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Globaler Farbwechsel – Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien

Beim GO, dem in Asien beliebten strategischen Brettspiel geht es beim wechselseitigen Besetzen der Spielfläche durch schwarze oder weiße Steinchen um Geländegewinn. Dabei kann ein Steinchen, zur rechten Zeit an die richtige Stelle gesetzt, auf einen Schlag die eben noch dominante Farbe des Feldes umschlagen lassen, wenn die so eingekreisten Steinchen des Gegners aus dem Feld genommen werden. Plötzlich tritt eine vorher gewachsene, aber übersehene Konstellation hervor.[1]

Ein solcher Farbwechsel ist durch den Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Rückzug russischer Truppen aus Syrien, verbunden mit seiner Erklärung, der Terrorismus sei besiegt und die Menschen könnten in ihr Land zurückkehren, um es wieder aufzubauen, soeben auf dem globalen Spielbrett  vor sich gegangen.  Putins Besuche in Ankara und Ägypten, dazu seine öffentliche Kritik an der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ergänzen das Bild. Was wird da erkennbar?  

 

Das „Heartland“ beherrschen?

Wer die Welt beherrschen wolle, hieß es bisher, der müsse Eurasien beherrschen; wer Eurasien beherrschen wolle, müsse das „Herzland“, also Russland, beherrschen – müsse es am Besten in drei Teile teilen, einen östlichen, einen mittleren und einen westlichen, die sich so gegeneinander abgrenzen und manipulieren ließen.

Der so sprach, schrieb und zu handeln versuchte, um damit den Fortbestand  des US-Imperiums nach dem Zusammenbruch  der bipolaren Welt  Ende der 80/Anfang der 90 Jahre  zu sichern, Zbigniew Brzezinski, ist inzwischen verstorben. Seine Thesen, basierend auf den Erfahrungen des britischen Empire, erstmals 1904 bei Halford Mackinder formuliert [2], von Brzezinski in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch „Die einzige Weltmacht“)[3] nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1997 mit Blick auf Russland weiter ausgearbeitet, sind jedoch nach wie vor brandaktuell – allerdings in Umkehrung dessen, was das Ziel Brzezinskis war und nach anderen Regeln, eben denen des asiatischen GO, statt des westlichen Schach.

Es gelang nicht das „Herzland“ zu teilen,  jedenfalls nicht in drei Teile. Zwar wurde es von seinen Rändern her beschnitten – Ost-Europa, Kaukasus, Baltikum, Zentralasien. Zwar wurde es eingekreist durch „bunte Revolutionen“. Zwar wurde es militärisch bedrängt mit der Stationierung von NATO „Battle Groups“ und Raketen-Abschussrampen direkt vor seinen Grenzen. Aber es konnte doch trotz allem vom Westen nicht kolonisiert werden, jedenfalls nicht auf Dauer, sondern hat sich nach dem katastrophalen Zusammenbruch der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts in den Jahren ab 2000 dann unter seinem zu der Zeit neu antretenden Präsidenten Wladimir Putin schrittweise von innen her stabilisiert. Es hat sich zum Integrator  des eurasischen Raumes entwickelt, der daran geht, sich selbst zu organisieren, statt Objekt imperialen Zugriffs aus dem Westen zu sein.

Als Vielvölkerorganismus, der die Stürme des ersten und des zweiten  Weltkrieges, des Kalten Krieges wie auch den Druck der US-geführten unipolaren Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion im Kern, wenn auch immer noch geschwächt, überlebte, wurde Russland, selbst plural organisiert, zusammen mit China zum faktischen Modell und Impulsgeber des multipolaren Gegenentwurfes gegenüber der unipolaren Imperialordnung der USA.

Steinchen für Steinchen hat sich diese neue Ordnung unerkannt unter der Dominanz der amerikanisch-europäischen Weltordnung herausgebildet – nicht zuletzt auch als Ergebnis überheblicher Abschätzigkeit des Westens gegenüber dem „unterentwickelten Osten“, also gegenüber Russland, China, generell Asien.  Man erinnere sich nur daran, mit welcher Häme und Vordergründigkeit die wiederholten, mühsamen, in den Anfängen nicht sehr erfolgreichen Anläufe Russlands kommentiert wurden, den durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen Fliehkräften im eurasischen Raum entgegenzuwirken. Das betrifft Russlands Beteiligung an der “Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), in der die aus der Sowjetunion ausgeschiedenen ehemaligen Republiken, außer den baltischen, zusammenfinden wollten. Das betrifft die Versuche Russlands mit der kleineren „Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung“  (GUAM), bestehend aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien, zu kooperieren. Das betrifft den „Vertrag zur kollektiven Sicherheit“ (OVKS) und schließlich auch die bilateralen Beziehungen Russlands zu einzelnen der neu entstandenen Staaten und halbstaatlichen autonomen Gebiete.

 

Viele kleine Schritte vom Westen nach Osten…

 In der Rückschau treten die in der Vergangenheit unscheinbar gesetzten Steinchen, aus denen das aktuelle Bild auf dem globalen Brett hervorging, dafür jetzt umso deutlicher hervor:

  • 1964 entwickelt China, nach der Spaltung der kommunistischen Welt weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörig, die Strategie einer multipolaren Weltordnung.
  • 1984/5 übernimmt Michail Gorbatschow mit Beginn der Perestroika die Option der Multipolarität auch für Russland, wenngleich noch ganz auf Zusammenwachsen Russlands mit Europa im „Europäischen Haus“ orientiert.  
  • 1996 schließen China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan sich zu den „Shanghai fünf“ zusammen, um die aus dem Zerfall der Sowjetunion resultierenden Grenzprobleme zu klären.
  • 1997 legen Russland und China der UNO ein Papier zur Entwicklung einer multipolaren, anstelle der unipolaren Weltordnung vor.
  • 1998 lenkt der russische Ministerpräsident Jewgeni Primakow, noch unter Boris Jelzins Orientierung auf den Westen, Russlands Außenpolitik aktiv auf Asien. Er sucht eine Allianz mit Indien und China unter Einschluss von Weißrussland. Mit dem Abbruch eines bereits eingeleiteten Staatsbesuches (er gibt dem Flugkapitän Befehl zur Rückkehr!) brüskiert er die USA wegen des von ihr geführten Kosovokrieges.
  • 2000 tritt Wladimir Putin sein Amt als Staatspräsident Russlands mit der Erklärung an, er wolle nicht nur Russlands Staatlichkeit wiederherstellen, sondern das Land in Übereinstimmung mit seiner historischen Rolle wieder zum „Integrationsknoten Eurasiens“ machen, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.
  • 2000 schließen sich Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zur „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ zusammen; 2002 treten Moldawien, die Ukraine und Armenien, 2006 auch Usbekistan dieser Gemeinschaft mit bei.
  • 2001 erweitern sich die „Shanghai fünf“ zur „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Sie versteht sich als Kooperationsorgan zwischen der Volksrepublik China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Die SOZ befasst sich über die bisher von den „Shanghai fünf“ behandelten Fragen der Grenzsicherheit und Stabilität der Region hinaus auch mit Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten. Der Organisation gehören seit 2017 neben den Gründerstaaten auch Indien und Pakistan an. Damit repräsentiert die SOZ heute die Hälfte der Weltbevölkerung; Weißrussland und die Türkei sind als „Dialogpartner“ angeschlossen.
  • 2001 schließen sich die Länder Brasilien, Russland, Indien und China (Kürzel: BRIC-Staaten, nach den Anfangsbuchstaben der beteiligten Länder) zu einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft zusammen,  die sich als Entwicklungsgemeinschaft gegen die Vormacht der USA wendet.  Seit 2011 nimmt Südafrika an den jährlichen Gipfeln der BRIC-Staaten teil, die seitdem unter dem erweiterten Kürzel  BRICS firmieren und turnusmäßig zu jährlichen Gipfeln zusammenkommen.
  • 2009 schließen sich 29 Staaten Süd-Ost-Asiens zu einem Wirtschaftsraum zusammen, nachdem sie seit 1967 bereits locker im Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (von englisch: Association of Southeast Asian Nations)  verbunden waren.  Die Gründung weiterer Unter-Organisationen für regionale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, zur Förderung des Handels uam. folgen. Die ursprüngliche Orientierung gegen die Sowjetunion und gegen China beginnt in eine Kooperation mit der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und den BRICS-Treffen überzugehen.  
  • 2013 stellt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Kasachstan das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ vor, das den gesamten eurasischen Raum von Osten bis Westen, von China über Zentralasien und Russland bis nach Europa in dem Entwurf einer Länder übergreifenden Kooperation miteinander verbinden soll. Das Projekt versteht sich ausdrücklich als ziviler Gegenentwurf zu der militärisch gestützten Globalisierungs- und aggressiven Fraktionierungspolitik der USA.
  • 2014 geht die „Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft“ in die verbindlichere „Eurasische Wirtschaftsunion“ (EAWU) über. Mitglieder sind Kasachstan, Russland und Weißrussland, ab 2015 auch Armenien und Kirgisistan.
  • 2014 gründen die BRICS-Staaten die „Neue Entwicklungsbank“ als Gegenkraft zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um der Dollarherrschaft etwas Eigenes von Seiten der Entwicklungsländer entgegensetzen zu können.
  • 2015 kommt eine „Asiatische Infrastrukturinvestmentbank“ (AIIB) als Hauptfinanzier des Seidenstraßenprojektes hinzu, ebenfalls als Gegenkraft zu Weltbank und dem IWF. Den 21 Gründungsmitgliedern aus dem asiatischen Raum schlossen sich 57 Interessenten an, von denen die meisten aus dem östlichen und süd-östlichen eurasischen Raum kommen. Dabei sind aber auch Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – trotz ausdrücklicher Warnungen aus den USA.
  • 2016 wirbt Putin beim turnusmäßigen ASEAN-Gipfel erfolgreich für engere Kooperation der ASEAN-Staaten mit Russland und China im Zuge des Seidenstraßenprojektes und Zusammenwirkens mit der „Eurasischen Wirtschaftsunion“.
  • 2016 unterzeichnen China, Russland und die Mongolei ein Entwicklungsprogramm zur Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftskorridors im Zuge der Seidenstraßen-Initiative.
  • 2016/2107 finden die turnusmäßigen BRICS Gipfel in GOA/Indien (2016), in Xiamen/China (2017) in lockerer Koordination mit Gipfeln der ‚Eurasischen Wirtschaftsunion‘ und dem ASEAN-Netz statt.
  • Seit 2017 werben Vertreter der russischen Politik, konkret Putins Chef-Berater für Ostpolitik, Sergei Karaganow[4], massiv für die Zusammenführung von „Europäischer Wirtschaftsunion“, der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, den ASEAN-Staaten und dem Projekt „Neue Seidenstraße“ zu einem „Projekt Großeurasien“, wobei sie in Aussicht stellen, darin  auch die Türkei, den Iran, Israel und Ägypten einzubeziehen. „Europa“ wird ebenfalls eingeladen – wenn es die Kraft dazu aufbringen könne; die USA werden ausdrücklich außen vor gehalten.
  • Im Mai 2017 treffen sich 29 Staats- und Regierungschefs aus dem eurasischen Raum auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf dem „Seidenstraßen-Forum“ in Peking. Unter den Gästen wird Wladimir Putin als wichtiger Partner und Förderer hervorgehoben.
  • Im November 2017 versammeln sich die ASEAN-Staaten zum 50jährigen Jubiläum ihrer Organisation (und ihrer diversen Vorläufer) in Anwesenheit Chinas und Russlands. China und Russland machen erfolgreich ihren Einfluss geltend, Trumps Drohungen gegen Nord-Korea diplomatisch einzuhegen.

Überschaut man die entstandene Konstellation, dann wird unschwer erkennbar, wie  massiv sich die Gewichte in den letzten Jahren und dies mit zunehmender Intensität in Richtung einer dichter werdenden eurasischen Vernetzung verändert haben.

 

… und ihr politischer Rahmen

Ein weiterer Blick zurück, dieses mal auf die politischen Rahmendaten, die diesen Prozess begleiten, macht diese Entwicklung noch offensichtlicher:

  • 2001: Wladimir Putin hält seine erste Auslandsrede – in deutscher Sprache, im deutschen Bundestag. Trotz bereits vereinbarungswidrig erfolgter erster Schritte zur Erweiterung der NATO nach Osten betont Putin damals, noch ganz im Strom der von Gorbatschow formulierten Idee des „gemeinsamen Europäischen Hauses“, die Einheit der europäischen Wertekultur und die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Das einheitliche und sichere Europa müsse zum „Vorboten“ für eine sichere Welt werden. Eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok könne der Ausdruck davon sein.
  • 2007: Nach weiteren Ost-Erweiterungen der NATO, angesichts der vom Westen offen unterstützten „Bunten Revolutionen“ in Georgien 2003, in der Ukraine 2004, in Kirgisistan 2005, des gescheiterten Ansatzes in Weißrussland, 2006, sowie den parallel dazu 2004 und 2007 folgenden Ost-Erweiterungen der EU, geht Wladimir Putin auf der „Sicherheitskonferenz“ in München erstmals in Distanz zu den westlichen Weltherrschaftsansprüchen. Er macht seine Kritik allerdings hauptsächlich an der Militarisierungspolitik der USA fest, erkennbar bemüht, zwischen USA und EU taktisch zu differenzieren.
  • 2008: Russland weist die provokativen Versuche des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili militärisch zurück, der im Schatten der NATO-Erweiterung einseitige Grenzkorrekturen auf Kosten Russlands vornehmen will. Das war zugleich als gelbe Karte für NATO und EU zu verstehen, von der geplanten Fortsetzung ihrer Erweiterungspläne über den südlichen Kaukasus hinaus nach Zentralasien Abstand zu nehmen.
  • 2014: Als deutlicher Abbruch der West-Integration muss Russlands Aufnahme der KRIM in den Russischen Staatsverband und die halbmilitärische Unterstützung der Kämpfe der Regionen Donezk und Lugansk um ihre Autonomie verstanden werden. Mit ihrer Politik in der Ukraine-Krise zeigte Russland dem Westen, also der Allianz von NATO, EU und den USA, dass es ein weiteres Vordringen des Westens, vor allem westlichen Militärs auf russische Kosten nicht hinnehmen werde. Die daraufhin vom Westen eingeleitete Sanktionspolitik wirkt seitdem als Brandbeschleuniger für die eurasischen Integrationsprozesse.
  • 2016/2017: Das militärische Eingreifen Russlands in Syrien hat nicht nur den Eroberungszug der US-Politik in Mesopotamien beendet und Syrien in eine vorläufige Waffenruhe geführt. Es hat Russlands Südflanke auch vom Druck der westlichen Allianz befreit und es zum zurzeit wichtigsten Akteur im mesopotamischen Raum werden lassen. Der wird über Russlands neue Bündnispartner Iran und Türkei zudem anschlussfähig für den eurasischen Raum, während die USA sich unter Trump aus der aktiven Politik im mesopotamischen Raum vorläufig zurückziehen, um die Hände frei zu haben für Asien. Putin wird von der globalen Öffentlichkeit –  im Westen widerstrebend und widerwillig, versteht sich – als „neuer starker Mann“ in Syrien und Mesopotamien wahrgenommen. Man werde sehen, schränken die westlichen Kommentatoren ein, noch sei Syrien nicht wirklich beruhigt und Putin wolle nur Punkte für seine innenpolitischen Auftritte sammeln. 
  • 2017: Auf der, schon erwähnten, ASEAN-Konferenz vom November trat die neue Konstellation im globalen Kräftefeld klar zutage: Nicht nur traten China und Russland den atomaren Drohungen Trumps gegen Nordkorea entschieden entgegen. US-Präsident Donald Trump, der mit großem Einsatz versuchte, in dem entstandenen asiatischen Netz Fuß zu fassen, hatte den ASEAN-Mitgliedern nach seiner,  zugunsten der von ihm ausgerufenen Politik des „Amerika first“ vorgenommenen Aufkündigung der „Transpazifischen Partnerschaft“ (TTP) nicht viel zu bieten, so dass sie nach neuen regionalen Zusammenschlüssen suchen. Die Vision eines „Großeurasien“ erwachsend aus einem Zusammenwirken der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ und dem „Projekt Seidenstraße“ rückt in den Mittelpunkt auch des ASEAN-Staatenbündnisses. Die USA sind nicht Bestandteil dieses Prozesses, die EU ist als Handelspartner am westlichen Ende der Seidenstraße geduldet.

 

Ermutigende Perspektiven…

Man muss die aus der eurasischen Selbstorganisation zum einen und den politischen Entfremdungen und Zusammenstößen zwischen Russland und dem Westen heute entstandene Konstellation nicht überbewerten. Soviel aber ist offensichtlich: Die USA und in ihrem Schatten Europa, konkret die EU haben ihre historische Definitionsmacht als imperiale Zuchtmeister des Globus verloren. Heute kommt die Ansage zur Entwicklung Eurasiens nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten – aus Russland, aus China, aus Zentral- und Süd-Ost-Asien mit Unterstützung einer zunehmenden Zahl von Ländern, die im Aufkommen eines starken Eurasiens die Möglichkeit  sehen, sich vom Druck der ‚westlichen‘ Weltherrschaft zu befreien.  Anders als zuvor aus dem Westen kommt dieser vom Osten herkommende Impuls zur Entwicklung Eurasiens nicht als militärisch gestützter  Impuls von ‚Teile und Herrsche‘, sondern als Prozess des Sammelns und sich Verbündens, des Länder-, Kultur- und Sprachräume übergreifenden Verlangens nach gegenseitiger tatsächlicher Entwicklungshilfe, statt der Herstellung neo-kolonialer Abhängigkeiten unter dem Etikett einer solchen daher.  In dieser Entwicklung kündigt sich eine Tendenz, bescheidener gesagt, eine Chance, noch bescheidener formuliert, die Möglichkeit  für die Entwicklung einer neuen Phase der Weltpolitik an: die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Kooperation einer multikulturell vernetzten Staaten-Gemeinschaft, in der Staaten sich darauf beschränken können, sich gegenseitig zu stützen.

  

… und mögliche Störungen

Um aber nicht in Wunschträume zu verfallen, muss allerdings daran erinnert werden, dass noch nicht alle Steinchen im Spiel und noch nicht alle Möglichkeiten der Störung ausgereizt sind: Ohne in Spekulationen zu verfallen, darf  davon ausgegangen werden, dass sich die „einzige Weltmacht“ mit der jetzt entstandenen Konstellation nicht zufrieden geben wird. Ansatzpunkte, von denen aus, um im Bild zu bleiben, ein erneuter Farbwechsel im globalen Spiel, klarer gesagt, im Ringen um die kommende Rolle Eurasiens bei der Herausbildung einer neuen Weltordnung, seitens des bisherigen Hegemonen erzwungen werden könnte, sind klar zu erkennen. Sie heißen: Europa, Korea und Mesopotamien, alle drei noch von Brzezinski seinerzeit als „Brückenköpfe“ zur Eroberung des „Herzlandes“ benannt und in den zurückliegenden Jahren auch genutzt. Das wäre: Europa als Stoßkeil vom Westen her, wenn es der US Politik gelingt, die EU, insonderheit Deutschland weiter  in die Konfrontation mit Russland zu treiben und so eine Beteiligung Europas an dem „eurasischen Projekt“ zu hintertreiben; Japan, das sich von Korea bedroht fühlt, als Stoßkeil vom Osten her, wenn es gelingt, den koreanischen Konflikt im Herzen der sich erst konsolidierenden ASEAN-Staaten-Gemeinschaft weiter anzuheizen, und schließlich der mesopotamisch-afrikanische Raum als Störfeld vom Süden her, wenn es gelingt, dieses Gebiet allen aktuellen militärischen und diplomatischen Erfolgen der russischen Einsätze zum Trotz erneut zu destabilisieren.

Nicht zuletzt lebt auf westlicher Seite immer noch die Hoffnung, Wladimir Putin, der sich soeben den Anforderungen stellen muss, die aus seiner Absicht resultieren, in eine neue Phase seiner Präsidentschaft einzutreten, ungeachtet seiner außenpolitischen Erfolge über innenpolitische, vornehmlich soziale Probleme stolpern zu sehen. Genauer gesagt sogar, seine außenpolitischen Erfolge zu relativieren, zu stören, wenn möglich sogar zu zerstören, in dem Wissen, dass er für sein innenpolitisches „Rating“, das heißt, für seine zukünftige innenpolitische Handlungsfähigkeit angesichts wachsender innenpolitischer Widerstände, nicht zuletzt sozialer Art auf außenpolitische Erfolge angewiesen ist. Wenn es gelänge, Putin innenpolitisch zu destabilisieren, würde dem eurasischen Projekt ein wesentlicher Pfeiler entzogen.

Noch unberührt von  all dem ist dabei die Frage, ob das „Eurasische Projekt“, wenn es sich denn ungestört entwickeln könnte, tatsächlich zu einer neuen Ordnung führen würde, welche die nationalstaatliche Konkurrenz hinter sich zu lassen in der Lage wäre oder ob es nur der Herausbildung eines neuen Hegemonen Vorschub leistet, nämlich Chinas. Dies wäre dann ein neues Spiel nach ganz alten Regeln, über dessen Ausgang nur spekuliert werden könnte.  

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Zum Thema das Buch:

Kai Ehlers, Asiens Sprung in die Gegenwart. Russland – China – Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraums „Inneres Asien“., Pforte, 2006

(In dem Buch werden die grundlegenden Entwicklungslinien dieses Raumes als „Treibhaus der Evolution“ skizziert)

Zu beziehen über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel)

[2] In „The geographical pivot of history“ , siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Halford_Mackinder

[3] Deutscher Titel: „Die einzige Weltmacht“, erschienen bei  Fischer tb, 2001

[4] Sergei Karaganow, Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, u.a. in Spiegel 28/2016

 

Für eine Bearbeitung des Textes mit weiterführendem Anschaungsmaterial und Hintergrundlinks siehe:

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien

Ausserdem Unzensiertes Aktuelles und Strategisches zu Russland in: http://www.russland.news/

Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki – Innenansichten zur neueren russischen Geschichte

Vorgestellt durch den Autor selbst.

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Soeben erschien der zweite Band des der zweibändigen Ausgabe „25 Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki. Gesprächspartner Kagarlitzkis und Autor des Buches ist Kai Ehlers. Der erste Band zeigt die Zeit von Gorbatschow bis Jelzin; der zweite nunmehr Jelzins Abgang, Putin, Medwedew und wieder Putin. Verlag, LAIKA

Im öffentlichen westlichen Bewusstsein wird das Einsetzen der Perestroika vor 25 Jahren heute als Reform eingeordnet, bei einigen ganz verwegenen Zeitgenossen als Revolution, bei manchen sogar als letzte Revolution. Zu schweigen von denen, die nie etwas von Perestroika gehört haben.

Eine etwas andere Sicht erschließt sich aus den in dem Buch vorliegenden Gesprächen, die aus direkter Betroffenheit heraus Schritt für Schritt am konkreten Geschehen und im Bemühen um analytische Klarheit entstanden im Verlaufe von 25 Jahren sind.

Die Gespräche beginnen mit einer ersten Kontaktaufnahme zwischen der damaligen westdeutschen Neuen Linken der 80er Jahre (vertreten durch den ‚Kommunistischen Bund’ (KB), gemeinhin mit dem Zusatz ‚Nord’ versehen und einem Sprecher der Perestroikalinken Moskaus. Diese ersten Begegnungen stehen noch unter der Parole der von der Perestroika in den Jahren nach Gorbatschows Antritt als Generalsekretär der KPsSU 1985 hervorgebrachten informellen Bewegung, die von sich sagt: „Wir sind der linke Flügel der Perestroika“.
Sehr schnell folgen die ersten Ernüchterungen, als deutlich wird, dass Perestroika nicht die Reform des Sozialismus, nicht mehr Selbstbestimmung, nicht einen demokratisch kontrollierten Markt bringt, sondern mehr Leistung bei gleichzeitigem Abbau von sozialen Sicherungen fordert und schließlich zur Einführung eines Notstandsregimes führt, dass aber auch diejenigen, die sich wie Boris Jelzin Reformer nennen, ebenfalls nicht den Sozialismus reformieren, sondern ihn zugunsten einer ‚demokratischen Elite’ abschaffen wollen.
So geht es Schritt für Schritt. Jedes Gespräch skizziert eine neue Wendung, einen neuen Verlust bisher verbriefter sozialer Garantien. Der Krise Gorbatschows folgt der sog. Putsch. Er wird im Westen im Allgemeinen als Versuch der ‚Ewig Gestrigen’ wahrgenommen, die Entwicklung zurückzudrehen; in Wahrheit ist er eine Machtergreifung, derer, die die Sowjetunion mit größerer Beschleunigung hinter sich lassen wollten.
Und schon geht es weiter zu nächsten Krise, wenn die neue Führung unter Jelzin und das ‚Volk’, vertreten durch den Kongress der Volksdeputierten, in einen unlösbaren Konflikt über die Geschwindigkeit, die Art und den Umfang der Privatisierung geraten. An seinem Ende steht die Revolte der Deputierten, die Jelzin mit Panzern niederschlagen läßt. Die Berichte zu all diesen Vorgängen klingen in diesen Gesprächen anders als in den weichgespülten Jelzin-Lobeshymnen der damaligen Zeit und auch anders als in seiner nachträglichen Verklärung als ‚erster demokratisch gewählter Präsident Rußlands’.
Und weiter geht es auf dem mühsamen Weg der Festigung der ‚neuen Macht’ bis hin zur Ankunft Wladimir Putins und den darauf folgenden Tandemmanipulationen Putins und Medwedews, die – Demokratie hin, Demokratie her – in der Manier der alten russischen Selbstherschaft die Ämter unter sich aushandeln. Offen bleibt, wie es heute weitergeht.
Dies alles wird in den Gesprächen nicht aus der Perspektive der Kremlastrologie erörtert, sondern vom Standpunkt des alltäglichen, des gewerkschaftlichen Lebens, aus der Sicht derer, die an einer theoretischen und praktischen Erneuerung des Sozialismus aus der Kritik des Gewesenen und unter den Bedingungen des Bestehenden interessiert sind. Viele Gespräche werden noch zu dokumentieren sein, wenn wir verstehen wollen, was in den zurückliegenden funfundzwanzig Jahren tatsächlich geschehen ist.
Der russische Partner der in diesem Buch vorliegenden Gespräche, Boris Kagarlitzkij, ist der heute im Westen bekannteste russische Reformlinke. Seine Stimme hat Perestroika von ihren Anfängen unter Gorbatschow, durch das Chaos bei Jelzin bis in die heutige Putinsche Restauration hinein kontinuierlich begleitet. Er wurde 1958 geboren, schloß sich als Student einerer ‚Marxistischen Gruppe’ an, wurde noch unter Breschnjew verhaftet. Er saß anderthalb Jahre im Gefängnis. Mit einsetzender Perestroika wurde er freigelassen. Seitdem ist er aus sowjetkritischer Position heraus um eine Erneuerung des Sozialismus auf marxistischer Grundlage bemüht. Mit diesen Positionen ist er nicht mehr nur politischer Dissident der UdSSR, sondern unter verdrehten Vorzeichen auch im postsowjetischen Russland. Boris Kagarlitzkij ist heute Direktor des ‚Instituts für Globalisierung und soziale Bewegung’ (IGSO) in Moskau, Initiator und verantwortlicher Herausgeber des in Moskau erscheinenden Monatsbulletins ‚Linke Politik’ und Redakteur an der Internetplatform ‚www.RABKOR.ru’

Die Einteilung der beiden Bände folgt den wesentlichen Phasen, in denen sich der Verlauf der Perestroika vollzogen hat: Aufkündigung des Alten durch Michail Gorbatschow bis hin zur Auflösung und effektiven Zerstörung der sowjetischen Strukturen durch Jelzin. Das betrifft nicht nur die Auflösung der Union 1991 durch Jelzin, sondern umschließt auch noch die systematische Auflösung, bzw. Zerstörung der sowjetischen Strukturen im Lande selbst nach dem, was man auch den zweiten Putsch nennen kann, also nach der gewaltsamen Auflösung des obersten Sowjet durch Jelzin 1993. Gegen Ende der zweiten Hälfte der Jelzinschen Amtszeit geht die Auflösung nach einer ruhigeren Übergangsphase ´96/97 und der darauf folgenden innerrussischen Bankenkrise von 1998 in eine offene Restauration unter dem Stabilisator Wladimir Putin über. Von daher ist es keineswegs zufällig, daß Boris Kagalitzki und ich unser längstes und am tiefsten in die sozialen Strukturen vordringendes Gespräch im Herbst `97 führen konnten – nach Jelzins Wiederwahl und vor dem Zusammenbruch von 1998. Danach folgen ‚nur noch’ Stadien der Wiederherstellung des Staates unter neuen, nicht mehr sowjetischen, sondern ‚demokratischen’ Vorzeichen der von Putin betriebenen autoritären Modernisierung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

So bestreiten der Initiator Gorbatschow und der Beschleuniger Jelzin also Band eins, der kränkelnde Jelzin und der Stabilisator Putin (unterstützt durch Medwedew) Band zwei.

Zur Orientierung ist jedem Gespräch eine knappe Situationsskizze und Kurz-Chronologie beigegeben, unter welchen Umständen und wann es stattgefunden hat. Eine durchlaufende Chronologie im Anhang ermöglicht zudem eine Einordnung in den zeitlichen Gesamtzusammenhang. Zusätzlich gibt es einen INDEX, über den alle im Text erwähnten Personen oder Organisationen aufgesucht werden können. Dieser Aufbau macht die beiden Bände über die einzelnen Gespräche hinaus auch zu einem Nachschlagewerk der neueren russischen Geschichte.

Beude Bände sind im Buchhandel und direkt beim Autor zubeziehen

 

Das „chinesische Prinzip“: Ökonomische Freiheit – politische Lenkung: Der bessere Weg zur globalen Perestroika? Ein Vergleich.

Wer heute an China denkt, hat zwei Bilder vor Augen: Das eine wird von China-Reisenden als „happy China“ beschrieben, das andere als Parteiendiktatur, die die Menschenrechte nicht achte und jeden Ansatz zu einer Opposition ersticke. Wohin führt dieser Weg? Diese Frage wird in diesem Text anhand eines Vergleiches von Perestroika und den chinesischen Reformen vor dem Hingergrund der Geschichte beider Gesellschaften untersucht.

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Die demographische Falle – Beobachtungen zur Kraft der „Überflüssigen“ (Anregungen zur Kritik gängiger Wachstums- und Schrumpfungstheorien)

Menschenwürde und Wirtschaft – das sind zwei Begriffe, die uns im Alltag wie selbstverständlich von den Lippen gehen. Tatsächlich ist der eine Begriff heute so wenig selbstverständlich wie der andere. Worin besteht die Würde des Menschen? Wer einmal so zu fragen beginnt, verliert sich schnell in unendlich vielen Antworten.

Die Menschenwürde ist untastbar, lesen wir schließlich im deutschen Grundgesetz; tatsächlich wird sie tagtäglich angetastet, wenn sich – um nur dies zu nennen – Millionen von Erwerbslosen dem ausgesetzt sehen, was von Kritikern der Hartz IV Regeln mit Recht „Verfolgungsbetreuung“  genannt wird, wie sie durch die Arbeitsämter vorgenommen wird. Und noch gar nichts ist mit diesem Hinweis auf hiesige Verhältnisse darüber gesagt, in welchem Maße Menschenwürde in anderen Teilen der Welt mit Füßen getreten oder einfach missachtet  wird.

Nicht besser geht es uns mit der Wirtschaft. Vor dem Ende der Sowjetunion mochten „Kapitalismus“ oder „Realsozialismus“ bei vielen Menschen noch als reale Definitionen des Wirtschaftens gegolten haben, inzwischen sind solche scheinbaren Definitionssicherheiten auf die Befürchtung geschrumpft, dass „die Wirtschaft“ die Menschheit in die Krise zu treiben drohe, statt deren Überleben zu sichern – ungeachtet der Frage, ob dieser Prozess als Vor-, Spät- oder Nachkapitalismus, als Turbokapitalismus, Globalisierung, als nationaler Sozialismus oder, wie im Falle Chinas, gar noch als Kommunismus bezeichnet wird.

Noch erklärungsbedürftiger ist der Zusammenhang von Menschenwürde und Wirtschaft. Nur so viel ist unbezweifelbar: Menschenwürde kann man nicht essen – aber ohne Essen gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht produzieren wie eine Ware – aber ohne Arbeit gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht berühren – aber ohne soziale Beziehungen gibt es keine Menschenwürde. Damit sind drei Bereiche der Realität genannt, die in der Beziehung von Wirtschaft und Menschenwürde untrennbar ineinander greifen: Versorgung, Arbeit, Kommunikation. Versorgung, das ist die ganze Spannbreite vom physischen Unterhalt bis zur Bildung, von der Selbstversorgung bis zur Fremdversorgung. Arbeit, das sind alle Veräußerung von Kraft, Fantasie und Lebenszeit, durch welche Menschen die Welt gestalten; Lohnarbeit ist nur ein besonderer, verabsolutierter Aspekt davon, der heute wieder an seinen Platz gerückt werden muss. Kommunikation, das sind die emotionalen, sozialen und kulturellen Beziehungen, die entstehen, wenn Menschen miteinander und füreinander tätig und aneinander interessiert sind.

Wie entwickelt sich das Dreieck dieser drei Elemente heute? Die Antwort auf diese Frage muss schockieren: In allen drei Bereichen tritt heute ein Problem vor allen anderen in den Vordergrund – die wachsende Zahl der so genannten „Überflüssigen“. Damit sind die Menschen gemeint, die in zunehmender Zahl aus dem Kreislauf von Arbeit, Versorgung und Kommunikation herausfallen oder gar nicht erst zu einem Bestandteil dieses Kreislaufes werden, weil ihre Arbeitskraft zunehmend durch Maschinen, beschleunigt durch Elektronik, generell gesprochen, durch Intensivierung der Produktion ersetzt wird. Zugleich werden die Strukturen traditioneller Selbstversorgung und Möglichkeiten einer Eigentätigkeit vor Ort zunehmend zerstört, sodass die Menschen von der Versorgung mit Fertigprodukten der Industrie abhängig werden, die sie aber – mangels Einkommen – nicht oder nur ungenügend erwerben können. Das betrifft auch für die Nutzung der Kommunikationsmittel von heute.

In der „Wirtschaft“, präziser, im Gefolge des technologischen Fortschritts der Industrialisierung entsteht so eine doppelte Entwürdigung des Menschen, der in die vollkommene Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung verfällt – der eine durch Ausgrenzung vom gemeinsamen Wohlstand, ohne noch auf minimale Versorgung durch Eigentätigkeit zurückgreifen zu können, der andere, der – in die intensivierte Produktion eingeschlossen – durch einen sich in mörderischer Weise beschleunigenden Arbeitsdruck zwar über die finanziellen Mittel, aber nicht mehr über die Kraft und die Fähigkeit verfügt, sich noch ausreichend um sich selbst als Mensch zu kümmern.

Merke gut: Dies alles geschieht, obwohl der industrielle Entwicklungsprozess evolutionär betrachtet eine zunehmende Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit beinhaltet, sein Überleben durch Einsatz seiner physischen Arbeitskraft zu sichern. „Eigentlich“ liegt in dieser zunehmenden Freisetzung „überflüssiger“ Kräfte bei steigender Produktivität heute die Chance für die unterschiedlichen Gesellschaften, für die Menschheit insgesamt, sich mehr als bisher anderen Aufgaben als denen des bloßen physischen Überlebens zuzuwenden. Das sind gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Zuwachses an Menschenwürde, wenn wir Menschenwürde an der Fähigkeit des Menschen messen, sich als Mensch zu verwirklichen – und wenn die Verhältnisse, unter denen die „Überflüssigen“ heute freigesetzt werden, als das erkannt werden, was sie sind, als Überfluss nämlich, und dieser Überfluss für diese Verwirklichung genutzt wird, indem die „überflüssigen“ Kräfte zu Eigeninitiativen aller Art ermutig werden, statt sie als Arbeitslose unter Kontrolle zu halten. Die Umwandlung der jetzigen kontrollierten Sozialfürsorge in ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen, das die materielle und kulturelle Basisversorgung eines jeden Menschen sichert, wäre dazu ein richtiger Schritt.

Eine weitere Tatsache rückt allerdings an dieser Stelle in den Blick, die das Problem gewissermaßen verdoppelt: Zeitgleich zur Freisetzung der „Überflüssigen“ aus dem Wirtschaftsprozess steigt die Zahl der Menschen auf dem Globus exponentiell an. Heute teilen sich 6,3 Milliarden Menschen den Globus, 2020 werden es ca. 9 Milliarden sein. Zwar sind sich Demographen aller Länder darin einig, dass die Kurve der jährlichen Zuwachsrate der Weltbevölkerung sich abgeflacht habe, die Dynamik des Wachstums trotz absolut steigender Bevölkerungszahlen rückläufig sei, das Gespenst einer allgemeinen „Bevölkerungsexplosion“, welche die „Tragfähigkeit“ des Globus sprengen werde also gebannt sei, dafür habe sich aber eine gefährliche „Disproportion“ des realen Wachstums herausgebildet. Salopp gesprochen ist auch tatsächlich zu konstatieren: Die Bevölkerungen der „westlichen“ Industrieländer schrumpfen, einschließlich Russlands, das von dieser Entwicklung am krassesten betroffen ist, die Länder des globalen „Südens“ dagegen erreichen Geburtenraten, die um ein Vielfaches über denen der „westlichen“ Länder liegen. Das gilt vor allem für Afrika, Indien und die Mehrheit der muslimischen Länder, nicht dagegen für China, dessen Zuwachsrate, bei steigender absoluter Zahl der Menschen dort, ebenfalls deutlich abgeflacht ist.

US-Geheimdienste – und in ihrem Gefolge europäische Popularisierer ihrer Erkenntnisse wie Gunnar Heinsohn, Völkermordforscher aus Bremen und nach ihm Thilo Sarrazin – haben es sich zu Aufgabe gemacht, für dieses Szenario Strategien zu entwickeln.  Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die „Globalisierung“ der Wirtschaft, sprechen sie nacheinander von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, wenn all diese jungen Menschen – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten. Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte. Dass mit dieser Zivilisation die „westlich“ dominierte gemeint ist, versteht sich schon fast von selbst, sei aber trotzdem erwähnt.

Von einer 80:20-Welt, bzw. Einfünftelgesellschaft war angesichts dieser ökonomischen und demografischen Daten bereits auf jener legendären Tagung die Rede, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ die Zukunft der Welt zu beraten.  Als Hauptthema kristallisierte sich heraus, was mit dem Heer der „Überflüssigen“ geschehen solle, die aus dieser Verdoppelung von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Bekannt wurde der Vorschlag des einschlägig berüchtigten US-Strategen Sbigniew Brzezinski , ein globales „tittytainment“ einführen zu wollen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verbindet das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainments“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel ist, 80% der Menschheit auf diese Weise „stillen“ zu wollen.

Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierte Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange räsoniert werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen und Kritiken zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein; aber davon ganz abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten der Verwirklichung einer solchen Strategie schon in den Widersprüchen der gegenwärtig herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte, „Überflüssige“, „Unterentwickelte“ haben dieses Geld nicht. Eine Verkürzung des Kreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital kann dieses Problem aber auch nicht lösen, sondern führt – wie die Krisenentwicklung der letzten Zeit gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Aus ihr hilft auch massenhafter Druck von Geld nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet, wenn die Gelder für soziale Unterstützung der Erwerbslosen gleichzeitig zusammengestrichen werden.

Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens für alle Menschen liegen. Mit einer solchen Maßnahme, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der „Überflüssigen“ als stillzulegender oder gar zu entsorgender „menschlicher Müll“.

Es ist offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt. Für den Fall jedoch, dass die gewünschte Stilllegung nicht gelingen sollte, gehen aus den US-Studien von 1990, die dem 80:20-Szenario von 1995 und auch den daraus abgeleiteten Ausführungen Heinsohns zugrunde liegen, denn auch effektivere Varianten zum Umgang mit der dort beschriebenen Bedrohung hervor, die hier nur angedeutet werden können, aber eine weitere Betrachtung unbedingt fordern: Sie beginnen mit dem aktiven Export der westlichen „Eigentumsordnung“, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der „Überflüssigen“ sollen hereingelassen,  die Unerwünschten dagegen an den Grenzen abgefangen werden. Ergänzend dazu wird über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Für alle Fälle müsse „man“ sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen „man“ jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, welche die technischen Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen.

Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahre, einschließlich des gegenwärtigen globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachbuchstabieren.  Klar ist aber, dass auch diese Strategien keine Lösung, sondern selbst Teil des Problems sind, schlimmsten Falles sogar seine Zuspitzung zur  allgemeinen Katastrophe. Besonders deutlich wird dies an den Vorschlägen zum Export der „Eigentumsordnung“, die Heinsohn als Alternative einer zukünftigen Wirtschaftsordnung anbieten möchte, wenn sie nach dem Beispiel der europäischen Entwicklung über die bloße „Produktion“ von Bevölkerungsüberschuss hinausgehe. Heinsohns Begründungen dafür sind nicht sonderlich originell, lassen aber den Kernpunkt klar heraustreten, wohin die herrschenden Strategien zielen, wo demgegenüber grundsätzliche Veränderungen anzusetzen hätten, wenn sie nicht Wiederholungen, Verfestigungen oder gar katastrophale  Zuspitzungen der bestehenden Wirtschaftsweise sein sollen.

Hier aber erst einmal Heinsohns Beschreibung: Er baut seine ganze Argumentation auf der Unterscheidung von Besitz und Eigentum auf. Durch den Übergang von der Besitz- zur Eigentumsordnung sei Europa groß geworden. „Ein Teil der Autoren redet  – und meint das kritisch – von Kapitalismus, ein anderer von „Marktwirtschaft. (kursiv – Heinsohn) Beide wollen damit den entscheidenden Beweger des Wirtschaftens jeweils möglichst knapp umreißen. Die Basis des Wirtschaftens liegt aber weder im Kapital  noch im Markt, sondern im Eigentum. Das kann man nicht sehen, riechen, schmecken oder anfassen, weil es ein papierener Rechtstitel ist.“  Die Unterscheidung von Besitz und Eigentum sei für das Verständnis des Wirtschaftens fundamental, weil nicht Besitz, sondern erst verbrieftes Eigentum die Möglichkeit gebe, Schuldverpflichtungen gegen Kredit und Zins einzugehen. Mit Besitz werde nicht „gewirtschaftet“, so Heinsohn, er werde lediglich „physisch benutzt“. Dass aber „Zins als entscheidende Zugkraft des Wirtschaftens am Eigentum haftet“, werde allgemein schlecht verstanden.

Am Beispiel des Ackers kommt Heinsohn dann zum Punkt: „Zur geschäftlichen Verwendung eines Ackers – also zum Wirtschaften mit ihm – kann es erst kommen, wenn zum Besitzrecht noch ein Eigentumstitel hinzutritt.  Man kann sagen, dass mit dem Acker produziert, mit dem Zaun, der ihn umgibt jedoch gewirtschaftet wird, wobei er den Eigentumstitel symbolisiert und nicht nach Draht und Pfosten betrachtet wird, die es auch in Besitzgesellschaften geben kann.  Während der Bauer einer Eigentumsgesellschaft seine Feldmark – durch eigenen Verbrauch oder durch Verpachten – als Besitzer nutzt, kann er mit dem Eigentumstitel an ihr gleichzeitig und eben zusätzlich wirtschaften. Er kann diesen Titel für das Leihen von Geld – Mark z.B. – verpfänden, oder er kann ihn für die Bereicherung des von ihm selbst emittierten Geldes – wiederum Mark – belasten. Die Geldnote – ob auf Metall oder Papier gedruckt – ist also ein Eingriffsrecht in das Eigentum ihres Emittenten und kommt nur durch Schuldenmachen in die Welt.“

Wirtschaften, um es deutlich herauszuholen, ist in dem von Heinsohns beschriebenen Modell also die private Aneignung eines Stück Landes (oder anderer Objekte), die andere Menschen von diesem Gebrauch ausschließt – eben einen „Zaun“ um das abgesonderte Eigentum errichtet. Auf dieser Basis erhebt sich, von ihm als positiv beschrieben, die Pyramide von Zins und Zinseszins, mit der erst Europa, heute der “Westen“ die übrige Welt in die Kredit- und Zinspflicht gebracht hat. Mit dieser Beschreibung liegt Heinsohn durchaus richtig. Treffender und aktueller als mit dem Bild des „Zaunes“ hätte er dieses Modell, das hier als Lösung, noch dazu als neue in die Welt gebracht werden soll, nicht umreißen können: Bei ihm nur bildlich gemeint, sind die Zäune, mit denen sich die sich die „Leistungsträger“ der sich herausbildenden 20:80-Gesellschaft von den „Überflüssigen“ absetzt, inzwischen ja gesellschaftliche Realität geworden. Man denke nur an die Zäune der EU in Tunesien und demnächst zwischen Griechenland und der Türkei, an die Zäune, mit denen sich die Reichen in den Metropolen selbst vor der armen Umgebung abschotten.  Es ist klar, dass dieses Modell nur tiefer in die Krise führen kann.

Wichtig und interessant ist es deshalb sich die Gegenentwürfe anzuschauen, die heute in der Kritik der möglichen 20:80 Zukunft weltweit an verschiedenen Orten entstehen. Nehmen wir die jüngste Veröffentlichung von Jeremy Rifkin , der als Amerikaner, weltweit anerkannter Zukunftsforscher und Berater von EU-Gremien nicht im Verdacht eines Schwärmers steht. Eher könnte er schon als gewissenhafter Buchhalter der Alternativdenker durchgehen, der sich um die wissenschaftlich korrekte Auflistung zukünftiger Weltbilder bemüht.

Unter dem Titel „Die empathische Zivilisation“ hat Rifkin eine Zusammenfassung der heute zu beobachtenden Entwicklungstendenzen der menschlichen Gesellschaft vorgelegt. Darin beschreibt er die Evolution der Gesellschaft als eine durchgehende Aufwärtsspirale von Fortschritt durch Empathie, Zusammenbruch, erneutem Fortschritt mit gewachsenen Empathiekräften, wieder Zusammenbruch bis hin zur heutigen entropischen Krise. Dabei versteht Rifkin unter Empathie die Fähigkeit des mitfühlenden miteinander Lebens, unter Entropie im Sinne des wissenschaftlichen Begriffes: Unordnung im Raum, sozial gesehen: Zerfall, Zerstörung, Zusammenbruch von Kulturen, Reichen, Zivilisationen. „Wir sind an einem Punkt angelangt“ schreibt er in seiner Einleitung, „an dem der Wettlauf  zwischen globalem empathischen Bewusstsein und globalem entropischen Zusammenbruch vor der Entscheidung steht.“  Das globale Bewusstsein, vom dem Rifkin hier spricht, nennt er schließlich eine „Lebensweise, in der die Menschen sich in einem „empathischen Biosphärenbewusstsein miteinander auf einer neuen Kulturstufe kooperierend verbinden“.

Wie Heinsohn beschreibt Rifkin zunächst den Übergang vom Besitz zum Eigentum, der erst die Entwicklung bis zum heutigen Stand der Zivilisation ermöglicht habe. Dann aber zeigt er auf, dass die Entwicklung der Produktions-, Verteilungs- und Konsumstrukturen der heutigen globalisierten Wirtschaft über den privatisierenden Eigentumsbegriff hinausweise. Die Basis dafür sieht Rifkin im geraden Gegensatz zu Heinsohn in der „Wiedererweckung des kulturellen und öffentlichen Kapitals“. Die hochgradige Dezentralisierung und Vernetzung des Kapitals, des Konsums wie auch des alltäglichen, durch globale Kommunikation intensivierten Lebens löse das Verständnis von Eigentum als Ausgrenzung durch die „Wiedererweckung“ eines Eigentumsbegriffes ab, in dem Eigentum wie seinerzeit in den vorkapitalistischen Gesellschaften nicht den Ausschluss von, sondern „Zugangsrechte“ zum gemeinsamen Besitz definiere. Eigentum werde in zunehmendem Maße wieder als die Berechtigung verstanden, Zugang zum gemeinsamen Kapital zu haben – so wie in vorkapitalistischer Zeit zu Feld, Wald, Allmende oder Gerätebestand eines Dorfes. Heute und in absehbarer Zukunft gehe es um das Recht auf Versorgung mit Grundelementen der allgemeinen Infrastruktur, des Weiteren mit Wärme, Wasser, Luft, um das gemeinsame Wissen im Netz usw.

Rifkin skizziert also eine Entwicklung, die dem 20:80 Modell diametral entgegenläuft. Es ist ein Modell, das nicht auf Ausgrenzung einer Mehrheit von Menschen aus einer zum Privateigentum einer Minderheit erklärten Welt zielt, sondern auf Nutzungsmöglichkeiten für alle zu einem als Gemeinschaftsbesitz verstandenen Kapital, wobei „Kapital“ das gesamte bisher im Laufe der Menschheit geschaffene ökonomische und kulturelle Vermögen umfasst, einschließlich der Beschaffenheit unseres Planeten, die Lebensgrundlage für die Existenz der gesamten Zivilisation ist.

Hier möchte ich Rifkins Skizze der möglichen Welt von morgen verlassen. Bis hierhin konnte ich mich seiner Beschreibung weitgehend anschließen. Siehe dazu auch meine eigene Darstellung dieses Sachverhaltes in dem Buch „Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“ , in dem die Frage der Wiederkehr des Nutzungsrechtes im Rahmen eines als historische Gemeinschaftsleistung der Menschheit verstandenen Kapitals ausführlich erörtert wird.

Die abschließenden Prognosen Rifkins jedoch unter dem Stichwort der „Selbstinszenierung einer Improvisationsgesellschaft“, in welcher er die Zukunft als „Dramatisierung“ des Lebens in den Kommunikationsnetzen des virtuellen Raums beschreibt, wird den sozialen Herausforderungen der 20:80 Perspektive aus meiner Sicht nicht gerecht. Die mit dem 20:80-Problem verbundenen Fragen sind mit der bloßen Vernetzung in einer globalen Kommunikation analytisch nicht in ihrer Widersprüchlichkeit erfasst und praktisch so nicht zu meistern – weder in ihren negativen Auswirkungen, noch in den darin liegenden Chancen. Es wirken ja außer der Kommunikation, im Fall der Missachtung auch hinter unserem Rücken, noch die beiden anderen Bestandteile des Wirtschaftens: Versorgung und Arbeit. Erst in Verbindung mit ihnen gewinnen die heutigen und noch zu erwartenden Möglichkeiten der Kommunikation ihren Charakter – als Instrumente der globalen Freisetzung von Kreativität, produktiver sozialer Aktivität und eigenen Entwicklungsmöglichkeiten für die Millionenscharen „Überflüssiger“, wie mit Rifkin zu hoffen ist, oder der Manipulation im Sinne des „tittytainment“ und schlimmsten Falles direkter repressiver Kontrolle.

Deshalb sei hier noch ein weiteres Element in die Betrachtung eingeführt, das unbedingte Beachtung verdient. In der Regel wird es bei Analysen der heutigen Entwicklungsdynamiken vergessen, übergangen, nicht selten auch aktiv unterschlagen. Die Rede ist von den seit dem Ende der Sowjetunion unternommenen Versuchen, die russischen Gemeinschaftsstrukturen zu privatisieren und von den Wellen, die davon auf die globale Entwicklung ausgehen. Ich will diese Frage hier nicht im Detail ausführen und verweise auch dafür auf das schon erwähnte Buch zur „Integrierten Gesellschaft“ und weitere Veröffentlichungen von mir zur Analyse der Geschichte und der Aktualität der russischen, nachsowjetischen Gemeinschaftsstrukturen.

So viel aber muss hier gesagt werden: Trotz aller Bemühungen der russischen Reformer wie auch ihrer Stichwortgeber und Mitstreiter der internationalen Kapitale – angefangen bei Jeffrey Sachs  Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bis hin zu den verzweifelten Modernisierungskampagnen des gegenwärtigen russischen Tandems, das Dimitri Medwedew und Wladimir Putin bilden – ist es bisher nicht gelungen, die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands aufzulösen und in privatkapitalistische Monopolstrukturen zu überführen. Nach wie vor dominiert eine nicht aufgelöste Kombination zwischen der durch die Verfassung deklarierten privaten Eigentumsordnung und korporativen Wirtschafts- und Lebensstrukturen. Immer noch existieren ganze Lebensgemeinschaften, zu denen sich Großbetriebe, industrielle wie auch agrarische, Dörfer und Städte verbinden, nicht selten mit regionalen Vernetzungen.

Aus westlichem Blickwinkel, auch aus dem Blickwinkel westlich orientierter Reformer in Russland selbst wird diese Realität in der Regel als Korruption wahrgenommen. Tatsächlich handelt es sich hier um Elemente, nicht selten inzwischen auch in degenerierter Form, gemeinschaftlicher, nicht privateigentümlicher Eigentumsverhältnisse, die ihre Wurzeln noch in der Zarenzeit haben, durch die Sowjetunion noch einmal tiefer in die öko-sozialen Strukturen des Landes und in das soziale Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben und bisher nicht vollends transformiert, aufgelöst oder zerstört werden konnten. Kurz und knapp gesagt: Es geht um eine Kombination von Produktion und in Russland so genannter „familiärer Zusatzwirtschaft“, in der die Selbstversorgung vor Ort ein konstituierender Bestandteil der Volkswirtschaft war – und heute noch ist. Die Privatisierung, sprich auch die Kapitalisierung hat nur Teile der Bevölkerung, nur Teile des Landes, generell kann man sagen, nur einige Bereiche des Lebens und der Gesellschaft erreicht, andere Bereiche und Teile zeigen sich aller oberflächlichen Modernisierung zum Trotz resistent.

Diese Organisation des Lebens setzt sich auch heute als Symbiose von industrieller Modernisierung im Geiste westlicher Industriekultur und nach wie vor bewusst gepflegter Strukturen der familiären und auch gemeinschaftlichen Selbstversorgung fort. Supermarkt und Datscha (also familiäre oder auch gemeinschaftliche Zusatzversorgung im Garten, auf dem eigenen kleinen Feld und im Hofgarten), Fremdversorgung und Eigenversorgung halten sich auch heute in der Versorgung der Bevölkerung mit alltäglichen Grundnahrungsmitteln die Waage. Auf dem Höhepunkt der letzten Krise 2008/2009 war die Datscha in dieser Bedeutung neben dem Stabilisierungsfonds aus den Erdöleinnahmen das zweite Standbein für die Erhaltung der sozialen und wirtschaftlichen Stabilität. Putin forderte die Unternehmen, die sich im Zuge der Privatisierung ihrer sozialen Aufgaben entledigt hatten, ausdrücklich und unter Androhung von Sanktionen auf, in ihre korporativen Pflichten gegenüber Dörfern, Städten, Regionen wieder einzusteigen. Kurz, von Russland geht heute die Botschaft aus, dass die westliche Eigentumsgesellschaft nicht die einzige Antwort auf die Frage ist, wie ein Leben nach dem Ende der sozialistischen Utopie aussehen könnte, das den Menschen nicht nur einen erhöhten Konsum ermöglicht, sondern auch noch eigene Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen ihrer Eigenversorgung belässt.

Zweifellos ist die russische Entwicklung kein Modell, das direkt auf andere Länder übertragbar wäre, vor allem nicht auf solche, in denen Selbstversorgung nur noch als Kriegserinnerung lebt wie in Deutschland oder auf andere Teile der Welt, in denen die Reste lokaler Selbstbewirtschaftung soeben zerstört werden wie in den ehemaligen Kolonien Europas, die heute in die „Moderne“ stürzen. Ja, es ist nicht einmal sicher, wie weit der Pendelschlag der Privatisierung die Zerstörung der traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands noch vorantreibt, sicher ist dennoch, dass erstens jedes Pendel umkehrt, wenn sein Schwung ausläuft; das kulturelle Gedächtnis der Menschen, ebenso wie die gewachsenen Strukturen eines Raumes gehen nicht verloren, sie gehen als Element in die zukünftige Entwicklung ein. Das lässt für Russland eine lebendige Symbiose zwischen Industrieproduktion und den lange gewachsenen Traditionen der gemeinschaftlichen Eigenversorgung erwarten. Welche Form diese Symbiose annimmt, wird sich zeigen, sicher aber wird es kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch geben, in dem Fremd- und Eigenversorgung, Individualisierung und Gemeinschaftstradition einander in neuer Gestalt mischen und ergänzen.

Ungeachtet dessen aber, das sei noch einmal betont, geht von der Realität der russischen Transformation schon jetzt die Erkenntnis aus, dass „der Kapitalismus“ mit seiner aggressiven Fremdversorgung nicht das letzte Wort der Geschichte ist, sondern selbst nur ein Übergang in eine Wirtschafts- und Lebensordnung, die nicht nur materielle Grundbedürfnisse befriedigt, sondern auch noch die Chance zur Entfaltung eigener Kräfte im familiären wie im gemeinschaftlichen Rahmen gibt.

In Deutschland, aber auch anderen Orten der Welt hat schon längst eine Bewegung eingesetzt, die Vorstellungen dieser Art sucht und versucht sie in die Praxis umzusetzen. Unterschiedlichste Modelle sind entstanden, die nahezu alle den Bedarf, nicht den Profit um des Profites willen, in den Mittelpunkt rücken – eine Versorgung, die sich nicht nur auf Fertigprodukte stützt, sondern Eigenversorgung mit einbezieht, eine Organisation der Arbeit, die produktive und „überflüssige“ Tätigkeiten gerecht und lebensfördernd verteilt, die Intensivierung der Beziehungen zwischen den Menschen, welche die Menschen emotional, geistig und spirituell fördert. In Ansätzen werden auch lokale und regionale Räume mit in die neue Organisation des Lebens einbezogen.

In all diesen Experimenten wird eine Zukunft sichtbar, in der kein Mensch „überflüssig“ ist, sondern jede Frau, jeder Mann, jedes Kind, gleich ob gesund oder krank, jung oder alt, ob praktisch orientiert oder eher spirituell, ihre oder seine Daseinsberechtigung, Aufgaben, materielle und emotionale Versorgung im gemeinschaftlichen Geschehen hat. Vieles muss hier, besonders in der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, noch ausprobiert werden, und es wäre gut, wenn die Erfahrungen aus der nachsowjetischen, aufbauend auf der russischen Geschichte darin mit eingehen könnten, die leider immer noch verdrängt werden. Die Traumata von Zwangskollektivismus jeglicher Couleur, stalinistischen wie faschistischen, individualistische Irrwege auf der anderen Seite müssen noch erkannt und praktisch überwunden werden. Die neuen Formen des zusammen und doch individuell Arbeitens müssen ausprobiert werden, ohne in Gemeinschafts-Dogmatismus oder individualistische Anarchie zu verfallen. Praktisch sind viele diese Gemeinschaften zudem Probierfelder dafür, ob ein Grundeinkommen den Realitäten einer gemeinsamen Ökonomie standhält.

All dies sind hohe Herausforderungen, die diese Gemeinschaften zu Experimentatoren für eine Lebensweise machen, in der – schlicht gesagt – der Mensch wieder oder vielleicht besser gesagt, endlich im Mittelpunkt steht, jetzt aber nicht nur als Arbeitskraft, die ausgebeutet wird und als Konsument, der den Warenumsatz und damit den Profit garantiert, sondern in seinem Wert als schöpferisches Wesen, das seinen Wert darin hat, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen als solches zu entwickeln. Es ist zu hoffen  und daran zu arbeiten, dass diese Impulse auch die übrige Gesellschaft erreichen.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Dieser Text erschien auch in: Entgegensprechen, Teil 2. Schöpfungskraft Wirtschaft, herausgegeben vom KunstRaumRhein, Edition gesowip, Basel 2011.  Bezug über KunstRaumRhein, Postfach, CH–4005 Basel 5, oder den Buchhandel.

Über den „gespaltenen Zentralismus“ Gespräch mit Valentin Falin im „Institut für Friedensforschung“

Valentin Falin war von 1971 bis 1978 Botschafter der UdSSR in Bonn. „Sieben Jahre, vier Monate, drei Tage“, sagt er. Seit dem 14.1.92 hält er sich in Hamburg auf, wo er im „Institut für Friedenforschung“ ein wissenschaftliches Projekt über Verlauf und Ergebnisse der Perestroika verfolgt. Mit Valentin Falin sprach Kai Ehlers.

I: Herr Falin, sie leben jetzt in Deutschland. Kamen Sie freiwillig oder als Emigrant?

F: Freiwillig wäre überzogen gesagt. Es ist vor allem die Notwendigkeit, einen Ersatz zu schaffen für meine verlorenen Voraussetzungen, zuhause wissenschaftlich zu arbeiten. Ich habe in Russland meine wissenschaftliche Bibliothek verloren, die Notizen, die aus den letzten dreißig Jahren stammen. Sie waren in meinem Büro im ZK. Ich habe sie nicht herausbekommen. Hier sind die Bedingungen für eine normale analytische Arbeit viel besser. Deswegen haben meine Frau und ich das Angebot des „Instituts für Friedensforschung“ angenommen.

I: Sie sind bekannt als jemand, der auch während der Zeit der etwas gespannteren Beziehungen zwischen Ost und West immer für einen Dialog eingetreten ist. Wie kommt es, dass in einer Situation, in der der Ost-West-Dialog im Mittelpunkt steht, gerade Sie in solche Schwierigkeiten kommen?

F: Es ist nur ausgewählten Personen bekannt, was ich zu verschiedenen Zeiten zu tun versuchte, um die Partei umzuordnen, unsere Gesellschaft, unsere Innen- und Außenpolitik. Das ist ziemlich lange her. Ich hatte Möglichkeiten, mit ersten Personen des Staates und der Partei einen ganz direkten Kontakt zu pflegen. Ich begann meine Arbeit in einer Analysezentrale, die für Stalin Papiere verfertigte. Später, Anfang der sechziger Jahre, hatte ich das Privileg und (lächelt verhalten) die Strafe jede Woche seinen Nachfolger Chruschtschow zu sprechen und ihn zu hören…

I: Wieso Strafe?

F: Weil seine Monologe nicht immer so überaus interessant war. Am Ende war es auch ein bisschen traurig, zu beobachten, wie ein Mann zugrunde ging, indem er über sich selbst stolperte.

I: Wie stehen Sie zu dem sogenannten Putsch?

F: Das ist ein merkwürdiger Putsch in jeder Beziehung. Ich würde ganz definitiv sagen: Wenn dieser Versuch im Geheimen vorbereitet war, so vor allem geheim gegenüber der Partei. Ich selbst war zu der Zeit der Auslösung des Putsches im Urlaub. Ich kam erst nach Moskau, als die Krisensitzung, die ich als Präsident leiten sollte, schon beendet war und konnte nur, sozusagen am Rande, meine Fragen stellen. Da bekam ich von dem geschäftsführenden Mann, Schenin, die Antwort: Stellen auch Sie keine Fragen, auf die Sie keine Antworten kriegen! Mein hartnäckiges Bohren provozierte eine weitere Replik von ihm: Das sei vor allem eine Frage des Staates und nicht der Partei! Am nächsten Tage habe ich, wie auch die anderen, erfahren, der gleiche Schenin habe im Namen des Sekretariats ein Telegramm an die Parteiorganisation des Ortes verbreitet, in dem es hieß, dass man namens der Organisation das Komitee unterstütze. Es wurde in dem Telegramm aber auch gefragt, wie weit die Maßnahmen der Verfassung entsprächen. Heute wird der zweite Teil des Telegramms weggelassen, der sich auf die Verfassung bezieht. Es wird nur der erste zitiert, also, die Maßnahmen des Komitees zu unterstützen. Das wird als Beweis angeführt, dass die Führung der Partei in die Vorbereitungen und Ausführung des Putsches involviert war. Das war nicht der Fall!

I: Abgesehen von dem, was sich da im Hintergrund alles abgespielt hat, hätten Sie sich mit den Zielen des „Notstandskomitees“ identifizieren können?

F: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil die Putschisten formell die Respektierung des Volkswillens aus dem Referendum vom 17. März 91 zum Ausdruck gebracht und für die Einhaltung der Verfassung plädiert hatten. Soweit die Verfassung existiert, soweit die Gesetze in Kraft sind, egal, ob gut oder schlecht, sollen sie respektiert werden, wenn sie durch andere, durch bessere nicht ersetzt werden. Das ist das Prinzip aller Staaten, egal welchen  Systems. Aber, was die Methoden angeht, die Gewalt und vor allem die Pläne des „Komitees“, ihre Opponenten in Konzentrationslager zu verbannen und alle regelmäßigen Treffen außer Kraft zu setzen, das würde ich strikt ablehnen. Das haben wir in unserem Lande schon erlebt. Für mich war es vollkommen undiskutabel, so etwas zu wiederholen.

I: Wenn ich mir heute anschaue, wie Jelzin regiert, dann ist das doch genau das Notstandsregime, für das vorher die Putschisten eingetreten sind.

F: Ich kann bedingt der These zustimmen, dass Jelzin nicht gerade weich regiert und außerordentlichen Methoden nicht vollkommen fremd ist. Das ist auch Gegenstand der Kritik an ihm im Kongress der Volksdeputierten. Es ist auch eine besondere Frage, die eine Analyse braucht, wie drei Personen alle Verträge und alle verfassungsmäßige Entscheidungen aus dem Jahre zweiundzwanzig und später außer Kraft setzen konnten und der Existenz der Sowjetunion ein Ende bereiteten. Das schafft viele ungesetzliche Situationen. In dem Sinne ist unser Land noch weiter von einem Rechtsstaat entfernt als je zuvor.

I: Es gibt Stimmen bei Ihnen im Land, die die Sache so sehen, dass im Grunde ein Zustand erreicht worden sei, wie vor der Perestroika – nur unter anderer Form.

F: Es gibt verschiedene Meinungen zu diesem Thema. In außerordentlichen Situationen ist es unmöglich, mit ordentlichen, weißen Handschuhen  zu regieren. Es ist nur eine Frage des Maßes und des rechtlichen, wenn Sie gestatten, Taktes. Ich selbst würde vorziehen, dass keine Rückschläge in der Frage der Rechtspflege entstünden. Kontinuität beim Aufbau einer Gesellschaft, in der das Recht regiert und nicht Personen, wäre mir lieber. Dafür bin ich immer eingetreten, längst vor Perestroika. Ich habe zum Beispiel versucht, Chruschtschow zu überzeugen, dass eine Regierung der Sachverständigen viel vorteilhafter wäre als die Regierung der Parteifunktionäre. Aber ich würde eine andere Frage in den Vordergrund stellen, nämlich: Welches Programm der Präsident ausführen soll und entsprechend dem Programm würde ich seine Vollmachten bestimmen, nicht umgekehrt.

I: Wie beurteilen Sie das, was unter den Stichworten der Privatisierung und der Marktwirtschaft bei Ihnen im Lande passiert? Mir scheint, da entsteht nicht Marktwirtschaft, sondern Chaos.F: Ich stimme Ihnen zu. Dieses Chaos ist von der Tatsache abzuleiten, dass die Leute, die über Marktwirtschaft, über Privatisierung sprechen, im Grunde nicht verstehen, worüber sie sprechen. Was ist ein Markt? Man sagt bei uns, das sei die Frage des Eigentums. Aber Markt ist vor allem die Frage des Wettbewerbs. Ob ein Staatsmonopol oder ein privates Monopol existiert, dem Markt ist das gleichermaßen schädlich, ebenso für den Konsumenten. Wenn wir einen Markt erreichen wollen, müssen wir vor allem dafür Sorge tragen, dass von diesem Markt die verschwinden, die imstande sind, den anderen Dank ihrer Monopolstellung ihren Willen aufzuzwingen, ihre Preise, ihre Quantität, ihre Qualität und vieles andere mehr. Ich habe versucht, das dem Generalsekretär zu erklären, später dem Präsidenten Gorbatschow, den Kollegen im obersten Sowjet, in der Führung der Partei. Man darf das nicht verwechseln. Man muss erst mit der Demonopolisierung der Wirtschaft beginnen.

I: Schließt das die nationale Selbstständigkeit mit ein?

I: Welchen Weg würden Sie beschreiten wollen?

F: Einen demokratischen.

I: Eine Förderation?

F: Es kann auch eine Konföderation sein. Eine Föderation würde den internationalen Trend mehr entsprechen, aber keine aufgezwungene, sondern eine freiwillige, erkannt aus ökonomischen, ökologischen und anderen Imperativen, die uns bei Gründung des Staates dahin bewegten, nicht auseinander, sondern zusammen zu gehen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Auf diesem riesigen Territorium, das früher Sowjetunion hieß, gab es in der Geschichte kein einziges Jahr, in dem es überall zugleich eine gute Ernte gab. Das heißt, bei den vielfältigen klimatischen Bedingungen, die in dem Lande existieren, sind oder waren verschiedene Teile des Volkes und des Landes aneinander gebunden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die russische Dorfgemeinde bis Anfang dieses Jahrhunderts existierte. Nur gemeinsam, als eine Gemeinde im Dorfe, als eine gemeinsame Institution der oder anderer Art war es möglich, mit diesen Herausforderungen der Natur fertig zu werden. Wie jetzt? Wie wird es jetzt sein? Das ist eine Frage, auf die man keine Antwort gibt und die Frage, die man gerne vermeidet.

I: Die KPdSU, als zentraler Mechanismus, hat die alten gemeinschaftlichen Strukturen ja praktisch, nun sagen wir, vom Anspruch her ersetzt. Jetzt ist sie zerfallen. Was kann an ihre Stelle treten?

F: Nun, es wird so sein: Anstelle einer Staatsideologie wird eine andere eingepflanzt, die als demokratische oder als demokratischere bezeichnet wird. Aber wie ein Monopol in der Wirtschaft, so führt auch das Monopol in der Ideologie, in der Kultur in der Politik in die Sackgasse. Das ist mit unserer kommunistischen Partei geschehen. Das wird auch mit anderen geschehen, die versuchen, eine Ideologie zu erfinden und sie zu pflegen, egal wie sie heißt. Vom Wettbewerb der Ideen – das konnte in einer Partei schon geschehen. vom Wettbewerb von verschiedenen Schulen der Philosophie, der Kultur, der Kunst usw. kann man sich etwas versprechen. Gerade in diesem Punkt hat Stalin – und seine Nachfolger auch – den Marxismus der Seele beraubt. Was Stalin aufbaute, war Antisozialismus. Stalins Modell hatte mit Sozialismus nichts zu tun. Und wenn man heute über den Niedergang des Stalinsozialismus spricht, dann, korrekter gesehen, trägt man den Antisozialismus stalinschen Schlages zu Grabe.

I: Ich sehe darin schon eine Entwicklungsform des Sozialismus. Man darf sich nicht um die historische Kritik drücken.

F: Es ist nicht die heutige Erkenntnis, dass Stalin etwas dem Sozialismus Entgegengesetzes aufgebaut hat. Das ist zum ersten Male im August 1932 formuliert worden, und zwar von Rüting. Stalin tötet unter dem Motto „Leninismus!“, unter dem Motto „Proletarische Diktatur“. Das war damals schon Leuten klar. Später war es bequem aus verschiedenen Gründen, auch aus materiellen, diese Lehren zu vergessen. Und dieser langwierige Abschied vom Stalinismus: sechsundfünfzig mit Chruschtschow eingesetzt und bis zum Ende der Perestroika nicht zu Ende geführt!  Wie anders konnte die Partei von den Methoden dieser grausamen Zeit Abstand nehmen, als dass sie letztenendes ein eigenes Todesurteil unterschrieb! Ich habe das ganz offen gesagt, 1957, mehrmals später ’68 aus Anlass des Prager Frühlings, dann ’80 aus Anlass der Geschehnisse in Polen, ’86 aus Anlass der Gestaltung des ideologischen Programms der Perestroika. Aber es gab die Weiseren, die imstande waren, der Führung etwas anderes nahezulegen.

I: Halten Sie eine politische Sammlungsbewegung unter Gedanken des konservativen Kommunismus in der ehemaligen SU für möglich?

F: Das hängt davon ab, wohin das Land weiter steuert. Wie der Weg, der heute beschritten wird, die Bevölkerung herausfordert, auf die Straße zu gehen. Wenn, was ich befürchte, dieser Sommer eine katastrophale Missernte bringt, weil auf dem Lande alles fällt, dann – Ende! Dann ist nichts ausgeschlossen! Dann wird es den Ruf nach einer „harten Hand“, einer Art von Stalin, Neo-Stalin oder ich weiß nicht wie geben. Das wird leider nicht so verstanden. Es wäre das für lange Zeit das Ende des Versuches, eine unblutige Veränderung zustande zu bringen. Bei allem, was Gorbatschow gut oder schlecht gemacht hat, bei all dem, was wir heute mit dem sogenannten Putsch in Zusammenhang bringen – man vermied Blut, Meere von Blut! Das schien mir eine ganz neue Qualität in der Entwicklung nicht nur unserer Ordnung zu sein, sondern in der Entwicklung der internationalen Politik überhaupt, weil es bis dahin kaum jemanden gelang, den Sprung aus einer sozialen und politischen Qualität in die andere ohne Opfer zu unternehmen.

I: Betrachten wir in diesem Zusammenhang die Politik des neuen Deutschland. Nützt sie einer solchen friedlichen Transformation?

F: Nun, die Bundesrepublik vertritt ihre eigenen Interessen. Das ist legitim und verständlich. Die Regierung will beweisen, dass das, was erreicht wurde, Wiedervereinigung Deutschlands, Abschaffung einer militärischen Gefahr, Ergebnis einer langfristigen Ostpolitik war, an der die CDU, zum Teil die FDP aktiv teilgenommen, die sie zum Teil mitgestaltet habe. Nach diesen Vorstellungen ist alles, was im Osten passierte, ein Sieg des Staates, ein Sieg der Regierung, ein Sieg der Ordnung, die hier in der Bundesrepublik existiert. Man versucht sogar den Gedanken zu entwickeln, die Ostpolitik am Anfang der 70er Jahre (also, die der SPD – K.E.) sei eine falsche Politik gewesen. Hätte man sie nicht betrieben, wäre der Zusammenbruch der UdSSR und der DDR schon früher eingetreten! Das heißt, man unterstellt, dass die Politik der Gewalt eine produktive gewesen sei. Sie soll fortgesetzt werden in der oder einen anderen Form. Die Zeit für solche Politik ist nicht abgelaufen. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Neben den Vorteilen, die aus der Entwicklung entstanden sind, erkennt man auch klare Nachteile: Es gab eine stabile Situation im Osten, solange die Sowjetunion existierte. Es gab eine überschaubare Politik des Landes, soweit es überhaupt möglich ist. Es hatte sich auch eine Praxis herausgebildet, die eine Kontrolle über die Rüstungen ermöglichte etc. Praktisch sind wir heute alle in einer Null-Situation. Wir müssen vieles aufs Neue beginnen. Es ist zwar merkwürdig, aber doch eine Tatsache, dass der Abrüstungsprozess sich irgendwie im Stillstand befindet. Man braucht neue Konzepte, braucht neue Mechanismen, braucht vieles weiteres Neues. Aber wie dieses Neue aussehen wird, weiß niemand im Moment.

I: Ist die deutsche Vereinigung ein Ergebnis erfolgreicher deutscher Politik oder des Zusammenbruchs, bzw. einer klugen Politik von Seiten der Sowjetunion?

F: Beides gehört zusammen. Es gibt keine einheitliche und nicht nur eine einzige Antwort auf eine solche Frage. Ich würde Folgendes sagen wollen: Die Frage, wann die Spaltung überwunden werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Aber es ab verschiedene Modelle der Entwicklung. Es gab auch verschiedene Zeitvorstellungen für eine solche Wiedervereinigung und die damit zusammenhängende Überwindung der Spaltung Europas, Überwindung der Spaltung in der Welt. Wenn es anders verlief, so ist das zum Teil Ergebnis der von der sowjetischen Führung herbeigeführten Politik, von Manövern in dieser Politik, die bis heute nicht erklärt sind. Zum Teil ist es auch Ergebnis der sehr dogmatischen Position der damaligen DDR-Führung. Und letztenendes war es auch eine Entwicklung der ganzen Situation im Warschauer Pakt-Bereich.

I: Wenn Sie das Ergebnis betrachten, das dabei herausgekommen ist, dieses neue Deutschland: War es das wert?

F: Dieses neue Deutschland wird in den nächsten Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die heutige Entwicklung ist viel teurer als die, die möglich gewesen wäre, wenn man Alternativen berücksichtigt hätte. Sie ist vor allem für die einfachen Menschen teurer, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist. Letztenendes wird das technologische Niveau in den neuen Bundesländern höher sein als in den alten Bundesländern, zum Teil höher als in anderen europäischen und möglicherweise auch in nicht-europäischen Ländern. Man setzt neueste Produktionen ein wie nach einem Kriege. Neueste Technologien, die nicht im Kompromiss mit alten in Angriff genommen werden, sind den alten immer einige Jahre voraus. Kein Land inklusive Japan ist imstande so etwas zuhause zu leisten. Das ist einfach zu teuer. Ich gehe davon aus, dass die Deutschen es schaffen, obwohl das, ich wiederhole, ungeheuer viel materielle, moralische und menschliche Kosten verursacht. Aber letztendendes bin ich sicher, soweit alles normal in der Welt verläuft, ist das erreichbar für dieses dynamische Volk und für diesen dynamischen Staat. Dies haben die Deutschen nicht nur einmal in der Geschichte bewiesen.

I: Kann dieses Deutschland, das Sie so beschrieben haben, Modell sein für die ehemalige Sowjetunion?

F: Ja, wenn Deutschland seine Potenzen in einer konstruktiven, friedlichen Politik zu verwirklichen sucht und nicht in einer Politik der Gewalt, direkt oder indirekt, wenn Deutschland versteht, das es ein Teil Europas und der Welt ist, und nicht ein Zentrum und, dann ja. Ich möchte aber auch unangenehme Aspekte nennen, die leider auf Grund der Analyse nicht auszuschließen sind: Ein äußerer Zwang, so zu sein, ist auch für Deutschland verschwunden. Die Existenz der DDR bewegte Bundesdeutschland, stärkeres Gehör zu entwickeln gegenüber Forderungen von Mittelschichten, Bauern, Rentnern, als unter anderen Umständen politische Führungen bereit sind zu zeigen.

I: Es gibt bei uns viele Leute, die sich einem neuen starken Deutschland fürchten.

F: Solche Gefahren sind immer latent. Es hängt davon ab, ob die Atmosphäre, die materiellen und die anderen Voraussetzungen existieren, die aus dieser latenten Gefahr eine akute machen. Die jüngsten Wahlen in Baden-Würthemberg und Schleswig-Holstein haben gezeigt, dass dies als ernste Herausforderung zu verstehen ist. Ich möchte nicht zu denen gehören, die solche Gefahren überschätzen. Unterschätzen und überschätzen ist gleichermaßen falsch. Man muss genau wissen, woher der Wind weht und welche Methoden es gibt, um die Entwicklung nicht nur zu überwachen, sondern nach Möglichkeit zu beeinflussen. Das ist die Kunst der Politik, die Kunst, die uns zu eigen zu machen wir verurteilt sind, wenn wir uns über die Zukunft der nächsten Generation Gedanken machen wollen.

I: Viele beklagen ja auch die gegenwärtige Weltunordnung und sehen sich zum früheren Status quo zurück. Was halten Sie davon?

F. Die Bi-polare Welt beugte manchen Amokläufen der einzelnen Nationen vor. Andererseits ist die heutige Entwicklung kein Schlusspunkt. Die andere Ordnung wird sich etablieren, die den modernen Herausforderungen adäquater ist als die, die es gegeben hat.

I: Welche neue Ordnung, gar welche neue Utopie könnte sich Ihrer Ansicht nach aus dem Zusammenbruch entwickeln?

F: Erst einmal war das keine Utopie. Das war ein praktischer Versuch, eine praktikable Ordnung zu gründen, ein Versuch, der im Laufe der Entwicklung entartete, auf Grund des Kampfes auf Leben und Tod mit dem anderen System, also praktisch Sozialismus in einem Lande und nach dem Kriege in mehreren Ländern. Dieser Versuch hat keine friedliche Stunde erfahren. Das war ein permanenter, zermürbender Kampf. Auch in diesem Kampf hätte eine Ordnung, die sich als sozialistische bezeichnet, allerdings nicht zugrunde gehen müssen, wenn die Führer dieser Ordnung eine korrekte Politik durchgeführt hätten. Das war aber auch nicht der Fall.Trotz allem hat die sozialistische Idee in diesem Jahrhundert ganz tiefe Spuren hinterlassen. Wenn Sie den Kapitalismus von heute mit dem Kapitalismus aus dem Jahre ’17 vergleichen, dann sind auch das zwei verschiedene Ideologien. Das ist nicht von ungefähr vom Himmel gefallen, Das ist ein Ergebnis der Anpassung des Kapitalismus an die neue Welt, die dank dieses Versuches, Sozialismus aufzubauen, entstanden ist. Wenn schon der Versuch solche Folgen gehabt hat, dann können wir uns vorstellen, welche produktiven Potenzen in der Idee der sozialen, der nationalen und der menschlichen Gerechtigkeit liegen. Das ist nicht die Frage des Marxismus etc. Der Sozialismus ist viel älter als der Marxismus. Die Idee ist wenigstens zweitausend Jahre alt. Deswegen die Idee zu Grabe zu tragen, weil die marxistische Variante dieser Idee sich nicht so gerechtfertigt hat wie gewünscht, ist weder fair noch praktikabel.

I: Welche Schlussfolgerungen haben Sozialisten Ihrer Meinung nach aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen?

F: Sozialisten sollen einmal irgendwann versuchen, nicht nur sozialistisch zu plaudern, sondern sozialistisch zu denken und vor allem zu handeln. Sozialistisch, das heißt, die Moral in den Vordergrund zu stellen, das Wort der Tat gleich zu machen. Es heißt, keine leichten Versprechungen zu verstreuen, um Stimmen zu gewinnen, und dafür Sorge zu tragen, dass nicht die Gewalt die Welt regiert, sondern Recht und nicht einzelne Personen die Schicksale der Zivilisation und des Individuums gestaltet.