Schlagwort: Mesopotamien

Europa ohne Russland? Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem zeitgemäßen Problem.

Kann es Europa ohne Russland geben? Die politischen Ereignisse der letzten Zeit, in der sich Europa und Russland immer weiter voneinander zu entfernen scheinen, lassen solche Fragen, die nach der „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ durch Michail Gorbatschow ganz unvorstellbar schienen, inzwischen immer drängender in den Raum treten. Aber so sehr die Frage sich inzwischen aufdrängt, so wenig ist sie mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten – nicht heute und bei genauem Hinsehen auch früher nicht.

Die europäische Politik hat Russland, wie schon mehrmals zuvor in der Geschichte, wieder zum Feindbild aufgebaut.  Putin wird als neuer Hitler, Russland insgesamt als unberechenbar hingestellt. Europa müsse vor russischen Aggressionen geschützt werden. Zugleich erklären europäische Politiker die Zusammenarbeit mit Russland für unerlässlich, schon aus ökonomischen Gründen, heißt es, aber selbstverständlich zu „unseren Bedingungen“. Mit Sanktionen und dem Aufbau militärischer Stärke möchte man Russland gefügig machen.    

Antworten, die man aus alltäglichen Gesprächen erhalten kann, sind ebenso widersprüchlich: „Europa ohne Russland? – das wäre doch wie Kopf  ohne Herz!“, sagen die einen, andere fühlen sich von Russland bedroht: 44% der Deutschen sind nach aktuellen Umfragen für restriktive Maßnahmen gegen Russland, 67% vertrauen Putins Russland nicht mehr. Die gleichen Befragten wünschen sich ein normales, friedliches Verhältnis zu Russland.

Kurz, die Beziehung Europas, speziell auch Deutschlands zu Russland sind durch und durch ambivalent. Gerade in der Ambivalenz liegt jedoch die Aufforderung  genauer hinzuschauen, ob Europa und Russland zu trennen sind oder ob nicht und welche Bedeutung ihre Beziehung zueinander für den Lauf der globalen Dinge heute hat.

 

Wovon reden wir?

 Zunächst ist zu klären: Was ist Europa? Was ist Russland? In welchem Umfeld steht ihre Beziehung zueinander oder gegeneinander heute?

Schauen wir als Erstes auf die Landkarte; da sehen wir, allem voran, die Botschaft, welche die Erde selbst gibt: Hier Europas Klein- und Vielgliedrigkeit als Appendix Eurasiens, dort Russlands schier unbegrenzt erscheinende kompakte Weite der eurasischen Landmasse.

Sodann: Wenn wir von Europa sprechen, sprechen wir natürlich nicht nur von der Europäischen Union.  Europa ist mehr als die Europäische Union. Europa, in seiner Gewordenheit und in seinem Werden umfasst auch Länder auf dem europäischen Kontinent, die nicht der Europäischen Union angehören, sehr wohl aber dem europäischen Kulturraum. Das betrifft Sprachen, Lebensart, Kunst, Religion und Geschichte. Das sind Länder auf dem Balkan, auf dem Kaukasus und eben auch Russland, zumindest Teile Russlands bis zum Ural.  

Offen ist auch, wie lange die Europäische Union in der heutigen Konstellation zusammen bleiben wird, ob, wie und wann sie sich möglicherweise in Kern- und Randbereiche neu gliedert, welche Rolle Mitteleuropa, konkret Deutschland in einem zukünftigen Europa zukommt.

Russland andererseits ist nicht einfach ein Teil Europas. Russland ist zwar geografisch – auch ökonomisch – nicht von Europa zu trennen, lässt sich jedoch seinerseits in seiner Gewordenheit und seinem Werden nicht auf Europa, auch wenn man es nur bis zum Ural betrachten wollte, schon gar nicht auf die Europäische Union reduzieren. Russland ist nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sogar ethnisch Teil Asiens, genau genommen ist Russland das Gebiet, die Kultur, die Realität zwischen Europa und Asien. Bildlich gesprochen: Russland kann man als Zwischenraum, Europa als Rand definieren.

Zusammen bilden Europa und Russland aber nicht nur einen untrennbaren geografischen Zusammenhang; sie sind auch nicht nur ökonomisch eng miteinander verbunden, im Kürzel gesagt: russisches Öl gegen europäisches Know how, sie bilden darüber hinaus miteinander auch den geopolitischen Raum, von dem aus die heutige Welt über eine Zeitspanne von 2000 Jahren christianisiert, kultiviert, zivilisiert und schließlich kolonisiert  wurde – arbeitsteilig, um es salopp, gleichberechtigt, um es provokativ zu formulieren: Europa als der ‚Nabel der Welt‘, Russland als das ‚Herzland‘ Eurasiens.

 

Koloniale Arbeitsteilung…

In dieser historischen Arbeitsteilung gibt es jedoch einen entscheidenden Punkt zu beachten, der Europa und Russland auf widersprüchliche Art trennt und zugleich verbindet: Heimat vieler Völker sind beide Räume, Russland als umfassender Vielvölkerorganismus in den Weiten Eurasiens, Europa als Pluralität von Staaten auf engstem Raum, aber:

  • Von Europa aus wurde die ganze Welt kolonisiert – bis auf Russland, das sich als einziges Gebiet der Erde der von Europa ausgehenden Kolonisierung bis heute immer wieder entziehen konnte.
  • Russland andererseits machte durch seine, zwar oft unterbrochene, aber unaufhaltsame Expansion im Eurasischen Raum bis hin zur Sowjetunion jegliche Kolonisierung des eurasischen Massivs durch Europa unmöglich.

Diese Konstellation schloss wechselseitige Übergriffe von Westen nach Osten und von Osten nach Westen selbstverständlich nicht aus, bedingte sie in nicht geringem Maße sogar.

Das sind von Westen nach Osten:

  • die deutsche Ostkolonisation um 1000 n. Chr.,
  • die Gründung des Deutschen Ritterordens in Livland im selben Zeitraum,
  • das Ausgreifen Polen-Litauens nach Süden nach dem Tod Iwan IV. 1584 ff,
  • die aufeinander folgenden Versuche Gustav Adolfs, danach Napoleons, Hitlers, der deutschen Wehrmacht Russland zu unterwerfen,
  • die Förderung der Oktober-Revolution durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und seine Gruppe im plombierten Wagen nach Russland einschleuste,
  • Und neuerdings die US-geführten Versuche des NATO-Westens, Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion klein zu halten – siehe Ukraine.

Von Osten nach Westen sind es:

  • die Zerschlagung Nowgorods, das als Mitglied der norddeutschen Hanse westorientiert, tendenziell sogar offen für die Reformation war, durch Iwan III./IV.,
  • die Vertreibung des Deutschen Ritterordens aus Livland durch Iwan IV.,
  • die politischen Übergriffe nach Westeuropa durch Alexander I. , der sich nach der Niederlage Napoleons als „Retter des christlichen Abendlandes“ verstand
  • und schließlich die Besetzung Ost-Europas und Ostdeutschlands durch die Sowjetunion.

In dieser Dichotomie zweier unaufhaltsam expandierender dominanter Kräfte gingen Europa und Russland als miteinander zu einem unlösbaren Konflikt verwachsene und zugleich zu unausweichlicher Kooperation verurteilte Zwillingsbrüder durch die Geschichte.

 

…bei diametral entgegensetzten Paradigmen

In der Art, WIE die Expansion vor sich ging, unterschieden sich Europa und Russland jedoch in diametraler Weise voneinander:

  • Europa expandierte in einem Prozess des Differenzierens, des Pluralisierens, des beständig um die Vormacht auf kleinstem Raum miteinander Kämpfens, der Konkurrenz, letztlich in einem sich steigernden Prozess der Individualisierung, der individuellen Emanzipation, im Kern eines tiefen, wenn auch produktiven Egoismus. Europa trug diesen Prozess als ununterbrochenen Krieg in die ganze Welt hinaus, vielsprachig, in ständiger Veränderung, ohne dauerndes Zentrum.
  • Russland expandierte nach dem Prinzip des Sammelns, des Zusammenführens, des Integrierens und Kollektivierens, der Vielfalt unter dem Dach einer Sprache, der Bildung von Gemeinschaftstraditionen unter einem autoritären Zentrum, Moskau. Das heißt nicht, dass die russische Expansion im Gegensatz zur europäischen gewaltlos vor sich gegangen wäre; es haben sich in der Geschichte nur zwei ganz unterschiedliche Prinzipien der Kolonisierung verwirklicht, deren Wirkung bis heute anhält: Integration im russischen Raum – Desintegration in Europa und von dort ausgehend in der Welt.

 

Geschichtliche Spurensuche

Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung? Paradox gefragt: Wo liegen die Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Entwicklung, die entgegengesetzter nicht verlaufen konnte? Welche Dynamik liegt heute noch darin?

Mit Hinweisen auf tagespolitische Ereignisse sind kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen zu gewinnen – Merkel, Macron, Putin, Poroschenko, Trump sind eher Getriebene als Treiber. Zu zeitgebunden sind die aktuellen politischen Manöver,  zu verschleiert die Motive der aktuellen Feind- oder Freunderklärungen, zu verwirrend die wechselnden Täuschungsmanöver im gegenwärtigen Des-Informationskrieg.

Auch aus der Ökonomie, die heute unter Schlagworten wie ‚Wachstum‘, ‚Fortschritt‘, ‚Konsumgesellschaft‘ etc. als der große zivilisatorische Gleichmacher rund um den Globus in den Vordergrund gerückt ist, der gewachsene kulturelle, religiöse und geistige  Unterschiede zunehmend nivelliert  und durch die Gemeinschaft williger Konsumenten ersetzt, lassen sich kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen gewinnen,

Der Blick muss tiefer, tief in die Geschichte gehen, um erkennen zu können, wie aus einem ursprünglich gemeinsamen Kulturstromstrom – indogermanisch-griechisch-römisch-christlich – die systemgeteilte Welt des 20. Jahrhunderts und nach deren vorübergehendem Übergang in die US-dominierte Globalisierung die sich heute andeutende erneute Ost-West-Teilung hervorgehen konnte und wo die Möglichkeiten der Überwindung dieser Dualität liegen.  

 

Mesopotamien – Wiege Europas

Beginnen wir ganz klassisch mit der Entführung Europas durch Zeus von den Stränden Phöniziens, erzählt aus griechischer Sicht zum ersten Mal von Homer ca. 800 vor unserer Zeitrechnung: Europa wurde die Mutter einer neuen, noch unentdeckten Welt.

Von Europas Landung an der kretischen Küste führt der Weg geradewegs durch die griechische Geschichte, ab 146 v. Chr. in die römische, von da durch die Zeitenwende, die von Christi Geburt, von der Geburt des Christentums in Palästina markiert wird, weiter über die Jahrhunderte der Christenverfolgung in Rom, bis das Christentum im Jahr 380 n. Chr. zur römischen Staatskirche ausgerufen wurde.

Über die ganze, sich über mehr als 500 Jahre  erstreckende Zeit dieser griechisch-römischen Geschichte zieht noch ein einheitlicher kultureller Strom ins frühe Europa.

 

Teilung der römischen Welt

Mit der Teilung Roms in Ostrom – Westrom im Jahr 395 n. Chr. setzt die unterschiedliche Entwicklung des europäischen Siedlungsraumes in ein östliches und ein westliches Europa ein. Ost-Rom, unter dem Namen Byzanz, später Konstantinopel wird zur Feste Europas, West-Rom zerfällt unter dem Ansturm germanischer Stämme  und hunnischer Reiterheere aus dem Inneren Asiens –  man erinnert sich an die Daten der Völkerwanderung: 410 n. Chr. Alarich vor Rom, 450 n. Chr. Attila vor Byzanz und vor Rom. Der Zerfall Roms setzt getrennte Reichsbildungsprozesse im Osten und im Westen Europas in Gang.

Als drittes Element neben den beiden christlichen Strömungen kommen die Wikingischen Handelskrieger hinzu, die im Osten entlang der Flüsse nach Süden bis Byzanz ziehen, im Westen vom Meer aus in die Küstengebiete eindringen. Die Gründung der Kiewer Rus durch den Wikinger Rurik 882 n. Chr., die Reichsbildungskriege der Karolinger im achten und neunten Jahrhundert, die ganz eigene Entwicklung der angelsächsisch-dänischen Besiedlung des heutigen England fallen in diese Zeit erster Differenzierungen des ursprünglichen mesopotamischen Kulturstroms.

Mit der Übernahme des orthodoxen Christentums durch den Fürsten Wladimir von Kiew im Jahr 988 n. Chr. bindet die Kiewer RUS sich an Byzanz. Mit diesem Schritt nimmt das Auseinanderdriften der religiösen Sphäre in Ost- und Westeuropa an Deutlichkeit zu. England geht zudem seinen eigenen Weg. Kiew bleibt aber zu der Zeit noch Handelsdurchgang von Osten nach Westen, unterhält auch noch höfische Beziehungen zu den französischen und anderen westlichen Fürstenhäusern.

 

Das Schisma:

Differenzierung im Westen…

Mit dem Schisma, der großen Kirchenspaltung von 1064 n. Chr., wird das Auseinanderdriften Europas auf einen oströmischen und einen weströmischen Entwicklungsweg manifest. Die Patriarchen von Byzanz und Rom exkommunizieren sich gegenseitig. Byzanz versteht sich als Hüter der Einheit von Staat und Kirche, betrachtet Rom als abtrünnig vom wahren Glauben. Roms Entwicklung führt dagegen sehr schnell auf einen dreigeteilten gesellschaftlichen Weg, der die differenzierte Zukunft des westlich Europa vorzeichnet, den politischen Bereich der Reiche und Staaten, den religiösen Bereich und eine unabhängige Philosophie und Wissenschaft.

 Ausgesuchte prägnante Daten mögen das verdeutlichen:

  • Nahezu zeitgleich zur Spaltung von Ost- und Westkirche setzen die von Rom ausgehenden Kreuzzüge ein – erster Kreuzzug 1095 n.Chr. Die Züge wenden sich, was heute kaum erinnert wird, auch gegen die Ostkirche. Die Ritter des 4. Kreuzzuges erobern sogar Byzanz. Als die Türken 1443 Byzanz belagern, kommt den Byzantinern aus dem Westen Europas keine Hilfe zu. Dieses Ereignis  treibt die Spaltung zwischen den Kirchen tief ins Unterbewusstsein der orthodoxen Bevölkerung, die sich vom Westen verraten fühlt.
  • Der Gang König Heinrich IV. nach Canossa 1076 n.Chr., mit dem er Papst Gregor VII. zwingt, die Bannbulle gegen ihn aufzuheben, besiegelt die Spaltung von Staat und römischer Kirche.
  • Dem großen Ost-West-Schisma folgt das kleine Schisma zwischen Rom und Avignon von 1378 bis 1417; in der Mitte des 15. Jahrhunderts erhebt sich noch ein weiterer Gegenpapst, dazu diverse Gegenbischöfe.
  • In den Klöstern entwickelt sich mit der scholastischen Philosophie das Bestreben, Religion rational zu begründen.
  • Nicht unerwähnt bleiben darf die Gegenbewegung der Inquisition, die Spaltungen und Abweichungen in Angelegenheiten des Glaubens als Häresien mit Folter und Tod einzudämmen versucht.  

Nur kursorisch benannt seien die bekanntesten Stationen der weiteren Differenzierung der westlichen Entwicklung:

  • die ‚Entdeckung Amerikas‘ durch Kolumbus 1492, die diesen Kontinent an Europa heranzieht,
  • die Renaissance im 15. Und 16. Jahrhundert,
  • die Konfessionalisierung der Westkirche durch Luther, Zwingli und Calvin,
  • der Dreißigjährige Krieg 1618 – 1648,
  • die Aufklärung ab 1700,
  • die Französische Revolution 1789 – 1799,
  • die Entstehung europäischer Nationalstaaten in der Folge der Revolution, durch Napoleon forciert.

Von der Neuzeit soll später gesprochen werden.

 

Ganz anders im Osten:

Das „Sammeln der russischen Erde“

Byzanz verschloss sich einer Entwicklung, wie sie von Rom ausging.  Im byzantinischen Raum, wie er sich im Kiew Wladimirs fortsetzte, entwickelten sich keine unabhängige Wissenschaft, keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung – und keine bürgerliche Revolution. Die Zerstörung Kiews durch die Mongolen im Jahr 1241 war ein weiterer entscheidender Impuls für die Entfernung Ost- und West-Europas voneinander.

Die Mongolen vernichteten Kiew, machten den südlichen und mittleren Osten abhängig; den Westen, obwohl sie dessen Heere bei Liegnitz vernichtend schlugen, verschonten sie, wandten sich stattdessen weiter nach Süden, wo sie das muslimische Kalifat Bagdad vernichteten. Im Schatten dieser Schonung konnte sich der Westen Europas anders als der Osten unabhängig von mongolischem Druck entwickeln. Die Zerschlagung Kiews löste dagegen eine Fluchtbewegung der Bevölkerung der RUS  nach Norden aus, wo die fürstliche Oberschicht als  Dienstadel, die Bauern als Siedler im Fürstentum Moskowien Zuflucht fanden, das von den Mongolen nicht besetzt und ihnen nur tributpflichtig war.

Mit diesen Ereignissen kommt zu der religiösen Spaltung zwischen Ost- und Westkirche die unterschiedliche Ausrichtung des zuvor noch offenen politischen Raumes hinzu. Ausgehend von Moskowien, noch unter der mongolischen Tributhoheit, beginnt mit dem  Moskowiter Fürsten Kalita (1325 – 1340), intensiviert durch Iwan III (1530 – 1584), dann Iwan IV. (1456 – 71) der Prozess des „Sammelns russischer Erde“, wie es in der russischen Geschichtsschreibung genannt wird. Nach dem Fall Konstantinopels erklärt Iwan IV. Moskau zum III. Rom. Dabei übernimmt er das Staatskirchentum des byzantinischen Modells, übernimmt auch den Titel Kaiser, also Zar des russischen Reiches. Mit der Unterwerfung Nowgorods und der Verdrängung des deutschen Ritterordens aus Livland schließt er die Grenzen nach Westen; zugleich forciert er die Kolonisation nach Osten auf der Spur des zerfallenden mongolischen Großreiches bis nach Sibirien.

Die Politik Iwans IV. zementiert die Trennung zwischen dem orthodoxen Osten und einem reformatorischen, protestantischen, aufklärerischen Westen bis in die Zeit Peter I. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ost und West, Russland und Europa sind für mehr als 200 Jahre getrennte Welten. In dieser Zeit festigt die christliche Orthodoxie ihr Verständnis von sich als Bewahrer des wahren christlichen Glaubens – ohne einschneidende Abspaltungen, ohne Protestantismus, ohne Religionskriege, ohne Aufklärung in despotischer Einheit von Staat und Kirche – bis auf die minoritäre Bewegung der „Altgläubigen“, die eine formale Kirchenreform im 17. Jahrhundert nicht mitmachen wollten.

 

Neue West-Ost-Begegnung,

Westlich orientierte Modernisierungsschübe Russlands

Vermischung, gegenseitige Übergriffigkeiten

Mit Peter I. 1682 bis 1725,  genannt der Große, beginnt eine neue Phase der Ost-West-Beziehungen. Den Beinamen ‚der Große‘, erhielt er dafür, das er das „Fenster nach Europa“ öffnete. Konkret hieß das: Er  unterwarf Russland einer Modernisierung und Industrialisierung nach westlichen Standards. Seine Modernisierung  war ein Gewaltakt, der die in ihrer traditionellen Orthodoxie lebende mehrheitlich bäuerliche russische Gesellschaft zutiefst erschütterte. Er ließ den Bauern Kaftane und Bärte gewaltsam beschneiden, um sie aus ihren orthodox-gläubigen Sitten herauszuholen. Er war sich nicht zu schade, eigenhändig die politische Opposition zu köpfen. Er ließ St. Petersburg in einem Gewaltakt aus den Newa-Sümpfen stampfen. Gleichzeitig führte er Expansionskriege nach Norden und nach Süden. Die sog. petrinischen Reformen hinterließen ein zwischen Orthodoxie und westlicher Modernisierung zerrissenes russisches Volk unter der Knute einer autoritären Zwangsmodernisierung. Im Westen wurde Peter I. natürlich gefeiert.

Zu beachten ist: Zeitgleich zu den petrinischen Reformen entwickelt sich im Westen die Aufklärung. Zeitgleich ziehen die antidynastischen Wolken der französischen Revolution auf, deren Ideologen ihre Impulse aus der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und der Bill of  Rights von 1797 beziehen, die das Recht auf Selbstbestimmung und Revolution verfassungsmäßig festschreiben. Europa und Russland sind, trotz Modernisierung Peters I., auf unterschiedlichen Wegen: Europa öffnet sich in Richtung Amerika, Russland expandiert, wenn man das Gebiet zu der Zeit noch so nennen kann, im ost- und süd-europäischen Raum.

Ein halbes Jahrhundert später, 1762  – 1796, intensiviert Katharina II., die ‚Deutsche auf dem Zarenthron‘, ebenfalls die Große genannt, die Beziehungen Russlands zum Westen. Sie pflegt intensivsten Umgang mit den französischen Aufklärern, insbesondere Voltaire. Sie fördert europäische Wissenschaft und Kunst. Der Enzyklopädist Diderot ist über längere Zeit Gast des Zarenhofes. Gleichzeitig setzt sie das Sammeln russischer Erde nach Süden, ebenso wie den autoritären Regierungsstil fort. Die Politik  Katharinas vertieft die  Durchmischung von Orthodoxie und westlicher Aufklärung erheblich.

 

Übergang in die Moderne:

Durchmischung, imperiale Konfrontationen, gegenseitige Zerstörung

 Auf die Westöffnung Peters I. und Katharinas II. folgt wie ein Donnerschlag der Feldzug Napoleons gegen Russland. Deutlicher als mit diesem Feldzug, der im russischen Winter von 1812 steckenblieb, konnte der Welt nicht mehr vorgeführt werden, dass Russland mehr war als nur Europa und wie weit sich Russland und der Westen inzwischen voneinander entfernt hatten. Napoleons Rückzug war nicht nur ein Rückzug Frankreichs, es war ein Rückzug Europas. Nur eins dazu: Mehr als die Hälfte des 500.000 Mann starken napoleonischen Heeres waren Mannschaften aus den von Napoleon besetzten Gebieten Europas.

Der Niederlage Napoleons folgte auf dem Fuße ein Vorstoß Russlands nach Westen. Auf dem Wiener Kongress von 1814, bei dem es um eine Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons gehen sollte, genauer, um die Wiederherstellung der von Napoleon zerstörten dynastischen Ordnung, war der russische Zar Alexander I. neben dem Vertreter Habsburgs, Fürst Metternich, die führende Stimme der Restauration. Sein im Zuge der „Heiligen Allianz“ unternommener Versuch die Auswirkungen der französischen Revolution zurück zu kämpfen warf den Schatten einer tiefen orthodoxen der Reaktion auf Europa.  

Der Schlagabtausch, der mit Napoleons endgültiger Niederlage  bei Waterloo 1816 endete, war das Vorspiel für die Konfrontationen des darauf folgenden Jahrhunderts, in denen die von Europa ausgehende Expansion über See und die von Moskau ausgehende territoriale Expansion an den Rändern Eurasiens, zum Beispiel in Afghanistan aufeinanderprallten, ergänzt durch Konfrontationen im süd-europäischen Raum, in dem Russlands panslawistische Ambitionen auf westeuropäische Grenzen stießen. Es entstand das, was uns bis heute unter dem Stichwort des ‚great game‘ begleitet und was sich in dem Jahrhundert der zwei Weltkriege entlud, die sich 1914 – bis 1918 und noch einmal 1939 bis 1945 im Kern um Verschiebungen der ins Globale gewachsenen Konkurrenz zwischen den von Europa und Russland ausgehenden Einflusszonen drehten.  

Einige Aspekte dieser konfrontativen Zeit, die Beziehung Europas zu Russland betreffend, fallen von heute aus besonders ins Auge:

Das ist vor allem die schon erwähnte Unterstützung der Oktoberrevolution durch den Westen im Zuge des 1. Weltkriegs, konkret durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und eine Gruppe russischer Revolutionäre in plombierten Waggons nach Russland einschleuste,  mit dem klaren Ziel den Zarismus zu stürzen und Russland damit zur Kapitulation zu zwingen. Anschließend bekämpfte der Westen die Ergebnisse der Revolution, um eine sowjetische Staatenbildung zu verhindern. Heute würden wir diesen Vorgang glatterdings einen ‚Regime change‘ nennen.

Aber wenn der Sturz des Zarismus, die Konfrontation mit westlichem revolutionären Gedankengut, nicht zuletzt mit dem Atheismus der Revolution Russlands Identität auch ins Herz traf, zerstörte Europa sich in diesem  Krieg doch andererseits selbst, während die von Russland, der entstehenden Sowjetunion sich ausbreitende kommunistische Internationale sich in der Gegenbewegung zu dem von Europa ausgegangenen Zersetzungsversuch praktisch über die gesamte westliche Welt verbreitete. Man ist versucht von einem paradoxen Vorzeichenwechsel zu sprechen: Russland übernahm den westeuropäischen Zivilisationsstrom der Desintegration in Gestalt einer modernen Einheitspartei, in den Westen floss in einer unaufhaltsamen Gegenbewegung der Strom des russischen Integrierens und Kollektivierens in Form einer Vielzahl kommunistischer Parteien hinein. Die Folge war, einfach gesagt, ein die Fronten übergreifendes Identitätschaos – in dem Atheismus und Orthodoxie sich zu monströsen Dogmatismen überkreuzten.

Im zweiten Weltkrieg versuchen die westlichen Alliierten – Hitler benutzend – den aus der Oktoberrevolution erwachsenen Einfluss der Sowjetunion/Russland wieder zurückzuschlagen. Hitler hatte sich einbilden können, England werde seinem Vorgehen gegen Russland stillschweigend zusehen. Aber anders als geplant, ging nicht Russland, sondern Europa in diesem Krieg zugrunde: Europa wird geteilt, West-Europa, Westdeutschland werden Satelliten der USA. Russland, die Sowjetunion dringt bis nach Mitteleuropa vor. Die Welt ist geteilt – bis die Sowjetunion 1991 implodiert und die USA als „einzige Weltmacht“ übrigbleiben, vorläufig jedenfalls, solange ihr keine neuen Rivalen erwachsen. 

 

Ergebnis im Rückblick:

Aus dem ursprünglich gemeinsamen Strom der beiden Kolonialmächte Europa und Russland wurde die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts:

  • Europas Expansion der Vielfalt explodierte:

Nach seiner Selbstzerstörung in dem zurückliegenden Weltkrieg des 20. Jahrhunderts (1. – und 2. Weltkrieg) braucht und sucht Europa heute eine neue nachkoloniale und nachnationale Identität und Form.  Die gegenwärtige Europäische Union ist eine Übergangserscheinung, bei der die Frage entsteht: was ist der Mitteleuropäische Raum in diesem ganzen Konzert.

  • Russlands Expansion des Sammelns implodierte:

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion braucht/sucht Russland heute eine post-expansive Identität als Entwicklungsland neuen Typs, in dem westliche Standards und durch den Sowjetismus gebrochene Tradition eine neue Verbindung suchen. Russlands gegenwärtige autokratische Form ist eine Übergangserscheinung.

  • Die USA übernahmen das Ruder der Weltentwicklung:

Sie haben ein erklärtes Interesse daran, die Verbindung eines erneuerten Russland mit einem erneuerten Europa, insonderheit Deutschlands als tragender Mitte Europas, zu verhindern.  

Aktuell tritt jetzt noch China als neue Größe vom Osten her in diese Konstellation mit ein.  Weitere Mächte melden ihre Ansprüche zur Teilhabe an. Es entsteht etwas, das als multipolare Weltordnung bezeichnet wird, bei dem aber vollkommen unklar ist, was die geistige Substanz dieser Weltordnung ist. Ohne verbindende Sinngebung droht diese Entwicklung in eine erneute Ost-West-Spaltung zu führen, jetzt lediglich ins Globale erweitert. Um es klar, und vielleicht auch ein bisschen provokativ zusammenzufassen: So wie Russland und Europa die Welt arbeitsteilig kolonisiert haben, so ist jetzt  die Zeit gekommen, sie ebenso arbeitsteilig unter Einbeziehung der inzwischen gewachsenen Außenflanken, China, und die USA zu transformieren.

 

Aber wie?

Wie kann es gelingen, die verschütteten Impulse der europäisch-russischen Beziehungen wieder freizulegen, sie miteinander in Austausch zu bringen, statt sie unerkannt, ins Lähmende oder ins Globale eskaliert, weiter gegeneinander wirken oder gar wüten zu lassen, nachdem die Versuche einer neuen Völkerordnung nach 1918 ebenso wie die russische Revolution damit in der Vergangenheit gescheitert sind und auch gegenwärtige Annäherungen jetzt wieder zu scheitern drohen?  

Ein interessanter Ansatz dazu lässt sich in einem Vortrag von Rudolf Steiner finden, dem Begründer der anthroposophischen Gesellschaft, den er zum Jahreswechsel 1918/1919 hielt, also noch unter dem unmittelbaren Eindruck des 1. Weltkrieges. Er spricht von drei Kulturströmungen, die sich aus den Tiefen des vorchristlichen Altertums entwickelt hätten. Deren Wirken müsse offen gelegt, verstanden und in neue Beziehung zueinander gebracht werden, so Steiner, wenn man das heutige Chaos und die heutige Entwicklungsdynamik verstehen wolle. Als die drei Strömungen benannte er:

  • Den aus dem Orient über Mesopotamien kommenden griechischen, christlichen Strom, der sich am Ende im russisch-slawischen Raum in besonderer Weise entwickelt und bewahrt habe.
  • Den aus Ägypten über Rom kommenden rechtlichen, politischen Strom, der sich über den ursprünglichen orientalischen gelegt und sich wesentlich in Mitteleuropa in der Herausbildung der Emanzipation des Einzelnen und rechtsstaatlicher Vorstellungen ausgeprägt habe.
  • Den später aus dem Norden kommenden pragmatisch, wirtschaftlichen Strom, der sich in der englisch-amerikanischen Welt entwickelt habe, der aber als jüngster Strom noch nicht voll ausgebildet sei.

Diese Grundströmungen, seien heute nicht mehr in Klarheit erkennbar, so Steiner weiter, sie  hätten sich auf dem  Weg durch die Geschichte zu einem chaotischen Knäuel einer geistlosen Zivilisation verwickelt, verfälscht und zum Teil pervertiert. Sie unter ihren Verformungen in ihrer jeweiligen Wertigkeit zu erkennen und im Zuge einer Entzerrung des heutigen sozialen Lebens nach geistigen, politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten, Steiner spricht von einer Dreigliederung des sozialen Lebens, so miteinander in Beziehungen zu bringen, dass die konfliktstiftende Dominanz des Ökonomischen überwunden werden könne, sei das Gebot der Zeit. Das habe der Krieg, der aus eben dieser Dominanz des Ökonomischen entstanden sei – um es mit Worten von heute zu sagen – der Menschheit nachhaltig vor Augen geführt.

Man muss kein Anthroposoph sein, um die Wahrheit dieser Aussagen zu erkennen und um weiter zu erkennen, dass wir seit dem ersten Weltkrieg ein weiteres Jahrhundert der „Verknäuelung“ und Nivellierung erlebt haben und im Zuge der Globalisierungskrise heute weiter erleben. Klar ist auch, wie sehr Europa und Russland – nämlich zentral, gewissermaßen als Kern, um die das Knäuel aufspult ist – in dieses Knäuel verwickelt sind:

  • Die Gemeinschaftskräfte Russlands kommen mit den vom Westen ausgehenden Modernisierungen unter existenziellem Druck. Er führt einerseits zu einer von Russland ausgehenden Hyperindividualisierung, lässt aber zugleich starke Tendenzen der Abschottung entstehen. In der Politik führt das dazu, dass Russlands europäische Nachbarn Russland als unberechenbar fürchten.
  • Die emanzipatorischen Impulse Europas verkehren sich zusehends in soziale Isolation, während sie zugleich einen aggressiven Export menschenrechtlicher Ideologie hervorbringen; der wird von Russland angesichts der realen Politik der Europäischen Union als hohl und übergriffig erlebt.
  • Die globalisierte Ökonomie bringt statt einer am Menschen orientierten Wohlfahrt, was ihre Aufgabe und Möglichkeit wäre, zunehmende Konfliktpotentiale und soziale Gewalt hervor.

Was könnte eine Besinnung auf die von Steiner genannten Kulturströmungen in der heutigen Situation für Europas Beziehung zu Russland also bedeuten?

  • Ganz sicherlich keine fraglose Unterordnung unter die Dominanz einer bloß ökonomisch orientierten Globalordnung nach amerikanischem Muster – auch dann nicht, wenn diese Ordnung in Zukunft unter anderen Namen, etwa dem chinesischen auftreten sollte. 
  • Ganz sicher keinen romantischen Rückfall auf den Traum von einem ungeteilten christliches Europa nach Art der deutschen Romantik oder gar auf eine von Europa und Russland gemeinsam gebildete eurasische Achse, die versucht ihre durch die Teilung verlorene abendländische Dominanz wiederherzustellen.    
  • Ganz sicher aber auch nicht den isolierten Rückzug auf eine „russische Idee“ oder eine „europäische Idee“, die sich voneinander abgrenzen oder gar bekämpfen. Das liefe nur auf eine Beschleunigung der nationalistischen Tendenzen hinaus, die sich gegenwärtig in der Welt des „Amerika first“ abzeichnen.

Eine Notwendigkeit der heutigen Zeit ist aber sicher, und das mehr und dringender als noch vor hundert Jahren, die russische und die europäische Idee, wie jede andere nationale Idee, die zurzeit lebt oder noch neu entsteht, einschließlich der amerikanischen, vorurteilslos daraufhin zu untersuchen, wie sich die genannten kulturellen Grundströmungen in der heutigen globalen gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellen und wie eine von nationalen Beschränkungen befreite  Wechselwirkung von geistigem Leben, Politik und Ökonomie so gefördert werden kann, dass die Dominanz der Ökonomie relativiert, tendenziell überwunden werden kann, bevor die Notwendigkeit dazu durch eine weitere Weltkatastrophe bewiesen wird.

Europa und Russland könnten dazu, wenn sie sich auf ihre historischen Wurzeln besännen, in ihrem gegensätzlichen Aufeinander-Bezogen-Sein von individueller Emanzipation und gemeinschaftlicher Tradition einen entscheidenden Beitrag leisten, in dem ‚Herz‘ und ‚Kopf‘ miteinander und nicht gegeneinander wirken – allerdings ohne dabei, das ist zu betonen, die Ökonomie zu vergessen, ohne dabei aber auch zu erneuter Expansion oder Dominanz aufsteigen zu wollen. Anders gesagt, die Ökonomie, konkret auch der „american way of life“, einschließlich seiner chinesischen Variante,  muss nicht bekämpft, sondern in diese Entwicklung integriert werden, wenn sich ein lebendiger Austausch zwischen den Kulturen entwickeln soll, der an der Förderung des Wohles, der Selbstständigkeit und Freiheit des einzelnen Menschen orientiert ist.   

In diese Richtung nach vorn zu schauen, um zu sehen, wie russische und europäische Art sich gegenseitig anregen können, ist wohl die optimale heutige Variante.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Globaler Farbwechsel – Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien

Beim GO, dem in Asien beliebten strategischen Brettspiel geht es beim wechselseitigen Besetzen der Spielfläche durch schwarze oder weiße Steinchen um Geländegewinn. Dabei kann ein Steinchen, zur rechten Zeit an die richtige Stelle gesetzt, auf einen Schlag die eben noch dominante Farbe des Feldes umschlagen lassen, wenn die so eingekreisten Steinchen des Gegners aus dem Feld genommen werden. Plötzlich tritt eine vorher gewachsene, aber übersehene Konstellation hervor.[1]

Ein solcher Farbwechsel ist durch den Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Rückzug russischer Truppen aus Syrien, verbunden mit seiner Erklärung, der Terrorismus sei besiegt und die Menschen könnten in ihr Land zurückkehren, um es wieder aufzubauen, soeben auf dem globalen Spielbrett  vor sich gegangen.  Putins Besuche in Ankara und Ägypten, dazu seine öffentliche Kritik an der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ergänzen das Bild. Was wird da erkennbar?  

 

Das „Heartland“ beherrschen?

Wer die Welt beherrschen wolle, hieß es bisher, der müsse Eurasien beherrschen; wer Eurasien beherrschen wolle, müsse das „Herzland“, also Russland, beherrschen – müsse es am Besten in drei Teile teilen, einen östlichen, einen mittleren und einen westlichen, die sich so gegeneinander abgrenzen und manipulieren ließen.

Der so sprach, schrieb und zu handeln versuchte, um damit den Fortbestand  des US-Imperiums nach dem Zusammenbruch  der bipolaren Welt  Ende der 80/Anfang der 90 Jahre  zu sichern, Zbigniew Brzezinski, ist inzwischen verstorben. Seine Thesen, basierend auf den Erfahrungen des britischen Empire, erstmals 1904 bei Halford Mackinder formuliert [2], von Brzezinski in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch „Die einzige Weltmacht“)[3] nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1997 mit Blick auf Russland weiter ausgearbeitet, sind jedoch nach wie vor brandaktuell – allerdings in Umkehrung dessen, was das Ziel Brzezinskis war und nach anderen Regeln, eben denen des asiatischen GO, statt des westlichen Schach.

Es gelang nicht das „Herzland“ zu teilen,  jedenfalls nicht in drei Teile. Zwar wurde es von seinen Rändern her beschnitten – Ost-Europa, Kaukasus, Baltikum, Zentralasien. Zwar wurde es eingekreist durch „bunte Revolutionen“. Zwar wurde es militärisch bedrängt mit der Stationierung von NATO „Battle Groups“ und Raketen-Abschussrampen direkt vor seinen Grenzen. Aber es konnte doch trotz allem vom Westen nicht kolonisiert werden, jedenfalls nicht auf Dauer, sondern hat sich nach dem katastrophalen Zusammenbruch der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts in den Jahren ab 2000 dann unter seinem zu der Zeit neu antretenden Präsidenten Wladimir Putin schrittweise von innen her stabilisiert. Es hat sich zum Integrator  des eurasischen Raumes entwickelt, der daran geht, sich selbst zu organisieren, statt Objekt imperialen Zugriffs aus dem Westen zu sein.

Als Vielvölkerorganismus, der die Stürme des ersten und des zweiten  Weltkrieges, des Kalten Krieges wie auch den Druck der US-geführten unipolaren Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion im Kern, wenn auch immer noch geschwächt, überlebte, wurde Russland, selbst plural organisiert, zusammen mit China zum faktischen Modell und Impulsgeber des multipolaren Gegenentwurfes gegenüber der unipolaren Imperialordnung der USA.

Steinchen für Steinchen hat sich diese neue Ordnung unerkannt unter der Dominanz der amerikanisch-europäischen Weltordnung herausgebildet – nicht zuletzt auch als Ergebnis überheblicher Abschätzigkeit des Westens gegenüber dem „unterentwickelten Osten“, also gegenüber Russland, China, generell Asien.  Man erinnere sich nur daran, mit welcher Häme und Vordergründigkeit die wiederholten, mühsamen, in den Anfängen nicht sehr erfolgreichen Anläufe Russlands kommentiert wurden, den durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen Fliehkräften im eurasischen Raum entgegenzuwirken. Das betrifft Russlands Beteiligung an der “Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), in der die aus der Sowjetunion ausgeschiedenen ehemaligen Republiken, außer den baltischen, zusammenfinden wollten. Das betrifft die Versuche Russlands mit der kleineren „Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung“  (GUAM), bestehend aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien, zu kooperieren. Das betrifft den „Vertrag zur kollektiven Sicherheit“ (OVKS) und schließlich auch die bilateralen Beziehungen Russlands zu einzelnen der neu entstandenen Staaten und halbstaatlichen autonomen Gebiete.

 

Viele kleine Schritte vom Westen nach Osten…

 In der Rückschau treten die in der Vergangenheit unscheinbar gesetzten Steinchen, aus denen das aktuelle Bild auf dem globalen Brett hervorging, dafür jetzt umso deutlicher hervor:

  • 1964 entwickelt China, nach der Spaltung der kommunistischen Welt weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörig, die Strategie einer multipolaren Weltordnung.
  • 1984/5 übernimmt Michail Gorbatschow mit Beginn der Perestroika die Option der Multipolarität auch für Russland, wenngleich noch ganz auf Zusammenwachsen Russlands mit Europa im „Europäischen Haus“ orientiert.  
  • 1996 schließen China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan sich zu den „Shanghai fünf“ zusammen, um die aus dem Zerfall der Sowjetunion resultierenden Grenzprobleme zu klären.
  • 1997 legen Russland und China der UNO ein Papier zur Entwicklung einer multipolaren, anstelle der unipolaren Weltordnung vor.
  • 1998 lenkt der russische Ministerpräsident Jewgeni Primakow, noch unter Boris Jelzins Orientierung auf den Westen, Russlands Außenpolitik aktiv auf Asien. Er sucht eine Allianz mit Indien und China unter Einschluss von Weißrussland. Mit dem Abbruch eines bereits eingeleiteten Staatsbesuches (er gibt dem Flugkapitän Befehl zur Rückkehr!) brüskiert er die USA wegen des von ihr geführten Kosovokrieges.
  • 2000 tritt Wladimir Putin sein Amt als Staatspräsident Russlands mit der Erklärung an, er wolle nicht nur Russlands Staatlichkeit wiederherstellen, sondern das Land in Übereinstimmung mit seiner historischen Rolle wieder zum „Integrationsknoten Eurasiens“ machen, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.
  • 2000 schließen sich Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zur „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ zusammen; 2002 treten Moldawien, die Ukraine und Armenien, 2006 auch Usbekistan dieser Gemeinschaft mit bei.
  • 2001 erweitern sich die „Shanghai fünf“ zur „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Sie versteht sich als Kooperationsorgan zwischen der Volksrepublik China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Die SOZ befasst sich über die bisher von den „Shanghai fünf“ behandelten Fragen der Grenzsicherheit und Stabilität der Region hinaus auch mit Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten. Der Organisation gehören seit 2017 neben den Gründerstaaten auch Indien und Pakistan an. Damit repräsentiert die SOZ heute die Hälfte der Weltbevölkerung; Weißrussland und die Türkei sind als „Dialogpartner“ angeschlossen.
  • 2001 schließen sich die Länder Brasilien, Russland, Indien und China (Kürzel: BRIC-Staaten, nach den Anfangsbuchstaben der beteiligten Länder) zu einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft zusammen,  die sich als Entwicklungsgemeinschaft gegen die Vormacht der USA wendet.  Seit 2011 nimmt Südafrika an den jährlichen Gipfeln der BRIC-Staaten teil, die seitdem unter dem erweiterten Kürzel  BRICS firmieren und turnusmäßig zu jährlichen Gipfeln zusammenkommen.
  • 2009 schließen sich 29 Staaten Süd-Ost-Asiens zu einem Wirtschaftsraum zusammen, nachdem sie seit 1967 bereits locker im Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (von englisch: Association of Southeast Asian Nations)  verbunden waren.  Die Gründung weiterer Unter-Organisationen für regionale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, zur Förderung des Handels uam. folgen. Die ursprüngliche Orientierung gegen die Sowjetunion und gegen China beginnt in eine Kooperation mit der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und den BRICS-Treffen überzugehen.  
  • 2013 stellt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Kasachstan das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ vor, das den gesamten eurasischen Raum von Osten bis Westen, von China über Zentralasien und Russland bis nach Europa in dem Entwurf einer Länder übergreifenden Kooperation miteinander verbinden soll. Das Projekt versteht sich ausdrücklich als ziviler Gegenentwurf zu der militärisch gestützten Globalisierungs- und aggressiven Fraktionierungspolitik der USA.
  • 2014 geht die „Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft“ in die verbindlichere „Eurasische Wirtschaftsunion“ (EAWU) über. Mitglieder sind Kasachstan, Russland und Weißrussland, ab 2015 auch Armenien und Kirgisistan.
  • 2014 gründen die BRICS-Staaten die „Neue Entwicklungsbank“ als Gegenkraft zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um der Dollarherrschaft etwas Eigenes von Seiten der Entwicklungsländer entgegensetzen zu können.
  • 2015 kommt eine „Asiatische Infrastrukturinvestmentbank“ (AIIB) als Hauptfinanzier des Seidenstraßenprojektes hinzu, ebenfalls als Gegenkraft zu Weltbank und dem IWF. Den 21 Gründungsmitgliedern aus dem asiatischen Raum schlossen sich 57 Interessenten an, von denen die meisten aus dem östlichen und süd-östlichen eurasischen Raum kommen. Dabei sind aber auch Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – trotz ausdrücklicher Warnungen aus den USA.
  • 2016 wirbt Putin beim turnusmäßigen ASEAN-Gipfel erfolgreich für engere Kooperation der ASEAN-Staaten mit Russland und China im Zuge des Seidenstraßenprojektes und Zusammenwirkens mit der „Eurasischen Wirtschaftsunion“.
  • 2016 unterzeichnen China, Russland und die Mongolei ein Entwicklungsprogramm zur Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftskorridors im Zuge der Seidenstraßen-Initiative.
  • 2016/2107 finden die turnusmäßigen BRICS Gipfel in GOA/Indien (2016), in Xiamen/China (2017) in lockerer Koordination mit Gipfeln der ‚Eurasischen Wirtschaftsunion‘ und dem ASEAN-Netz statt.
  • Seit 2017 werben Vertreter der russischen Politik, konkret Putins Chef-Berater für Ostpolitik, Sergei Karaganow[4], massiv für die Zusammenführung von „Europäischer Wirtschaftsunion“, der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, den ASEAN-Staaten und dem Projekt „Neue Seidenstraße“ zu einem „Projekt Großeurasien“, wobei sie in Aussicht stellen, darin  auch die Türkei, den Iran, Israel und Ägypten einzubeziehen. „Europa“ wird ebenfalls eingeladen – wenn es die Kraft dazu aufbringen könne; die USA werden ausdrücklich außen vor gehalten.
  • Im Mai 2017 treffen sich 29 Staats- und Regierungschefs aus dem eurasischen Raum auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf dem „Seidenstraßen-Forum“ in Peking. Unter den Gästen wird Wladimir Putin als wichtiger Partner und Förderer hervorgehoben.
  • Im November 2017 versammeln sich die ASEAN-Staaten zum 50jährigen Jubiläum ihrer Organisation (und ihrer diversen Vorläufer) in Anwesenheit Chinas und Russlands. China und Russland machen erfolgreich ihren Einfluss geltend, Trumps Drohungen gegen Nord-Korea diplomatisch einzuhegen.

Überschaut man die entstandene Konstellation, dann wird unschwer erkennbar, wie  massiv sich die Gewichte in den letzten Jahren und dies mit zunehmender Intensität in Richtung einer dichter werdenden eurasischen Vernetzung verändert haben.

 

… und ihr politischer Rahmen

Ein weiterer Blick zurück, dieses mal auf die politischen Rahmendaten, die diesen Prozess begleiten, macht diese Entwicklung noch offensichtlicher:

  • 2001: Wladimir Putin hält seine erste Auslandsrede – in deutscher Sprache, im deutschen Bundestag. Trotz bereits vereinbarungswidrig erfolgter erster Schritte zur Erweiterung der NATO nach Osten betont Putin damals, noch ganz im Strom der von Gorbatschow formulierten Idee des „gemeinsamen Europäischen Hauses“, die Einheit der europäischen Wertekultur und die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Das einheitliche und sichere Europa müsse zum „Vorboten“ für eine sichere Welt werden. Eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok könne der Ausdruck davon sein.
  • 2007: Nach weiteren Ost-Erweiterungen der NATO, angesichts der vom Westen offen unterstützten „Bunten Revolutionen“ in Georgien 2003, in der Ukraine 2004, in Kirgisistan 2005, des gescheiterten Ansatzes in Weißrussland, 2006, sowie den parallel dazu 2004 und 2007 folgenden Ost-Erweiterungen der EU, geht Wladimir Putin auf der „Sicherheitskonferenz“ in München erstmals in Distanz zu den westlichen Weltherrschaftsansprüchen. Er macht seine Kritik allerdings hauptsächlich an der Militarisierungspolitik der USA fest, erkennbar bemüht, zwischen USA und EU taktisch zu differenzieren.
  • 2008: Russland weist die provokativen Versuche des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili militärisch zurück, der im Schatten der NATO-Erweiterung einseitige Grenzkorrekturen auf Kosten Russlands vornehmen will. Das war zugleich als gelbe Karte für NATO und EU zu verstehen, von der geplanten Fortsetzung ihrer Erweiterungspläne über den südlichen Kaukasus hinaus nach Zentralasien Abstand zu nehmen.
  • 2014: Als deutlicher Abbruch der West-Integration muss Russlands Aufnahme der KRIM in den Russischen Staatsverband und die halbmilitärische Unterstützung der Kämpfe der Regionen Donezk und Lugansk um ihre Autonomie verstanden werden. Mit ihrer Politik in der Ukraine-Krise zeigte Russland dem Westen, also der Allianz von NATO, EU und den USA, dass es ein weiteres Vordringen des Westens, vor allem westlichen Militärs auf russische Kosten nicht hinnehmen werde. Die daraufhin vom Westen eingeleitete Sanktionspolitik wirkt seitdem als Brandbeschleuniger für die eurasischen Integrationsprozesse.
  • 2016/2017: Das militärische Eingreifen Russlands in Syrien hat nicht nur den Eroberungszug der US-Politik in Mesopotamien beendet und Syrien in eine vorläufige Waffenruhe geführt. Es hat Russlands Südflanke auch vom Druck der westlichen Allianz befreit und es zum zurzeit wichtigsten Akteur im mesopotamischen Raum werden lassen. Der wird über Russlands neue Bündnispartner Iran und Türkei zudem anschlussfähig für den eurasischen Raum, während die USA sich unter Trump aus der aktiven Politik im mesopotamischen Raum vorläufig zurückziehen, um die Hände frei zu haben für Asien. Putin wird von der globalen Öffentlichkeit –  im Westen widerstrebend und widerwillig, versteht sich – als „neuer starker Mann“ in Syrien und Mesopotamien wahrgenommen. Man werde sehen, schränken die westlichen Kommentatoren ein, noch sei Syrien nicht wirklich beruhigt und Putin wolle nur Punkte für seine innenpolitischen Auftritte sammeln. 
  • 2017: Auf der, schon erwähnten, ASEAN-Konferenz vom November trat die neue Konstellation im globalen Kräftefeld klar zutage: Nicht nur traten China und Russland den atomaren Drohungen Trumps gegen Nordkorea entschieden entgegen. US-Präsident Donald Trump, der mit großem Einsatz versuchte, in dem entstandenen asiatischen Netz Fuß zu fassen, hatte den ASEAN-Mitgliedern nach seiner,  zugunsten der von ihm ausgerufenen Politik des „Amerika first“ vorgenommenen Aufkündigung der „Transpazifischen Partnerschaft“ (TTP) nicht viel zu bieten, so dass sie nach neuen regionalen Zusammenschlüssen suchen. Die Vision eines „Großeurasien“ erwachsend aus einem Zusammenwirken der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ und dem „Projekt Seidenstraße“ rückt in den Mittelpunkt auch des ASEAN-Staatenbündnisses. Die USA sind nicht Bestandteil dieses Prozesses, die EU ist als Handelspartner am westlichen Ende der Seidenstraße geduldet.

 

Ermutigende Perspektiven…

Man muss die aus der eurasischen Selbstorganisation zum einen und den politischen Entfremdungen und Zusammenstößen zwischen Russland und dem Westen heute entstandene Konstellation nicht überbewerten. Soviel aber ist offensichtlich: Die USA und in ihrem Schatten Europa, konkret die EU haben ihre historische Definitionsmacht als imperiale Zuchtmeister des Globus verloren. Heute kommt die Ansage zur Entwicklung Eurasiens nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten – aus Russland, aus China, aus Zentral- und Süd-Ost-Asien mit Unterstützung einer zunehmenden Zahl von Ländern, die im Aufkommen eines starken Eurasiens die Möglichkeit  sehen, sich vom Druck der ‚westlichen‘ Weltherrschaft zu befreien.  Anders als zuvor aus dem Westen kommt dieser vom Osten herkommende Impuls zur Entwicklung Eurasiens nicht als militärisch gestützter  Impuls von ‚Teile und Herrsche‘, sondern als Prozess des Sammelns und sich Verbündens, des Länder-, Kultur- und Sprachräume übergreifenden Verlangens nach gegenseitiger tatsächlicher Entwicklungshilfe, statt der Herstellung neo-kolonialer Abhängigkeiten unter dem Etikett einer solchen daher.  In dieser Entwicklung kündigt sich eine Tendenz, bescheidener gesagt, eine Chance, noch bescheidener formuliert, die Möglichkeit  für die Entwicklung einer neuen Phase der Weltpolitik an: die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Kooperation einer multikulturell vernetzten Staaten-Gemeinschaft, in der Staaten sich darauf beschränken können, sich gegenseitig zu stützen.

  

… und mögliche Störungen

Um aber nicht in Wunschträume zu verfallen, muss allerdings daran erinnert werden, dass noch nicht alle Steinchen im Spiel und noch nicht alle Möglichkeiten der Störung ausgereizt sind: Ohne in Spekulationen zu verfallen, darf  davon ausgegangen werden, dass sich die „einzige Weltmacht“ mit der jetzt entstandenen Konstellation nicht zufrieden geben wird. Ansatzpunkte, von denen aus, um im Bild zu bleiben, ein erneuter Farbwechsel im globalen Spiel, klarer gesagt, im Ringen um die kommende Rolle Eurasiens bei der Herausbildung einer neuen Weltordnung, seitens des bisherigen Hegemonen erzwungen werden könnte, sind klar zu erkennen. Sie heißen: Europa, Korea und Mesopotamien, alle drei noch von Brzezinski seinerzeit als „Brückenköpfe“ zur Eroberung des „Herzlandes“ benannt und in den zurückliegenden Jahren auch genutzt. Das wäre: Europa als Stoßkeil vom Westen her, wenn es der US Politik gelingt, die EU, insonderheit Deutschland weiter  in die Konfrontation mit Russland zu treiben und so eine Beteiligung Europas an dem „eurasischen Projekt“ zu hintertreiben; Japan, das sich von Korea bedroht fühlt, als Stoßkeil vom Osten her, wenn es gelingt, den koreanischen Konflikt im Herzen der sich erst konsolidierenden ASEAN-Staaten-Gemeinschaft weiter anzuheizen, und schließlich der mesopotamisch-afrikanische Raum als Störfeld vom Süden her, wenn es gelingt, dieses Gebiet allen aktuellen militärischen und diplomatischen Erfolgen der russischen Einsätze zum Trotz erneut zu destabilisieren.

Nicht zuletzt lebt auf westlicher Seite immer noch die Hoffnung, Wladimir Putin, der sich soeben den Anforderungen stellen muss, die aus seiner Absicht resultieren, in eine neue Phase seiner Präsidentschaft einzutreten, ungeachtet seiner außenpolitischen Erfolge über innenpolitische, vornehmlich soziale Probleme stolpern zu sehen. Genauer gesagt sogar, seine außenpolitischen Erfolge zu relativieren, zu stören, wenn möglich sogar zu zerstören, in dem Wissen, dass er für sein innenpolitisches „Rating“, das heißt, für seine zukünftige innenpolitische Handlungsfähigkeit angesichts wachsender innenpolitischer Widerstände, nicht zuletzt sozialer Art auf außenpolitische Erfolge angewiesen ist. Wenn es gelänge, Putin innenpolitisch zu destabilisieren, würde dem eurasischen Projekt ein wesentlicher Pfeiler entzogen.

Noch unberührt von  all dem ist dabei die Frage, ob das „Eurasische Projekt“, wenn es sich denn ungestört entwickeln könnte, tatsächlich zu einer neuen Ordnung führen würde, welche die nationalstaatliche Konkurrenz hinter sich zu lassen in der Lage wäre oder ob es nur der Herausbildung eines neuen Hegemonen Vorschub leistet, nämlich Chinas. Dies wäre dann ein neues Spiel nach ganz alten Regeln, über dessen Ausgang nur spekuliert werden könnte.  

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema das Buch:

Kai Ehlers, Asiens Sprung in die Gegenwart. Russland – China – Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums „Inneres Asien“., Pforte, 2006

(In dem Buch werden die grundlegenden Entwicklungslinien dieses Raumes als „Treibhaus der Evolution“ skizziert)

Zu beziehen über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel)

[2] In „The geographical pivot of history“ , siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Halford_Mackinder

[3] Deutscher Titel: „Die einzige Weltmacht“, erschienen bei  Fischer tb, 2001

[4] Sergei Karaganow, Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, u.a. in Spiegel 28/2016

 

Für eine Bearbeitung des Textes mit weiterführendem Anschaungsmaterial und Hintergrundlinks siehe:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien

Ausserdem Unzensiertes Aktuelles und Strategisches zu Russland in: http://www.russland.news/

Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?

Wieder einmal will man uns einnebeln: Dem Demokratisierungsprozess in der Ukraine stehe nur noch Russlands Unterstützung für die nicht anerkannten Republiken Donezk und Lugansk entgegen. Eine Befriedung Syriens und damit ein Ende des Terrors wie auch der Flüchtlingsbewegungen würden nur durch Russlands Festhalten an Präsident Baschar el-Assad verhindert. Continue reading “Der „Ukraine-Syrien-Komplex“ – was will, was kann Putin?” »