Schlagwort: Dreigliederung

Europa ohne Russland? Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem zeitgemäßen Problem.

Kann es Europa ohne Russland geben? Die politischen Ereignisse der letzten Zeit, in der sich Europa und Russland immer weiter voneinander zu entfernen scheinen, lassen solche Fragen, die nach der „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ durch Michail Gorbatschow ganz unvorstellbar schienen, inzwischen immer drängender in den Raum treten. Aber so sehr die Frage sich inzwischen aufdrängt, so wenig ist sie mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten – nicht heute und bei genauem Hinsehen auch früher nicht.

Die europäische Politik hat Russland, wie schon mehrmals zuvor in der Geschichte, wieder zum Feindbild aufgebaut.  Putin wird als neuer Hitler, Russland insgesamt als unberechenbar hingestellt. Europa müsse vor russischen Aggressionen geschützt werden. Zugleich erklären europäische Politiker die Zusammenarbeit mit Russland für unerlässlich, schon aus ökonomischen Gründen, heißt es, aber selbstverständlich zu „unseren Bedingungen“. Mit Sanktionen und dem Aufbau militärischer Stärke möchte man Russland gefügig machen.    

Antworten, die man aus alltäglichen Gesprächen erhalten kann, sind ebenso widersprüchlich: „Europa ohne Russland? – das wäre doch wie Kopf  ohne Herz!“, sagen die einen, andere fühlen sich von Russland bedroht: 44% der Deutschen sind nach aktuellen Umfragen für restriktive Maßnahmen gegen Russland, 67% vertrauen Putins Russland nicht mehr. Die gleichen Befragten wünschen sich ein normales, friedliches Verhältnis zu Russland.

Kurz, die Beziehung Europas, speziell auch Deutschlands zu Russland sind durch und durch ambivalent. Gerade in der Ambivalenz liegt jedoch die Aufforderung  genauer hinzuschauen, ob Europa und Russland zu trennen sind oder ob nicht und welche Bedeutung ihre Beziehung zueinander für den Lauf der globalen Dinge heute hat.

 

Wovon reden wir?

 Zunächst ist zu klären: Was ist Europa? Was ist Russland? In welchem Umfeld steht ihre Beziehung zueinander oder gegeneinander heute?

Schauen wir als Erstes auf die Landkarte; da sehen wir, allem voran, die Botschaft, welche die Erde selbst gibt: Hier Europas Klein- und Vielgliedrigkeit als Appendix Eurasiens, dort Russlands schier unbegrenzt erscheinende kompakte Weite der eurasischen Landmasse.

Sodann: Wenn wir von Europa sprechen, sprechen wir natürlich nicht nur von der Europäischen Union.  Europa ist mehr als die Europäische Union. Europa, in seiner Gewordenheit und in seinem Werden umfasst auch Länder auf dem europäischen Kontinent, die nicht der Europäischen Union angehören, sehr wohl aber dem europäischen Kulturraum. Das betrifft Sprachen, Lebensart, Kunst, Religion und Geschichte. Das sind Länder auf dem Balkan, auf dem Kaukasus und eben auch Russland, zumindest Teile Russlands bis zum Ural.  

Offen ist auch, wie lange die Europäische Union in der heutigen Konstellation zusammen bleiben wird, ob, wie und wann sie sich möglicherweise in Kern- und Randbereiche neu gliedert, welche Rolle Mitteleuropa, konkret Deutschland in einem zukünftigen Europa zukommt.

Russland andererseits ist nicht einfach ein Teil Europas. Russland ist zwar geografisch – auch ökonomisch – nicht von Europa zu trennen, lässt sich jedoch seinerseits in seiner Gewordenheit und seinem Werden nicht auf Europa, auch wenn man es nur bis zum Ural betrachten wollte, schon gar nicht auf die Europäische Union reduzieren. Russland ist nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sogar ethnisch Teil Asiens, genau genommen ist Russland das Gebiet, die Kultur, die Realität zwischen Europa und Asien. Bildlich gesprochen: Russland kann man als Zwischenraum, Europa als Rand definieren.

Zusammen bilden Europa und Russland aber nicht nur einen untrennbaren geografischen Zusammenhang; sie sind auch nicht nur ökonomisch eng miteinander verbunden, im Kürzel gesagt: russisches Öl gegen europäisches Know how, sie bilden darüber hinaus miteinander auch den geopolitischen Raum, von dem aus die heutige Welt über eine Zeitspanne von 2000 Jahren christianisiert, kultiviert, zivilisiert und schließlich kolonisiert  wurde – arbeitsteilig, um es salopp, gleichberechtigt, um es provokativ zu formulieren: Europa als der ‚Nabel der Welt‘, Russland als das ‚Herzland‘ Eurasiens.

 

Koloniale Arbeitsteilung…

In dieser historischen Arbeitsteilung gibt es jedoch einen entscheidenden Punkt zu beachten, der Europa und Russland auf widersprüchliche Art trennt und zugleich verbindet: Heimat vieler Völker sind beide Räume, Russland als umfassender Vielvölkerorganismus in den Weiten Eurasiens, Europa als Pluralität von Staaten auf engstem Raum, aber:

  • Von Europa aus wurde die ganze Welt kolonisiert – bis auf Russland, das sich als einziges Gebiet der Erde der von Europa ausgehenden Kolonisierung bis heute immer wieder entziehen konnte.
  • Russland andererseits machte durch seine, zwar oft unterbrochene, aber unaufhaltsame Expansion im Eurasischen Raum bis hin zur Sowjetunion jegliche Kolonisierung des eurasischen Massivs durch Europa unmöglich.

Diese Konstellation schloss wechselseitige Übergriffe von Westen nach Osten und von Osten nach Westen selbstverständlich nicht aus, bedingte sie in nicht geringem Maße sogar.

Das sind von Westen nach Osten:

  • die deutsche Ostkolonisation um 1000 n. Chr.,
  • die Gründung des Deutschen Ritterordens in Livland im selben Zeitraum,
  • das Ausgreifen Polen-Litauens nach Süden nach dem Tod Iwan IV. 1584 ff,
  • die aufeinander folgenden Versuche Gustav Adolfs, danach Napoleons, Hitlers, der deutschen Wehrmacht Russland zu unterwerfen,
  • die Förderung der Oktober-Revolution durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und seine Gruppe im plombierten Wagen nach Russland einschleuste,
  • Und neuerdings die US-geführten Versuche des NATO-Westens, Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion klein zu halten – siehe Ukraine.

Von Osten nach Westen sind es:

  • die Zerschlagung Nowgorods, das als Mitglied der norddeutschen Hanse westorientiert, tendenziell sogar offen für die Reformation war, durch Iwan III./IV.,
  • die Vertreibung des Deutschen Ritterordens aus Livland durch Iwan IV.,
  • die politischen Übergriffe nach Westeuropa durch Alexander I. , der sich nach der Niederlage Napoleons als „Retter des christlichen Abendlandes“ verstand
  • und schließlich die Besetzung Ost-Europas und Ostdeutschlands durch die Sowjetunion.

In dieser Dichotomie zweier unaufhaltsam expandierender dominanter Kräfte gingen Europa und Russland als miteinander zu einem unlösbaren Konflikt verwachsene und zugleich zu unausweichlicher Kooperation verurteilte Zwillingsbrüder durch die Geschichte.

 

…bei diametral entgegensetzten Paradigmen

In der Art, WIE die Expansion vor sich ging, unterschieden sich Europa und Russland jedoch in diametraler Weise voneinander:

  • Europa expandierte in einem Prozess des Differenzierens, des Pluralisierens, des beständig um die Vormacht auf kleinstem Raum miteinander Kämpfens, der Konkurrenz, letztlich in einem sich steigernden Prozess der Individualisierung, der individuellen Emanzipation, im Kern eines tiefen, wenn auch produktiven Egoismus. Europa trug diesen Prozess als ununterbrochenen Krieg in die ganze Welt hinaus, vielsprachig, in ständiger Veränderung, ohne dauerndes Zentrum.
  • Russland expandierte nach dem Prinzip des Sammelns, des Zusammenführens, des Integrierens und Kollektivierens, der Vielfalt unter dem Dach einer Sprache, der Bildung von Gemeinschaftstraditionen unter einem autoritären Zentrum, Moskau. Das heißt nicht, dass die russische Expansion im Gegensatz zur europäischen gewaltlos vor sich gegangen wäre; es haben sich in der Geschichte nur zwei ganz unterschiedliche Prinzipien der Kolonisierung verwirklicht, deren Wirkung bis heute anhält: Integration im russischen Raum – Desintegration in Europa und von dort ausgehend in der Welt.

 

Geschichtliche Spurensuche

Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung? Paradox gefragt: Wo liegen die Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Entwicklung, die entgegengesetzter nicht verlaufen konnte? Welche Dynamik liegt heute noch darin?

Mit Hinweisen auf tagespolitische Ereignisse sind kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen zu gewinnen – Merkel, Macron, Putin, Poroschenko, Trump sind eher Getriebene als Treiber. Zu zeitgebunden sind die aktuellen politischen Manöver,  zu verschleiert die Motive der aktuellen Feind- oder Freunderklärungen, zu verwirrend die wechselnden Täuschungsmanöver im gegenwärtigen Des-Informationskrieg.

Auch aus der Ökonomie, die heute unter Schlagworten wie ‚Wachstum‘, ‚Fortschritt‘, ‚Konsumgesellschaft‘ etc. als der große zivilisatorische Gleichmacher rund um den Globus in den Vordergrund gerückt ist, der gewachsene kulturelle, religiöse und geistige  Unterschiede zunehmend nivelliert  und durch die Gemeinschaft williger Konsumenten ersetzt, lassen sich kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen gewinnen,

Der Blick muss tiefer, tief in die Geschichte gehen, um erkennen zu können, wie aus einem ursprünglich gemeinsamen Kulturstromstrom – indogermanisch-griechisch-römisch-christlich – die systemgeteilte Welt des 20. Jahrhunderts und nach deren vorübergehendem Übergang in die US-dominierte Globalisierung die sich heute andeutende erneute Ost-West-Teilung hervorgehen konnte und wo die Möglichkeiten der Überwindung dieser Dualität liegen.  

 

Mesopotamien – Wiege Europas

Beginnen wir ganz klassisch mit der Entführung Europas durch Zeus von den Stränden Phöniziens, erzählt aus griechischer Sicht zum ersten Mal von Homer ca. 800 vor unserer Zeitrechnung: Europa wurde die Mutter einer neuen, noch unentdeckten Welt.

Von Europas Landung an der kretischen Küste führt der Weg geradewegs durch die griechische Geschichte, ab 146 v. Chr. in die römische, von da durch die Zeitenwende, die von Christi Geburt, von der Geburt des Christentums in Palästina markiert wird, weiter über die Jahrhunderte der Christenverfolgung in Rom, bis das Christentum im Jahr 380 n. Chr. zur römischen Staatskirche ausgerufen wurde.

Über die ganze, sich über mehr als 500 Jahre  erstreckende Zeit dieser griechisch-römischen Geschichte zieht noch ein einheitlicher kultureller Strom ins frühe Europa.

 

Teilung der römischen Welt

Mit der Teilung Roms in Ostrom – Westrom im Jahr 395 n. Chr. setzt die unterschiedliche Entwicklung des europäischen Siedlungsraumes in ein östliches und ein westliches Europa ein. Ost-Rom, unter dem Namen Byzanz, später Konstantinopel wird zur Feste Europas, West-Rom zerfällt unter dem Ansturm germanischer Stämme  und hunnischer Reiterheere aus dem Inneren Asiens –  man erinnert sich an die Daten der Völkerwanderung: 410 n. Chr. Alarich vor Rom, 450 n. Chr. Attila vor Byzanz und vor Rom. Der Zerfall Roms setzt getrennte Reichsbildungsprozesse im Osten und im Westen Europas in Gang.

Als drittes Element neben den beiden christlichen Strömungen kommen die Wikingischen Handelskrieger hinzu, die im Osten entlang der Flüsse nach Süden bis Byzanz ziehen, im Westen vom Meer aus in die Küstengebiete eindringen. Die Gründung der Kiewer Rus durch den Wikinger Rurik 882 n. Chr., die Reichsbildungskriege der Karolinger im achten und neunten Jahrhundert, die ganz eigene Entwicklung der angelsächsisch-dänischen Besiedlung des heutigen England fallen in diese Zeit erster Differenzierungen des ursprünglichen mesopotamischen Kulturstroms.

Mit der Übernahme des orthodoxen Christentums durch den Fürsten Wladimir von Kiew im Jahr 988 n. Chr. bindet die Kiewer RUS sich an Byzanz. Mit diesem Schritt nimmt das Auseinanderdriften der religiösen Sphäre in Ost- und Westeuropa an Deutlichkeit zu. England geht zudem seinen eigenen Weg. Kiew bleibt aber zu der Zeit noch Handelsdurchgang von Osten nach Westen, unterhält auch noch höfische Beziehungen zu den französischen und anderen westlichen Fürstenhäusern.

 

Das Schisma:

Differenzierung im Westen…

Mit dem Schisma, der großen Kirchenspaltung von 1064 n. Chr., wird das Auseinanderdriften Europas auf einen oströmischen und einen weströmischen Entwicklungsweg manifest. Die Patriarchen von Byzanz und Rom exkommunizieren sich gegenseitig. Byzanz versteht sich als Hüter der Einheit von Staat und Kirche, betrachtet Rom als abtrünnig vom wahren Glauben. Roms Entwicklung führt dagegen sehr schnell auf einen dreigeteilten gesellschaftlichen Weg, der die differenzierte Zukunft des westlich Europa vorzeichnet, den politischen Bereich der Reiche und Staaten, den religiösen Bereich und eine unabhängige Philosophie und Wissenschaft.

 Ausgesuchte prägnante Daten mögen das verdeutlichen:

  • Nahezu zeitgleich zur Spaltung von Ost- und Westkirche setzen die von Rom ausgehenden Kreuzzüge ein – erster Kreuzzug 1095 n.Chr. Die Züge wenden sich, was heute kaum erinnert wird, auch gegen die Ostkirche. Die Ritter des 4. Kreuzzuges erobern sogar Byzanz. Als die Türken 1443 Byzanz belagern, kommt den Byzantinern aus dem Westen Europas keine Hilfe zu. Dieses Ereignis  treibt die Spaltung zwischen den Kirchen tief ins Unterbewusstsein der orthodoxen Bevölkerung, die sich vom Westen verraten fühlt.
  • Der Gang König Heinrich IV. nach Canossa 1076 n.Chr., mit dem er Papst Gregor VII. zwingt, die Bannbulle gegen ihn aufzuheben, besiegelt die Spaltung von Staat und römischer Kirche.
  • Dem großen Ost-West-Schisma folgt das kleine Schisma zwischen Rom und Avignon von 1378 bis 1417; in der Mitte des 15. Jahrhunderts erhebt sich noch ein weiterer Gegenpapst, dazu diverse Gegenbischöfe.
  • In den Klöstern entwickelt sich mit der scholastischen Philosophie das Bestreben, Religion rational zu begründen.
  • Nicht unerwähnt bleiben darf die Gegenbewegung der Inquisition, die Spaltungen und Abweichungen in Angelegenheiten des Glaubens als Häresien mit Folter und Tod einzudämmen versucht.  

Nur kursorisch benannt seien die bekanntesten Stationen der weiteren Differenzierung der westlichen Entwicklung:

  • die ‚Entdeckung Amerikas‘ durch Kolumbus 1492, die diesen Kontinent an Europa heranzieht,
  • die Renaissance im 15. Und 16. Jahrhundert,
  • die Konfessionalisierung der Westkirche durch Luther, Zwingli und Calvin,
  • der Dreißigjährige Krieg 1618 – 1648,
  • die Aufklärung ab 1700,
  • die Französische Revolution 1789 – 1799,
  • die Entstehung europäischer Nationalstaaten in der Folge der Revolution, durch Napoleon forciert.

Von der Neuzeit soll später gesprochen werden.

 

Ganz anders im Osten:

Das „Sammeln der russischen Erde“

Byzanz verschloss sich einer Entwicklung, wie sie von Rom ausging.  Im byzantinischen Raum, wie er sich im Kiew Wladimirs fortsetzte, entwickelten sich keine unabhängige Wissenschaft, keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung – und keine bürgerliche Revolution. Die Zerstörung Kiews durch die Mongolen im Jahr 1241 war ein weiterer entscheidender Impuls für die Entfernung Ost- und West-Europas voneinander.

Die Mongolen vernichteten Kiew, machten den südlichen und mittleren Osten abhängig; den Westen, obwohl sie dessen Heere bei Liegnitz vernichtend schlugen, verschonten sie, wandten sich stattdessen weiter nach Süden, wo sie das muslimische Kalifat Bagdad vernichteten. Im Schatten dieser Schonung konnte sich der Westen Europas anders als der Osten unabhängig von mongolischem Druck entwickeln. Die Zerschlagung Kiews löste dagegen eine Fluchtbewegung der Bevölkerung der RUS  nach Norden aus, wo die fürstliche Oberschicht als  Dienstadel, die Bauern als Siedler im Fürstentum Moskowien Zuflucht fanden, das von den Mongolen nicht besetzt und ihnen nur tributpflichtig war.

Mit diesen Ereignissen kommt zu der religiösen Spaltung zwischen Ost- und Westkirche die unterschiedliche Ausrichtung des zuvor noch offenen politischen Raumes hinzu. Ausgehend von Moskowien, noch unter der mongolischen Tributhoheit, beginnt mit dem  Moskowiter Fürsten Kalita (1325 – 1340), intensiviert durch Iwan III (1530 – 1584), dann Iwan IV. (1456 – 71) der Prozess des „Sammelns russischer Erde“, wie es in der russischen Geschichtsschreibung genannt wird. Nach dem Fall Konstantinopels erklärt Iwan IV. Moskau zum III. Rom. Dabei übernimmt er das Staatskirchentum des byzantinischen Modells, übernimmt auch den Titel Kaiser, also Zar des russischen Reiches. Mit der Unterwerfung Nowgorods und der Verdrängung des deutschen Ritterordens aus Livland schließt er die Grenzen nach Westen; zugleich forciert er die Kolonisation nach Osten auf der Spur des zerfallenden mongolischen Großreiches bis nach Sibirien.

Die Politik Iwans IV. zementiert die Trennung zwischen dem orthodoxen Osten und einem reformatorischen, protestantischen, aufklärerischen Westen bis in die Zeit Peter I. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ost und West, Russland und Europa sind für mehr als 200 Jahre getrennte Welten. In dieser Zeit festigt die christliche Orthodoxie ihr Verständnis von sich als Bewahrer des wahren christlichen Glaubens – ohne einschneidende Abspaltungen, ohne Protestantismus, ohne Religionskriege, ohne Aufklärung in despotischer Einheit von Staat und Kirche – bis auf die minoritäre Bewegung der „Altgläubigen“, die eine formale Kirchenreform im 17. Jahrhundert nicht mitmachen wollten.

 

Neue West-Ost-Begegnung,

Westlich orientierte Modernisierungsschübe Russlands

Vermischung, gegenseitige Übergriffigkeiten

Mit Peter I. 1682 bis 1725,  genannt der Große, beginnt eine neue Phase der Ost-West-Beziehungen. Den Beinamen ‚der Große‘, erhielt er dafür, das er das „Fenster nach Europa“ öffnete. Konkret hieß das: Er  unterwarf Russland einer Modernisierung und Industrialisierung nach westlichen Standards. Seine Modernisierung  war ein Gewaltakt, der die in ihrer traditionellen Orthodoxie lebende mehrheitlich bäuerliche russische Gesellschaft zutiefst erschütterte. Er ließ den Bauern Kaftane und Bärte gewaltsam beschneiden, um sie aus ihren orthodox-gläubigen Sitten herauszuholen. Er war sich nicht zu schade, eigenhändig die politische Opposition zu köpfen. Er ließ St. Petersburg in einem Gewaltakt aus den Newa-Sümpfen stampfen. Gleichzeitig führte er Expansionskriege nach Norden und nach Süden. Die sog. petrinischen Reformen hinterließen ein zwischen Orthodoxie und westlicher Modernisierung zerrissenes russisches Volk unter der Knute einer autoritären Zwangsmodernisierung. Im Westen wurde Peter I. natürlich gefeiert.

Zu beachten ist: Zeitgleich zu den petrinischen Reformen entwickelt sich im Westen die Aufklärung. Zeitgleich ziehen die antidynastischen Wolken der französischen Revolution auf, deren Ideologen ihre Impulse aus der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und der Bill of  Rights von 1797 beziehen, die das Recht auf Selbstbestimmung und Revolution verfassungsmäßig festschreiben. Europa und Russland sind, trotz Modernisierung Peters I., auf unterschiedlichen Wegen: Europa öffnet sich in Richtung Amerika, Russland expandiert, wenn man das Gebiet zu der Zeit noch so nennen kann, im ost- und süd-europäischen Raum.

Ein halbes Jahrhundert später, 1762  – 1796, intensiviert Katharina II., die ‚Deutsche auf dem Zarenthron‘, ebenfalls die Große genannt, die Beziehungen Russlands zum Westen. Sie pflegt intensivsten Umgang mit den französischen Aufklärern, insbesondere Voltaire. Sie fördert europäische Wissenschaft und Kunst. Der Enzyklopädist Diderot ist über längere Zeit Gast des Zarenhofes. Gleichzeitig setzt sie das Sammeln russischer Erde nach Süden, ebenso wie den autoritären Regierungsstil fort. Die Politik  Katharinas vertieft die  Durchmischung von Orthodoxie und westlicher Aufklärung erheblich.

 

Übergang in die Moderne:

Durchmischung, imperiale Konfrontationen, gegenseitige Zerstörung

 Auf die Westöffnung Peters I. und Katharinas II. folgt wie ein Donnerschlag der Feldzug Napoleons gegen Russland. Deutlicher als mit diesem Feldzug, der im russischen Winter von 1812 steckenblieb, konnte der Welt nicht mehr vorgeführt werden, dass Russland mehr war als nur Europa und wie weit sich Russland und der Westen inzwischen voneinander entfernt hatten. Napoleons Rückzug war nicht nur ein Rückzug Frankreichs, es war ein Rückzug Europas. Nur eins dazu: Mehr als die Hälfte des 500.000 Mann starken napoleonischen Heeres waren Mannschaften aus den von Napoleon besetzten Gebieten Europas.

Der Niederlage Napoleons folgte auf dem Fuße ein Vorstoß Russlands nach Westen. Auf dem Wiener Kongress von 1814, bei dem es um eine Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons gehen sollte, genauer, um die Wiederherstellung der von Napoleon zerstörten dynastischen Ordnung, war der russische Zar Alexander I. neben dem Vertreter Habsburgs, Fürst Metternich, die führende Stimme der Restauration. Sein im Zuge der „Heiligen Allianz“ unternommener Versuch die Auswirkungen der französischen Revolution zurück zu kämpfen warf den Schatten einer tiefen orthodoxen der Reaktion auf Europa.  

Der Schlagabtausch, der mit Napoleons endgültiger Niederlage  bei Waterloo 1816 endete, war das Vorspiel für die Konfrontationen des darauf folgenden Jahrhunderts, in denen die von Europa ausgehende Expansion über See und die von Moskau ausgehende territoriale Expansion an den Rändern Eurasiens, zum Beispiel in Afghanistan aufeinanderprallten, ergänzt durch Konfrontationen im süd-europäischen Raum, in dem Russlands panslawistische Ambitionen auf westeuropäische Grenzen stießen. Es entstand das, was uns bis heute unter dem Stichwort des ‚great game‘ begleitet und was sich in dem Jahrhundert der zwei Weltkriege entlud, die sich 1914 – bis 1918 und noch einmal 1939 bis 1945 im Kern um Verschiebungen der ins Globale gewachsenen Konkurrenz zwischen den von Europa und Russland ausgehenden Einflusszonen drehten.  

Einige Aspekte dieser konfrontativen Zeit, die Beziehung Europas zu Russland betreffend, fallen von heute aus besonders ins Auge:

Das ist vor allem die schon erwähnte Unterstützung der Oktoberrevolution durch den Westen im Zuge des 1. Weltkriegs, konkret durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und eine Gruppe russischer Revolutionäre in plombierten Waggons nach Russland einschleuste,  mit dem klaren Ziel den Zarismus zu stürzen und Russland damit zur Kapitulation zu zwingen. Anschließend bekämpfte der Westen die Ergebnisse der Revolution, um eine sowjetische Staatenbildung zu verhindern. Heute würden wir diesen Vorgang glatterdings einen ‚Regime change‘ nennen.

Aber wenn der Sturz des Zarismus, die Konfrontation mit westlichem revolutionären Gedankengut, nicht zuletzt mit dem Atheismus der Revolution Russlands Identität auch ins Herz traf, zerstörte Europa sich in diesem  Krieg doch andererseits selbst, während die von Russland, der entstehenden Sowjetunion sich ausbreitende kommunistische Internationale sich in der Gegenbewegung zu dem von Europa ausgegangenen Zersetzungsversuch praktisch über die gesamte westliche Welt verbreitete. Man ist versucht von einem paradoxen Vorzeichenwechsel zu sprechen: Russland übernahm den westeuropäischen Zivilisationsstrom der Desintegration in Gestalt einer modernen Einheitspartei, in den Westen floss in einer unaufhaltsamen Gegenbewegung der Strom des russischen Integrierens und Kollektivierens in Form einer Vielzahl kommunistischer Parteien hinein. Die Folge war, einfach gesagt, ein die Fronten übergreifendes Identitätschaos – in dem Atheismus und Orthodoxie sich zu monströsen Dogmatismen überkreuzten.

Im zweiten Weltkrieg versuchen die westlichen Alliierten – Hitler benutzend – den aus der Oktoberrevolution erwachsenen Einfluss der Sowjetunion/Russland wieder zurückzuschlagen. Hitler hatte sich einbilden können, England werde seinem Vorgehen gegen Russland stillschweigend zusehen. Aber anders als geplant, ging nicht Russland, sondern Europa in diesem Krieg zugrunde: Europa wird geteilt, West-Europa, Westdeutschland werden Satelliten der USA. Russland, die Sowjetunion dringt bis nach Mitteleuropa vor. Die Welt ist geteilt – bis die Sowjetunion 1991 implodiert und die USA als „einzige Weltmacht“ übrigbleiben, vorläufig jedenfalls, solange ihr keine neuen Rivalen erwachsen. 

 

Ergebnis im Rückblick:

Aus dem ursprünglich gemeinsamen Strom der beiden Kolonialmächte Europa und Russland wurde die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts:

  • Europas Expansion der Vielfalt explodierte:

Nach seiner Selbstzerstörung in dem zurückliegenden Weltkrieg des 20. Jahrhunderts (1. – und 2. Weltkrieg) braucht und sucht Europa heute eine neue nachkoloniale und nachnationale Identität und Form.  Die gegenwärtige Europäische Union ist eine Übergangserscheinung, bei der die Frage entsteht: was ist der Mitteleuropäische Raum in diesem ganzen Konzert.

  • Russlands Expansion des Sammelns implodierte:

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion braucht/sucht Russland heute eine post-expansive Identität als Entwicklungsland neuen Typs, in dem westliche Standards und durch den Sowjetismus gebrochene Tradition eine neue Verbindung suchen. Russlands gegenwärtige autokratische Form ist eine Übergangserscheinung.

  • Die USA übernahmen das Ruder der Weltentwicklung:

Sie haben ein erklärtes Interesse daran, die Verbindung eines erneuerten Russland mit einem erneuerten Europa, insonderheit Deutschlands als tragender Mitte Europas, zu verhindern.  

Aktuell tritt jetzt noch China als neue Größe vom Osten her in diese Konstellation mit ein.  Weitere Mächte melden ihre Ansprüche zur Teilhabe an. Es entsteht etwas, das als multipolare Weltordnung bezeichnet wird, bei dem aber vollkommen unklar ist, was die geistige Substanz dieser Weltordnung ist. Ohne verbindende Sinngebung droht diese Entwicklung in eine erneute Ost-West-Spaltung zu führen, jetzt lediglich ins Globale erweitert. Um es klar, und vielleicht auch ein bisschen provokativ zusammenzufassen: So wie Russland und Europa die Welt arbeitsteilig kolonisiert haben, so ist jetzt  die Zeit gekommen, sie ebenso arbeitsteilig unter Einbeziehung der inzwischen gewachsenen Außenflanken, China, und die USA zu transformieren.

 

Aber wie?

Wie kann es gelingen, die verschütteten Impulse der europäisch-russischen Beziehungen wieder freizulegen, sie miteinander in Austausch zu bringen, statt sie unerkannt, ins Lähmende oder ins Globale eskaliert, weiter gegeneinander wirken oder gar wüten zu lassen, nachdem die Versuche einer neuen Völkerordnung nach 1918 ebenso wie die russische Revolution damit in der Vergangenheit gescheitert sind und auch gegenwärtige Annäherungen jetzt wieder zu scheitern drohen?  

Ein interessanter Ansatz dazu lässt sich in einem Vortrag von Rudolf Steiner finden, dem Begründer der anthroposophischen Gesellschaft, den er zum Jahreswechsel 1918/1919 hielt, also noch unter dem unmittelbaren Eindruck des 1. Weltkrieges. Er spricht von drei Kulturströmungen, die sich aus den Tiefen des vorchristlichen Altertums entwickelt hätten. Deren Wirken müsse offen gelegt, verstanden und in neue Beziehung zueinander gebracht werden, so Steiner, wenn man das heutige Chaos und die heutige Entwicklungsdynamik verstehen wolle. Als die drei Strömungen benannte er:

  • Den aus dem Orient über Mesopotamien kommenden griechischen, christlichen Strom, der sich am Ende im russisch-slawischen Raum in besonderer Weise entwickelt und bewahrt habe.
  • Den aus Ägypten über Rom kommenden rechtlichen, politischen Strom, der sich über den ursprünglichen orientalischen gelegt und sich wesentlich in Mitteleuropa in der Herausbildung der Emanzipation des Einzelnen und rechtsstaatlicher Vorstellungen ausgeprägt habe.
  • Den später aus dem Norden kommenden pragmatisch, wirtschaftlichen Strom, der sich in der englisch-amerikanischen Welt entwickelt habe, der aber als jüngster Strom noch nicht voll ausgebildet sei.

Diese Grundströmungen, seien heute nicht mehr in Klarheit erkennbar, so Steiner weiter, sie  hätten sich auf dem  Weg durch die Geschichte zu einem chaotischen Knäuel einer geistlosen Zivilisation verwickelt, verfälscht und zum Teil pervertiert. Sie unter ihren Verformungen in ihrer jeweiligen Wertigkeit zu erkennen und im Zuge einer Entzerrung des heutigen sozialen Lebens nach geistigen, politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten, Steiner spricht von einer Dreigliederung des sozialen Lebens, so miteinander in Beziehungen zu bringen, dass die konfliktstiftende Dominanz des Ökonomischen überwunden werden könne, sei das Gebot der Zeit. Das habe der Krieg, der aus eben dieser Dominanz des Ökonomischen entstanden sei – um es mit Worten von heute zu sagen – der Menschheit nachhaltig vor Augen geführt.

Man muss kein Anthroposoph sein, um die Wahrheit dieser Aussagen zu erkennen und um weiter zu erkennen, dass wir seit dem ersten Weltkrieg ein weiteres Jahrhundert der „Verknäuelung“ und Nivellierung erlebt haben und im Zuge der Globalisierungskrise heute weiter erleben. Klar ist auch, wie sehr Europa und Russland – nämlich zentral, gewissermaßen als Kern, um die das Knäuel aufspult ist – in dieses Knäuel verwickelt sind:

  • Die Gemeinschaftskräfte Russlands kommen mit den vom Westen ausgehenden Modernisierungen unter existenziellem Druck. Er führt einerseits zu einer von Russland ausgehenden Hyperindividualisierung, lässt aber zugleich starke Tendenzen der Abschottung entstehen. In der Politik führt das dazu, dass Russlands europäische Nachbarn Russland als unberechenbar fürchten.
  • Die emanzipatorischen Impulse Europas verkehren sich zusehends in soziale Isolation, während sie zugleich einen aggressiven Export menschenrechtlicher Ideologie hervorbringen; der wird von Russland angesichts der realen Politik der Europäischen Union als hohl und übergriffig erlebt.
  • Die globalisierte Ökonomie bringt statt einer am Menschen orientierten Wohlfahrt, was ihre Aufgabe und Möglichkeit wäre, zunehmende Konfliktpotentiale und soziale Gewalt hervor.

Was könnte eine Besinnung auf die von Steiner genannten Kulturströmungen in der heutigen Situation für Europas Beziehung zu Russland also bedeuten?

  • Ganz sicherlich keine fraglose Unterordnung unter die Dominanz einer bloß ökonomisch orientierten Globalordnung nach amerikanischem Muster – auch dann nicht, wenn diese Ordnung in Zukunft unter anderen Namen, etwa dem chinesischen auftreten sollte. 
  • Ganz sicher keinen romantischen Rückfall auf den Traum von einem ungeteilten christliches Europa nach Art der deutschen Romantik oder gar auf eine von Europa und Russland gemeinsam gebildete eurasische Achse, die versucht ihre durch die Teilung verlorene abendländische Dominanz wiederherzustellen.    
  • Ganz sicher aber auch nicht den isolierten Rückzug auf eine „russische Idee“ oder eine „europäische Idee“, die sich voneinander abgrenzen oder gar bekämpfen. Das liefe nur auf eine Beschleunigung der nationalistischen Tendenzen hinaus, die sich gegenwärtig in der Welt des „Amerika first“ abzeichnen.

Eine Notwendigkeit der heutigen Zeit ist aber sicher, und das mehr und dringender als noch vor hundert Jahren, die russische und die europäische Idee, wie jede andere nationale Idee, die zurzeit lebt oder noch neu entsteht, einschließlich der amerikanischen, vorurteilslos daraufhin zu untersuchen, wie sich die genannten kulturellen Grundströmungen in der heutigen globalen gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellen und wie eine von nationalen Beschränkungen befreite  Wechselwirkung von geistigem Leben, Politik und Ökonomie so gefördert werden kann, dass die Dominanz der Ökonomie relativiert, tendenziell überwunden werden kann, bevor die Notwendigkeit dazu durch eine weitere Weltkatastrophe bewiesen wird.

Europa und Russland könnten dazu, wenn sie sich auf ihre historischen Wurzeln besännen, in ihrem gegensätzlichen Aufeinander-Bezogen-Sein von individueller Emanzipation und gemeinschaftlicher Tradition einen entscheidenden Beitrag leisten, in dem ‚Herz‘ und ‚Kopf‘ miteinander und nicht gegeneinander wirken – allerdings ohne dabei, das ist zu betonen, die Ökonomie zu vergessen, ohne dabei aber auch zu erneuter Expansion oder Dominanz aufsteigen zu wollen. Anders gesagt, die Ökonomie, konkret auch der „american way of life“, einschließlich seiner chinesischen Variante,  muss nicht bekämpft, sondern in diese Entwicklung integriert werden, wenn sich ein lebendiger Austausch zwischen den Kulturen entwickeln soll, der an der Förderung des Wohles, der Selbstständigkeit und Freiheit des einzelnen Menschen orientiert ist.   

In diese Richtung nach vorn zu schauen, um zu sehen, wie russische und europäische Art sich gegenseitig anregen können, ist wohl die optimale heutige Variante.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Katalonien – Signal für ein neues Staatsverständnis?

Es ist offensichtlich: Das Credo des nationalen Einheitsstaates ist in der Krise. Der Kampf um Kataloniens Unabhängigkeit ist nur der aktuellste Ausdruck dieser Tatsache. Ähnliche Konflikte gingen dem voran, weitere werden folgen.

 Der Wunsch von gut 50% der Bevölkerung Kataloniens nach Autonomie und Unabhängigkeit steht gegen den Monopolanspruch des spanischen Staates und gegen die ‚schweigende Mehrheit‘, die sich aus unterschiedlichen Gründen an der Abstimmung zum Referendum vom 1. Oktober 2017 nicht beteiligt hat. Dieser Konflikt kann weder zugunsten des spanischen Staates noch einer regionalen Abspaltung Kataloniens lebensförderlich gelöst werden, solange beide Seiten auf dem Boden des heutigen Verständnisses vom einheitlichen Nationalstaat stehen bleiben, das heißt, eines Staates, der, dominiert von der Ökonomie, sämtliche Lebensbereiche überformt und beherrscht. Grundsätzliche Veränderungen des Staatsverständnisses stehen an, die von  der Wirklichkeit des Zusammenlebens in unserer heutigen Welt gefordert werden.

 Diese Wirklichkeit liegt zum Ersten in der Tatsache, dass das globale Wirtschaftsleben schon längst alle nationalen Grenzen gesprengt und sich die Nationalstaaten als bloße Instrumente unterworfen hat.

Sie liegt des Weiteren in der historischen Erfahrung, dass alle Revolutionen, bürgerliche wie sozialistische, bisher nur dazu geführt haben, die Diktatur der Ökonomie mit anderem Namen, aber unverändertem Staatsverständnis auf immer neuem Niveau wiederherzustellen.

Sie liegt schließlich in der wachsenden emotionalen und spirituellen Verlorenheit vieler Menschen angesichts einer Welt, die, von ökonomischen  Kriterien beherrscht, beängstigenden Katastrophen entgegentaumelt.

Dies alles bedeutet nichts anderes, als dass die Menschen heute nach neuem Sinn, nach neuen Formen des Zusammenlebens und – nennen wir es mit einem aus berechtigten Gründen in Deutschland vorsichtig zu benutzenden Begriff – nach  neuer Heimat suchen, wo sie als Einzelne in überschaubaren, pluralen Zusammenhängen ihren Wert und ihre Würde finden können.

 

Autonomie – eine Forderung der Zeit

Vor einem solchen Hintergrund gewinnen die Bestrebungen nach Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit wie jetzt in Katalonien, wie zuvor in Schottland, wie in Norditalien, wie in vielen anderen Regionen Europas, die den Verlust ihrer lokalen oder regionalen Autonomie beklagen, ihre Erklärung und ihre Berechtigung als Ausdruck der Zeit – wenn sie ihre eigene historische Dynamik begreifen, die faktisch aus der überfälligen Übermacht des Staatsmonopols erwächst, die zugleich dessen Ohnmacht offenbart.

Bei wachem Blick wird zudem erkennbar, dass dies nicht nur eine europäische, sondern ein globale Dynamik ist, die den Osten ebenso wie den Westen, den Süden und den Norden betrifft. Die sich vermehrenden ‚eingefrorenen‘ oder auch nur mühsam eingehegten Konflikte am Rande der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan, in Mesopotamien, in Afrika, Südamerika, ebenso wie im asiatischen Teil der Welt sprechen eine unmissverständliche Sprache.

Zum tieferen Verständnis, welche Bedeutung diese Vorgänge für das heutige Leben haben, ist ein kurzer Blick in die neuere Geschichte des einheitlichen Nationalstaates unerlässlich.

 

Nationalstaat als Credo

Schon nach dem ersten Weltkrieg war klar, dass es die Konfrontation der europäischen Nationalstaaten mit ihren imperialen Ansprüchen war, die in die Weltkriegskatastrophe geführt hatte. Das Entsetzen war allgemein. Eine Wiederholung sollte unbedingt vermieden werden. ‚Nationale Selbstbestimmung‘ hieß das Zauberwort, unter dem das geschehen sollte. Unter dieser Parole wurde der auf europäischem Boden gewachsene nationale Einheitsstaat in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum Credo der zukünftigen Völkerordnung erhoben. Ein Völkerbund wurde gegründet, der diese neue Ordnung pflegen sollte.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen.

 

Sonderwege

Einen Sonderweg ging Russland, das, anders als Österreich und das Osmanische Reich, trotz Revolution und trotz massiver Interventionen des Westens auf Seiten der Konterrevolution als Vielvölkerzusammenhang erhalten blieb. Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung auch Lenin als Grundlage für die von ihm initiierte Grundorganisation der Sowjetunion. So entstand die Sowjetunion als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Ideologie. Stalin zerlegte das Land dann in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe des ‚Westens‘ hervorgingen.

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Notwendig sei eine Entflechtung von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben, trug er vor, die sich zukünftig unabhängig voneinander, aber in gegenseitiger Förderung und Kontrolle entwickeln müssten, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung aller Lebensbereiche zu überwinden. Darunter verstand er: Eine Wirtschaft in staatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten, ein Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung sowie eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, in dem die Menschen sich als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbinden.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

 Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Im Aufkommen der Restauration und im Verlauf der einsetzenden Faschisierung der deutschen und europäischen Verhältnisse fielen sie, ebenso wie jene Elemente der Neuordnung Wilsons, die demokratisch genannt werden konnten, sowie auch die revolutionären Hoffnungen im Gefolge der russischen Revolution den wieder wachsenden nationalstaatlichen Konfrontationen zum Opfer

Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat zum nationalen Totalstaat – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis seiner Entwürdigung als Mensch.

Ein entscheidender Fakt ist dabei zu beachten: Während die Wilsonsche wie auch die revolutionäre Variante des Nationalstaates bruchlos in den Totalstaat übergingen, gingen die Ansätze zur Differenzierung, wie sie die Dreigliederung ansatzweise entwickelte, zusammen mit den demokratischen und pluralen Elementen der Nationalstaaten in eben dieser Entwicklung unter.

 

Nie wieder Nationalismus?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsideologie groß: Nie wieder Nationalismus, lautete diese Einsicht, nie wieder Krieg. Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten geprägt. Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Idee des Völkerbundes, die zwischen den Weltkriegen gescheitert war, wurde in der Form der Vereinten Nationen wieder aufgenommen. Mit der EG, später der Europäischen Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und Entnationalisierung der Wirtschaft Rechnung zu tragen. Die Verfassung der Europäischen Union garantiert jedem individuellen und kollektiven Mitglied unveräußerliche Bürgerrechte – nicht zuletzt die freie Wahl seiner staatlichen Vertretung und Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Wenn jetzt das Credo des einheitliche Nationalstaats wieder benutzt werden soll, um Volkseinheiten, die nach einer eigenen autonomen Regierung streben, unter Androhung von Repression zu verpflichten, in dem nationalstaatlichen Zusammenhang zu verbleiben, in den sie im Lauf der Geschichte mehr oder weniger zufällig geraten sind, wenn die Europäische Union sich, obwohl auf Pluralität begründet, als Block hinter dieses Vorgehen des spanischen Nationalstaates stellt, so entspricht das weder der Verfassung der Europäischen Union, noch den Erfordernissen und Bedingungen der heutigen Zeit. Ein Aufbegehren dagegen ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig und weist in die Zukunft – wenn es nicht bei einer bloßen Abspaltung bleibt, die ihrerseits das Credo des einheitlichen Nationalstaats beibehält. Eine bloße Regionalisierung würde auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Multiplizierung des nationalstaatlichen Credos ins Kleine und tendenziell Unendliche. Das wäre eine sinnlose, sogar bedrängende Variante, deren Konsequenz nur die Wiederkehr krassester Spielarten des Nationalismus mit entsprechenden Vereinheitlichungs- und Säuberungs‘tendenzen sein könnte. Beispiele für solche Irrwege hat die neuere Geschichte leider auch zahlreich geliefert. Man denke nur an die Ukraine.

Was heute auf der Tagesordnung steht, ist die überfällige Befreiung des Lebens aus dem Monopol des einheitlichen Nationalstaats. Angesichts der historischen Erfahrungen, die zeigen, wie sich diese Staatsform immer wieder etabliert hat, wenn nur die Machtfrage, aber nicht die grundsätzliche Frage nach einem anderen Verständnis des Staates gestellt wird, kann das jedoch nicht zum widerholten Male als Eroberung der Macht geschehen, in die das herrschende Staatsverständnis mit hinübergenommen wird. Unumgänglich ist der bewusste Abschied vom Verständnis des Staates als einem alles regelnden Monopol und die schrittweise, aktive, kollektive Stärkung der heute bereits entwickelten Tendenzen, welche die Pluralität, die Dezentralisierung, die Kommunalisierung, die  vielfältigen Ansätze neuer Gemeinschaftsbildung usw., ebenso wie die übernationalen wirtschaftlichen und geistigen Strukturen als einen aus dem Leben hervorwachsenden Prozess schrittweise und beharrlich in die Realität bringt. Wenn dies als Impuls in den Wunsch nach Unabhängigkeit eingeht, hat sie ihren Namen verdient.

 

Das Buch zum Thema:

Jefim Berschin, dikoje polje, wildes Feld. Übersetzung aus dem Russischen. – Ein authentischer Bericht über den Sprachenkrieg in Moldawien am Ende der Sowjetunion 1992, der die politischen und ethischen Probleme eines Unabhängigkeitskrieges exemplarisch zeigt.

 

 

Begriffe neu denken – über Armutsbekämpfung, Wirtschaft, Staat, Eigentum

Regionale, nationale und globale Armutsberichte zeigen eines: die Armut in der Welt nimmt in dem Maße zu, wie die Potenz der Produktivkräfte wächst. Das ist eine beängstigende Schere, die – bei wachsendem gesellschaftlichem Reichtum – immer mehr Menschen hervorbringt, die unter das Existenzminimum rutschen.

Im Bemühen um die Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft wachsen daher heute rundum Forderungen nach allgemeiner Grundsicherung heran. Sie reichen von Zähmung des Kapitalismus durch gemeinwirtschaftliche Formen solidarischer Wirtschaft nach den Vorgaben Christian Fellmers, über die Entwicklung kommunitärer Strukturen im Zuge der Kommune- und  „Commons“-Bewegung auf den Spuren von Elinor Ostrom,  bis zu Ansätzen für eine neue Arbeitsteilung in der gedanklichen Nachfolge der von Rudolf  Steiner entwickelten Dreigliederung der Gesellschaft,  beispielhaft vertreten von Nicolas Perlas und praktiziert in einer Vielzahl von Öko-Höfen und -Dörfern rund um den Globus. Die Zahl der Initiativen ist so unüberschaubar wie ihre Vielfalt; darin liegt ihre Stärke und Schwäche zugleich.

Im Zentrum dieser Entwicklung steht zurzeit die inzwischen international geführte Debatte um die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens und dessen praktische Erprobung in einer Reihe von Ländern. Befürworter sehen in dieser Form der Grundsicherung den entscheidenden Weg zur Bekämpfung der Armut, weil sie zu gerechterer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums führe.  Gegner wenden ein, dass die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens die Armut eher befördern werde, insofern sie zu einer Abschaffung der heutigen Sozialleistungen führen und – in der radikalen Form des bedingungslosen Grundeinkommens für alle – zur weiteren Demotivation der ohnehin schon demotivierten Armen beitragen werde, wenn Wohlversorgte wie Benachteiligte das Grundeinkommen gleichermaßen erhielten.

Die Debatte um das Grundeinkommen, wie auch andere Formen der Grundsicherung, soll sie fruchtbar werden, braucht klare Begriffe und eindeutige Positionen, klarer und eindeutiger als bisher.  Armutsbekämpfung in der Form erster Hilfe ist unerlässlich in jeglicher Form und schon aus Gründen der Solidarität und der Förderung des globalen Friedens zwingend geboten. Das duldet keine Fragen und ist sowohl politisch als auch privat zu unterstützen.  Zugleich kann aber auch nicht übersehen werden, dass erste Hilfe für die Armen, wie groß angelegt auch immer, wenn sie bei bloßen Sachspenden oder finanziellen Hilfen für die Bedürftigen bleibt, letztlich dazu verurteilt ist, genau die Verhältnisse zu stabilisieren, die für die heute grassierende globale Armut ursächlich sind. Auch Forderungen nach gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in Form einer Grundsicherung führen darüber nicht hinaus.

Was ansteht, ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Grundorganisation, die diese Armut hervorbringt. 

 

An die Wurzeln gehen

In der Gesellschaft des globalisierten Kapitals dient die Produktion ja nicht mehr der Befriedung von Bedürfnissen, sondern Bedürfnisse werden produziert, um die Selbstverwertung des Kapitals zu ermöglichen, während immer mehr Menschen aus dem Produktionsprozess und damit aus der Gesellschaft hinaus gedrängt werden. Der Staat, seit der französischen Revolution ohnehin mehr und mehr zum geschäftsführenden Ausschuss der Wirtschaft geworden, wird heute zunehmend zum bloßen Handlanger dieses Prozesses. Das viel beschworene Wachstum, weit entfernt davon eine Lösung der Krise sein zu können, erweist sich als deren Quelle.

Eine Überwindung dieser Krise, wenn sie zu einem zukunftsfähigen sozialen Organismus führen soll, kann daher nicht aus einer staatlich garantierten finanziellen Grundsicherung allein resultieren, mag sie nun als Mindestlohn, Bürgergeld, bedingungsloses oder bedingtes Grundeinkommen organisiert werden. Eine zukunftsfähige Lösung muss die Diktatur der Selbstverwertung des Kapitals mit seiner Ideologie des Wachstums um des Wachstums willen grundsätzlich hinter sich lassen, wenn sie nicht zu einer allgemeinen Almosenzuteilung verkommen soll, welche die bestehenden Verhältnisse fixiert, statt sie zu verändern.

Eine soziale Struktur ist gefordert, welche die Schere zwischen dem Anwachsen der Produktivität in der industriellen Produktion und einer relativ dazu sinkenden Zahl in ihr benötigter Arbeitsplätze so organisiert, dass die frei werdenden Kapazitäten der Arbeit mehr und nicht weniger Freiheit und Lebensqualität bringen und zwar für die gesamte Gesellschaft und nicht nur für einzelne ihrer Glieder.

Eine solche Entwicklung geht über bloßes Wachstum, wie es von den herrschenden Kreisen heute gepredigt wird, selbstverständlich weit hinaus. Sie zielt auf Verhältnisse, in denen Staat und Gesellschaft nicht mehr identisch sind mit einer Produktion, welche die materiellen Grundlagen und traditionellen Fähigkeiten zur Selbstversorgung zerstört und sie durch industrielle Produkte ersetzt; sie orientiert stattdessen auf eine Symbiose von Produktion und gemeinschaftlicher Selbstversorgung sowie Eigenproduktion auf dem Niveau des heutigen technologischen Standes. Dabei kann sie auch an den heute noch bestehenden vorindustriellen Verhältnissen anknüpfen, von denen die ‚entwickelte Welt‘, was Armut und Reichtum betrifft, das menschliche Maß neu lernen kann. Generell gesprochen, kann sich darin die ökologische Orientierung unserer Zeit verwirklichen.

 

Die Abhängigkeit von der Lohnarbeit überwinden

Die Krise der Lohnarbeit, sichtbar in der weltweit grassierenden Lohnarbeitslosigkeit, ist ja kein Betriebsunfall des Kapitalismus; Lohnarbeitslosigkeit ist dem Kapitalismus immanent; sie ist eine Bedingung seines Funktionierens, insofern die Lohnarbeitslosen als industrielle Reservearmee den Preis der Arbeitskraft als Ware drücken. In Deutschland stellt die heute stattfindende tendenzielle Demontage des Sozialstaats nur diesen Normalzustand des Kapitalismus wieder her, der durch die deutsch-deutsche Ausnahmesituation verdeckt war. Über Deutschland hinaus ist das aktuelle Ausmaß der allgemeinen, europäischen und globalen Lohnarbeitskrise ein Signal dafür, dass die Entwicklung des Kapitalismus ein neues Stadium erreicht hat, in dem das Kapital Kapazitäten freisetzt, die nicht mehr genutzt werden können.

Sieht man es von der möglichen Entwicklungsdynamik her, dann wird erkennbar, dass durch die Zunahme der Produktivität über die notwendige Arbeit hinaus frei verfügbare Arbeits-Potenzen entstehen, die für die soziale und moralische Entwicklung der Gesellschaft genutzt werden könnten – satt die Armutsstatistiken hochzutreiben.

Das ist ein gewaltiges Potential, Ausdruck eines großen Reichtums, welcher der Gesellschaft in pflegerischer, sozialer und kultureller Weise zugutekommen, auch in den notwendigen ökologischen Umbau und in aktive internationale Projekte eingehen könnte, wenn die Gesellschaft bereit wäre, die Lohnarbeitslosen frei zu lassen, statt sie, wie in Deutschland, durch Harz IV zu knebeln oder anderweitig in abhängiger, entwürdigender Armut zu halten.

Kurz, die Forderung nach der Einrichtung einer Grundsicherung für alle weist in die richtige Richtung; es muss aber klar gesagt werden, dass die damit verbundene Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf eine zwar tendenzielle, so oder so aber doch grundsätzliche Umwälzung der gesellschaftlichen Organisation hinausläuft, hinauslaufen muss. Darüber hinaus muss der Empfang eines finanziellen Grundeinkommens mit einer Anbindung des Einzelnen an einen sozialen Körper gekoppelt sein, über welche die Grundabsicherung sich mit der nach wie vor immer noch notwendigen Lohnarbeit, mit den neu zu entwickelnden Elementen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und der Versorgung anderer Menschen in sozialer Verantwortung verbinden kann.

  

Eine andere Arbeitsordnung

Was sich als Lösung andeutet, ist eine andere soziale Grundorganisation als die heute herrschende Lohnarbeitsordnung, in welcher sich Kapital und Arbeit in einer Weise gegenüberstehen, dass die Arbeitenden sich durch ihre eigene Produktivität um ihre Arbeitsplätze und damit um die Sicherheit ihrer Existenz bringen, weil für sie der bezahlte Arbeitsplatz Voraussetzung des Überlebens ist. Am Horizont eine Arbeitsorganisation, bei der die einzelnen Menschen nicht nur für ihr eigenes Überleben, sondern zum Nutzen des gesamten Betriebes, der gesamten Gesellschaft, allgemeiner gesprochen, nicht nur zum eigenen Nutzen, im tiefsten Sinne aus egoistischen Motiven, sondern zum Nutzen ihrer Mitmenschen arbeiten können, deren Gewinn an die in dieser Weise Tätigen als ihre Grundsicherung zurückfließt. Das wäre eine Ordnung, in der die Arbeit nicht nur dem eigenen Wohl diente, sondern das eigene Wohl über den Einsatz für das Wohl des Anderen erreicht würde. Das wäre eine Ordnung, die den gegenseitigen Nutzen, statt die gegenseitige Konkurrenz zum Leitprinzip gesellschaftlichen Miteinanders erhöbe. Hierin liegt der Impuls für eine grundlegende Wandlung der gegenwärtig herrschenden Leistungsgesellschaft‘, der über bloße organisatorische Reformen in eine solidarische Zukunft hinausweist.

Der mögliche Weg dorthin wäre eine gemeinschaftliche Organisation der Arbeit, in der Betriebsleitung und Belegschaft sich in Teilungsverträgen miteinander zur Kooperation auf gemeinschaftlicher und gleichberechtigter Basis verpflichten. Erhaltung und Erneuerung des Kapitals, Vergütung aller an der Produktion und Distribution Beteiligten und Abgaben an die Gesellschaft wären als Ganzes nach einem rechtlich geregelten Schlüssel so zu regeln, dass für alle Beteiligten eine Grundsicherung unabhängig von ihrer konkreten Tätigkeit garantiert ist – solange der Betrieb von ihnen aufrechterhalten wird, versteht sich. Und selbstverständlich wird sich das Prinzip des Teilens über den einzelnen Betrieb hinaus in der Weise fortsetzen, dass  die Abgaben eines Betriebes über die eigene Basis hinaus in Verantwortung für die Grundsicherung des gesamtwirtschaftlichen Prozesses der Gesellschaft stehen, also ggfls. auch schwächere Betriebe und Arbeitszusammenhänge gestützt werden, so dass auch dort sowie für außerbetriebliche Kollektive und einzeln lebende Menschen eine Grundsicherung möglich ist. Das gleiche Prinzip wird sich dann notwendigerweise auch auf internationale Beziehungen erstrecken.   

 

Staat als Diener

Die Entwicklung einer allgemeinen Grundsicherung, gleich in welcher Variante, ob als vom Staat ausgegebenem bedingungslosem Grundeinkommen für alle oder als Sachzuwendungen auf betrieblicher oder kommunaler Ebene führt unvermeidlich zur Forderung  nach einem anderen Verständnis von Staat, nach einem Staat heißt das, den die Gesellschaft sich als Verwaltungshilfe, als Organ des Austausches, als Förderer für selbstverwaltete Betriebs- und Lebensstrukturen selbst schafft. Dies gilt keineswegs nur für Deutschland oder Europa. Es ist ein Erfordernis der heutigen Zeit.

Der Weg in eine solche Gesellschaft ist selbstverständlich lang. Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte mag das verdeutlichen. Die Entwicklung, Erhaltung und Pflege der physischen Existenz ist die Grundlage menschlichen Lebens und aller Kultur. Solange es Menschen gibt, geht ihr Streben dahin, sich von der täglichen Versorgung des physischen Leibes unabhängig zu machen, um Kultur entwickeln zu können. So sind wir von der täglichen Versorgung zur Vorsorge geschritten. Vorsorge macht frei, aber sie bindet auch. In der Sicherung der Vorsorge liegt die Ursache für die Entstehung des Staates als Kontrollorgan, der Ausübung von Herrschaft über andere. Im Lauf der Geschichte haben sich zahllose Mischformen dieser Kontrolle herausgebildet, in denen unterschiedliche Kräfte an der Spitze dieser Organisationen standen. Ihnen hatte sich alles unterzuordnen selbst bei Strafe des wirtschaftlichen Ruins. Das geschah hier im priesterlichen Gewande, dort im oligarchischen oder auch  durch das blanke Schwert.

Im Laufe der Geschichte hat sich die Staatsmacht schrittweise – besser gesagt, in einem labyrinthischen Prozess von Versuch und Irrtum – differenziert. Einen entscheidenden Einschnitt brachte die Entflechtung von Religion und Staat durch das Christentum, die in der westlichen Tradition schließlich zur Trennung von Staat und Kirche führte. Von erheblicher Bedeutung ist die Entwicklung der Wirtschaft als eigenständige Kraft, die sich in der französischen Revolution von der unmittelbaren Vormundschaft des Staates befreite. Seither kennen wir die gedankliche Dreiteilung des gesellschaftlichen Organismus in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, geschlechtsneutral gesagt, Solidarität. Das bedeutet im Ansatz ja nichts anderes als die Forderung nach einem gleichwertigen Nebeneinander von Glaube, Staat und Wirtschaft.

Aus der Bewegung, die zur französischen Revolution führte, haben wir zudem die Dreiteilung der staatlichen Gewalt nach den Vorschlägen von Montesquieu in Exekutive, Legislative und Judikative, die als großer Fortschritt gegenüber dem absolutistischen Staatsverständnis der Zeit vor der französischen Revolution wie auch gegenüber despotischen Staatsorganisationen zu anderen Zeiten und in anderen Gebieten der Welt ein durch nichts zu bezweifelnder Gewinn in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darstellt. Hinter diese Gliederungen der Gesellschaft zurückzufallen hat katastrophale Folgen  – wie die totale Monopolisierung aller gesellschaftlichen Bereiche durch den Staat im Faschismus und Stalinismus gezeigt hat.

Diese Totalisierung von Staatsmacht, die den einzelnen Menschen unter Zusammenfassung aller Lebensbereiche zum Schräubchen einer allein dem materiellen Fortschritt verschriebenen Megamaschine erniedrigte, steht als Mahnung vor der heutigen Menschheit, was sie erwartet, wenn es ihr nicht gelingt eine Wiederholung dieser Geschichte in noch größerem Ausmaß zu vermeiden. Sie steht zugleich als Aufforderung, weiterführende zeitgemäße Gliederungen des gesellschaftlichen Lebens zu fördern, die einem Rückfall in solche monolithischen Strukturen entgegenwirken.

Im Zentrum steht dabei die Lösung von Wirtschaft und kulturellem Leben vom Machtmonopol des Staates. Die Wirtschaft wie auch das geistig-kulturelle Leben müssen ihren eigenen Gesetzen in Selbstverantwortung, wenn auch in gegenseitiger Anregung und Kontrolle folgen können, ohne von der Politik, von einem allmächtigen Staat gegängelt zu werden. Staat in einem die historischen Erfahrungen berücksichtigen Sinne, kann nur in der Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, zwischen Gruppen und Individuen bestehen, nicht in deren Beherrschung durch Überwachung, Kontrolle und Machtmonopol, dem das gesamte gesellschaftliche Leben unterworfen ist. Als rechtlicher Regulator, als Vermittler, als Berufungsinstanz bei Konflikten zwischen selbstverwalteten Bereichen kann der Staat vom Herrscher zum Diener werden.

 

Der Realität ins Auge sehen

Die Realität ist zur Zeit allerdings eine andere: Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft ist zwar zugleich die Krise des Sozialstaates, genauer des nationalen Einheitsstaates, der die Versorgung seiner Mitglieder nicht mehr garantieren kann, obwohl die Produktivität des Wirtschaftslebens es mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit erlauben würde. Aktuelle Folge sind zurzeit allerdings nicht Demokratisierungs-, nicht Differenzierungsprozesse, sondern Nationalisierungs- und Zentralisierungstendenzen. Staaten wandeln sich zusehends zum Instrument privilegierter Minderheiten, die das Leben ‚ihrer ‘ Bevölkerungen kontrollieren, einschränken, illegalisieren und sogar existenziell gefährden. Statt eines Rückzuges des Staates, der zu begrüßen wäre, wenn es darum ginge, autoritäre Auswüchse des Fürsorgestaates bismarckscher, faschistischer oder auch sowjetischer Prägung aus der Vergangenheit zugunsten selbstverwalteter demokratischer Strukturen weiter abzubauen, sind gegenwärtig  Tendenzen zu beobachten, den Staat neuerlich zu totalisieren und als Sicherheitsstaat gegen die Proteste der marginalisierten und unterprivilegierten Mehrheit von Armen im nationalen, im europäischen und globalen Rahmen in Stellung zu bringen, statt den Ursachen der Armut an die Wurzel zu gehen. 

Angesichts dieser Perspektiven kann es keinen anderen Weg geben als das Credo der herrschenden Verhältnisse, die auf Privateigentum von Kapital basierende Lohnarbeitsordnung, grundsätzlich in Frage zu stellen, zugleich demgegenüber Elemente der Selbstverwaltung, der Kooperation in Teilungsverträgen, der demokratischen Vielfalt, der weiteren Gliederung der globalen Gesellschaft zu stärken. Andernfalls drohen Zivilisation und Kultur in den Revolten der Armen und dem Versuch sie niederzuhalten gewaltsam unterzugehen.

Diese Feststellung mag zynisch oder fatalistisch klingen, sie ist aber bei unvoreingenommener Betrachtung nur die Beschreibung der Realität, mit der wir heute konfrontiert sind, wenn wir nicht den Mut haben, die heute herrschenden Lebensverhältnisse in dem oben beschriebenen Sinne zu verändern.

Woher aber den Mut nehmen? Diese Frage ist allein zu beantworten, wenn erkannt wird, was es bedeutet, wenn der Reichtum der ‚entwickelten Gesellschaften‘ weiterhin in zunehmendem Maße Armut und Verzweiflung hervorbringt – und das nicht nur als materielle Not, sondern auch als emotionale Verödung und geistige Leere im Leben der globalen Gesellschaft insgesamt. Der Kampf gegen die Armut umfasst nicht nur die materielle Grundsicherung, er braucht auch neue geistige, moralische, ethische Impulse, sagen wir es ruhig, er braucht eine spirituelle Erneuerung der Beziehung der Menschen zueinander und zu ihrem Sein in der Welt. Ohne Grundsicherung allerdings kann auch dieser Kampf nicht geführt werden. Aus diesem Widerspruch gibt es kein Entrinnen.  

(Dieser Text erschien zuerst in „Hintergrund“ 4/2018)
 

 

Weiterführendes diesem Thema:

  • Kai Ehlers, Grundeinkommen für alle als Sprungbett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte 2007
  • Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, BoD, 2016

Beide Bücher zu beziehen über den Autor www.kai-ehlers.de

Für ein Europa der Regionen

Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft - Unser Treffen zur „Charta für ein Europa der Regionen“ war ernüchternd und anregend zugleich: Ernüchternd, weil die Diskussion um die Vorlage sich, klar gesprochen, von Frage zu Frage hangelte, eine offener, ungelöster, widersprüchlicher als die nächste, anregend eben deshalb – eben weil die Fragen nach einem demokratischen Entwicklungsweg Europas durch den Entwurf für diese „Charta“ sehr grundsätzlich angesprochen werden.

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