ausbau des Bildungssektors, des Gesundheitssektors und Entwicklung der Agrarwirtschaft. Keins von diesen Problemfeldern wurde so beackert wie angekündigt. Ich will darauf jetzt hier nicht im Einzelnen eingehen. (Ich verweise dazu auf mein Buch: „Kartoffeln haben wir immer. (Über)leben in Rußland zwischen Supermarkt und Datscha“, das einen Aufriß der zu lösenden sozialen Probleme beim Stand von 2008/2009 gibt)
Hier zur Zeit nur dies: In den Vordergrund scheint sich die Wohnungsfrage zu drängen, genauer, die Frage der Wohnungszusatzkosten – also, Kosten für Wasser, Gas, Heizung, Modernisierung usw. Diese Kosten nehmen solche Höhen an, daß sie das Lebensniveau der Mehrheit der Bevölkerung empfindlich drücken. Die Wohnungsfrage hat sich zudem mit der sog. „Datschenexplosion“ verschränkt, d.h. der Entstehung eines unabsehbaren Zuwachses an kleinen Privathäuschen plus Garten im Umkreis der großen Städte im Zuge der letzten Jahre. Viele dieser Kleinstsiedlungen sind nach den heute bestehenden Gesetzen nicht legal, nicht registriert, nicht katastermäßig erfaßt, zugleich aber in vielen Fällen zu Ausweichquartieren für Menschen geworden, die ihre Wohnungen vermieten. Die Regierung ist mit dem Problem konfrontiert, dieses Unverhältnis von nicht mehr erschwinglichem Wohnraum und illegaler Datschen-Explosion in einem Zeitrahmen bis 2014 regeln zu müssen; bzw. zu wollen. Dies kann mit starken sozialen Verwerfungen einhergehen.
Das Problem ist, daß die Überführung des illegalen Datschenbooms in eine kontrollierte Datschenbesiedlung nur möglich ist, wenn zugleich das bisher nicht eingehaltene nationale Programm des „erschwinglichen Wohnraums“ dahingehend erfüllt wird, daß es tatsächlich erschwinglichen Wohnraum gibt, der das Ausweichen auf die Datschensiedlungen überflüssig macht. Dies ist zudem nicht nur ein sachliches, also ökonomisches Problem, sondern auch ein kulturelles, insofern die Datscha und der dazu gehörige Garten für die russländische Bevölkerung über ihre Rolle als familiäre Zusatzwirtschaft hinaus die Stelle der persönlichen Entfaltung gegenüber dem öffentlichen staatlichen und wirtschaftlichen Druck einnimmt. Wie Putin dieses Problem lösen will, ist zur Zeit nicht absehbar.
Zu ähnlich brennenden Fragen haben sich die nicht durchgeführten Reformen auf dem Bildungs- und Gesundheitssektor aufgestaut, ebenso auf im Bereich der Landwirtschaft.
Kurz. Um hier keine Analysen der sozialen Fragen Rußlands vorwegzunehmen: Die nächste Runde der Putinschen Amtszeit wird wesentlich von der Sozialpolitik bestimmt werden. Putin muß dabei das Kunststück fertig bringen, diese innenpolitische Aufgabe mit der Stiftung eines neuen russischen Selbstverständnisses zu verbinden. Er macht diesen Versuch mit der Argumentation, Rußland müsse angesichts zu erwartender globaler „Turbulenzen“ seine Autarkie als multinationaler Staat zwischen Asien und Europa entwickeln und sich dabei und damit zum Motor eines eurasischen Kooperations- und Bündnissystems entwickeln.
Nach übereinstimmender Sicht der uns bekannten Stimmen aus Rußland gibt es – bei aller Kritik an Putins autoritärem Führungsstil – keine politische Herausforderung, die es effektiv mit Putin aufnehmen könnte. Die einzige Kraft, die nach wie vor eine Basisverankerung im sozialen Milieu hat, ist die KP-Russlands, aber sie ist kräftemäßig zu nicht mehr in der Lage, als ein schwaches Korrektiv zu bilden.
Wir kamen überein, daß das zukünftige Augenmerk Rußland betreffend auf der Kombination von eurasischer multinationaler Vormacht und aktiver Sozial- und Kommunalpolitik auf den oben genannten Feldern zu suchen sein wird. Putin geht auf den Prüfstand.
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Außenpolitisch wird Rußland daran gelegen sein, als Eurasische Hegemonialmacht das globale Gleichgewicht einer multipolaren Ordnung aufrechtzuerhalten. Die damit verbundenen Fragestellungen führten angesichts der aktuellen Ereignisse um Syrien, Israel und den Iran dazu, daß wir uns beim nächsten Treffen mit dem „Brennpunkt Syrien“ befassen wollen.
Wer Interesse hat teilzunehmen, ist eingeladen, sich bei mir zu melden: KONTAKT
Rußland nach den Wahlen: Aufstand der Mittelklasse?
Wollte man dem Mainstream der westlichen Medien glauben, dann begänne in Rußland jetzt die Hohe Zeit der Diebe, Spekulanten und notorischen politischen Fälscher – dazu noch die Alleinherrschaft Wladimir Putins als „strongman“, wie Teile der US-Presse den zukünftigen Präsidenten Rußlands während der Vorwahlzeit zu nennen beliebten.
Systemkrise, Paradigmawechsel oder Wahl eines Präsidenten?
Rußland hat gewählt, Rußland wird wählen. Die Ergebnisse der Dumawahl sind bekannt: Eine hauchdünne Mehrheit für die regierende „Partei der Macht“, eine noch immer anschwellende Protestbewegung gegen die unsauberen Methoden der Mehrheitsbeschaffung und gegen einen Wiederantritt Wladimir Putins als Präsident der Republik sind die Folgen.
Rußland: Zwischentöne zur Wahl
Rußland hat gewählt. Eine neue Duma wird zusammentreten. In ihr wird die „Partei der Macht“, Einheitliches Rußland, die Partei Medwedews und Putins mit 238 von 450 Sitzen zwar noch die absolute Mehrheit haben. Ein Weiter-So auf einem von einem willigen Parlament abgestützten Tandem, auf dem Medwedew und Putin nach Belieben die Plätze tauschen, wird es dennoch nicht geben.
Das „chinesische Prinzip“: Ökonomische Freiheit – politische Lenkung: Der bessere Weg zur globalen Perestroika? Ein Vergleich.
Wer heute an China denkt, hat zwei Bilder vor Augen: Das eine wird von China-Reisenden als „happy China“ beschrieben, das andere als Parteiendiktatur, die die Menschenrechte nicht achte und jeden Ansatz zu einer Opposition ersticke. Wohin führt dieser Weg? Diese Frage wird in diesem Text anhand eines Vergleiches von Perestroika und den chinesischen Reformen vor dem Hingergrund der Geschichte beider Gesellschaften untersucht.
Kongreß der Mongolenforscher in Ulaanbaatar: Vortrag zum Thema „Attila, Tschingis Chan und global Perestroika today – ‚project 13‘ “ (english)
Speech about "Project 13" held on the 10th congress of Mongolists. Invitation for cooperation.
Reisen auf den Spuren der globalen Perestroika – ein Lebenszeichen
Guten Tag allerseits! Liebe Freunde, liebe Freundinnen,
die letzten Einträge auf dieser Seite liegen schon ein Weilchen zurück. Der Grund dafür sind ausgedehnte Reisen, die ich in diesem Jahr unternommen habe: Moskau, Tscheboksara, Kasan, Nowosibirsk, Mongolei...
Gehen Sie bitte über LINK/"russische Brücke" auf: http://www.eurasia.nsk.ru (Umweg wg. aktuellen techn. Fehlers)
Aktuelle Vorschläge – Vorträge, Seminrae, Arbeitsrunden
Aktuell
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- Rußland nach dem WTO-Beitritt –Wer transformiert sich? Rußland, die WTO oder beide miteinander?
- EU in der Krise. Kann es ein Europa der Regionen geben?
- WTO und NATO – zwei Seiten einer Medaille?
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Und der andere Zugang:
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- Die Kraft der ‚Überflüssigen’. Wie wir wirklich leben wollen – und können.
- Grammatik der Transformation –Das Labyrinth als Schule des anschauenden Denkens.
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Konkretisierungen per Mail oder mündlich: Kontakt
Erläuterungen zu den Themen und weitere Anregungen zu Einführungs- oder Grundsatzthemen auf dieser Seite
Die demographische Falle – Beobachtungen zur Kraft der „Überflüssigen“ (Anregungen zur Kritik gängiger Wachstums- und Schrumpfungstheorien)
Menschenwürde und Wirtschaft – das sind zwei Begriffe, die uns im Alltag wie selbstverständlich von den Lippen gehen. Tatsächlich ist der eine Begriff heute so wenig selbstverständlich wie der andere. Worin besteht die Würde des Menschen? Wer einmal so zu fragen beginnt, verliert sich schnell in unendlich vielen Antworten.
Die Menschenwürde ist untastbar, lesen wir schließlich im deutschen Grundgesetz; tatsächlich wird sie tagtäglich angetastet, wenn sich – um nur dies zu nennen – Millionen von Erwerbslosen dem ausgesetzt sehen, was von Kritikern der Hartz IV Regeln mit Recht „Verfolgungsbetreuung“ genannt wird, wie sie durch die Arbeitsämter vorgenommen wird. Und noch gar nichts ist mit diesem Hinweis auf hiesige Verhältnisse darüber gesagt, in welchem Maße Menschenwürde in anderen Teilen der Welt mit Füßen getreten oder einfach missachtet wird.
Nicht besser geht es uns mit der Wirtschaft. Vor dem Ende der Sowjetunion mochten „Kapitalismus“ oder „Realsozialismus“ bei vielen Menschen noch als reale Definitionen des Wirtschaftens gegolten haben, inzwischen sind solche scheinbaren Definitionssicherheiten auf die Befürchtung geschrumpft, dass „die Wirtschaft“ die Menschheit in die Krise zu treiben drohe, statt deren Überleben zu sichern – ungeachtet der Frage, ob dieser Prozess als Vor-, Spät- oder Nachkapitalismus, als Turbokapitalismus, Globalisierung, als nationaler Sozialismus oder, wie im Falle Chinas, gar noch als Kommunismus bezeichnet wird.
Noch erklärungsbedürftiger ist der Zusammenhang von Menschenwürde und Wirtschaft. Nur so viel ist unbezweifelbar: Menschenwürde kann man nicht essen – aber ohne Essen gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht produzieren wie eine Ware – aber ohne Arbeit gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht berühren – aber ohne soziale Beziehungen gibt es keine Menschenwürde. Damit sind drei Bereiche der Realität genannt, die in der Beziehung von Wirtschaft und Menschenwürde untrennbar ineinander greifen: Versorgung, Arbeit, Kommunikation. Versorgung, das ist die ganze Spannbreite vom physischen Unterhalt bis zur Bildung, von der Selbstversorgung bis zur Fremdversorgung. Arbeit, das sind alle Veräußerung von Kraft, Fantasie und Lebenszeit, durch welche Menschen die Welt gestalten; Lohnarbeit ist nur ein besonderer, verabsolutierter Aspekt davon, der heute wieder an seinen Platz gerückt werden muss. Kommunikation, das sind die emotionalen, sozialen und kulturellen Beziehungen, die entstehen, wenn Menschen miteinander und füreinander tätig und aneinander interessiert sind.
Wie entwickelt sich das Dreieck dieser drei Elemente heute? Die Antwort auf diese Frage muss schockieren: In allen drei Bereichen tritt heute ein Problem vor allen anderen in den Vordergrund – die wachsende Zahl der so genannten „Überflüssigen“. Damit sind die Menschen gemeint, die in zunehmender Zahl aus dem Kreislauf von Arbeit, Versorgung und Kommunikation herausfallen oder gar nicht erst zu einem Bestandteil dieses Kreislaufes werden, weil ihre Arbeitskraft zunehmend durch Maschinen, beschleunigt durch Elektronik, generell gesprochen, durch Intensivierung der Produktion ersetzt wird. Zugleich werden die Strukturen traditioneller Selbstversorgung und Möglichkeiten einer Eigentätigkeit vor Ort zunehmend zerstört, sodass die Menschen von der Versorgung mit Fertigprodukten der Industrie abhängig werden, die sie aber – mangels Einkommen – nicht oder nur ungenügend erwerben können. Das betrifft auch für die Nutzung der Kommunikationsmittel von heute.
In der „Wirtschaft“, präziser, im Gefolge des technologischen Fortschritts der Industrialisierung entsteht so eine doppelte Entwürdigung des Menschen, der in die vollkommene Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung verfällt – der eine durch Ausgrenzung vom gemeinsamen Wohlstand, ohne noch auf minimale Versorgung durch Eigentätigkeit zurückgreifen zu können, der andere, der – in die intensivierte Produktion eingeschlossen – durch einen sich in mörderischer Weise beschleunigenden Arbeitsdruck zwar über die finanziellen Mittel, aber nicht mehr über die Kraft und die Fähigkeit verfügt, sich noch ausreichend um sich selbst als Mensch zu kümmern.
Merke gut: Dies alles geschieht, obwohl der industrielle Entwicklungsprozess evolutionär betrachtet eine zunehmende Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit beinhaltet, sein Überleben durch Einsatz seiner physischen Arbeitskraft zu sichern. „Eigentlich“ liegt in dieser zunehmenden Freisetzung „überflüssiger“ Kräfte bei steigender Produktivität heute die Chance für die unterschiedlichen Gesellschaften, für die Menschheit insgesamt, sich mehr als bisher anderen Aufgaben als denen des bloßen physischen Überlebens zuzuwenden. Das sind gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Zuwachses an Menschenwürde, wenn wir Menschenwürde an der Fähigkeit des Menschen messen, sich als Mensch zu verwirklichen – und wenn die Verhältnisse, unter denen die „Überflüssigen“ heute freigesetzt werden, als das erkannt werden, was sie sind, als Überfluss nämlich, und dieser Überfluss für diese Verwirklichung genutzt wird, indem die „überflüssigen“ Kräfte zu Eigeninitiativen aller Art ermutig werden, statt sie als Arbeitslose unter Kontrolle zu halten. Die Umwandlung der jetzigen kontrollierten Sozialfürsorge in ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen, das die materielle und kulturelle Basisversorgung eines jeden Menschen sichert, wäre dazu ein richtiger Schritt.
Eine weitere Tatsache rückt allerdings an dieser Stelle in den Blick, die das Problem gewissermaßen verdoppelt: Zeitgleich zur Freisetzung der „Überflüssigen“ aus dem Wirtschaftsprozess steigt die Zahl der Menschen auf dem Globus exponentiell an. Heute teilen sich 6,3 Milliarden Menschen den Globus, 2020 werden es ca. 9 Milliarden sein. Zwar sind sich Demographen aller Länder darin einig, dass die Kurve der jährlichen Zuwachsrate der Weltbevölkerung sich abgeflacht habe, die Dynamik des Wachstums trotz absolut steigender Bevölkerungszahlen rückläufig sei, das Gespenst einer allgemeinen „Bevölkerungsexplosion“, welche die „Tragfähigkeit“ des Globus sprengen werde also gebannt sei, dafür habe sich aber eine gefährliche „Disproportion“ des realen Wachstums herausgebildet. Salopp gesprochen ist auch tatsächlich zu konstatieren: Die Bevölkerungen der „westlichen“ Industrieländer schrumpfen, einschließlich Russlands, das von dieser Entwicklung am krassesten betroffen ist, die Länder des globalen „Südens“ dagegen erreichen Geburtenraten, die um ein Vielfaches über denen der „westlichen“ Länder liegen. Das gilt vor allem für Afrika, Indien und die Mehrheit der muslimischen Länder, nicht dagegen für China, dessen Zuwachsrate, bei steigender absoluter Zahl der Menschen dort, ebenfalls deutlich abgeflacht ist.
US-Geheimdienste – und in ihrem Gefolge europäische Popularisierer ihrer Erkenntnisse wie Gunnar Heinsohn, Völkermordforscher aus Bremen und nach ihm Thilo Sarrazin – haben es sich zu Aufgabe gemacht, für dieses Szenario Strategien zu entwickeln. Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die „Globalisierung“ der Wirtschaft, sprechen sie nacheinander von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, wenn all diese jungen Menschen – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten. Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte. Dass mit dieser Zivilisation die „westlich“ dominierte gemeint ist, versteht sich schon fast von selbst, sei aber trotzdem erwähnt.
Von einer 80:20-Welt, bzw. Einfünftelgesellschaft war angesichts dieser ökonomischen und demografischen Daten bereits auf jener legendären Tagung die Rede, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ die Zukunft der Welt zu beraten. Als Hauptthema kristallisierte sich heraus, was mit dem Heer der „Überflüssigen“ geschehen solle, die aus dieser Verdoppelung von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Bekannt wurde der Vorschlag des einschlägig berüchtigten US-Strategen Sbigniew Brzezinski , ein globales „tittytainment“ einführen zu wollen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verbindet das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainments“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel ist, 80% der Menschheit auf diese Weise „stillen“ zu wollen.
Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierte Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange räsoniert werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen und Kritiken zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein; aber davon ganz abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten der Verwirklichung einer solchen Strategie schon in den Widersprüchen der gegenwärtig herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte, „Überflüssige“, „Unterentwickelte“ haben dieses Geld nicht. Eine Verkürzung des Kreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital kann dieses Problem aber auch nicht lösen, sondern führt – wie die Krisenentwicklung der letzten Zeit gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Aus ihr hilft auch massenhafter Druck von Geld nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet, wenn die Gelder für soziale Unterstützung der Erwerbslosen gleichzeitig zusammengestrichen werden.
Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens für alle Menschen liegen. Mit einer solchen Maßnahme, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der „Überflüssigen“ als stillzulegender oder gar zu entsorgender „menschlicher Müll“.
Es ist offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt. Für den Fall jedoch, dass die gewünschte Stilllegung nicht gelingen sollte, gehen aus den US-Studien von 1990, die dem 80:20-Szenario von 1995 und auch den daraus abgeleiteten Ausführungen Heinsohns zugrunde liegen, denn auch effektivere Varianten zum Umgang mit der dort beschriebenen Bedrohung hervor, die hier nur angedeutet werden können, aber eine weitere Betrachtung unbedingt fordern: Sie beginnen mit dem aktiven Export der westlichen „Eigentumsordnung“, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der „Überflüssigen“ sollen hereingelassen, die Unerwünschten dagegen an den Grenzen abgefangen werden. Ergänzend dazu wird über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Für alle Fälle müsse „man“ sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen „man“ jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, welche die technischen Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen.
Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahre, einschließlich des gegenwärtigen globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachbuchstabieren. Klar ist aber, dass auch diese Strategien keine Lösung, sondern selbst Teil des Problems sind, schlimmsten Falles sogar seine Zuspitzung zur allgemeinen Katastrophe. Besonders deutlich wird dies an den Vorschlägen zum Export der „Eigentumsordnung“, die Heinsohn als Alternative einer zukünftigen Wirtschaftsordnung anbieten möchte, wenn sie nach dem Beispiel der europäischen Entwicklung über die bloße „Produktion“ von Bevölkerungsüberschuss hinausgehe. Heinsohns Begründungen dafür sind nicht sonderlich originell, lassen aber den Kernpunkt klar heraustreten, wohin die herrschenden Strategien zielen, wo demgegenüber grundsätzliche Veränderungen anzusetzen hätten, wenn sie nicht Wiederholungen, Verfestigungen oder gar katastrophale Zuspitzungen der bestehenden Wirtschaftsweise sein sollen.
Hier aber erst einmal Heinsohns Beschreibung: Er baut seine ganze Argumentation auf der Unterscheidung von Besitz und Eigentum auf. Durch den Übergang von der Besitz- zur Eigentumsordnung sei Europa groß geworden. „Ein Teil der Autoren redet – und meint das kritisch – von Kapitalismus, ein anderer von „Marktwirtschaft. (kursiv – Heinsohn) Beide wollen damit den entscheidenden Beweger des Wirtschaftens jeweils möglichst knapp umreißen. Die Basis des Wirtschaftens liegt aber weder im Kapital noch im Markt, sondern im Eigentum. Das kann man nicht sehen, riechen, schmecken oder anfassen, weil es ein papierener Rechtstitel ist.“ Die Unterscheidung von Besitz und Eigentum sei für das Verständnis des Wirtschaftens fundamental, weil nicht Besitz, sondern erst verbrieftes Eigentum die Möglichkeit gebe, Schuldverpflichtungen gegen Kredit und Zins einzugehen. Mit Besitz werde nicht „gewirtschaftet“, so Heinsohn, er werde lediglich „physisch benutzt“. Dass aber „Zins als entscheidende Zugkraft des Wirtschaftens am Eigentum haftet“, werde allgemein schlecht verstanden.
Am Beispiel des Ackers kommt Heinsohn dann zum Punkt: „Zur geschäftlichen Verwendung eines Ackers – also zum Wirtschaften mit ihm – kann es erst kommen, wenn zum Besitzrecht noch ein Eigentumstitel hinzutritt. Man kann sagen, dass mit dem Acker produziert, mit dem Zaun, der ihn umgibt jedoch gewirtschaftet wird, wobei er den Eigentumstitel symbolisiert und nicht nach Draht und Pfosten betrachtet wird, die es auch in Besitzgesellschaften geben kann. Während der Bauer einer Eigentumsgesellschaft seine Feldmark – durch eigenen Verbrauch oder durch Verpachten – als Besitzer nutzt, kann er mit dem Eigentumstitel an ihr gleichzeitig und eben zusätzlich wirtschaften. Er kann diesen Titel für das Leihen von Geld – Mark z.B. – verpfänden, oder er kann ihn für die Bereicherung des von ihm selbst emittierten Geldes – wiederum Mark – belasten. Die Geldnote – ob auf Metall oder Papier gedruckt – ist also ein Eingriffsrecht in das Eigentum ihres Emittenten und kommt nur durch Schuldenmachen in die Welt.“
Wirtschaften, um es deutlich herauszuholen, ist in dem von Heinsohns beschriebenen Modell also die private Aneignung eines Stück Landes (oder anderer Objekte), die andere Menschen von diesem Gebrauch ausschließt – eben einen „Zaun“ um das abgesonderte Eigentum errichtet. Auf dieser Basis erhebt sich, von ihm als positiv beschrieben, die Pyramide von Zins und Zinseszins, mit der erst Europa, heute der “Westen“ die übrige Welt in die Kredit- und Zinspflicht gebracht hat. Mit dieser Beschreibung liegt Heinsohn durchaus richtig. Treffender und aktueller als mit dem Bild des „Zaunes“ hätte er dieses Modell, das hier als Lösung, noch dazu als neue in die Welt gebracht werden soll, nicht umreißen können: Bei ihm nur bildlich gemeint, sind die Zäune, mit denen sich die sich die „Leistungsträger“ der sich herausbildenden 20:80-Gesellschaft von den „Überflüssigen“ absetzt, inzwischen ja gesellschaftliche Realität geworden. Man denke nur an die Zäune der EU in Tunesien und demnächst zwischen Griechenland und der Türkei, an die Zäune, mit denen sich die Reichen in den Metropolen selbst vor der armen Umgebung abschotten. Es ist klar, dass dieses Modell nur tiefer in die Krise führen kann.
Wichtig und interessant ist es deshalb sich die Gegenentwürfe anzuschauen, die heute in der Kritik der möglichen 20:80 Zukunft weltweit an verschiedenen Orten entstehen. Nehmen wir die jüngste Veröffentlichung von Jeremy Rifkin , der als Amerikaner, weltweit anerkannter Zukunftsforscher und Berater von EU-Gremien nicht im Verdacht eines Schwärmers steht. Eher könnte er schon als gewissenhafter Buchhalter der Alternativdenker durchgehen, der sich um die wissenschaftlich korrekte Auflistung zukünftiger Weltbilder bemüht.
Unter dem Titel „Die empathische Zivilisation“ hat Rifkin eine Zusammenfassung der heute zu beobachtenden Entwicklungstendenzen der menschlichen Gesellschaft vorgelegt. Darin beschreibt er die Evolution der Gesellschaft als eine durchgehende Aufwärtsspirale von Fortschritt durch Empathie, Zusammenbruch, erneutem Fortschritt mit gewachsenen Empathiekräften, wieder Zusammenbruch bis hin zur heutigen entropischen Krise. Dabei versteht Rifkin unter Empathie die Fähigkeit des mitfühlenden miteinander Lebens, unter Entropie im Sinne des wissenschaftlichen Begriffes: Unordnung im Raum, sozial gesehen: Zerfall, Zerstörung, Zusammenbruch von Kulturen, Reichen, Zivilisationen. „Wir sind an einem Punkt angelangt“ schreibt er in seiner Einleitung, „an dem der Wettlauf zwischen globalem empathischen Bewusstsein und globalem entropischen Zusammenbruch vor der Entscheidung steht.“ Das globale Bewusstsein, vom dem Rifkin hier spricht, nennt er schließlich eine „Lebensweise, in der die Menschen sich in einem „empathischen Biosphärenbewusstsein miteinander auf einer neuen Kulturstufe kooperierend verbinden“.
Wie Heinsohn beschreibt Rifkin zunächst den Übergang vom Besitz zum Eigentum, der erst die Entwicklung bis zum heutigen Stand der Zivilisation ermöglicht habe. Dann aber zeigt er auf, dass die Entwicklung der Produktions-, Verteilungs- und Konsumstrukturen der heutigen globalisierten Wirtschaft über den privatisierenden Eigentumsbegriff hinausweise. Die Basis dafür sieht Rifkin im geraden Gegensatz zu Heinsohn in der „Wiedererweckung des kulturellen und öffentlichen Kapitals“. Die hochgradige Dezentralisierung und Vernetzung des Kapitals, des Konsums wie auch des alltäglichen, durch globale Kommunikation intensivierten Lebens löse das Verständnis von Eigentum als Ausgrenzung durch die „Wiedererweckung“ eines Eigentumsbegriffes ab, in dem Eigentum wie seinerzeit in den vorkapitalistischen Gesellschaften nicht den Ausschluss von, sondern „Zugangsrechte“ zum gemeinsamen Besitz definiere. Eigentum werde in zunehmendem Maße wieder als die Berechtigung verstanden, Zugang zum gemeinsamen Kapital zu haben – so wie in vorkapitalistischer Zeit zu Feld, Wald, Allmende oder Gerätebestand eines Dorfes. Heute und in absehbarer Zukunft gehe es um das Recht auf Versorgung mit Grundelementen der allgemeinen Infrastruktur, des Weiteren mit Wärme, Wasser, Luft, um das gemeinsame Wissen im Netz usw.
Rifkin skizziert also eine Entwicklung, die dem 20:80 Modell diametral entgegenläuft. Es ist ein Modell, das nicht auf Ausgrenzung einer Mehrheit von Menschen aus einer zum Privateigentum einer Minderheit erklärten Welt zielt, sondern auf Nutzungsmöglichkeiten für alle zu einem als Gemeinschaftsbesitz verstandenen Kapital, wobei „Kapital“ das gesamte bisher im Laufe der Menschheit geschaffene ökonomische und kulturelle Vermögen umfasst, einschließlich der Beschaffenheit unseres Planeten, die Lebensgrundlage für die Existenz der gesamten Zivilisation ist.
Hier möchte ich Rifkins Skizze der möglichen Welt von morgen verlassen. Bis hierhin konnte ich mich seiner Beschreibung weitgehend anschließen. Siehe dazu auch meine eigene Darstellung dieses Sachverhaltes in dem Buch „Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“ , in dem die Frage der Wiederkehr des Nutzungsrechtes im Rahmen eines als historische Gemeinschaftsleistung der Menschheit verstandenen Kapitals ausführlich erörtert wird.
Die abschließenden Prognosen Rifkins jedoch unter dem Stichwort der „Selbstinszenierung einer Improvisationsgesellschaft“, in welcher er die Zukunft als „Dramatisierung“ des Lebens in den Kommunikationsnetzen des virtuellen Raums beschreibt, wird den sozialen Herausforderungen der 20:80 Perspektive aus meiner Sicht nicht gerecht. Die mit dem 20:80-Problem verbundenen Fragen sind mit der bloßen Vernetzung in einer globalen Kommunikation analytisch nicht in ihrer Widersprüchlichkeit erfasst und praktisch so nicht zu meistern – weder in ihren negativen Auswirkungen, noch in den darin liegenden Chancen. Es wirken ja außer der Kommunikation, im Fall der Missachtung auch hinter unserem Rücken, noch die beiden anderen Bestandteile des Wirtschaftens: Versorgung und Arbeit. Erst in Verbindung mit ihnen gewinnen die heutigen und noch zu erwartenden Möglichkeiten der Kommunikation ihren Charakter – als Instrumente der globalen Freisetzung von Kreativität, produktiver sozialer Aktivität und eigenen Entwicklungsmöglichkeiten für die Millionenscharen „Überflüssiger“, wie mit Rifkin zu hoffen ist, oder der Manipulation im Sinne des „tittytainment“ und schlimmsten Falles direkter repressiver Kontrolle.
Deshalb sei hier noch ein weiteres Element in die Betrachtung eingeführt, das unbedingte Beachtung verdient. In der Regel wird es bei Analysen der heutigen Entwicklungsdynamiken vergessen, übergangen, nicht selten auch aktiv unterschlagen. Die Rede ist von den seit dem Ende der Sowjetunion unternommenen Versuchen, die russischen Gemeinschaftsstrukturen zu privatisieren und von den Wellen, die davon auf die globale Entwicklung ausgehen. Ich will diese Frage hier nicht im Detail ausführen und verweise auch dafür auf das schon erwähnte Buch zur „Integrierten Gesellschaft“ und weitere Veröffentlichungen von mir zur Analyse der Geschichte und der Aktualität der russischen, nachsowjetischen Gemeinschaftsstrukturen.
So viel aber muss hier gesagt werden: Trotz aller Bemühungen der russischen Reformer wie auch ihrer Stichwortgeber und Mitstreiter der internationalen Kapitale – angefangen bei Jeffrey Sachs Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bis hin zu den verzweifelten Modernisierungskampagnen des gegenwärtigen russischen Tandems, das Dimitri Medwedew und Wladimir Putin bilden – ist es bisher nicht gelungen, die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands aufzulösen und in privatkapitalistische Monopolstrukturen zu überführen. Nach wie vor dominiert eine nicht aufgelöste Kombination zwischen der durch die Verfassung deklarierten privaten Eigentumsordnung und korporativen Wirtschafts- und Lebensstrukturen. Immer noch existieren ganze Lebensgemeinschaften, zu denen sich Großbetriebe, industrielle wie auch agrarische, Dörfer und Städte verbinden, nicht selten mit regionalen Vernetzungen.
Aus westlichem Blickwinkel, auch aus dem Blickwinkel westlich orientierter Reformer in Russland selbst wird diese Realität in der Regel als Korruption wahrgenommen. Tatsächlich handelt es sich hier um Elemente, nicht selten inzwischen auch in degenerierter Form, gemeinschaftlicher, nicht privateigentümlicher Eigentumsverhältnisse, die ihre Wurzeln noch in der Zarenzeit haben, durch die Sowjetunion noch einmal tiefer in die öko-sozialen Strukturen des Landes und in das soziale Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben und bisher nicht vollends transformiert, aufgelöst oder zerstört werden konnten. Kurz und knapp gesagt: Es geht um eine Kombination von Produktion und in Russland so genannter „familiärer Zusatzwirtschaft“, in der die Selbstversorgung vor Ort ein konstituierender Bestandteil der Volkswirtschaft war – und heute noch ist. Die Privatisierung, sprich auch die Kapitalisierung hat nur Teile der Bevölkerung, nur Teile des Landes, generell kann man sagen, nur einige Bereiche des Lebens und der Gesellschaft erreicht, andere Bereiche und Teile zeigen sich aller oberflächlichen Modernisierung zum Trotz resistent.
Diese Organisation des Lebens setzt sich auch heute als Symbiose von industrieller Modernisierung im Geiste westlicher Industriekultur und nach wie vor bewusst gepflegter Strukturen der familiären und auch gemeinschaftlichen Selbstversorgung fort. Supermarkt und Datscha (also familiäre oder auch gemeinschaftliche Zusatzversorgung im Garten, auf dem eigenen kleinen Feld und im Hofgarten), Fremdversorgung und Eigenversorgung halten sich auch heute in der Versorgung der Bevölkerung mit alltäglichen Grundnahrungsmitteln die Waage. Auf dem Höhepunkt der letzten Krise 2008/2009 war die Datscha in dieser Bedeutung neben dem Stabilisierungsfonds aus den Erdöleinnahmen das zweite Standbein für die Erhaltung der sozialen und wirtschaftlichen Stabilität. Putin forderte die Unternehmen, die sich im Zuge der Privatisierung ihrer sozialen Aufgaben entledigt hatten, ausdrücklich und unter Androhung von Sanktionen auf, in ihre korporativen Pflichten gegenüber Dörfern, Städten, Regionen wieder einzusteigen. Kurz, von Russland geht heute die Botschaft aus, dass die westliche Eigentumsgesellschaft nicht die einzige Antwort auf die Frage ist, wie ein Leben nach dem Ende der sozialistischen Utopie aussehen könnte, das den Menschen nicht nur einen erhöhten Konsum ermöglicht, sondern auch noch eigene Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen ihrer Eigenversorgung belässt.
Zweifellos ist die russische Entwicklung kein Modell, das direkt auf andere Länder übertragbar wäre, vor allem nicht auf solche, in denen Selbstversorgung nur noch als Kriegserinnerung lebt wie in Deutschland oder auf andere Teile der Welt, in denen die Reste lokaler Selbstbewirtschaftung soeben zerstört werden wie in den ehemaligen Kolonien Europas, die heute in die „Moderne“ stürzen. Ja, es ist nicht einmal sicher, wie weit der Pendelschlag der Privatisierung die Zerstörung der traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands noch vorantreibt, sicher ist dennoch, dass erstens jedes Pendel umkehrt, wenn sein Schwung ausläuft; das kulturelle Gedächtnis der Menschen, ebenso wie die gewachsenen Strukturen eines Raumes gehen nicht verloren, sie gehen als Element in die zukünftige Entwicklung ein. Das lässt für Russland eine lebendige Symbiose zwischen Industrieproduktion und den lange gewachsenen Traditionen der gemeinschaftlichen Eigenversorgung erwarten. Welche Form diese Symbiose annimmt, wird sich zeigen, sicher aber wird es kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch geben, in dem Fremd- und Eigenversorgung, Individualisierung und Gemeinschaftstradition einander in neuer Gestalt mischen und ergänzen.
Ungeachtet dessen aber, das sei noch einmal betont, geht von der Realität der russischen Transformation schon jetzt die Erkenntnis aus, dass „der Kapitalismus“ mit seiner aggressiven Fremdversorgung nicht das letzte Wort der Geschichte ist, sondern selbst nur ein Übergang in eine Wirtschafts- und Lebensordnung, die nicht nur materielle Grundbedürfnisse befriedigt, sondern auch noch die Chance zur Entfaltung eigener Kräfte im familiären wie im gemeinschaftlichen Rahmen gibt.
In Deutschland, aber auch anderen Orten der Welt hat schon längst eine Bewegung eingesetzt, die Vorstellungen dieser Art sucht und versucht sie in die Praxis umzusetzen. Unterschiedlichste Modelle sind entstanden, die nahezu alle den Bedarf, nicht den Profit um des Profites willen, in den Mittelpunkt rücken – eine Versorgung, die sich nicht nur auf Fertigprodukte stützt, sondern Eigenversorgung mit einbezieht, eine Organisation der Arbeit, die produktive und „überflüssige“ Tätigkeiten gerecht und lebensfördernd verteilt, die Intensivierung der Beziehungen zwischen den Menschen, welche die Menschen emotional, geistig und spirituell fördert. In Ansätzen werden auch lokale und regionale Räume mit in die neue Organisation des Lebens einbezogen.
In all diesen Experimenten wird eine Zukunft sichtbar, in der kein Mensch „überflüssig“ ist, sondern jede Frau, jeder Mann, jedes Kind, gleich ob gesund oder krank, jung oder alt, ob praktisch orientiert oder eher spirituell, ihre oder seine Daseinsberechtigung, Aufgaben, materielle und emotionale Versorgung im gemeinschaftlichen Geschehen hat. Vieles muss hier, besonders in der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, noch ausprobiert werden, und es wäre gut, wenn die Erfahrungen aus der nachsowjetischen, aufbauend auf der russischen Geschichte darin mit eingehen könnten, die leider immer noch verdrängt werden. Die Traumata von Zwangskollektivismus jeglicher Couleur, stalinistischen wie faschistischen, individualistische Irrwege auf der anderen Seite müssen noch erkannt und praktisch überwunden werden. Die neuen Formen des zusammen und doch individuell Arbeitens müssen ausprobiert werden, ohne in Gemeinschafts-Dogmatismus oder individualistische Anarchie zu verfallen. Praktisch sind viele diese Gemeinschaften zudem Probierfelder dafür, ob ein Grundeinkommen den Realitäten einer gemeinsamen Ökonomie standhält.
All dies sind hohe Herausforderungen, die diese Gemeinschaften zu Experimentatoren für eine Lebensweise machen, in der – schlicht gesagt – der Mensch wieder oder vielleicht besser gesagt, endlich im Mittelpunkt steht, jetzt aber nicht nur als Arbeitskraft, die ausgebeutet wird und als Konsument, der den Warenumsatz und damit den Profit garantiert, sondern in seinem Wert als schöpferisches Wesen, das seinen Wert darin hat, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen als solches zu entwickeln. Es ist zu hoffen und daran zu arbeiten, dass diese Impulse auch die übrige Gesellschaft erreichen.
Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de
Dieser Text erschien auch in: Entgegensprechen, Teil 2. Schöpfungskraft Wirtschaft, herausgegeben vom KunstRaumRhein, Edition gesowip, Basel 2011. Bezug über KunstRaumRhein, Postfach, CH–4005 Basel 5, oder den Buchhandel.
Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“
Drei Anmerkungen vorweg:
Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.
Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.
Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.
Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de
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Der Fall YUKOS/Chodorkowski:
Das Verfahren gegen den russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski ist zentraler Ausdruck einer strategischen Auseinandersetzung zwischen der russischen Staatsmacht und dem privaten Kapital, das sich im Zuge der Privatisierung in Russland herausgebildet hat. Es ging um die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die russischen Öl- und Gas-Ressourcen hat, die immerhin zu 40% das russische Staatsbudget füllen und 55 Prozent der Exportgewinne betragen. Mit dem Vorgehen gegen Chodorkowski wurden die Auswüchse der russischen Privatisierung exemplarisch zurück geschnitten und die Verfügungsgewalt des Staates über die Ressourcen des Landes wiederhergestellt. Das war erklärte Politik Wladimir Putins, die sich in der Person des von den USA unterstützten Chodorkowski zugleich gegen den globalen Hegemonialanspruch und die daraus folgende Interventionspolitik der USA wandte. Mit der Auflösung des Konzerns und der Verurteilung des ehemaligen YUKOS-Chefs hat Putin dieses Ziel vorläufig erreicht. Gut 70% der russischen Bevölkerung waren laut Umfragen damit einverstanden. Nach dem Ende des Prozesses beginnt nunmehr eine neue Runde der Auseinandersetzungen
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Wie alles anfing: Chodorkowskis Aufstieg und Fall[1]
Michael Chodorkowski wurde am 26. Juni 1963 in Moskau geboren. Er war aktiv im Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband, der das Sprungbrett seiner Karriere in der freien Wirtschaft wurde insofern die Kommunisten in den meisten Schlüsselpositionen saßen und es war ein Vorteil „Verbindungen“ zu haben. 1987 gründete Chodorkowski auf dieser Grundlage das ”Zentrum für wissenschaftliche und technische Kreativität der Jugend” (HTTM), war bis 1989 Leiter dieses Zentrums. 1988 machte er seinen Abschluss als Chemietechnologe und Finanzierungsexperte an der Moskauer staatlichen Universität. 1987, noch als Student, gründete er die „Innovative Kommerzbank für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“ (später Menatep-Bank), deren Aufsichtsratsvorsitzender er von Mai 1989 bis 1990 war. 1990 kaufte die Bank das HTTM-Zentrum und taufte es in „Menatep Invest Zentrum für branchenüberschreitende wissenschaftliche und technische Programme“ um. 1990/91 war Chodorkowski Generaldirektor der Menatep-Bank. Von August 1991 bis April 1996 hatte er die Funktion eines Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Kredit- und Finanzgesellschaft Menatep inne.
Seine ersten Millionen machte Chodorkowski am Anfang der 90er-Jahre, zu Zeiten der sog. wilden, das heißt noch gesetzlosen Privatisierung unter Gorbatschow, als er Menatep Aktien in privatisierten Betrieben zu teilweise spektakulär niedrigen Preisen kaufte. Seine Verbindungen innerhalb der kommunistischen Partei spielten dabei eine bedeutende Rolle.
Unter Gorbatschows Nachfolger Jelzin ergaben sich größere Chancen für Chodorkowskis Expansionskurs:1992 wurde er mit 29 Jahren Leiter des Investitionsfonds für die Energieindustrie und erhielt durch diese Aufgabe den Status eines russischen Vizeministers für Treibstoff und Energie, gleichzeitig wurde er Berater des Präsidenten. Im März 1993 wurde er offiziell zum Stellvertreter des russischen Ministers für Treibstoff und Energie ernannt – eine vorteilhafte Position zur Förderung seiner privatwirtschaftlichen Geschäfte.
1994 übernahm Chodorkowski zusammen mit Platon Lebedew Aktien des Düngemittelproduzenten APATIT. Später wurde ihnen zur Last gelegt, daß sie das Aktienpaket erschwindelt und die Gesellschaft ausgeplündert hätten, indem sie Dünger zu extrem niedrigen Preisen durch Privatfirmen aufkauften und zu den üblichen Weltmarktpreisen weiter verkauften. Ab September 1995 wurde Chodorkowski zudem noch Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Rosprom, des zentralen russischen Industrie-Entwicklungs-Konzernes.
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Aufstieg von YUKOS
Im Dezember 1995 wurde eine Auktion durchgeführt, in der 45 % der Aktien der Ölfirma YUKOS angeboten wurden. Vermittelt über die Menatep-Bank konnte Chodorkowski die Aktien und die damit verbundenen Investitionsverpflichtungen für 350 Millionen Dollar, freundlich formuliert, zu extrem günstigen Bedingungen an sich bringen. Gleich nach der Übernahme erwarb er über Menatep im Frühling 1996 weitere 7,06 Prozent von YUKOS in einer erneuten Auktion. Im Herbst 1996 erweiterte YUKOS sein Aktienkapital; mit dem Erlös aus den ausgegebenen neuen Aktien wurden die Holdinggesellschaft und ihre Tochtergesellschaften refinanziert.
Jelzins erster Premierminister Jegor Gaidar, der Pate der russischen Privatisierungskampagne und der Einführung der sog. freien Marktwirtschaft unter Jelzin, sagte in einem Interview mit der New York Times über Geschäftsleute, die zu teilweise lächerlichen Preisen russische Staatsbetriebe übernommen hatten: „Selbstverständlich gab es Verletzungen (des Gesetzes). Aber vor allem wegen fehlender Klarheit über diese Gesetze … Es gibt keine reichen Engel in Russland. Alle haben eine Reihe Gesetze gebrochen und eine Menge schlechter Dinge getan um ihr Vermögen aufzubauen. Innerhalb der verschiedenen Industriezweige wurden viele getötet. Die meisten großen Vermögen sind mit Tötungsdelikten verbunden“. Chodorkowski, kommentiert Kreuzenbeck das von ihm vorgestellte Zitat, wurde der reichste und mächtigste der russischen Oligarchen:
Ab April 1996 war Chodorkowski der erste Vizepräsident der Ölgesellschaft YUKOS. Seit Juni 1996 hatte er die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden des wachsenden Konzerns. Im Februar wurde er zusätzlich zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Betriebsgesellschaften Rosprom ernannt. Nach der Neuorganisierung von YUKOS wurde Chodorkowski Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft YUKOS-Moskau. Von November 1999 bis Oktober 2000 war er Mitglied des Aufsichtsrats im Ministerium für Treibstoff und Energie der Russischen Föderation. Ab Oktober 2000 engagierte sich als ein führendes Mitglied in der Russischen Union der Industrieführer und Geschäftsleute. Alles in allem eine nützliche Zusammenführung von Funktionen in einer Person.
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Neuer Wind unter Putin
Die Ablösung Boris Jelzins durch Wladimir Putin im Frühjahr 2000 brachte einen politischen Richtungswechsel in Russland. Wladimir Putin betrat die Arena mit der Ankündigung, eine „Diktatur der Gesetze“ schaffen zu wollen. Das richtete sich unmissverständlich gegen die wilde und zum Teil sogar kriminelle Privatisierung. Sie wurde als „Prichwatisierung“, das heißt Raub, vom Volksmund eindeutig klassifiziert. Während Chodorkowski zu Jelzin und den von ihm eingesetzten Regierungen ein sehr enges Verhältnis hatte, einerseits Jelzins Protegé war, diesem andererseits 1996 mit seinem Kapital zur Wiederwahl verhalf, also eine Hand die andere wusch, entwickelte sich das Verhältnis zu Putin von Anfang an im Konflikt: Chodorkowski unterstützte Parteien, die in Opposition zu Putin standen – neben der kleinen liberalen Partei Yabloko auch die die kommunistische Partei der russischen Föderation, KPRF. Jabloko bestätigte die Unterstützung durch YUKOS öffentlich, während sowohl Chodorkowski als auch die Kommunistische Partei jegliche Verbindung miteinander dementierten. Ein weiterer YUKOS-Großaktionär jedoch, Sergej Muravlenko, war aktiver Unterstützer der KPRF, ohne dass dies dementiert wurde.
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Wende 2003: Chodorkowski verhaftet
Im Jahre 2003 war Chodorkowski einer der reichsten Männer der Welt (Nr. 26 auf der Forbes-Liste, die im folgenden Jahr veröffentlicht wurde). YUKOS war nach der Fusion mit Sibneft die viertgrößte Ölgesellschaft der Welt. „Chodorkowski präsentierte sich in der Öffentlichkeit“, so erzählt Kreuzenbeck, „als moderner Geschäftsmann, der seine Betriebe in einer offenen und westlichen Weise leitete und die Gesetze befolgte, also als zäher, aber gerechter Industriekapitän. Er war der erste Oligarch, der sich in die Bücher schauen ließ – allerdings nur in die der letzten Jahre und offensichtlich nicht in alle. Der ganze Konzern wurde in dieser Weise zurechtgetrimmt, damit er für ausländische Investoren attraktiv würde. Die YUKOS-Führung polierte ihr Englisch, heuerte teure ausländische PR-Firmen an und peppte ihre öffentlichen Statements mit Phrasen wie TRANSPARENCY und WESTERN CORPORATE GOVERNANCE auf.“
Eine ganze Reihe Amerikaner zogen ins oberste Management ein; Teile des Konzern wurden bereits aus New Yorker Büros geführt. Im Frühjahr 2003 schickte Chodorkowski sich an, große Teile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco zu verkaufen. Es ging um eine bis zu 50% Übernahme. Bestandteil der Verhandlungen war auch der Bau eines eigenen Pipeline-Netzes, mit dem das staatliche russische Monopol über die Ölpipeline gebrochen werden sollte, um das Öl am russischen Fiskus vorbei auf den Weltmarkt lenken zu können. Hinzu kam die Einrichtung einer Reihe von ausgelagerten Offshore-Niederlassungen im Ausland, die dem gleichen Zweck dienten. Gigantische Kapitalmengen verließen auf diese Weise das Land. Der Verkauf hätte den Konzern dem Zugriff des russischen Staates faktisch entzogen. Beobachter sprachen damals von einer „Art eigener Außenpolitik“, die Chodorkowski entwickle. Der „Spiegel“ nannte ihn einen, „gehobenen Perspektiv-Agenten“ der USA.
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Erinnerung an den strategischen Hintergrund
Als Hintergrund hierzu muss noch einmal auf die von Zbigniew Brzezinski und anderen formulierten strategischen Zielsetzungen der USA verwiesen werden, die Entscheidungen um die neue Weltordnung auf dem „eurasischen Schachbrett“ zu suchen. Dem entsprach ein taktischer Doppelschritt in der Zeit des ausgehenden kalten Krieges: Der erste Schritt bestand darin, die Sowjetunion in die „Afghanistan Falle“ laufen zu lasen, um sie politisch und wirtschaftlich zu destabilisieren, die zweite zielte darauf – nachdem der erste gelungen war, wie Brzezinski sich später öffentlich rühmte[2] – das nachsowjetische Russland durch „Demokratisierung“ und „Internationalisierung“ der Ölförderung wie auch des Ölhandels von ihrem aus Sowjetzeiten stammenden Monopol auf die eurasischen Ölquellen zu trennen. Mit der Auflösung der Sowjetunion war eine veränderte Weltlage entstanden: Ihr Kern ist die Neuaufteilung des Zugriffs auf die Weltressourcen an fossilen Rohstoffen, die bis zur Auflösung der Sowjetunion unter deren Verfügung standen, des Zugriffs also auf die kaukasischen, zentralasiatischen und auf die russischen Öl-Felder und Gas-Vorkommen. Von ihrer Ausbeutung versprechen sich die Regierungen der Industrienationen, die fossile Brennstoffe heute als Grundlage ihrer zukünftigen Existenz betrachten, eine größere Unabhängigkeit von der OPEC, insonderheit von den Ländern am persischen Golf, bzw. niedrigere Preise durch die erweiterte Konkurrenz wischen den Energie-Rohstoffe produzierenden Ländern. Die neue Geografie der Versorgung wird auf den Karten der Globalstrategen als „strategische Ellipse“ beschrieben. Achtzig Prozent der fossilen Brennstoffe konzentrieren sich in diesem Gebiet, das sich vom persischen Golf über den kaspisch-kaukasischen Raum bis ins mittlere Russland hinein erstreckt.
Anders als die USA, die ihren Anspruch auf den privilegierten Zugriff auf die Weltressourcen, insbesondere auf die neu zugänglichen des eurasischen, also kaspischen, kaukasischen und auch russischen Raums durch ihren Altstrategen Zbigniew Brzezinski unmissverständlich formulierten und in ihrer Politik mit dem Versuch einer systematischen Einkreisung, Neutralisierung und Isolierung Russland seither gezielt umzusetzen bestrebt sind[3], tat Europa sich bisher schwer, eine einheitliche Strategie zu finden. Europa schwankt zwischen einem privilegierten Zusammengehen mit Russland gegen den Verfügungsanspruch der USA und einem Zusammengehen mit den USA gegen das Monopol Russlands, um damit der eigenen Abhängigkeit von den Energielieferungen Russlands entgegenzuwirken: Strategische Partnerschaft von EU und Russland auf der einen Seite, Entwicklung eines Korridors von Europa nach Zentralasien, der Russland bewusst ausgrenzt und von seinen Ressourcen im Kaukasus, in Zentralasien und im Iran trennt, auf der anderen.[4] Kurz gesagt, in der EU-Politik weiß die Linke, die Zusammenarbeit will, offenbar nicht, was die Rechte tut, die auf Konfrontation im Nachtrab zur USA setzt. Man könnte auch vermuten, dass bewusst eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche gefahren wird. Angesichts der Zerstrittenheit der erweiterten EU in der Beziehung zu Russland wäre das aber vermutlich eine Überschätzung der strategischen Fähigkeiten der EU-Bürokratie.
Ergänzend zu all dem der Hinweis: Condoleeza Rice, die heutige Außenministerin des Kabinetts Bush, war vor ihrer Ernennung zur Nationalen Sicherheitsberaterin zehn Jahre lang im Aufsichtsrat von Chevron tätig. US-Vizepräsident Richard Cheney nahm eine Schlüsselposition bei den Verhandlungen um die Neu-Verteilung des Zugriffs auf das kaspische Öl ein; im Caspian Pipeline Consortium spielte Chevron die stärkste Rolle.
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Putins „Kommando“ im Angriff
Als Chodorkowski sich im Frühjahr 2003 auch noch auf die Seite der US-Kriegspläne gegen den IRAK stellte, ging die russische Regierung gegen ihn vor: Im Mai veröffentlichte der „Rat für nationale Sicherheit (SNS) einen Bericht über eine „Verschwörung einiger Oligarchen zur Machtergreifung in Russland“. Wenige Wochen später wurde Alexej Pitschugin, der Sicherheitschef von YUKOS, wegen Anstiftung zum Dopppelmord festgenommen, Anfang Juli dann Platon Lebedew wegen der unrechtmäßigen Aneignung von 283 Millionen Rubel (8 – 9 Millionen Euro) des Chemieunternehmens Apatit. Im September kaufte Chodorkowski die bis dahin liberale Zeitung „Moskowski Nowosti“, um den Angriffen publizistisch entgegenzuwirken. Im Juni 2003 begann der russische General-Staatsanwalt seine Nachforschungen in der YUKOS-Sphäre. Im Oktober wurde Chodorkowski selbst verhaftet und Anklage gegen ihn erhoben.. Die Staatsanwaltschaft legte ihm Gesetzesverstöße in sieben Fällen zur Last begangen als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, unter anderem Unterschlagung, Steuerhinterziehung, betrügerische Übernahme der Apatit-Aktien; außerdem habe er über Offshorefirmen auf betrügerische Weise in die eigene Tasche gewirtschaftet. Die Rechnung, die die Staatsanwalt aufmachte, belief sich auf über einer Milliarde US-Dollar.
Chrystia Freeland, Vize-Herausgeberin der Financial Times, so Kreuzenbeck, schrieb in ihrer Zeitung nach der Verhaftung Chodorkowskis über dessen Eigenschaften als Geschäftsmann: ”Chodorkowski zeigte eine Aggressivität und Raffiniertheit, die selbst jene Geschäftsleute in Erstaunen versetzte, die sich normalerweise durch nichts überraschen lassen. Minoritätsaktionäre wurden mit massiver Ausdünnung ihrer Werte bedroht. Ein komplexes Netz von mysteriösen Offshore-Gesellschaften wurde kreiert. Technische und physische „Straßensperren“ wurden errichtet, um zu verhindern, dass Investoren mit abweichender Meinung auf wichtigen Aktionärsversammlungen ihre Stimme abgeben konnten“.
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Opponent gegen Putin
Chodorkowski als möglicher Präsidentschaftskandidat
und Verteidiger der Freiheit…
Nach seiner Verhaftung wurde Chodorkowski als möglicher Anti-Putin-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2004 aufgebaut. KP-Sekretär Gennadij Zhuganow erklärte, er könne sich eine Kandidatur von Millionären auf der Liste der KP durchaus vorstellen, allerdings ohne Chodorkowski direkt zu nennen. Der Pressesprecher der Kommunisten, Ilja Ponomarjow, der von 1998 bis 2002 eine Führungsposition bei YUKOS innehatte, sah in einer eventuellen Kandidatur Chodorkowkijs eine Möglichkeit für ihn politische Immunität zu erhalten: ”Ist er als Kandidat registriert, wird man ihn freilassen müssen“. Auch der Oligarch Boris Beresowskij äußerte sich aus seinem Londoner Exil positiv über eine mögliche Kandidatur Chodorkowskis.
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Kritik des Liberalismus
Aus Chodorkowskis Kandidatur wurde jedoch nichts. Stattdessen meldete er sich nach der Wahl, die einen starken Machtanstieg Putins gebracht hatte, mit einem radikalen Aufsatz zur „Krise des Liberalismus“, in dem er die Umverteilungspolitik der Liberalen als gescheitert und als Raub am Volksvermögen kritisierte. Die Liberalen hätten 90% der Bevölkerung getäuscht, so Chodorkowski, hätten die Augen vor der russischen Wirklichkeit verschlossen, als sie mit einem Federstrich die Privatisierung beschlossen. Sie hätten keinen Gedanken an die Sparguthaben der Bevölkerung verschwendet, sich nicht um eine Bildungsreform gekümmert, soziale Stabilität und sozialen Frieden außer Acht gelassen. Als einer der größten Sponsoren habe er selbst in der der Wahl 1996 bereits für ein Bündnis der Liberalen mit den Kommunisten plädiert, sei aber nicht gehört worden. Nun komme „die Stunde der Buße“.
Chodorkowski verblüffte die Öffentlichkeit mit einer harschen Selbstkritik: „Für mich ist Russland meine Heimat“, schrieb er: „Hier möchte ich leben und sterben und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit in die Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber spät als nie.“
Chodorkowski forderte eine „neue Strategie der Zusammenarbeit“ von Unternehmern und Staat, er forderte, die „Wahrheit in Russland und nicht im Westen“ zu suchen und „auf(zu)hören, die Legitimität des Präsidenten in Frage zu stellen.“. Die Unternehmer müssten gezwungen werden mit dem Volk zu teilen, die Privatisierung müsse vor der Bevölkerung legitimiert werden, zum Beispiel durch eine „Besteuerung der Rohstoffe und andere Schritte“. Und schließlich erklärte er, ganz Staatsmann: „Es ist besser, derlei Schritte selbst zu unternehmen und sie dadurch zu beeinflussen und steuern zu können, als zum Opfer eines blinden Widerstandes gegen das Unausweichliche zu werden.“
Das Schreiben endete mit der Forderung, dass Geld in echte zivilgesellschaftliche Strukturen investiert werden müsse.
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Linke Wende
Im August 2005 legte Chodorkowski mit einer weiteren Erklärung nach, in welcher er eine linke Wende für Russland prognostizierte. Er prognostizierte, dass in der Bevölkerung Russlands als Reaktion auf die Jahre der räuberischen Privatisierung und der darauf folgenden autoritären Modernisierung putinschen Typs nunmehr eine Linkswendung bevorstehe und rief die verbliebenen Liberalen, Neu- und Alt-Linken dazu auf, unter Führung der National-Linken ‚Rodina’ (Heimat) sowie der Kommunistischen Partei und in Zusammenarbeit mit einer nach links geöffneten vereinigten liberalen Szene eine Front gegen das autoritäre Regime Putins zu bilden. Chodorkowski scheute sich dabei nicht, Oligarchen wie sich selbst, als Räuber und Betrüger zu bezeichnen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion in krimineller Weise auf Kosten des Volkes bereichert hätten und denen nunmehr soziale Verantwortung abzuverlangen sei.
Man mag von Chodorkowski halten, was man will, seine Analyse der russischen Entwicklung ist bemerkenswert: Die von ihm geschilderte räuberische Privatisierung unter Jelzin, danach die autoritäre Modernisierung Putins hat zwar die Linke, ebenso wie die Liberalen bis hin zu deren verheerender Wahlniederlage bei der Wahl zur Duma im Jahr 2004 zur Marginalie werden lassen, in weiten Kreisen der Bevölkerung aber die latente Resistenz gegen die marktorientierte Westwendung in zunehmend offene Proteste verwandelt. Eine soziale und politische Polarisierung der russischen Gesellschaft in eine von der putinschen Büroklatur repräsentierte Mitte und sich radikalisierende Ränder der Gesellschaft sind unübersehbar. Auf der linken Seite sind neue Führungsfiguren wie der national und sozialistisch argumentierende Gennadij Glasjew aufgetaucht; die neue Linke sammelt sich in informellen Zirkeln wie dem russischen „Sozialforum“, Anti-Globalisierungs-Zirkeln usw. Die Liberalen, also die Union Rechter Kräfte (SP) und die Jawlinski-Partei ‚Jabloko’, seit ihrer Gründung 1991 in Rivalitäten zerstritten, haben beschlossen, ihre Streitigkeiten in Zukunft beiseite zu lassen. Ein Komitee des bekannten Schachspielers Garri Gasparow stellt sich als pro-westliche Alternative zu Putin für die Präsidentenwahlen des Jahres 2008 auf.
Die von Michail Chodorkowski prognostizierte Linkswende bleibt allerdings potentiell, solange es der Regierung gelingt, ihre Renten-, Stipendien und sonstigen Fürsorgeansprüche mit den neuerdings wieder einfließenden Öl- und Gas-Dollars zu beschwichtigen. Hier stimmen zwar Chodorkowskis Analysen, seine damit verbundenen Ambitionen beißen sich jedoch ganz mächtig in den eigenen Schwanz, denn diese Politik der Regierung ist nur möglich, weil, seitdem und solange es ihr gelingt, die Einnahmen aus dem Verkauf der Ressourcen, vor allem an Öl und Gas, in die Staatskasse zu lenken, und das heißt vor allem anderen ganz konkret, weil es ihr gelingt, durch ihr Vorgehen gegen den Raub-Privatisierer, Steuerbetrüger und Offshore-Spekulanten Chodorkowski die Ressourcen des Landes ansatzweise wieder in den Griff zu bekommen. Chodorkowskis Aufruf zur Linkswende entpuppt sich damit unversehens als Anklage in eigener Sache, bzw. schlichtweg als widersprüchlich oder wie es die Web-Zeitung ‚russland.ru’ an anderer Stelle formulierte: ‚Seine Überlegungen haben nur den Haken, dass es ihnen an Legitimität fehlt.’
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Das Verfahren
Kein Zweifel, das sei hier deutlich betont, um jedes Missverständnis auszuschließen, die Art und Weise des Verfahrens – angefangen bei der martialischen Verhaftung Chodorkowskis durch vermummte Sonderkommandos bis hin zum drakonischen Urteil von neun Jahren Lagerhaft – entsprach nicht den Menschenrechtstandards der UNO oder dem EU-Wertekanon. Folgerichtig erklärte Amnesty International Chodorkowski nach anfänglicher Weigerung zum politischen Gefangenen.
Bedauerlicher Weise jedoch, am Ende möglicherweise sogar zu Chodorkowskis eigenem Leidwesen, wurde er Objekt einer politischen Kampagne, die Töne des kalten Krieges gegen Russland neu auflegte. Es begann wieder einmal mit einem Artikel Zbigniew Brzezinskis, Unter der Überschrift „Der Moskauer Mussolini“. („The Wall Street Journal, 20.9.2004) verbreitete dieser im September 2004 nach der Wiederwahl Putins zum Präsidenten die Behauptung, Putin versuche in Russland einen Faschismus nach dem Muster Mussolinis aufzubauen; Russland entwickle sich zu einem `faschistischen Erdölstaat`.
Brezinskis Stichwort des „faschistischen“ Russland wurde von Neo-konservativen Amerikas aufgegriffen. Bruce Jackson, Reisender in Sachen „Project on Transsitional Democracies“ griff zusätzlich noch zum Knüppel des Antisemismusvorwurfs: Wörtlich: „Seit Putin gewählt wurde, waren alle führenden Figuren, die wegen Wirtschaftsverbrechen exiliert oder arretiert wurden, jüdisch. In Dollar gerechnet, sind wir Zeugen der größten illegalen Enteignung von jüdischem Kapital seit der Nazi Beschlagnahmung in den 30gern…. „ Und weiter zu Chodorkowski: „Die Inhaftierung eines Mannes hat uns das Signal gegeben, das unsere gut gemeinte Russland Politik gescheitert ist. Wir müssen nun erkennen, das eine massive Unterdrückung von Menschenrechten stattgefunden hat und die Errichtung einer Administration in Moskau vom Typ eines de-facto Kalten Kriegs.“ (Washington Post, 28.10. 2003)
Es folgte der „Offene Brief“ an die Führungen von NATO und EU am 28.9.2004, der von 150 Personen aus Europa und den USA, u.a. der Führung der Grünen, unterzeichnet wurde. Unter Benutzung von Menschrechtsrhetorik griff er direkt in die russische Politik ein und forderte die Unterstützung der „demokratischen Kräfte“ in Russland. Unter den Unterzeichnern waren eine Reihe bekannter neo-konservativer Amerikaner. Am 5. Oktober 2004 legte die Grüne Böllstiftung mit einem weiteren „Aufruf für Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Fall Chodorkowski“ und der Durchführung einer Solidaritätsveranstaltung für Chodorkowski in Berlin nach, ebenfalls mit unterzeichnet und getragen von einer Reihe von US Neo-Konservativen.
Zum besseren Verständnis ist noch einmal daran zu erinnern, dass Chodorkowski, allen patriotischen Beteuerungen zum Trotz, am Beginn des Jahres 2003 drauf und dran war, den Öl-Giganten YUKOS durch die Fusion mit SIBNEFT, CHEVRON und EXXON zu einem Multinationalen Konzern zu erweitern, der sich dem Zugriff der russischen Staatlichkeit zu entziehen anschickte. Seine politischen Verbindungen in die USA hatten sich entsprechend entwickelt: In der International Herald Tribune wurde derzeit berichtet, Chodorkowski versuche mit viel Geld, sich Zutritt zu den geschlossenen Zirkeln Washingtons zu verschaffen. Dafür soll er seit 2001 jedes Jahr 50 Millionen Dollar aufgewendet haben, davon eine Million für die US-Kongressbibliothek und 500.000 Dollar für die Carnegie-Stiftung – die ihrerseits NGOs in Russland davon finanzierte. Chodorkowski verteilte großzügige Spenden an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner eigenen Stiftung „Offenes Russland“ für einflussreiche US-Amerikaner wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Henry Kissinger oder den britischen Bankier Lord Rothschild. Erinnert werden muss auch noch einmal daran, dass er in den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg im Interesse der YUKOS-Expansion gegen die Schröder-Chirac-Putin-Ablehnungs-Front für eine russisch-amerikanische Kriegs-Allianz agierte.
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Berufungsverfahren
Die russische Staatsanwaltschaft ließ sich durch die Kritiken nicht aufhalten. Im Mai 2005 wurde Chodorkowski in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden und zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Jukos wurde die Erstattung der Steuerschulden in einer Höhe auferlegt, die praktisch zur Liquidation des Konzerns führen mussten. Davor rettete ihn nur die Versteigerung eines seiner einträglichsten Zweige, des Yoguskneftegas, der in den Besitz einer bis dahin unbekannten Baikal-Finanz-Gruppe überging. Chodorkowski selbst hatte seinen Platz im Aufsichtsrat von YUKOS schon vorher geräumt. Damit war das YUKOS- Imperium praktisch zerschlagen. Chodorkowskis strengte sofort ein Berufungverfahren an, mit dem er sich zugleich die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Nachwahl zum Unterhaus der russischen Staatsduma und damit Immunität sichern wollte. Doch noch bevor es zur dieser Wahl kommen konnte, wurde das Berufungsverfahren von der Staatsanwaltschaft abgeschmettert. Das Gericht hielt das Urteil wegen Betrug und Steuerhinterziehung aufrecht, nur in einem Punkt, der Veruntreuung von zwei Milliarden Rubel aus dem YUKOS-Vermögen, erklärte es das erstinstanzliche Urteil für nichtig. Die neun Jahre Haft aus der ersten Instanz wurden auf acht reduziert; die allerdings muss Chodorkowski nunmehr im offenen Lagervollzug antreten. Bei guter Führung kann er auf der Hälfte entlassen werden. Seine Anwälte kündigten an, sowohl beim russischen Verfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof noch einmal in die Berufung gehen zu wollen.
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Erneuerung á la Chodorkowski?
Nach seiner Verurteilung meldete Chodorkowski sich aus seiner soeben angetretenen Lagerhaft nahe der sibirischen Stadt Tschita erneut mit einer öffentlichen Erklärung, dieses mal mit einem „Programm der radikalen Modernisierung Russlands bis zum Jahr 2020“ zu Wort. Darin bringt er sich mit Vorschlägen für die Zeit nach Putin in Position.
Angemerkt werden muss an dieser Stelle, daß Chodorkowski entgegen Spekulationen, die man nach dem Prozess lesen, sehen und hören konnte, die russische Regierung wolle ihn nach dem Prozess verschwinden lassen, gleich in den ersten Tagen seiner Einlieferung ins Lager einen dreitägigen Besuch seiner Frau empfing, den ersten seit seiner Inhaftierung vor zwei Jahren. Mit seinen Rechtsanwälten erörterte er ein Berufungsverfahren. Neben einer Arbeit als Näher in der lagereigenen Kleiderproduktion, die er zwei Stunden am Tag ableisten muss, wird er eine Tätigkeit als Lagerdozent ausüben können; er kann TV und Kühlschrank beantragen, Presse abonnieren; von fünfzig Zeitungen ist die Rede, der er sich bestellt habe. Bei guter Führung, ließ die Lagerleitung mitteilen, bestehe die übliche Chance auf frühzeitige Entlassung, kurz, er ist ein ganz normaler, aber prominenter Häftling.
Scharf greift Chodorkowski in seiner Erklärung den Präsidenten Putin an: Der stehe einem Apparat von Schmarotzern vor, die unfähig seien, das Land zu modernisieren. Die einzige Frage, die sie bewege, laute, wie man möglichst schnell etwas vom Staat bekommen könne. Aber dieser parasitäre Ansatz trage nicht mehr; das Land brauche eine neue Elite, welche die Regierung nach Putins Ausscheiden im Jahr 2008 übernehmen könne. Sie müsse ihre Aufgabe in einem langfristigen Aufbau des Landes und nicht wie bisher in der bloßen Umverteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten sehen.
Die neue Elite werde mit einer Reihe objektiver Probleme konfrontiert sein: der demographischen Schrumpfung des Landes, dem Verschleiß der Infrastruktur, dem Zusammenbruch des Maschinenbaues, der Krise des Rüstungskomplexes, dem Verlust der Kontrolle Moskaus über den Kaukasus, dem Zusammenbruch der Streitkräfte usw. Statt einer Politik der „vertikalen Macht“ brauche das Land eine föderale Ordnung, die den Regionen mehr Kompetenzen zubillige und die Selbstverwaltung stärke. Eine „Ökonomie des Wissens “ müsse Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen entwickeln. Der Staat müsse Familien fördern, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuarbeiten, mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben, anstatt sich nur auf seine Energieressourcen zu verlassen. Das größte Problem sieht Chodorkowski im „brain drain“ des Landes, der gestoppt werden müsse. Das Kaderproblem sei aber lösbar: „Schaut, was ich aus YUKOS gemacht habe“, erklärt er selbstbewusst. Die Geschichte von YUKOS zeige doch, dass eine Ausbildung neuer Kader und eine Modernisierung möglich sei.
Zur Finanzierung schlägt Chodorkowski die Einführung einer doppelten Steuer vor. Auf bereits privatisiertes Volksvermögen möchte er eine Privatisierungssteuer erheben. Das werde dem Staat das nötige Geld einbringen, den Zahler zugleich als legitimen Eigentümer ausweisen und damit die Eigentumsverhältnisse des Landes stabilisieren. Zum Zweiten spricht Chodorkowski sich für eine Ressourcensteuer aus, welche die private Ausbeutung und Verschwendung der Ressourcen unterbinde. Aus den Einnahmen beider Steuern könne der Staat die Kosten für die Wiedereinführung der traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie kostenlose medizinische Versorgung, Ausbildung problemlos tragen, bevor die 90% der Armen das in die eigenen Hände nähmen.
Dies alles sieht nach ernsthaften Versuchen des ehemaligen YUKOS-Managers aus, sich aktiv in die Gestaltung der russischen Politik einbringen zu wollen. Vom Vorstand des Unternehmverbandes ist er aus eigenen Stücken mit der Begründung zurückgetreten, er sei nach dem Ausscheiden aus den YUKOS-Aufsichtsräten kein Unternehmer mehr, sondern eine Privatperson und als solche wolle er sich mit ganzen Kräften dem sozialen und demokratischen Aufbau des Landes widmen.
„Mir persönlich hat Russland viel gegeben“, schreibt Chodorkowski, „in den 70er und 80er Jahren bekam ich eine Ausbildung, auf die man stolz sein kann. In den 80er Jahren machte es mich (Laut ‚Forbes’) zum reichsten postsowjetischen Menschen. Im zurückliegenden Jahrzehnt nahm es mir aber das Eigentum weg und steckte mich ins Gefängnis, wo es mir die Möglichkeit bot, eine weitere Ausbildung zu bekommen – dieses mal eine gesamtmenschliche und humanitäre.“
Das klingt prinzipiell: Wurde aus Saulus ein Paulus? Diese Frage muss offen bleiben. Angesichts der Umstände, unter denen er seine bisherigen Positionen gegen den Liberalismus und für eine linke Wende nunmehr in einem politischen Programm konkretisiert, darf man jedoch annehmen, dass er für sich mit einer führenden Position in einem solchen Bündnis rechnet.
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Der neue Stand
Offen ist auch, wie lange Michael Chodorkowski tatsächlich sitzen muss. Sicher ist dagegen, dass die Zerschlagung des YUKOS-Konzerns ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung um die Verfügungsgewalt über die russischen Gas- und Ölressourcen eröffnet hat. Aktuelles Signal dafür ist der, parallel zum Abschluss des Prozesses gegen Chodorkowski, vollzogene Verkauf des Öl-Multis SIBNEFT an den halbstaatlichen Gasgiganten GAZPROM. Mit den beiden Megadeals, YUGANSKNEFTEGAZ noch während des Prozesses, SIBNEFT nach dem Prozess, baute GAZPROM seinen Marktanteil im Ölsektor kontinuierlich aus. Er stieg binnen eines Jahres von rund sechs auf über 30 Prozent. Dafür bezahlte der Staat 22,5 Mrd. Dollar. Im November 2005, gab GAZPROM bekannt, am Aufkauf weiterer Gruppen interessiert zu sein. Dieses mal war es SLAWNET. Mit diesem Kauf würde der Kreml seinen Einfluss im Ölsektor weiter erhöhen; GAZPROM würde mit diesem Schritt etwa 15 Prozent der russischen Ölförderung kontrollieren. Mit dieser Entwicklung wurde Russland hinter Saudiarabien zum zweitgrößten Ölförderer der Welt..
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Punktsieg für Putin
Die Zerschlagung des YOKUS Konzerns und Verurteilung Michail Chodorkowskis, ist, wie immer man die Methoden beurteilen mag, mit denen die Auseinandersetzung geführt wurde, ein Etappensieg für Wladimir Putins erklärtes Ziel, Russland auf dem Weg einer eigenständigen Entwicklung zu re-stabilisieren, und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen konnte Russland mit der Zerschlagung von YUKOS den Versuch des Westens insonderheit der USA zurückweisen, Russland auf dem Umweg über eine „Internationalisierung“ dieses Konzerns die Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen zu entreißen.
In einer bemerkenswerten Analyse der Web-Plattform ‚Saar-Zeitung’ wird darüber hinaus die äußerst pikante Vermutung vorgebracht, Michail Chodorkowski sei – ungeachtet seiner eigenen Motive – nur ein Spielball westlicher Intrigen gewesen. Man habe ihn von dieser Seite jahrelang aufgebaut und in seine illegalen Finanztransfers unterstützt, aber in dem Augenblick der russischen Justiz ausgeliefert, als man sicher zu sein glaubte, durch seine Verhaftung in den Besitz der Konzernmehrheit zu kommen. Grundlage für dieses Vorgehen, so diese durch Geheimdienstdossiers belegte Variante, lägen in den Statuten der Finanzgruppe Menatep, in der die YUKOS-Eigentümer ihren Besitz organisiert hätten. Danach hatte Chodorkowski im Falle seines Todes, einer Entführung, Haftstrafe oder beim Verlust eines wichtigen YUKOS-Teilbetriebes seine Rechte an YUKOS abzugeben, wie die Moskauer Wirtschaftszeitung ‚Wedemosti’ berichtet hatte. Belastendes Material, das gegen Chodorkowski wie gegen alle Oligarchen jederzeit ausreichend vorlag, habe man der russischen Regierung zu einem Zeitpunkt zugespielt, als der Konzern seine größte Ausdehnung gefunden habe. Als Überbringer des „Kompromats“, d.h. der kompromittierenden Dossiers, habe der deutsche BND fungiert. Dadurch habe man die russische Regierung zum Handeln, d.h. eben auch zur Teilenteignung zwingen wollen. Wladimir Putin habe diese Pläne jedoch erkannt und durchkreuzt, indem er die Anklage zwar habe erheben, den Prozess aber so lange habe hinauszögern lassen, dass die russische Regierung Zeit genug finden konnte, den wichtigsten Teilbetrieb von YUKOS, Yuganskneftegas, durch eine fingierte Auktion zu übernehmen, so dass der bei Chodorkowski verbleibende Rest von YUKOS-Anteilen nur noch eine relativ wertlose Hülle blieb. Danach erst sei der Prozess gegen ihn beschleunigt worden. Manches spricht für eine solche Manipulation; wer sich ein genaueres Bild von diesem Global-Krimi machen möchte, lese den ganzen Bericht der ‚Saar-Zeitung’. (www.saar.echo.de)
Aber auch ohne abenteuerliche Konkretisierungen dieser Art sind die Interessen in der YUKOS-Angelegenheit so offenkundig, dass von westlicher Seite heute unisono festgestellt wird, Putin habe die Ressourcen „re-nationalisiert“. Das stimmt allerdings nur in dem Sinne, dass die russische Regierung sich als Mehrheitsaktionär in die russische Öl-Gas-Branche eingekauft hat. Von Re-Nationalisierung im Sinne einer allgemeinen Rückführung der Privatisierung ist nicht die Rede; im Gegenteil erklärt Wladimir Putin bei jeder Gelegenheit, dass die privaten Besitzrechte in Russland heute gewahrt seien und auch in Zukunft gewahrt werden sollen.
Der zweite Effekt des YUKOS-Prozesses ist die faktische Bewältigung der russischen Budgetkrise, indem Russlands Oligarchen durch das Vorgehen gegen YUKOS dahin gebracht wurden, ihre Steuern wenigstens teilweise zu bezahlen und die gigantischen Off-shore Verbindungen aufgedeckt und zum Teil unterbunden wurden, über die die potentiellen Steuergelder der russischen Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken durch Dumpinggeschäfte an der russischen Staatskasse vorbeigeleitet wurden. Im Ergebnis des Prozesses und seiner Wirkung auf die übrigen Oligarchen Russlands verfügt der russische Staat jetzt über ausreichend Gelder, die von ihm vorgenommenen Reformen politisch durch große sowie sozial durch kleine Bestechungsgelder abzufedern und so Proteste zu unterlaufen. Der russische Präsident wies die Regierung sogar an, über eine Amnestie der früheren Steuersünder nachdenken.
Das eine wie das andere, die Wiedereingliederung der russischen Ressourcen in die staatliche Verfügung über GASPROM, ROSNEFT und andere russische Unternehmen mit staatlicher Beteiligung wie auch die Füllung des russischen Budgets richtet sich unmittelbar gegen die Politik der strategischen Schwächung Russlands durch Intervention in die wirtschaftliche und politische Souveränität Russlands, wie sie die von den USA betrieben wird und in abgestuftem Maße auch von der EU, die damit ihre eigene Abhängigkeit von russischen Rohstoffen „sicherheitspolitisch“ kompensieren will.
Statt sich selbst über die „Internationalisierung“ von YUKOS den Zugriff auf die russischen Ressourcen und damit auch den Einfluss auf die innenpolische Situation Russlands verschaffen zu können, mussten die USA nicht nur mit ansehen, wie es Wladimir Putin gelang, dem russischen Staat den verlorenen Zugriff wieder zurückzuholen, sie mussten auch erleben, dass die schnell gegründete Baikal-Finanz-Gruppe, die Yuganskneftegas ersteigerte, mit chinesischen Krediten ausgestattet wurde, wofür sich China privilegierten Zugang zu russischem Erdöl ausbedang. Damit ist Wladimir Putin eine entscheidende Weichenstellung im neuen Spiel um die eurasischen Ressourcen gelungen, die ihm Freiraum gibt, seinen Kurs der autoritären Modernisierung fortsetzen, mit dem er Russland zu einer unabhängigen Kraft zwischen Ost und West machen will
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Aussichten:
Vom Kampf um den materiellen Zugriff aufs Öl
zum Kampf um den ÖL-Dollar
Dies ist aber nur eine Etappe in der aktuellen Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt nach dem Ende der Systemteilung des letzten Jahrhunderts, weitere und möglicherweise schärfere Auseinandersetzungen um den Zugriff auf die eurasischen und andere Ressourcen werden mit Sicherheit folgen.
Die „SAAR-Zeitung“ schrieb dazu:
„Mit dem Schuldspruch gegen Chdorkowski wird deutlich, daß russische Außenpolitik wieder eine eigene Kontur annimmt, Russland beginnt, sein eigenes geopolitisches Konzept durchzusetzen. Gegen den Interventionismus der US Politik – wie er in der Brzezinksi-Doktrin zum Ausdruck kommt – setzte Putin ein Konzept des behutsamen multipolaren Pluralismus, der sowohl Asien als auch Europa einbezieht und Russland als Integrationsknoten einer Multipolaren Ordnung begreift. „Das Urteil gegen Chodorkowski kennzeichnet dabei den sichtbaren Wendepunkt in der russischen Außenpolitik, die plötzlich nicht mehr konzeptionslos erscheint“ Es sieht so aus als könne der „eurasische Spagat“ gelingen.“ (Saarzeitung, 16.05.2005)
Die Ereignisse, die den „Fall“ Chodorkowski begeleiteten, sprechen für sich:
– Der Irak-Krieg und seine Folgen.
– Die beginnende Diversifizierung der weltweiten Leitwährung.
– Die Initiativen für ein „Neues Bretton Woods“, das heißt, für internationale Kontrolle der globalen Kapitalflüsse.
– Die Bildung eines neuen Kräfteschwerpunkts in den Völkerbeziehungen, BRIC mit dem Zentrum der Schanghai Organisation, die Russland, China, Iran und Indien zusammenführt.
– Die Vorschläge im Kreis der Asiatischen und der Amerikanischen Staaten, Öl im Tausch gegen Waren, statt über Dollar oder Euro zu handeln.
– Russlands neue Beziehungen zu Arabischen Staaten und zum Iran.
Ein paar Daten mögen die einzelnen Aspekte noch verdeutlichen:
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Dollar unter Druck
Wenige Tage nach der Verkündung des Urteils gegen Michail Chodorkowski einigten sich Russland und die EU auf eine engere Zusammenarbeit; Moskau sandte gleichzeitig ein entscheidendes Signal in Richtung EU: Russland wird in Zukunft seine Devisenreserven in Dollar herunterfahren, dafür den Euro-Anteil auf 50:50 Prozent erhöhen. Zur Zeit liegt das Verhältnis bei 80: 20; bereits zum Jahresende 2005 soll der Euro-Anteil nicht 20, sondern 30 betragen, danach schnell auf 50 erhöht werden.
Damit machte die russische Regierung wahr, was die „Iswestija“ bereits im März 2004 berichtet hatte, dass Putin nämlich nach der Wahl plane, die Bindung der russischen . Währung an den US-Dollar gegen eine Bindung an den Euro zu verändern.
Eine Reform des Währungssystems war bereits seit längerem im Gespräch: Schon auf der IWF-Jahrestagung von 1994 wurde die Einrichtung eines „Neuen Bretton Woods“ mit einem System fester Wechselwährungen vorgeschlagen. Seit 1998 forderten europäische Politiker eine Kontrolle der Finanzmärkte – allen voran übrigens Oscar Lafontaine, der als deutscher Finanzminister gern „Dompteur der Finanzmärkte“ werden wollte. Auch er schlug eine Erneuerung des zusammengebrochenen „Bretton Woods Systems“ vor, allerdings nicht unter der Leitwährung des Dollar, sondern in einer festen Wertrelation von Dollar, Yen und Euro. Die Einführung des Euro 2002 konkretisierte alle diese Tendenzen; sie relativierte den Dollar als Welt-Reservewährung.
Hindernis gegen ein Abrücken vom Dollar als alleinige Weltleitwährung ist die Bindung des Öl-Handels an den Dollar. Seit 2000 rührt sich auch dagegen Widerstand. Gewünscht, vorgeschlagen, gefordert wird ein Übergang vom Dollar als Öl-Leitwährung auf den Euro oder gar die generelle Abkoppelung des Öl-Handels von einer Leitwährung:
Vorreiter für die Entthronung des Dollars war Saddam Hussein. Er wagte es im November 2000 als Erster laut darüber nachzudenken, den Ölhandel von Dollar auf Euro umzustellen; 2002 riskierte er diesen Schritt. Im Ergebnis wurde der IRAK mit Krieg überzogen. Die USA fürchteten einen Domino-Effekt in der arabischen Welt. Nach der Invasion wurde die Umstellung auf Euro rückgängig gemacht.
Bei einem OPEC-Gipfel im Jahr 2000 schlug Venezuales Präsident Hugo Chavez vor, den Ölhandel der OPEC-Länder mit den Entwicklungsländern im Barter-Verfahren durchzuführen, also Öl gegen Ware zu handeln, um auf diese Weise sowohl Dollar als auch den Euro bei den Geschäften zu meiden.
Ende 2002 ging Nordkorea zum Euro als Devisenrücklage über.
Seit 2003 forderte auch der Iran offiziell Euro-Abrechnungen für Öl, sogar für solches, das vorher zu Dollarpreisen gehandelt worden ist. Schon vorher hatte der Iran seine Währungsreserven auf Euro umgestellt. Die Gründung einer eigenen Börse für den Ölhandel im Iran steht bevor. Dazu ist anzumerken, dass das iranische ÖL 10% der Weltölreserven ausmacht – ein neuer Kriegsgrund für die USA.
Im April 2004 debattierten die Parlamente von Iran und Russland über eine mögliche Übernahme des Euro für Ölverkäufe. Die meisten Länder der OPEC signalisieren seitdem mehr oder weniger offen ein Interesse am Euro als Ölwährung. Saudi-Arianien ist dagegen.
Im Oktober 2004 wurde die Umstellung vom Petro-Dollar auf den Euro im Norwegischen Parlament diskutiert.
Im März 2005 verursachte die Südkoreanische Zentralbank einen Kursverslust des Dollar um 1,5 Prozent innerhalb von zwei Tagen. Grund: Sie hatte angekündigt ihre Diversifizierung auf Euro umstellen zu wollen.
Im März 2005 wurde die Initiative für ein neues Bretton Woods im italienischen Parlament diskutiert.
Am 2.August 2005 erschien im FAZ-Net die Meldung, dass nach Russland nunmehr auch die arabischen Staaten ihre Währungsreserven diversifizieren wollen.
Dies alles bedeutet, dass die Auseinandersetzung um die Ablösung des Dollars als Leit- und Öl-Währung sich zuspitzen. Die USA-Dominanz wird zunehmend bedroht. Wenn jetzt auch Russland in diese Bewegung mit einsteigt, dann ist das für die USA Alarmstufe ROT; nur Saudi-Arabien verhindert bisher die Ablösung des Dollars im OPEC-Geschäft.
Nach der Beendigung Kriegs um die unmittelbaren Zugriff auf russische Ressourcen, heißt das, zeichnet sich nunmehr eine neue russisch-amerikanische Konfrontation ab, dieses mal auf dem Gebiet der internationalen Finanz- und Währungsparketts.
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Zweitens: BRIC
Ebenfalls seit zwei Jahren kristallisieren sich neue Handels-, Wirtschafts- und Bündnisstrukturen heraus, deren Urheber Peking, Moskau, Delhi und neuerdings auch Teheran sind. Ende des Jahres 2002 unterzeichneten sie einen Handels- und Kooperationsvertrag, BRIC genannt, nach den daran beteiligten Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China.
Wenige Stichworte reichen, um die Brisanz dieses Bündnisses zu verdeutlichen:
China: Inzwischen zweitgrößter Öl-Importeuer; 2004 kauft China Jukos-Anteile, kreditiert die Baikal-Finazgruppe für den Kauf von Yuganskneftegas, kauft sich in Kanadas Ölsand-Felder ein, betreibt Öl- und Gas-Projektes mit dem Sudan am Nil. Im November 2004 besucht Chinas Präsident Hu Jintao Brasilien, Argentinien und Venezuela; Hugo Chávez erwidert den Besuch in China. Im Herbst 2004 schließen China und Iran ein Handelsabkommen, insonderheit zu Öllieferungen, das in allen Punkten gegen die US-Sanktionen agiert.
Indien: Der Indische Ministerpräsident bereist im Jahr 2003 China; 2004 gehen China und Indien eine „Kooperation für Energiesicherheit“ ein, zugleich schließt Indien eine „Strategische Allianz mit Russland“. Im Jahr 2004 entsteht ein „Runder Tisch der asiatischen Energieminister“, entwickelt sich ein regionaler asiatischer Petroleummark, wird die Schaffung einer asiatischen Bank für Energiefinanzen beschlossen. 2004 vereinbart Indien Sonderzölle mit den MERCOSUR-Staaten Südamerikas;. 2005 schließt Indien ein Handelsabkommen mit Russland, zeigt Interesse an iranischen Ölfeldern
Am 10. November 2005 schreibt die Zeitung India Daily:
„Der russische Präsident Putin nimmt eine führende Rolle in der mächtigsten Koalition der Regional- und Supermächte unserer zeit ein. Diese Koalition besteht aus Indien, China, Russland und Brasilien und wird die Vorherrschaft der Supermacht Amerika brechen.“
Ausdruck der neuen Stärke des russisch-asiatischen Dreiecks ist die Weiterentwicklung des Shanghaier Bündnisses (Shanghai Cooperation Organisation – SCO) zu einem asiatischen Pakt, in dem China, Russland, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan gemeinsam agieren, Iran ist interessiert.
Auf der anderen Seite des eurasischen Spagats stehen Treffen von Putin und Schröder im September 2004 in Oslo: Schröder bittet Putin um 20% Beteiligung von Wintershall an Gasprom statt der bisher 6%. Wenig später schließen Deutschland und Russland eine Gaspipeline durch die Ostsee. Die Deutsche Ban wird zum größten Finanzier der geplanten Aufkäufe von Öl-Firmen durch GAZPROM. Von der Erneuerung des strategischen Bündnisses zwischen Russland und der EU nach Zerschlagung von YUKOS war schon die Rede. Damit schließt sich der eurasische Kreis.
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Drittens: Gegenwind von Süden
Soeben war die Pleite für das panmerikanische Freihandelsabkommen ALCA zu beobachten, das in Mar el Plata in Kraft treten sollte. US-Präsident Bush war anwesend, konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen rief Hugo Chavez, Präsident von Venezuela dazu auf, anstelle von ALCA eine Alternative Bolivariana (ALBA) zu gründen, so genannt nach Simon Bolivar, der den Norden Südamerikas von spanischer Kolonialherrschaft befreite.
Dazu passt die Durchführung eines Kongress „Kapitalismus reloaded“ in Berlin im Oktober 2005: Siebenhundert Menschen aus Asien, Afrika Lateinamerika nehmen teil. Sie demonstrieren Zustimmung China, Indien, die BRIC-Staaten, zeigen neues Selbstbewusstsein..
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Die arabisch-islamische Karte
Ein herausragendes Zeichen, das auch die letzten Sicherheiten der USA in Bewegung bringen könnte, die diese mit ihrem „antiterroristischen“ Krieg“ unter dem Namen „enduring freedom“ gerade festzuklopfen versuchen, setzte die russische Regierung – ungeachtet des von ihr in Tschetschenien geführten Krieges – mit ihrer seit 2003 betriebenen Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC). Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“ Inzwischen nimmt Russland an den Konferenzen der OIC mit Beobachterstatus teil.
Parallel zur Annäherung Russlands an die OIC fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.
Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem Treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines ‚United Energy Systems’ zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten und vergegenwärtigt man sich die Bewegungen zur Entthronung des Dollar als Leitwährung, der Aktivitäten der BRIC-Staaten, der Entwicklungen im Dreieck zwischen China, Indien und Russland, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem seitens seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein. Was daraus folgt ist offen.
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Nachklänge
NGOs in Russland:
Achtung: Grenzüberschreitung?
Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten zwei Jahre schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein.
Neu wäre darüber hinaus eine Aufteilung zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken.
Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer Intervention hinaus, es käme einer Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention gleich. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Neue Bücher von Kai Ehlers zum nachsowjetischen Wandel
Im Frühjahr erscheint:
Asiens Sprung in die Gegenwart
Russland- China – Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums ‚Inneres Asien’
Pforte/Entwürfe, April 2006, 10,– €
Aus der Not eine Tugend machen. Exemplarische Entwicklungsimpulse aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus, in: Losarbeiten/Arbeitslos? Globalisierungskritik und die Krise der Arbeitsgesellschaft, Ein Sammelband, Verlag UNRAST, 16,– €
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Verlag Pforte, 100 Seiten, 2005, Preis: 8,00 €
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Impulse für eine andere Globalisierung
aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus
Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation
Alternativen für eine andere Welt, „edition 8“/ Zürich, ISBN 3-85990-049-8 192 Seiten, Preis: 17 Euro
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Themenheft 15/16: Wofür steht Russland? Wohin geht es?
THEMENHEFT 15/16:
Wofür steht Russland? Wohin geht es?
(zweite, korrigierte Auflage)
Reform oder Kriegserklärung gegen das eigene Volk? Anatomie der neo-liberalen Modernisierung am Beispiel Russlands
Modelle einer anderen Modernisierung; Ansätze für Alternativen in Russland und Deutschland
Erweitertes Tagebuch einer Bestandsaufnahme: Sommer 2004
Aus dem Inhalt:
– Eindrücke nach der Wahl.
– Putins Sozialpolitik: Exemplarische Angriffe auf den Fürsorgestaat.
– Prinzipielles im Vergleich: Funktionswandel des Staates – Vom Sozialstaat zum präventiven Sicherheitsstaat?
– Kritiken, Proteste, neuer Untergrund? Rechte und linke Anti-Globalisierer.
– Von der Not zur Tugend? – Selbstversorgung, Selbstverwaltung, Kooperativen.
– Impulsgeber Russland: Entwicklungsland neuen Typs.
– An der Wolga – alles anders? Globale Dimension der Modernisierung.
– Generelle Alternativen für eine andere Modernisierung über Russland hinaus: Ziele, Forderungen, neue Formen des Widerstands.
Anhang:
– Bücher von Kai Ehlers zu Russland
– Über den Autor
Antifaschistische Moral statt Politik? Über die Notwendigkeit, den eigenen Kopf zu gebrauchen:
Der Zusammenbruch des realen Sozialismus, insonderheit der Bankrott der SED, lässt auch in der hiesigen Linken, einschließlich KB, Untergangsstimmung aufkommen. Statt die Diskussion auf die Unterstützung des Demokratisierungsprozesses und die Erarbeitung einer neuen sozialistischen Perspektive zu konzentrieren, flüchtet man sich unter der Parole „kein Viertes Reich“ in traditionelle Warnungen vor einem drohenden Faschismus und drohenden Kriegsabsichten der imperialistischen Länder, besonders eines möglicherweise wiedervereinigten Deutschland. Was unter anderen Umständen nur ein Irrtum war, wird durch die besinnungslose Wiederholung in der jetzigen Situation zur restaurativen Farce, bzw. zum moralischen Rührstück. Mit antifaschistischem Rigorismus kann man vielleicht kurzfristig Stimmungen einer verunsicherten Linken einfangen, die VVN oder die SED wiederbeleben. Eine neue politische Glaubwürdigkeit kann man so nicht gewinnen.
Ich will versuchen, einige Bestimmungsstücke zu nennen, die in eine rationale Debatte um eine neue sozialistische Perspektive eingehen müssten.
Kai
1. Der Zerfall der ersten historischen Initiative für eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus bestimmt zurzeit die Dynamik der Geschichte durch die von ihm ausgehende Destabilisierung der herrschenden Weltordnung. Gorbatschows Programm der Perestroika ist keine sozialistische Erneuerung, sondern ein Notprogramm zur Liquidierung des realen Sozialismus. Gorbatschows Aufgabe bestand und besteht darin, die historisch unvermeidliche und überreife Liquidation des realen Sozialismus und dessen Überführung in kapitalistische Bahnen so kontrolliert wie möglich und mit geringst möglichem Einbruch an Stabilität innerhalb der UdSSR und im internationalen Rahmen zu vollziehen. Gorbatschows Kritiker haben ihrerseits keine Alternative, sondern bestenfalls eine Beschleunigung seines Programms anzubieten. Ob und wie lange es Gorbatschow unter dem Druck der wachsenden Widersprüche gelingt, den Übergang kontrolliert zu entwickeln, ist offen. Darin liegt z. Zt. die größte Gefahr für den Weltfrieden: Selbst ein auf das Territorium der UdSSR beschränkter Bürgerkrieg würde bereits Krieg auf einem Sechstel des Globus bedeuten. Seine Auswirkungen bis hin zum möglichen Zusammenbruch der Zentralmacht dieses Raumes auf die übrige Welt sind nicht kalkulierbar. Andererseits liegen in der von Gorbatschow angestrebten Dezentralisierung auch Keime zur Überwindung der aus der Systemkonfrontation resultierenden Stagnation und für ein neues Zusammenleben der Völker, wenn es der Völkergemeinschaft gelingt, den von Gorbatschow angestrebten kontrollierten Übergang von der alten zur neuen Ordnung erfolgreich zu unterstützen und krisengewinnlerische Alleingänge einzelner Staaten oder Völker zu unterbinden.
2. Der Zerfall des realsozialistischen Blocks setzt eine Wandlung der Nachkriegsordnung insonderheit in Europa, aber nicht nur dort, auf den Plan. Er beseitigt aber weder die Ursachen noch die Realitäten der deutschen Teilung. Schon die BRD allein hat sich zur Führungsmacht in Europa entwickelt. Ein vereinigtes Deutschland wäre sicher das Aus für das Gleichgewicht eines multistaatlichen Europa der vielen Völker, wie es gegenwärtig von allen Seiten angestrebt wird. Besonders für die Völker Europas, einschließlich die der Sowjetunion, aber auch für die übrige Welt ist die Gefahr eines übermächtigen Deutschland im Zentrum Europas aus der Erfahrung der beiden Weltkriege und des deutschen Faschismus durchaus sehr lebendig und wird auch entsprechend als Bremse westdeutscher Vereinigungswünsche ins Spiel gebracht. Die herrschende westdeutsche Politik ist sich dessen bewusst und wird dadurch effektiv gebunden, wenn sie sich nicht rundum isolieren will.
3. Das atomare Patt ist von der neuen Entwicklung bisher ebenfalls nicht berührt. Nach wie vor ist selbst ein begrenzter Krieg gegen die Sowjetunion für jeden potentiellen Aggressor mit dem unkalkulierbaren Risiko des atomaren Schlagabtausches verbunden. Mehr noch: In einer UdSSR, die von den imperialistischen Ländern in die Enge getrieben würde, müsste und würde sich nach aller geschichtlichen Logik und angesichts der bedrängten Lage Gorbatschows aus reinem Selbsterhaltungstrieb die militärische Fraktion gegenüber der politischen
durchsetzen und zur Politik der Systemkonfrontation unter gewandelten Prämissen zurückkehren. Die Risiken einer solchen Situation sind für die imperialistischen Staaten unkalkulierbar.
4. Nur unter der Annahme einer absolut irrationalen Zuspitzung des globalen politischen Klimas ist eine solche Variante denkbar, dass sich „Falken“ in der NATO mit der Meinung durchsetzen könnten, dem bereits strauchelnden Gegner jetzt noch militärisch nachsetzen zu müssen. Sehr viel wahrscheinlicher ist der Versuch, das notwendige Krisenmanagement unter Führung und zum wirtschaftlichen Nutzen der imperialistischen Staaten zu betreiben, d.h. den strategischen Schwerpunkt von der militärischen auf die der kontrollierten politischen Liquidation des bisherigen sozialistischen Blocks unter Mithilfe Gorbatschows zu verlagern. Das neue NATO-Schlagwort, eines „high intensity peace“ anstelle des bisherigen „low intensity war“, deutet dieses strategische Verständnis an. Die Gefahr für den Weltfrieden liegt z. Zt. weniger in der gezielten Destabilisierung des bisherigen sozialistischen Blocks durch die imperialistischen Länder, als darin, dass dieses Krisenmanagement auf Grund der inneren Dynamik des Zerfallsprozesses des bisher sozialistischen Lagers nicht gelingt.
5. Die ideologische Destabilisierung reicht weiter als bis zu den Ergebnissen des 2. Weltkriegs, sie reicht bis in die Anfänge des Jahrhunderts zurück. Die historische Initiative des realen Sozialismus, eine Alternative zum Kapitalismus schaffen zu wollen, ist nicht nur durch ihren ökonomischen und politischen, sondern auch durch ihren geistigen Zusammenbruch als Alternative zum Kapitalismus in den Augen der Völker inzwischen bis auf die geistigen Grundlagen diskreditiert. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der Entwicklung des realen Sozialismus wird sich nicht nur mit Lenins Umsetzung der Einsichten von Marx und Engels, sondern auch mit den Analysen, Prognosen und dem Menschenbild der Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus auseinanderzusetzen haben. In den Ländern des realen Sozialismus hat diese Debatte begonnen. Es gilt, sie aufmerksam zu verfolgen.
6. Aus dem Scheitern des ersten Versuchs einer historischen Alternative zum Kapitalismus folgt das Verlangen der Menschen dieser Länder, die zur Zeit unübersehbaren Vorteile des kapitalistischen Systems und der Lebensweise der westlichen Demokratien für sich in Anspruch zu nehmen. In der Befreiung der persönlichen Initiative vom pädagogischen Dirigismus eines Überstaats durch Wiederzulassung von Privateigentum, Markt und Mehrparteiensystem liegt zurzeit die historische Dynamik und einzige Chance für die Entwicklung dieser Länder. Das Scheitern des realen Sozialismus ist aber keineswegs der Beweis für die Richtigkeit eines naturwüchsigen Kapitalismus, sondern lediglich für den folgenreichen historischen Irrtum, Konkurrenz und unterschiedliche Klasseninteressen, denen der Kapitalismus der Jahrhundertwende freie Bahn ließ, per Dekret, gar Zwang und pädagogisierender Propagierung eines neuen Menschen abschaffen zu können, statt demokratische Wege für deren sozial gerechtere Austragung zu finden.
7. Der Kapitalismus in seinen höchstentwickelten demokratischen Formen wie in Schweden, wie in der BRD, der heute den Liquidatoren des realen Sozialismus, selbst den sog. Linken, als Vorbild dient, ist trotz der hohen Lebensqualität, die er seinen jeweiligen Bürgern bieten kann, auch nicht das Modell der zukünftigen Gesellschaft. Der für ihn erhobene Anspruch einer „sozialen Marktwirtschaft“ schließt zum einen die realen sozialen Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und materiellen und psychischen Elendsverhältnissen der Menschen bis hin zu sog. repressiven Zwei-Drittel-Gesellschaften in den kapitalistischen Kernländern selbst mit ein. Er war und ist zum zweiten nur auf der Grundlage der brutalen, z.T. blutigen Ausbeutung der übrigen Weltbevölkerung möglich, einschließlich der sich zuspitzenden ökologischen Zerstörungen des gesamten Globus.
8. Kapitalismus wie realer Sozialismus sind zwei Ausdrücke derselben Wirklichkeit, nämlich der modernen Industriegesellschaft. Die Entwicklung der Industriegesellschaft ist heute an die Grenze zur Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit gekommen. Der Zusammenbruch des Versuchs einer ersten historischen Alternative zum Kapitalismus, insbesondere auch das von ihm hinterlassene ökologische Desaster, das jenes des Kapitalismus um vieles übersteigt und aus eigenen Kräften der realsozialistischen Länder mit Sicherheit nicht zu lösen ist, macht die Aufgabe, eine über Kapitalismus und realen Sozialismus hinausweisende Alternative zu entwickeln, jetzt praktisch vor aller Augen zu einer Frage der historischen Tagesordnung.
9. Die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs der realsozialistischen Welt, einschließlich der Folgen für die sozialistischen Gruppen und Parteien in den kapitalistischen Ländern und den Ländern der sog. 3. Welt, ist tatsächlich beängstigend. Es ist aber sinnlos, den Führern, noch sinnloser, den Bevölkerungen der realsozialistischen Länder Verrat am Sozialismus und Gefährdung der Nachkriegsstabilität vorzuwerfen, wie das zur Zeit in der Linken der BRD und auch im KB Mode wird, statt zu begreifen, dass diese zum einen die schwere Last einer historischen Trümmerbeseitigung zu tragen haben, bei der man sie nach Kräften dabei unterstützen sollte, dass dies auf demokratischem Wege gelingt, zum zweiten angesichts der krisenhaften Zuspitzung des Zusammenbruchs zunächst überhaupt keine andere Alternative haben, als Hilfe, Rettung und Vorbilder im Westen zu suchen.
1o. Wenn die Menschen, die sich als Staatssklaven des Sozialismus erlebt haben, das Recht auf Selbstbestimmung und Demokratie nach westlichem Muster fordern, dann muss mensch das ernst nehmen, auch wenn unsereins die Erfahrung gemacht hat, dass Freiheit im Kapitalismus durch die Gewaltverhältnisse des Geldes begrenzt wird. Wenn die Menschen, die keinen Markt, sondern nur Zuteilung kennen, in der die Initiative erstickt, jetzt Markt fordern, dann brauchen sie Markt. Den Menschen, die vierzig oder mehr Jahre Erfahrung mit dem realen Sozialismus hinter sich haben, angesichts ihrer Wünsche nach Marktfreiheit und Selbstbestimmung mit erhobenem Zeigefinger Verrat am Sozialismus vorzuwerfen, geht an der Wirklichkeit mit fliegendem roten Fähnchen vorbei: Gerade der als Staatsdoktrin seit vierzig oder siebzig Jahren allgegenwärtige moralinsaure pädagogische Dirigismus ist das, was diese Menschen hinter sich lassen wollen und müssen. Sie brauchen keine linken Pastoren aus dem Westen, die der realen Erfahrung mit dem realen Sozialismus Durchhalteparolen für die Erhaltung des Kommunismus entgegenstellen. Das haben sie bereits im Pionierlager, als Komsomolzen und im militärischen „Friedensdienst“ aus den Kochgeschirren gelöffelt. Das trieft seit Jahrzehnten aus der Parteipresse auf sie nieder. Sie brauchen die reale Erfahrung des Kapitalismus, um ihn überwinden zu können, so wie die westliche Linke den realen Zusammenbruch des realen Sozialismus brauchte, um über Alternativen jenseits von Kapitalismus und realem Sozialismus nachzudenken.
11. Trotz aller bisherigen Kritiken des realen Sozialismus auf der einen und des Kapitalismus auf der anderen Seite gilt offenbar auch in diesem Fall, dass das Kriterium der Wahrheit die Praxis ist. Der tatsächliche Zusammenbruch des realen Sozialismus offenbart mehr und wirkt nachhaltiger als jede noch so geschliffene theoretische Kritik es je vorher vermochte. Das gilt auch für die Linke, die erst jetzt vor den wirklichen Dimensionen der politischen und menschlichen Deformationen erschrickt, zu der die Entwicklung des realen Sozialismus geführt hat. Ebenso werden die Grenzen des Kapitalismus und westlicher Demokratie erst dann erfahrbar, wenn sie sich als Alternative bewähren sollen.
12. Noch sinnloser ist es, den Verlust des bisherigen Weltbildes und den Zusammenbruch der gewohnten ideologischen und politischen Stabilität durch hysterische Flucht in ideologische Notprogramme ausgleichen, indem man jetzt mangels anderer Alternativen den Kampf gegen ein „Viertes Reich“ zum Dreh und Angelpunkt der zukünftigen Politik erklärt und wieder einmal das Gespenst der imperialistischen Kriegsabsichten an die Wand malt, statt gerade angesichts der aufgeputschten Gefühle zu einer rationalen Befassung mit den wirklichen Problemen beizutragen, es mindestens zu versuchen.
13. Tatsache ist, dass im Bereich des bisherigen sozialistischen Blocks starke Sprengkräfte entstehen. Sie reichen von der einseitigen Aufkündigung des RGW, über nationale Sonderwege sowjetischer Republiken, die Ablösung der Einparteienherrschaft der Kommunistischen Parteien bis hin zu scharfen Klassendifferenzierungen der seit Jahrzehnten geleugneten Klassenrealität in den einzelnen Ländern. Im historischen Pendelschlag scheint die staatssozialistische Zwangseinheit in staatliche, nationale, klassenmäßige und gar individualistische Elemente auseinanderzufallen, die sich in der Konfrontation mit den Beharrungskräften von berechtigten Forderungen nach Selbstbestimmung bis hin zu Nationalismus und bewaffneten Kämpfen steigern. Im Gegenzug formiert sich eine auf Stabilität orientierte rechte Massenbewegung, die den Boden für restaurative staatliche Manöver abgeben kann. Diese Entwicklung setzt gefährliche restaurative, chauvinistische und rassistische Kräfte frei.
14. Die imperialistischen Länder verlieren durch den Zusammenbruch ihres Systemsfeindes zwar eine wesentliche Grundlage zur Legitimation ihrer Politik, d.h. auch sie verlieren an ideologischer Einheit, mit der sie untereinander und in ihren eigenen Grenzen gegen den Systemfeind verbunden waren. Das bedeutet auch hier eine Lockerung lang gewachsener Bindungen, auch hier die Gefahr nationaler Sonderwege und politischer Extravaganzen. Entscheidender als das aber ist der Spielraum, den sie durch die ökonomische, politische und geistige Öffnung des bisher verschlossenen Raums z. Zt. gewinnen. Es ist eine Invasion ohne Kanonen. Faschistische, einfach gesprochen, gewaltsame Lösungsversuche zur Bewältigung der neuen Entwicklung sind in den Herrschaftsetagen der bürgerlichen Regierungen angesichts der Tatsache, dass die Länder des realen Sozialismus sich ihnen z. Zt. freiwillig zur Ausbeutung anbieten und mit fliegenden Fahnen zur bürgerlichen Demokratie überwechseln, sowenig in Sicht wie ein von ihnen beabsichtigter Krieg gegen die Länder des realen Sozialismus. Eine solche Politik wäre, um es ganz klar zu sagen, für die imperialistischen Länder zurzeit absolut kontraproduktiv. Die neuen Spielräume erlauben ihnen im Gegenteil auch noch, ihre seit Jahren entwickelte Befriedungspolitik auf Kosten der Länder des realen Sozialismus weiter zu stabilisieren.
15. In dieser Situation ist es zwar richtig, gegen den Rückfall in nationalistische Sonderwege gleich wo auf der Welt und insbesondere im eigenen Land wachsam zu sein. Das ist immer richtig. Aber der traditionelle Anti-Nationalismus, Anti-Faschismus, Anti-Militarismus, Anti-Imperialismus und als Steigerung die Bildung einer Anti-Widervereinigungsfront gegen die Gefahr eines „Vierten Reiches“ sind kein Programm, das die gegenwärtige Entwicklung erfasst. Gerade angesichts der durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Länder erweiterten Spielräume der imperialistischen Staaten führt die Beschwörung eines angeblichen nationalistischen und faschistischen Katastrophenkurses der imperialistischen Länder, insbesondere eines drohenden „Vierten Reiches“ der Deutschen in die Irre. Sie mag augenblicklichen Massenstimmungen, besonders der Stimmung einer heillos verängstigten und verwirrten Linken entsprechen, aber zur Beschreibung der Wirklichkeit und der Entwicklung einer sozialistischen Alternative taugt sie rein gar nichts!
16. Sinnvoller als diese alten Klischees aufzuwärmen, in denen „Sozialismus“ und „Kommunismus“ auf einen, noch nicht einmal sachlich, sondern rein moralisch begründeten Antifaschismus reduziert werden, ist es erstens, die Bemühungen um demokratische Lösungen des Wandels in den realsozialistischen Ländern mit allen Kräften zu unterstützen, auch wenn einem deren Orientierung an den westlichen Demokratien nicht passt und zweitens die Arbeit für die Entwicklung einer neuen sozialistischen Alternative zu organisieren, die die Erfahrungen aus dem Bankrott der ersten historischen Alternative zum Kapitalismus in sich aufnimmt und über die Grenzen des jetzigen Kapitalismus und seiner verschiedenen zur Zeit entstehenden sozialdemokratisch-sozialistischen Mischformen hinausführt.
17. Sowohl zur Unterstützung der Demokratisierung als auch zur Erarbeitung eines solchen Entwurfs bedarf es aber mehr als moralischer Appelle gegen ein „Viertes Reich“ und mehr als der Verurteilung der Konsumgeilheit der aus dem realen Sozialismus entlassenen Menschen. Dazu muss mensch zunächst die Totalität des Scheiterns dieses ersten sozialistischen Versuchs und die daraus folgende historische Dynamik der Dezentralisierung, Pluralisierung und Demokratisierung als realitätsbildende Kraft begreifen, die zum Durchbruch drängt, deren Erfolg aber alles andere als eine ausgemachte Sache ist. Man muss den Menschen zuhören, welche Erfahrungen sie mit ihrem Sozialismus gemacht haben und auf welche Grenzen sie bei ihrem jetzigen Eintritt in den Kapitalismus stoßen und ihnen unsere Erfahrung mit der heutigen bürgerlichen Demokratie zur Verfügung stellen, positiv wie negativ. Nicht mehr und nicht weniger.
18. Eine längerfristige Alternative ergibt sich daraus allein noch nicht. Es ergibt sich daraus erst einmal nur der endgültige Beweis, dass weder bisheriger Kapitalismus, noch realer Sozialismus die Utopien von Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit verwirklichen konnten, die am Beginn des Industriezeitalters standen. Diesen Beweis erbracht zu haben, ist die historische Bedeutung des Zusammenbruchs des realen Sozialismus, nachdem der Faschismus der 30er Jahre dies für die kapitalistische Welt bereits nachhaltig geleistet hat. Es bleibt also keine andere Wahl, als den eigenen Kopf zu benutzen, um die Grenzen der Industriegesellschaft in ihren kapitalistischen und sozialistischen Varianten zu analysieren. So lassen sich vielleicht Konturen einer zukünftigen sozial gerechteren, demokratischeren und ökologisch bewußteren Gesellschaft und ein Weg zu ihrer Verwirklichung herausarbeiten, die über die bloße Hoffnung vom Zusammenwachsen der Systeme, bei uns konkret BRD und DDR, zu konkreten Bestimmungsstücken einer zukünftigen Gesellschafts- und Völkerordnung hinausführt. Billiger wird es nicht zu haben sein.
19. Einige Ansatzpunkte lassen sich schon erkennen. Nehmen wir die Hauptfragen, die in den Forderungskatalogen der Systemopposition in den bisher sozialistischen Ländern vorgetragen werden. :
– Wie soll das Eigentum organisiert werden? Soll es Privateigentum an Produktionsmitteln, soll es Kollektiveigentum, Staatseigentum oder offene Konkurrenz unterschiedlichster Eigentumsformen geben? Sind Beteiligungsmodelle nach schwedischem Vorbild uä. mögliche Lösungswege? Welche Rolle soll und darf der Staat in der Kontrolle des Eigentums und als Regulator sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit übernehmen?
– In welchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen ist individuelle und politische Selbstbestimmung optimal zu entwickeln? Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen der bisherigen Systeme in Ost und West? Welche neuen Formen sind erstrebenswert? Rätesystem, Parteienpluralismus, Mischformen? Föderale und nationale staatliche Strukturen statt Zentralstaatssystemen? Demokratische Vielvölkerbündnisse statt Block- und Systemkonfrontation?
– Wie können menschenwürdige Lebensbedingungen im Widerspruch zwischen Entwicklung der Produktion und Schonung der menschlichen und materiellen Ressourcen gestaltet werden? Das heißt im Kern: Wie kann die Selbstverwertungsspirale des Kapitals einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen werden, ohne das Interesse der Kapitaleigner oder -verwalter an seiner Weiterentwicklung und die persönliche Initiative zu ersticken?
– Wie sollen die Vorstellungen politisch umgesetzt werden? Evolutionär demokratisch? Revolutionär. Was bedeutet das eine, was das andere für die hochentwickelten Industriegesellschaften, gerade auch im Verhältnis zu weniger industrialisierten Teilen der Welt, speziell auch innerhalb der jetzigen der UdSSR?
Ohne die Lösung dieser Fragen wird es keine neuen sozialistischen Perspektiven geben.
20. Zur sog. Deutschen Frage müssen über die Formulierung von Ängsten hinaus positive politische Standpunkte entwickelt werden, wenn man nicht völlig im politischen Abseits verschwinden möchte:
Erstens: Der Fall der Mauer ist uneingeschränkt zu bejahen und die weitere Demokratisierung mit allen Mitteln zu unterstützen. Das beinhaltet nicht etwa die opportunistische Anpassung an nationale Stimmungen und dergl., ist aber die Voraussetzung für jedes ernsthafte Gespräch mit den Menschen hier wie dort.
Zweitens: Selbstverständlich hat die DDR-Bevölkerung ein Recht auf nationale und jede sonstige Selbstbestimmung. Wer sollte sie ihnen verweigern – wenn nicht, im historischen Rückgriff, die Alliierten?
Drittens: Die „Deutsche Frage“ kann nur im Zuge der Herausbildung einer europäischen Föderation gelöst werden, wo sich die beiden deutschen Staaten mit anderen Staaten des deutschen und des nichtdeutschen europäischen Kultur- und Geschichtsraums auf föderal-kooperativer Basis eines demokratischen Staatenbündnisses, statt als staatliche Einheit treffen. Nichts spricht für die staatliche Einheit der beiden deutschen Staaten. Im Gegenteil: die Erfahrungen der Geschichte, die Notwendigkeit eines Kräftegleichgewichts in Europa, die Entwicklung einer demokratischen Weltordnung sprechen dagegen. Aber mensch braucht keineswegs nur in der Anti-Haltung zu argumentieren: Das Eintreten für eine demokratische europäische Föderation im Zuge einer demokratischen neuen Weltordnung, darin die DDR und die BRD, vielleicht sogar noch eine freie Stadt Berlin, als gleichberechtigte souveräne Staaten, darf man getrost als eigenes positives Programm gegen das Gerede von der Wiedervereinigung in BRD und DDR wie gegen jeden erneuten Versuch einer Zwangsvereinigung Europas von oben stellen.
Mit leichten Überarbeitungen als Anhang übernommen in das Buch:
Kai Ehlers,
Gorbatschow ist kein Programm. Begegnungen mit Kritikern der Perestroika
konkret Literatur Verlag 1990