Schlagwort: Datscha

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen. Erweiterte Neuauflage

Was bei Erscheinen des Buches vor drei Jahren noch als auf uns zukommende, möglicherweise  eruptive Tendenz erscheinen konnte, nämlich der Aufbruch der „Überflüssigen“ aus der Südhalbkugel des Globus, hat sich im Zuge der „Flüchtlingskrise“ zur manifesten Herausforderung Europas entwickelt, die dem Problem der hiesigen „Überflüssigen“ die explosive globale Dimension unübersehbar hinzufügt.

Aber weit entfernt davon, das akute Ansteigen des Migrationsdrucks als Aufforderung zu verstehen, den Ursachen dieser Entwicklung jetzt endlich an die Wurzel zu gehen, indem zumindest Ansätze  gemacht würden, die dahinter stehenden Ausplünderung des Südens durch den „entwickelten Norden“ zu korrigieren, werden nur die Symptome der Krise bekämpft, um die Flüchtlinge abzudrängen, werden die Zäune noch höher gezogen, wird inzwischen zur militärischen Abwehr der nach Norden drängenden „Flüchtlingsströme“  übergegangen.

Insofern war der Analyse von der Grundtendenz her nichts hinzuzufügen. Leichte statistische Schwankungen der Arbeitslosenstatistik in den „entwickelten Ländern“ sowie der Zahlen der nach Norden strebenden        Menschen aus dem Süden haben demgegenüber bloß konjunkturellen Charakter. Ergänzt habe ich die Neuausgabe lediglich um die Korrektur einiger Druck- und Satzfehler sowie um einen Text von mir, der im Vorfeld der Arbeiten zu den „Überflüssigen“ aus Gesprächen mit dem Künstler und Kulturökologen Herman Prigann entstanden ist, dessen Projekt „Terra Nova“ am Schluss des Buches vorgestellt wird. Der Text findet sich im Anhang unter der Überschrift „Die Krise nutzen“.

Eine Bemerkung schließlich noch zur Kritik eines Lesers der ersten Auflage, ich hätte den eugenischen Tendenzen, die sich heute abzeichnen, zu viel Platz eingeräumt. Ich gebe zu, es ist mühsam, diese Tendenzen wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber anders als der kritische Leser, dem ich sehr dankbar für seinen Einwand bin, sehe ich mich durch die tatsächliche Entwicklung eher bestätigt – nur treten die heutigen eugenischen Tendenzen natürlich nicht in der historisch bekannten Form auf; sie erscheinen heute als Präventionsstrategie im Namen globaler, sogar „ganzheitlicher“  Sicherheit. Die Form dieser Präventionslogik reicht heute von Peter Sloterdijks in schöner Sprache formulierten „Menschenzucht“, über die Verwandlung des individuellen Wunsches nach Gesundheit, über den Druck zum Nutzen der Gemeinschaft nicht krank sein zu    dürfen, bis hin in das  beständig ansteigende Niveau der über den ganzen Globus sich ausbreitenden Ideologie des Terrors, die letztlich nichts anderes propagiert als die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Dabei spielt es schon keine Rolle mehr, wer Terrorist, wer Anti-Terrorist ist.

Um aber zu  erkennen, woraus auch die „moderne Eugenik“ wieder     hervorgeht, ist es wichtig sich ihres historischen Kerns zu erinnern: Sie war Ausdruck des totalisierten  nationalen Einheitsstaates, der den Zugriff auf sämtliche Lebensbereiche, die vollkommene geistige und physische Verfügungsgewalt über den einzelnen Menschen hatte. Die Ideologie und die Realität dieses Einheitsstaates aus der Kraft selbstbewusster Individuen zu überwinden, die sich mit anderen in kooperativer Gemeinschaft für eine lebensförderliche Welt souverän verbinden, steht heute auf der Tagesordnung und wird mit jedem Tag aktueller.

Entwickeln und sortieren wir die möglichen Alternativen.

Ich wünsche ihnen nunmehr eine ertragreiche Lektüre.

 

Kai Ehlers, bestellen direkt beim Autor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?

Schriftliche Fassung eines Vortrags
auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Continue reading “Stichworte zu einer häufig gestellten Frage: Russland – eine regionale oder eine imperiale Macht?” »

Sommergespräch über Russland in Tarussa: Rückblick und Ausblick

Hallo allerseits! Ich bin wieder einmal in Russland unterwegs.

Im Folgenden können Sie sich in ein Gespräch einklinken, das der Herausgeber der Internetzeitung russland.ru und ich in seinem Wohnort in Tarussa geführt haben. Das Gespräch beginnt mit einer Rückschau auf touristische Annäherungen an Russland noch vor Perestroika und endet bei der Frage, warum die Sanktionspolitik desWestens Russland nicht wird in die Knie zwingen können. Nachfolgend das mit mir geführte Sommergespräch in Tarussa als Video:

Dazu die beiden erwähnten Bücher:

  • Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer – bestellen
  • Kai Ehlers, Jenseits von Moskau, 186 und eine Geschichte von der inneren Kolonisierungn- bestellen

Ukraine – Nationalismus – Russischer maidan – Alternativen – Kriegsgefahr: Kai Ehlers spricht mit dem russischen Dichter-Schritsteller Jefim Berschin

Kai Ehlers: Die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist sehr gespannt. Wo siehst du die Gründe für diese Entwicklung?

 

Jefim Berschin: Ich denke, dass die Entwicklung schon seit langem läuft. Sie steuert jetzt auf den Höhepunkt zu. Es ist die Wirtschaft, die heute herrschende Konsumethik, die auf den Höhepunkt zutreibt. Nichts kann ewig wachsen.

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Sanktionen aus russischer Sicht: „Äpfel und Kartoffeln haben wir immer.“

„Endlich ein entschlossener Schritt“ -  das war der Kommentar meiner gegenwärtigen Gastgeber tief im Herzen Russlands, an der Wolga, abends um 21.00 Uhr vor dem Fernseher, auf dem im zweiten Programm die Abendnachrichten laufen.

Man ist schon müde von den sich seit Wochen wiederholenden Nachrichten über Sanktionen, die beschlossen wurden, neuen Listen, die in Vorbereitung sind, verschärften Maßnahmen, die angedroht werden. Wofür? fragt sich der russische TV-Zuschauer. Was haben wir getan? Wo liegt der Sinn?

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Allmende und Staat. Kann es eine Allmendisierung des Staates geben?

Schafft zwei, drei viele Allmenden.

Wir setzen unsere Treffen zur Wiederentdeckung der Allmende fort.

Grundbedingung für eine gedeihliche Beziehung zwischen Staat und Allmende ist also zuallererst, daß von staatlicher Seite die Allmenden als Ausgangsfeld an der Basis gesellschaftlichen Lebens akzeptiert werden, auf dem Interesse, Kompetenz und erkennbarer Bedarf sich treffen. Sind solche Voraussetzungen heute gegeben?

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Das „chinesische Prinzip“: Ökonomische Freiheit – politische Lenkung: Der bessere Weg zur globalen Perestroika? Ein Vergleich.

Wer heute an China denkt, hat zwei Bilder vor Augen: Das eine wird von China-Reisenden als „happy China“ beschrieben, das andere als Parteiendiktatur, die die Menschenrechte nicht achte und jeden Ansatz zu einer Opposition ersticke. Wohin führt dieser Weg? Diese Frage wird in diesem Text anhand eines Vergleiches von Perestroika und den chinesischen Reformen vor dem Hingergrund der Geschichte beider Gesellschaften untersucht.

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Die demographische Falle – Beobachtungen zur Kraft der „Überflüssigen“ (Anregungen zur Kritik gängiger Wachstums- und Schrumpfungstheorien)

Menschenwürde und Wirtschaft – das sind zwei Begriffe, die uns im Alltag wie selbstverständlich von den Lippen gehen. Tatsächlich ist der eine Begriff heute so wenig selbstverständlich wie der andere. Worin besteht die Würde des Menschen? Wer einmal so zu fragen beginnt, verliert sich schnell in unendlich vielen Antworten.

Die Menschenwürde ist untastbar, lesen wir schließlich im deutschen Grundgesetz; tatsächlich wird sie tagtäglich angetastet, wenn sich – um nur dies zu nennen – Millionen von Erwerbslosen dem ausgesetzt sehen, was von Kritikern der Hartz IV Regeln mit Recht „Verfolgungsbetreuung“  genannt wird, wie sie durch die Arbeitsämter vorgenommen wird. Und noch gar nichts ist mit diesem Hinweis auf hiesige Verhältnisse darüber gesagt, in welchem Maße Menschenwürde in anderen Teilen der Welt mit Füßen getreten oder einfach missachtet  wird.

Nicht besser geht es uns mit der Wirtschaft. Vor dem Ende der Sowjetunion mochten „Kapitalismus“ oder „Realsozialismus“ bei vielen Menschen noch als reale Definitionen des Wirtschaftens gegolten haben, inzwischen sind solche scheinbaren Definitionssicherheiten auf die Befürchtung geschrumpft, dass „die Wirtschaft“ die Menschheit in die Krise zu treiben drohe, statt deren Überleben zu sichern – ungeachtet der Frage, ob dieser Prozess als Vor-, Spät- oder Nachkapitalismus, als Turbokapitalismus, Globalisierung, als nationaler Sozialismus oder, wie im Falle Chinas, gar noch als Kommunismus bezeichnet wird.

Noch erklärungsbedürftiger ist der Zusammenhang von Menschenwürde und Wirtschaft. Nur so viel ist unbezweifelbar: Menschenwürde kann man nicht essen – aber ohne Essen gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht produzieren wie eine Ware – aber ohne Arbeit gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht berühren – aber ohne soziale Beziehungen gibt es keine Menschenwürde. Damit sind drei Bereiche der Realität genannt, die in der Beziehung von Wirtschaft und Menschenwürde untrennbar ineinander greifen: Versorgung, Arbeit, Kommunikation. Versorgung, das ist die ganze Spannbreite vom physischen Unterhalt bis zur Bildung, von der Selbstversorgung bis zur Fremdversorgung. Arbeit, das sind alle Veräußerung von Kraft, Fantasie und Lebenszeit, durch welche Menschen die Welt gestalten; Lohnarbeit ist nur ein besonderer, verabsolutierter Aspekt davon, der heute wieder an seinen Platz gerückt werden muss. Kommunikation, das sind die emotionalen, sozialen und kulturellen Beziehungen, die entstehen, wenn Menschen miteinander und füreinander tätig und aneinander interessiert sind.

Wie entwickelt sich das Dreieck dieser drei Elemente heute? Die Antwort auf diese Frage muss schockieren: In allen drei Bereichen tritt heute ein Problem vor allen anderen in den Vordergrund – die wachsende Zahl der so genannten „Überflüssigen“. Damit sind die Menschen gemeint, die in zunehmender Zahl aus dem Kreislauf von Arbeit, Versorgung und Kommunikation herausfallen oder gar nicht erst zu einem Bestandteil dieses Kreislaufes werden, weil ihre Arbeitskraft zunehmend durch Maschinen, beschleunigt durch Elektronik, generell gesprochen, durch Intensivierung der Produktion ersetzt wird. Zugleich werden die Strukturen traditioneller Selbstversorgung und Möglichkeiten einer Eigentätigkeit vor Ort zunehmend zerstört, sodass die Menschen von der Versorgung mit Fertigprodukten der Industrie abhängig werden, die sie aber – mangels Einkommen – nicht oder nur ungenügend erwerben können. Das betrifft auch für die Nutzung der Kommunikationsmittel von heute.

In der „Wirtschaft“, präziser, im Gefolge des technologischen Fortschritts der Industrialisierung entsteht so eine doppelte Entwürdigung des Menschen, der in die vollkommene Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung verfällt – der eine durch Ausgrenzung vom gemeinsamen Wohlstand, ohne noch auf minimale Versorgung durch Eigentätigkeit zurückgreifen zu können, der andere, der – in die intensivierte Produktion eingeschlossen – durch einen sich in mörderischer Weise beschleunigenden Arbeitsdruck zwar über die finanziellen Mittel, aber nicht mehr über die Kraft und die Fähigkeit verfügt, sich noch ausreichend um sich selbst als Mensch zu kümmern.

Merke gut: Dies alles geschieht, obwohl der industrielle Entwicklungsprozess evolutionär betrachtet eine zunehmende Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit beinhaltet, sein Überleben durch Einsatz seiner physischen Arbeitskraft zu sichern. „Eigentlich“ liegt in dieser zunehmenden Freisetzung „überflüssiger“ Kräfte bei steigender Produktivität heute die Chance für die unterschiedlichen Gesellschaften, für die Menschheit insgesamt, sich mehr als bisher anderen Aufgaben als denen des bloßen physischen Überlebens zuzuwenden. Das sind gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Zuwachses an Menschenwürde, wenn wir Menschenwürde an der Fähigkeit des Menschen messen, sich als Mensch zu verwirklichen – und wenn die Verhältnisse, unter denen die „Überflüssigen“ heute freigesetzt werden, als das erkannt werden, was sie sind, als Überfluss nämlich, und dieser Überfluss für diese Verwirklichung genutzt wird, indem die „überflüssigen“ Kräfte zu Eigeninitiativen aller Art ermutig werden, statt sie als Arbeitslose unter Kontrolle zu halten. Die Umwandlung der jetzigen kontrollierten Sozialfürsorge in ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen, das die materielle und kulturelle Basisversorgung eines jeden Menschen sichert, wäre dazu ein richtiger Schritt.

Eine weitere Tatsache rückt allerdings an dieser Stelle in den Blick, die das Problem gewissermaßen verdoppelt: Zeitgleich zur Freisetzung der „Überflüssigen“ aus dem Wirtschaftsprozess steigt die Zahl der Menschen auf dem Globus exponentiell an. Heute teilen sich 6,3 Milliarden Menschen den Globus, 2020 werden es ca. 9 Milliarden sein. Zwar sind sich Demographen aller Länder darin einig, dass die Kurve der jährlichen Zuwachsrate der Weltbevölkerung sich abgeflacht habe, die Dynamik des Wachstums trotz absolut steigender Bevölkerungszahlen rückläufig sei, das Gespenst einer allgemeinen „Bevölkerungsexplosion“, welche die „Tragfähigkeit“ des Globus sprengen werde also gebannt sei, dafür habe sich aber eine gefährliche „Disproportion“ des realen Wachstums herausgebildet. Salopp gesprochen ist auch tatsächlich zu konstatieren: Die Bevölkerungen der „westlichen“ Industrieländer schrumpfen, einschließlich Russlands, das von dieser Entwicklung am krassesten betroffen ist, die Länder des globalen „Südens“ dagegen erreichen Geburtenraten, die um ein Vielfaches über denen der „westlichen“ Länder liegen. Das gilt vor allem für Afrika, Indien und die Mehrheit der muslimischen Länder, nicht dagegen für China, dessen Zuwachsrate, bei steigender absoluter Zahl der Menschen dort, ebenfalls deutlich abgeflacht ist.

US-Geheimdienste – und in ihrem Gefolge europäische Popularisierer ihrer Erkenntnisse wie Gunnar Heinsohn, Völkermordforscher aus Bremen und nach ihm Thilo Sarrazin – haben es sich zu Aufgabe gemacht, für dieses Szenario Strategien zu entwickeln.  Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die „Globalisierung“ der Wirtschaft, sprechen sie nacheinander von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, wenn all diese jungen Menschen – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten. Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte. Dass mit dieser Zivilisation die „westlich“ dominierte gemeint ist, versteht sich schon fast von selbst, sei aber trotzdem erwähnt.

Von einer 80:20-Welt, bzw. Einfünftelgesellschaft war angesichts dieser ökonomischen und demografischen Daten bereits auf jener legendären Tagung die Rede, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ die Zukunft der Welt zu beraten.  Als Hauptthema kristallisierte sich heraus, was mit dem Heer der „Überflüssigen“ geschehen solle, die aus dieser Verdoppelung von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Bekannt wurde der Vorschlag des einschlägig berüchtigten US-Strategen Sbigniew Brzezinski , ein globales „tittytainment“ einführen zu wollen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verbindet das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainments“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel ist, 80% der Menschheit auf diese Weise „stillen“ zu wollen.

Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierte Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange räsoniert werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen und Kritiken zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein; aber davon ganz abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten der Verwirklichung einer solchen Strategie schon in den Widersprüchen der gegenwärtig herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte, „Überflüssige“, „Unterentwickelte“ haben dieses Geld nicht. Eine Verkürzung des Kreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital kann dieses Problem aber auch nicht lösen, sondern führt – wie die Krisenentwicklung der letzten Zeit gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Aus ihr hilft auch massenhafter Druck von Geld nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet, wenn die Gelder für soziale Unterstützung der Erwerbslosen gleichzeitig zusammengestrichen werden.

Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens für alle Menschen liegen. Mit einer solchen Maßnahme, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der „Überflüssigen“ als stillzulegender oder gar zu entsorgender „menschlicher Müll“.

Es ist offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt. Für den Fall jedoch, dass die gewünschte Stilllegung nicht gelingen sollte, gehen aus den US-Studien von 1990, die dem 80:20-Szenario von 1995 und auch den daraus abgeleiteten Ausführungen Heinsohns zugrunde liegen, denn auch effektivere Varianten zum Umgang mit der dort beschriebenen Bedrohung hervor, die hier nur angedeutet werden können, aber eine weitere Betrachtung unbedingt fordern: Sie beginnen mit dem aktiven Export der westlichen „Eigentumsordnung“, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der „Überflüssigen“ sollen hereingelassen,  die Unerwünschten dagegen an den Grenzen abgefangen werden. Ergänzend dazu wird über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Für alle Fälle müsse „man“ sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen „man“ jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, welche die technischen Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen.

Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahre, einschließlich des gegenwärtigen globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachbuchstabieren.  Klar ist aber, dass auch diese Strategien keine Lösung, sondern selbst Teil des Problems sind, schlimmsten Falles sogar seine Zuspitzung zur  allgemeinen Katastrophe. Besonders deutlich wird dies an den Vorschlägen zum Export der „Eigentumsordnung“, die Heinsohn als Alternative einer zukünftigen Wirtschaftsordnung anbieten möchte, wenn sie nach dem Beispiel der europäischen Entwicklung über die bloße „Produktion“ von Bevölkerungsüberschuss hinausgehe. Heinsohns Begründungen dafür sind nicht sonderlich originell, lassen aber den Kernpunkt klar heraustreten, wohin die herrschenden Strategien zielen, wo demgegenüber grundsätzliche Veränderungen anzusetzen hätten, wenn sie nicht Wiederholungen, Verfestigungen oder gar katastrophale  Zuspitzungen der bestehenden Wirtschaftsweise sein sollen.

Hier aber erst einmal Heinsohns Beschreibung: Er baut seine ganze Argumentation auf der Unterscheidung von Besitz und Eigentum auf. Durch den Übergang von der Besitz- zur Eigentumsordnung sei Europa groß geworden. „Ein Teil der Autoren redet  – und meint das kritisch – von Kapitalismus, ein anderer von „Marktwirtschaft. (kursiv – Heinsohn) Beide wollen damit den entscheidenden Beweger des Wirtschaftens jeweils möglichst knapp umreißen. Die Basis des Wirtschaftens liegt aber weder im Kapital  noch im Markt, sondern im Eigentum. Das kann man nicht sehen, riechen, schmecken oder anfassen, weil es ein papierener Rechtstitel ist.“  Die Unterscheidung von Besitz und Eigentum sei für das Verständnis des Wirtschaftens fundamental, weil nicht Besitz, sondern erst verbrieftes Eigentum die Möglichkeit gebe, Schuldverpflichtungen gegen Kredit und Zins einzugehen. Mit Besitz werde nicht „gewirtschaftet“, so Heinsohn, er werde lediglich „physisch benutzt“. Dass aber „Zins als entscheidende Zugkraft des Wirtschaftens am Eigentum haftet“, werde allgemein schlecht verstanden.

Am Beispiel des Ackers kommt Heinsohn dann zum Punkt: „Zur geschäftlichen Verwendung eines Ackers – also zum Wirtschaften mit ihm – kann es erst kommen, wenn zum Besitzrecht noch ein Eigentumstitel hinzutritt.  Man kann sagen, dass mit dem Acker produziert, mit dem Zaun, der ihn umgibt jedoch gewirtschaftet wird, wobei er den Eigentumstitel symbolisiert und nicht nach Draht und Pfosten betrachtet wird, die es auch in Besitzgesellschaften geben kann.  Während der Bauer einer Eigentumsgesellschaft seine Feldmark – durch eigenen Verbrauch oder durch Verpachten – als Besitzer nutzt, kann er mit dem Eigentumstitel an ihr gleichzeitig und eben zusätzlich wirtschaften. Er kann diesen Titel für das Leihen von Geld – Mark z.B. – verpfänden, oder er kann ihn für die Bereicherung des von ihm selbst emittierten Geldes – wiederum Mark – belasten. Die Geldnote – ob auf Metall oder Papier gedruckt – ist also ein Eingriffsrecht in das Eigentum ihres Emittenten und kommt nur durch Schuldenmachen in die Welt.“

Wirtschaften, um es deutlich herauszuholen, ist in dem von Heinsohns beschriebenen Modell also die private Aneignung eines Stück Landes (oder anderer Objekte), die andere Menschen von diesem Gebrauch ausschließt – eben einen „Zaun“ um das abgesonderte Eigentum errichtet. Auf dieser Basis erhebt sich, von ihm als positiv beschrieben, die Pyramide von Zins und Zinseszins, mit der erst Europa, heute der “Westen“ die übrige Welt in die Kredit- und Zinspflicht gebracht hat. Mit dieser Beschreibung liegt Heinsohn durchaus richtig. Treffender und aktueller als mit dem Bild des „Zaunes“ hätte er dieses Modell, das hier als Lösung, noch dazu als neue in die Welt gebracht werden soll, nicht umreißen können: Bei ihm nur bildlich gemeint, sind die Zäune, mit denen sich die sich die „Leistungsträger“ der sich herausbildenden 20:80-Gesellschaft von den „Überflüssigen“ absetzt, inzwischen ja gesellschaftliche Realität geworden. Man denke nur an die Zäune der EU in Tunesien und demnächst zwischen Griechenland und der Türkei, an die Zäune, mit denen sich die Reichen in den Metropolen selbst vor der armen Umgebung abschotten.  Es ist klar, dass dieses Modell nur tiefer in die Krise führen kann.

Wichtig und interessant ist es deshalb sich die Gegenentwürfe anzuschauen, die heute in der Kritik der möglichen 20:80 Zukunft weltweit an verschiedenen Orten entstehen. Nehmen wir die jüngste Veröffentlichung von Jeremy Rifkin , der als Amerikaner, weltweit anerkannter Zukunftsforscher und Berater von EU-Gremien nicht im Verdacht eines Schwärmers steht. Eher könnte er schon als gewissenhafter Buchhalter der Alternativdenker durchgehen, der sich um die wissenschaftlich korrekte Auflistung zukünftiger Weltbilder bemüht.

Unter dem Titel „Die empathische Zivilisation“ hat Rifkin eine Zusammenfassung der heute zu beobachtenden Entwicklungstendenzen der menschlichen Gesellschaft vorgelegt. Darin beschreibt er die Evolution der Gesellschaft als eine durchgehende Aufwärtsspirale von Fortschritt durch Empathie, Zusammenbruch, erneutem Fortschritt mit gewachsenen Empathiekräften, wieder Zusammenbruch bis hin zur heutigen entropischen Krise. Dabei versteht Rifkin unter Empathie die Fähigkeit des mitfühlenden miteinander Lebens, unter Entropie im Sinne des wissenschaftlichen Begriffes: Unordnung im Raum, sozial gesehen: Zerfall, Zerstörung, Zusammenbruch von Kulturen, Reichen, Zivilisationen. „Wir sind an einem Punkt angelangt“ schreibt er in seiner Einleitung, „an dem der Wettlauf  zwischen globalem empathischen Bewusstsein und globalem entropischen Zusammenbruch vor der Entscheidung steht.“  Das globale Bewusstsein, vom dem Rifkin hier spricht, nennt er schließlich eine „Lebensweise, in der die Menschen sich in einem „empathischen Biosphärenbewusstsein miteinander auf einer neuen Kulturstufe kooperierend verbinden“.

Wie Heinsohn beschreibt Rifkin zunächst den Übergang vom Besitz zum Eigentum, der erst die Entwicklung bis zum heutigen Stand der Zivilisation ermöglicht habe. Dann aber zeigt er auf, dass die Entwicklung der Produktions-, Verteilungs- und Konsumstrukturen der heutigen globalisierten Wirtschaft über den privatisierenden Eigentumsbegriff hinausweise. Die Basis dafür sieht Rifkin im geraden Gegensatz zu Heinsohn in der „Wiedererweckung des kulturellen und öffentlichen Kapitals“. Die hochgradige Dezentralisierung und Vernetzung des Kapitals, des Konsums wie auch des alltäglichen, durch globale Kommunikation intensivierten Lebens löse das Verständnis von Eigentum als Ausgrenzung durch die „Wiedererweckung“ eines Eigentumsbegriffes ab, in dem Eigentum wie seinerzeit in den vorkapitalistischen Gesellschaften nicht den Ausschluss von, sondern „Zugangsrechte“ zum gemeinsamen Besitz definiere. Eigentum werde in zunehmendem Maße wieder als die Berechtigung verstanden, Zugang zum gemeinsamen Kapital zu haben – so wie in vorkapitalistischer Zeit zu Feld, Wald, Allmende oder Gerätebestand eines Dorfes. Heute und in absehbarer Zukunft gehe es um das Recht auf Versorgung mit Grundelementen der allgemeinen Infrastruktur, des Weiteren mit Wärme, Wasser, Luft, um das gemeinsame Wissen im Netz usw.

Rifkin skizziert also eine Entwicklung, die dem 20:80 Modell diametral entgegenläuft. Es ist ein Modell, das nicht auf Ausgrenzung einer Mehrheit von Menschen aus einer zum Privateigentum einer Minderheit erklärten Welt zielt, sondern auf Nutzungsmöglichkeiten für alle zu einem als Gemeinschaftsbesitz verstandenen Kapital, wobei „Kapital“ das gesamte bisher im Laufe der Menschheit geschaffene ökonomische und kulturelle Vermögen umfasst, einschließlich der Beschaffenheit unseres Planeten, die Lebensgrundlage für die Existenz der gesamten Zivilisation ist.

Hier möchte ich Rifkins Skizze der möglichen Welt von morgen verlassen. Bis hierhin konnte ich mich seiner Beschreibung weitgehend anschließen. Siehe dazu auch meine eigene Darstellung dieses Sachverhaltes in dem Buch „Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“ , in dem die Frage der Wiederkehr des Nutzungsrechtes im Rahmen eines als historische Gemeinschaftsleistung der Menschheit verstandenen Kapitals ausführlich erörtert wird.

Die abschließenden Prognosen Rifkins jedoch unter dem Stichwort der „Selbstinszenierung einer Improvisationsgesellschaft“, in welcher er die Zukunft als „Dramatisierung“ des Lebens in den Kommunikationsnetzen des virtuellen Raums beschreibt, wird den sozialen Herausforderungen der 20:80 Perspektive aus meiner Sicht nicht gerecht. Die mit dem 20:80-Problem verbundenen Fragen sind mit der bloßen Vernetzung in einer globalen Kommunikation analytisch nicht in ihrer Widersprüchlichkeit erfasst und praktisch so nicht zu meistern – weder in ihren negativen Auswirkungen, noch in den darin liegenden Chancen. Es wirken ja außer der Kommunikation, im Fall der Missachtung auch hinter unserem Rücken, noch die beiden anderen Bestandteile des Wirtschaftens: Versorgung und Arbeit. Erst in Verbindung mit ihnen gewinnen die heutigen und noch zu erwartenden Möglichkeiten der Kommunikation ihren Charakter – als Instrumente der globalen Freisetzung von Kreativität, produktiver sozialer Aktivität und eigenen Entwicklungsmöglichkeiten für die Millionenscharen „Überflüssiger“, wie mit Rifkin zu hoffen ist, oder der Manipulation im Sinne des „tittytainment“ und schlimmsten Falles direkter repressiver Kontrolle.

Deshalb sei hier noch ein weiteres Element in die Betrachtung eingeführt, das unbedingte Beachtung verdient. In der Regel wird es bei Analysen der heutigen Entwicklungsdynamiken vergessen, übergangen, nicht selten auch aktiv unterschlagen. Die Rede ist von den seit dem Ende der Sowjetunion unternommenen Versuchen, die russischen Gemeinschaftsstrukturen zu privatisieren und von den Wellen, die davon auf die globale Entwicklung ausgehen. Ich will diese Frage hier nicht im Detail ausführen und verweise auch dafür auf das schon erwähnte Buch zur „Integrierten Gesellschaft“ und weitere Veröffentlichungen von mir zur Analyse der Geschichte und der Aktualität der russischen, nachsowjetischen Gemeinschaftsstrukturen.

So viel aber muss hier gesagt werden: Trotz aller Bemühungen der russischen Reformer wie auch ihrer Stichwortgeber und Mitstreiter der internationalen Kapitale – angefangen bei Jeffrey Sachs  Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bis hin zu den verzweifelten Modernisierungskampagnen des gegenwärtigen russischen Tandems, das Dimitri Medwedew und Wladimir Putin bilden – ist es bisher nicht gelungen, die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands aufzulösen und in privatkapitalistische Monopolstrukturen zu überführen. Nach wie vor dominiert eine nicht aufgelöste Kombination zwischen der durch die Verfassung deklarierten privaten Eigentumsordnung und korporativen Wirtschafts- und Lebensstrukturen. Immer noch existieren ganze Lebensgemeinschaften, zu denen sich Großbetriebe, industrielle wie auch agrarische, Dörfer und Städte verbinden, nicht selten mit regionalen Vernetzungen.

Aus westlichem Blickwinkel, auch aus dem Blickwinkel westlich orientierter Reformer in Russland selbst wird diese Realität in der Regel als Korruption wahrgenommen. Tatsächlich handelt es sich hier um Elemente, nicht selten inzwischen auch in degenerierter Form, gemeinschaftlicher, nicht privateigentümlicher Eigentumsverhältnisse, die ihre Wurzeln noch in der Zarenzeit haben, durch die Sowjetunion noch einmal tiefer in die öko-sozialen Strukturen des Landes und in das soziale Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben und bisher nicht vollends transformiert, aufgelöst oder zerstört werden konnten. Kurz und knapp gesagt: Es geht um eine Kombination von Produktion und in Russland so genannter „familiärer Zusatzwirtschaft“, in der die Selbstversorgung vor Ort ein konstituierender Bestandteil der Volkswirtschaft war – und heute noch ist. Die Privatisierung, sprich auch die Kapitalisierung hat nur Teile der Bevölkerung, nur Teile des Landes, generell kann man sagen, nur einige Bereiche des Lebens und der Gesellschaft erreicht, andere Bereiche und Teile zeigen sich aller oberflächlichen Modernisierung zum Trotz resistent.

Diese Organisation des Lebens setzt sich auch heute als Symbiose von industrieller Modernisierung im Geiste westlicher Industriekultur und nach wie vor bewusst gepflegter Strukturen der familiären und auch gemeinschaftlichen Selbstversorgung fort. Supermarkt und Datscha (also familiäre oder auch gemeinschaftliche Zusatzversorgung im Garten, auf dem eigenen kleinen Feld und im Hofgarten), Fremdversorgung und Eigenversorgung halten sich auch heute in der Versorgung der Bevölkerung mit alltäglichen Grundnahrungsmitteln die Waage. Auf dem Höhepunkt der letzten Krise 2008/2009 war die Datscha in dieser Bedeutung neben dem Stabilisierungsfonds aus den Erdöleinnahmen das zweite Standbein für die Erhaltung der sozialen und wirtschaftlichen Stabilität. Putin forderte die Unternehmen, die sich im Zuge der Privatisierung ihrer sozialen Aufgaben entledigt hatten, ausdrücklich und unter Androhung von Sanktionen auf, in ihre korporativen Pflichten gegenüber Dörfern, Städten, Regionen wieder einzusteigen. Kurz, von Russland geht heute die Botschaft aus, dass die westliche Eigentumsgesellschaft nicht die einzige Antwort auf die Frage ist, wie ein Leben nach dem Ende der sozialistischen Utopie aussehen könnte, das den Menschen nicht nur einen erhöhten Konsum ermöglicht, sondern auch noch eigene Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen ihrer Eigenversorgung belässt.

Zweifellos ist die russische Entwicklung kein Modell, das direkt auf andere Länder übertragbar wäre, vor allem nicht auf solche, in denen Selbstversorgung nur noch als Kriegserinnerung lebt wie in Deutschland oder auf andere Teile der Welt, in denen die Reste lokaler Selbstbewirtschaftung soeben zerstört werden wie in den ehemaligen Kolonien Europas, die heute in die „Moderne“ stürzen. Ja, es ist nicht einmal sicher, wie weit der Pendelschlag der Privatisierung die Zerstörung der traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands noch vorantreibt, sicher ist dennoch, dass erstens jedes Pendel umkehrt, wenn sein Schwung ausläuft; das kulturelle Gedächtnis der Menschen, ebenso wie die gewachsenen Strukturen eines Raumes gehen nicht verloren, sie gehen als Element in die zukünftige Entwicklung ein. Das lässt für Russland eine lebendige Symbiose zwischen Industrieproduktion und den lange gewachsenen Traditionen der gemeinschaftlichen Eigenversorgung erwarten. Welche Form diese Symbiose annimmt, wird sich zeigen, sicher aber wird es kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch geben, in dem Fremd- und Eigenversorgung, Individualisierung und Gemeinschaftstradition einander in neuer Gestalt mischen und ergänzen.

Ungeachtet dessen aber, das sei noch einmal betont, geht von der Realität der russischen Transformation schon jetzt die Erkenntnis aus, dass „der Kapitalismus“ mit seiner aggressiven Fremdversorgung nicht das letzte Wort der Geschichte ist, sondern selbst nur ein Übergang in eine Wirtschafts- und Lebensordnung, die nicht nur materielle Grundbedürfnisse befriedigt, sondern auch noch die Chance zur Entfaltung eigener Kräfte im familiären wie im gemeinschaftlichen Rahmen gibt.

In Deutschland, aber auch anderen Orten der Welt hat schon längst eine Bewegung eingesetzt, die Vorstellungen dieser Art sucht und versucht sie in die Praxis umzusetzen. Unterschiedlichste Modelle sind entstanden, die nahezu alle den Bedarf, nicht den Profit um des Profites willen, in den Mittelpunkt rücken – eine Versorgung, die sich nicht nur auf Fertigprodukte stützt, sondern Eigenversorgung mit einbezieht, eine Organisation der Arbeit, die produktive und „überflüssige“ Tätigkeiten gerecht und lebensfördernd verteilt, die Intensivierung der Beziehungen zwischen den Menschen, welche die Menschen emotional, geistig und spirituell fördert. In Ansätzen werden auch lokale und regionale Räume mit in die neue Organisation des Lebens einbezogen.

In all diesen Experimenten wird eine Zukunft sichtbar, in der kein Mensch „überflüssig“ ist, sondern jede Frau, jeder Mann, jedes Kind, gleich ob gesund oder krank, jung oder alt, ob praktisch orientiert oder eher spirituell, ihre oder seine Daseinsberechtigung, Aufgaben, materielle und emotionale Versorgung im gemeinschaftlichen Geschehen hat. Vieles muss hier, besonders in der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, noch ausprobiert werden, und es wäre gut, wenn die Erfahrungen aus der nachsowjetischen, aufbauend auf der russischen Geschichte darin mit eingehen könnten, die leider immer noch verdrängt werden. Die Traumata von Zwangskollektivismus jeglicher Couleur, stalinistischen wie faschistischen, individualistische Irrwege auf der anderen Seite müssen noch erkannt und praktisch überwunden werden. Die neuen Formen des zusammen und doch individuell Arbeitens müssen ausprobiert werden, ohne in Gemeinschafts-Dogmatismus oder individualistische Anarchie zu verfallen. Praktisch sind viele diese Gemeinschaften zudem Probierfelder dafür, ob ein Grundeinkommen den Realitäten einer gemeinsamen Ökonomie standhält.

All dies sind hohe Herausforderungen, die diese Gemeinschaften zu Experimentatoren für eine Lebensweise machen, in der – schlicht gesagt – der Mensch wieder oder vielleicht besser gesagt, endlich im Mittelpunkt steht, jetzt aber nicht nur als Arbeitskraft, die ausgebeutet wird und als Konsument, der den Warenumsatz und damit den Profit garantiert, sondern in seinem Wert als schöpferisches Wesen, das seinen Wert darin hat, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen als solches zu entwickeln. Es ist zu hoffen  und daran zu arbeiten, dass diese Impulse auch die übrige Gesellschaft erreichen.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Dieser Text erschien auch in: Entgegensprechen, Teil 2. Schöpfungskraft Wirtschaft, herausgegeben vom KunstRaumRhein, Edition gesowip, Basel 2011.  Bezug über KunstRaumRhein, Postfach, CH–4005 Basel 5, oder den Buchhandel.

Medwedews Sozialpolitik: Vor einer 2. Phase der Privatisierung

Thesen zur Diskussion der Zeit nach Putin

Dimitri Medwedew orientierte bei seinem Antritt als Präsident auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Ausländischem Kapital will er optimale Investitionsmöglichkeiten bieten, in der Innenpolitik will er sich auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen, also die Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“

Nach solchen Äußerungen wurde Medwedew von vielen Menschen in Russland und im Westen als Liberaler begrüßt. Wer genauer wissen will, was zu erwarten ist, muss allerdings etwas zurückschauen: Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sie sich nach Gorbatschow und Jelzin entzogen hatten. Das hieß auch, ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug Putin mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Maßlosigkeiten der privaten Bereicherung, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige Bereiche, insbesondere die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder her (ohne die Privatisierung vom Grundsatz her zurückzudrehen!) und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.

Putins Versuche, die Privatisierung auf die soziale und kommunale Sphäre auszudehnen, blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Die dringend benötigte Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde nicht geschafft. Das allgemeine unentgeltliche, genauer, vergütungsbasierte Bau-, Gesundheits- ebenso wie das Bildungswesen verfiel und verwandelte sich in private Spielwiesen für Neureiche. Landwirtschaftliche Betriebe verfielen. Als Putin und die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 dann doch an die Privatisierung der sozialen und kommunalen Sphäre gehen wollten, musste er vor landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen und Vergütungen blieb in halben Maßnahmen stecken.

Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern. Kern der putinschen Vorschläge war ein staatliches Kreditierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 – vor der Wahl – kündigte Medwedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.

Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds Ende 2007 auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Milliarden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.

Die Ausrufung der nationalen Projekte durch Putins im Herbst 2005 war somit eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem keine besondere Sympathie für Putin nachgesagt werden kann, könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“. Das Problem der putinschen Sozialpolitik liege nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt worden seien, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückte, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte.

„Im Großen und Ganzen“, fasste Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“ – Nicht mehr unmittelbare Not ist Ursache wachsender Unzufriedenheit, sondern ein Verteilungsproblem, die ungleiche Teilhabe am wachsenden Wohlstand.

Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichten, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums darauf beschränkten, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken.

Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wurde nach ihnen gesucht. Dabei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und soeben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird. Das ist das von Medwedews übernommene Erbe.

Da war beispielsweise bei deutschen Analytikern[1] zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“

Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.

Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.

Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.

Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden. Im Übrigen gehen unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.

Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus allein dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem sein. Es ist darüber hinaus auch eine Frage der Lebensweise, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.

Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw., die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungsmarkt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.

Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“, also die Verwandlung von Vergünstigungen und Vergütungsstrukturen in finanzielle Kompensationen, zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.

Vor diesem Hintergrund bekommen Medwedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, auch nicht die angekündigte Entbürokratisierung, neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles jetzt verstärkt im Zentrum des Regierungshandelns stehen soll. Zusammen mit Medwedews Ankündigungen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen zu wollen, wird darin die Entschlossenheit der russischen Führung deutlich, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren zu wollen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF private Investitionen im Wohnungssektor zu erleichtern, das Bildungswesens an die EU-Normen anzupassen, den Dienstleistungssektor zu kommerzialisieren, die Agrar-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften zu fördern und schließlich, selbstverständlich, einen zweiten Anlauf zu nehmen, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen.

Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht. Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die zum einen selbstverständlich vom Niveau der Öl- und Gaspreisen abhängt, aber auch damit nicht allein beantwortet wird. Es geht auch um generellere Fragen des Lebens- und Gesellschaftsentwurfes: Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit abflachenden oder einbrechenden Gas- oder Ölpreisen, mit möglichen inflationären Folgen maßloser Kreditierungsexzesse könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Als Ergebnis einer Überprüfung dieser Analyse, die ich durch Gespräche im Lande selbst im Sommer 2006 in drei verschiedenen Orten durchführte – Moskau, Tarussa/Kaluga und Tscheboksary, möchte ich Folgendes festhalten:

1. Auch Medwedews Modernisierungsprogramm folgt, wie schon vor ihm das Gorbatschows, Jelzins, Putins dem für Russland typischen Muster der Reform von oben: Russlands Modernisierungsschübe sind immer Reformen von oben gewesen. Das entspricht der historisch gewachsenen Grundstruktur der russischen Ökonomie, die man traditionell als bürokratisch gelenkte Wirtschaft auf gemeinwirtschaftlicher Basis bezeichnen kann. Das Stichwort, welches Karl Marx und Friedrich Engels dazu seinerzeit gaben, lautet: asiatische Produktionsweise.

2. Es zeigt sich aber, dass eine Privatisierung der kommunalen und sozialen Strukturen auch unter den neuen Bedingungen nach dem Wechsel von Putin auf Medwedew nicht einfach zu dekretieren, auch nicht durch bloße Ausweitung des Kreditierungsprogrammes zu erkaufen ist, sondern nur in einem intensiven, im wahrsten Sinne nachhaltigen sozialen Dialog zwischen oben und unten entwickelt werden kann, in dem sich herausbildet, was die Bevölkerung, die aus einer gemeinwirtschaftlichen Tradition kommt, tragen kann und will.

3. Dieser soziale Dialog fehlt jedoch auch unter Medwedew, zumindest ist er nur in allerzartesten Ansätzen entwickelt. Die Privatisierung im Wohn-, Bildungs- und Gesundheitswesens erscheint immer noch als Zerstörung der gewachsenen sozialen Sicherungssysteme und Spaltung der Gesellschaft in Reihe und Arme – Gesundheitsangebote für Reiche, Wohnungen zu unerschwinglichen Preisen, Bildung nur über Beziehung oder für Geld, häufig sogar Bestechungsgeld, Verödung der Dörfer. Exemplarisch dafür die Häuserkämpfe in Moskau, die nach wie vor von der Bevölkerung nicht verstandene, nicht akzeptierte, sondern nur bürokratisch verordnete Monetarisierung in Kleinstädten wie Tarussa oder auch die sich weiter öffnende Schere zwischen mangelnder gesundheitlicher Versorgung auf dem Land und einem Klinikboom in einer Stadt wie Tscheboksary, um nur einige Beispiele zu nennen.

4. Wenn der soziale Dialog ungenügend geführt wird, reproduzieren die nationalen Projekte einschließlich der Monetarisierung jedoch nur die vorhandenen Strukturen der Bürokratie und der Trennung von oben und unten, lässt die Verfügbarkeit leichter Kredite bei gleichzeitiger sozialer Apathie der Mehrheit der Bevölkerung Korruption und Spekulation (im Bauwesen, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen ebenso wie in der Agrarwirtschaft) und eine für die Zukunft problematische Verschuldung entstehen.

5. Als Kern der Sozialpolitik, einschließlich Modernisierung der großen Produktion und der Entwicklung einer breiten mittelständischen wirtschaftlichen Tätigkeit, tritt unter diesen Umständen die Notwendigkeit einer Bildungsoffensive zutage, die auf Entwicklung individueller Kompetenz, Bereitschaft, Initiative zielt, welche die bürokratischen Leitungsstrukturen ersetzt, bzw. von unten mit Leben erfüllt.

6. Die soeben beschlossene Einführung des EGE (des einheitlichen Staatsexamens), welche die Bildung nach Standarts der WTO und der Bologner-Beschlüsse der EU ausrichtet, ersetzt jedoch die Entwicklung individueller sozialer Kompetenz durch standardisiertes Spezialistentum zum einen und rudimentäre Grundbildung der Mehrheit der Bevölkerung zum Anderen, d.h. sie verfestigt die traditionelle Grundstruktur von oben und unten, statt sie aufzulösen.

7. Notwendig wäre eine Bildungspolitik, die das Prinzip der Pluralität – ausgehend von der eigentümlichen ethnischen, kulturellen und geografischen Pluralität Russlands bis hin zur Multipluralität der internationalen Beziehungen, wie sie Russland als Alternative zur heutigen Weltordnung vorschlägt – als ureigenen russischen Impuls aufnimmt und mit einem allgemeinen, international kompatiblen Standart verbindet. Dies könnte der Schritt sein, der Russland über eine bloße Kopie des westlichen Kapitalismus hinausführen würde.

Der Text wurde für eine Konferenz in der „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau Dezember 2008 formuliert, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau organisiert wurde.


[1] „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa, Anfang 2006