Schlagwort: Commons

Begriffe neu denken – über Armutsbekämpfung, Wirtschaft, Staat, Eigentum

Regionale, nationale und globale Armutsberichte zeigen eines: die Armut in der Welt nimmt in dem Maße zu, wie die Potenz der Produktivkräfte wächst. Das ist eine beängstigende Schere, die – bei wachsendem gesellschaftlichem Reichtum – immer mehr Menschen hervorbringt, die unter das Existenzminimum rutschen.

Im Bemühen um die Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft wachsen daher heute rundum Forderungen nach allgemeiner Grundsicherung heran. Sie reichen von Zähmung des Kapitalismus durch gemeinwirtschaftliche Formen solidarischer Wirtschaft nach den Vorgaben Christian Fellmers, über die Entwicklung kommunitärer Strukturen im Zuge der Kommune- und  „Commons“-Bewegung auf den Spuren von Elinor Ostrom,  bis zu Ansätzen für eine neue Arbeitsteilung in der gedanklichen Nachfolge der von Rudolf  Steiner entwickelten Dreigliederung der Gesellschaft,  beispielhaft vertreten von Nicolas Perlas und praktiziert in einer Vielzahl von Öko-Höfen und -Dörfern rund um den Globus. Die Zahl der Initiativen ist so unüberschaubar wie ihre Vielfalt; darin liegt ihre Stärke und Schwäche zugleich.

Im Zentrum dieser Entwicklung steht zurzeit die inzwischen international geführte Debatte um die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens und dessen praktische Erprobung in einer Reihe von Ländern. Befürworter sehen in dieser Form der Grundsicherung den entscheidenden Weg zur Bekämpfung der Armut, weil sie zu gerechterer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums führe.  Gegner wenden ein, dass die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens die Armut eher befördern werde, insofern sie zu einer Abschaffung der heutigen Sozialleistungen führen und – in der radikalen Form des bedingungslosen Grundeinkommens für alle – zur weiteren Demotivation der ohnehin schon demotivierten Armen beitragen werde, wenn Wohlversorgte wie Benachteiligte das Grundeinkommen gleichermaßen erhielten.

Die Debatte um das Grundeinkommen, wie auch andere Formen der Grundsicherung, soll sie fruchtbar werden, braucht klare Begriffe und eindeutige Positionen, klarer und eindeutiger als bisher.  Armutsbekämpfung in der Form erster Hilfe ist unerlässlich in jeglicher Form und schon aus Gründen der Solidarität und der Förderung des globalen Friedens zwingend geboten. Das duldet keine Fragen und ist sowohl politisch als auch privat zu unterstützen.  Zugleich kann aber auch nicht übersehen werden, dass erste Hilfe für die Armen, wie groß angelegt auch immer, wenn sie bei bloßen Sachspenden oder finanziellen Hilfen für die Bedürftigen bleibt, letztlich dazu verurteilt ist, genau die Verhältnisse zu stabilisieren, die für die heute grassierende globale Armut ursächlich sind. Auch Forderungen nach gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in Form einer Grundsicherung führen darüber nicht hinaus.

Was ansteht, ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Grundorganisation, die diese Armut hervorbringt. 

 

An die Wurzeln gehen

In der Gesellschaft des globalisierten Kapitals dient die Produktion ja nicht mehr der Befriedung von Bedürfnissen, sondern Bedürfnisse werden produziert, um die Selbstverwertung des Kapitals zu ermöglichen, während immer mehr Menschen aus dem Produktionsprozess und damit aus der Gesellschaft hinaus gedrängt werden. Der Staat, seit der französischen Revolution ohnehin mehr und mehr zum geschäftsführenden Ausschuss der Wirtschaft geworden, wird heute zunehmend zum bloßen Handlanger dieses Prozesses. Das viel beschworene Wachstum, weit entfernt davon eine Lösung der Krise sein zu können, erweist sich als deren Quelle.

Eine Überwindung dieser Krise, wenn sie zu einem zukunftsfähigen sozialen Organismus führen soll, kann daher nicht aus einer staatlich garantierten finanziellen Grundsicherung allein resultieren, mag sie nun als Mindestlohn, Bürgergeld, bedingungsloses oder bedingtes Grundeinkommen organisiert werden. Eine zukunftsfähige Lösung muss die Diktatur der Selbstverwertung des Kapitals mit seiner Ideologie des Wachstums um des Wachstums willen grundsätzlich hinter sich lassen, wenn sie nicht zu einer allgemeinen Almosenzuteilung verkommen soll, welche die bestehenden Verhältnisse fixiert, statt sie zu verändern.

Eine soziale Struktur ist gefordert, welche die Schere zwischen dem Anwachsen der Produktivität in der industriellen Produktion und einer relativ dazu sinkenden Zahl in ihr benötigter Arbeitsplätze so organisiert, dass die frei werdenden Kapazitäten der Arbeit mehr und nicht weniger Freiheit und Lebensqualität bringen und zwar für die gesamte Gesellschaft und nicht nur für einzelne ihrer Glieder.

Eine solche Entwicklung geht über bloßes Wachstum, wie es von den herrschenden Kreisen heute gepredigt wird, selbstverständlich weit hinaus. Sie zielt auf Verhältnisse, in denen Staat und Gesellschaft nicht mehr identisch sind mit einer Produktion, welche die materiellen Grundlagen und traditionellen Fähigkeiten zur Selbstversorgung zerstört und sie durch industrielle Produkte ersetzt; sie orientiert stattdessen auf eine Symbiose von Produktion und gemeinschaftlicher Selbstversorgung sowie Eigenproduktion auf dem Niveau des heutigen technologischen Standes. Dabei kann sie auch an den heute noch bestehenden vorindustriellen Verhältnissen anknüpfen, von denen die ‚entwickelte Welt‘, was Armut und Reichtum betrifft, das menschliche Maß neu lernen kann. Generell gesprochen, kann sich darin die ökologische Orientierung unserer Zeit verwirklichen.

 

Die Abhängigkeit von der Lohnarbeit überwinden

Die Krise der Lohnarbeit, sichtbar in der weltweit grassierenden Lohnarbeitslosigkeit, ist ja kein Betriebsunfall des Kapitalismus; Lohnarbeitslosigkeit ist dem Kapitalismus immanent; sie ist eine Bedingung seines Funktionierens, insofern die Lohnarbeitslosen als industrielle Reservearmee den Preis der Arbeitskraft als Ware drücken. In Deutschland stellt die heute stattfindende tendenzielle Demontage des Sozialstaats nur diesen Normalzustand des Kapitalismus wieder her, der durch die deutsch-deutsche Ausnahmesituation verdeckt war. Über Deutschland hinaus ist das aktuelle Ausmaß der allgemeinen, europäischen und globalen Lohnarbeitskrise ein Signal dafür, dass die Entwicklung des Kapitalismus ein neues Stadium erreicht hat, in dem das Kapital Kapazitäten freisetzt, die nicht mehr genutzt werden können.

Sieht man es von der möglichen Entwicklungsdynamik her, dann wird erkennbar, dass durch die Zunahme der Produktivität über die notwendige Arbeit hinaus frei verfügbare Arbeits-Potenzen entstehen, die für die soziale und moralische Entwicklung der Gesellschaft genutzt werden könnten – satt die Armutsstatistiken hochzutreiben.

Das ist ein gewaltiges Potential, Ausdruck eines großen Reichtums, welcher der Gesellschaft in pflegerischer, sozialer und kultureller Weise zugutekommen, auch in den notwendigen ökologischen Umbau und in aktive internationale Projekte eingehen könnte, wenn die Gesellschaft bereit wäre, die Lohnarbeitslosen frei zu lassen, statt sie, wie in Deutschland, durch Harz IV zu knebeln oder anderweitig in abhängiger, entwürdigender Armut zu halten.

Kurz, die Forderung nach der Einrichtung einer Grundsicherung für alle weist in die richtige Richtung; es muss aber klar gesagt werden, dass die damit verbundene Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf eine zwar tendenzielle, so oder so aber doch grundsätzliche Umwälzung der gesellschaftlichen Organisation hinausläuft, hinauslaufen muss. Darüber hinaus muss der Empfang eines finanziellen Grundeinkommens mit einer Anbindung des Einzelnen an einen sozialen Körper gekoppelt sein, über welche die Grundabsicherung sich mit der nach wie vor immer noch notwendigen Lohnarbeit, mit den neu zu entwickelnden Elementen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und der Versorgung anderer Menschen in sozialer Verantwortung verbinden kann.

  

Eine andere Arbeitsordnung

Was sich als Lösung andeutet, ist eine andere soziale Grundorganisation als die heute herrschende Lohnarbeitsordnung, in welcher sich Kapital und Arbeit in einer Weise gegenüberstehen, dass die Arbeitenden sich durch ihre eigene Produktivität um ihre Arbeitsplätze und damit um die Sicherheit ihrer Existenz bringen, weil für sie der bezahlte Arbeitsplatz Voraussetzung des Überlebens ist. Am Horizont eine Arbeitsorganisation, bei der die einzelnen Menschen nicht nur für ihr eigenes Überleben, sondern zum Nutzen des gesamten Betriebes, der gesamten Gesellschaft, allgemeiner gesprochen, nicht nur zum eigenen Nutzen, im tiefsten Sinne aus egoistischen Motiven, sondern zum Nutzen ihrer Mitmenschen arbeiten können, deren Gewinn an die in dieser Weise Tätigen als ihre Grundsicherung zurückfließt. Das wäre eine Ordnung, in der die Arbeit nicht nur dem eigenen Wohl diente, sondern das eigene Wohl über den Einsatz für das Wohl des Anderen erreicht würde. Das wäre eine Ordnung, die den gegenseitigen Nutzen, statt die gegenseitige Konkurrenz zum Leitprinzip gesellschaftlichen Miteinanders erhöbe. Hierin liegt der Impuls für eine grundlegende Wandlung der gegenwärtig herrschenden Leistungsgesellschaft‘, der über bloße organisatorische Reformen in eine solidarische Zukunft hinausweist.

Der mögliche Weg dorthin wäre eine gemeinschaftliche Organisation der Arbeit, in der Betriebsleitung und Belegschaft sich in Teilungsverträgen miteinander zur Kooperation auf gemeinschaftlicher und gleichberechtigter Basis verpflichten. Erhaltung und Erneuerung des Kapitals, Vergütung aller an der Produktion und Distribution Beteiligten und Abgaben an die Gesellschaft wären als Ganzes nach einem rechtlich geregelten Schlüssel so zu regeln, dass für alle Beteiligten eine Grundsicherung unabhängig von ihrer konkreten Tätigkeit garantiert ist – solange der Betrieb von ihnen aufrechterhalten wird, versteht sich. Und selbstverständlich wird sich das Prinzip des Teilens über den einzelnen Betrieb hinaus in der Weise fortsetzen, dass  die Abgaben eines Betriebes über die eigene Basis hinaus in Verantwortung für die Grundsicherung des gesamtwirtschaftlichen Prozesses der Gesellschaft stehen, also ggfls. auch schwächere Betriebe und Arbeitszusammenhänge gestützt werden, so dass auch dort sowie für außerbetriebliche Kollektive und einzeln lebende Menschen eine Grundsicherung möglich ist. Das gleiche Prinzip wird sich dann notwendigerweise auch auf internationale Beziehungen erstrecken.   

 

Staat als Diener

Die Entwicklung einer allgemeinen Grundsicherung, gleich in welcher Variante, ob als vom Staat ausgegebenem bedingungslosem Grundeinkommen für alle oder als Sachzuwendungen auf betrieblicher oder kommunaler Ebene führt unvermeidlich zur Forderung  nach einem anderen Verständnis von Staat, nach einem Staat heißt das, den die Gesellschaft sich als Verwaltungshilfe, als Organ des Austausches, als Förderer für selbstverwaltete Betriebs- und Lebensstrukturen selbst schafft. Dies gilt keineswegs nur für Deutschland oder Europa. Es ist ein Erfordernis der heutigen Zeit.

Der Weg in eine solche Gesellschaft ist selbstverständlich lang. Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte mag das verdeutlichen. Die Entwicklung, Erhaltung und Pflege der physischen Existenz ist die Grundlage menschlichen Lebens und aller Kultur. Solange es Menschen gibt, geht ihr Streben dahin, sich von der täglichen Versorgung des physischen Leibes unabhängig zu machen, um Kultur entwickeln zu können. So sind wir von der täglichen Versorgung zur Vorsorge geschritten. Vorsorge macht frei, aber sie bindet auch. In der Sicherung der Vorsorge liegt die Ursache für die Entstehung des Staates als Kontrollorgan, der Ausübung von Herrschaft über andere. Im Lauf der Geschichte haben sich zahllose Mischformen dieser Kontrolle herausgebildet, in denen unterschiedliche Kräfte an der Spitze dieser Organisationen standen. Ihnen hatte sich alles unterzuordnen selbst bei Strafe des wirtschaftlichen Ruins. Das geschah hier im priesterlichen Gewande, dort im oligarchischen oder auch  durch das blanke Schwert.

Im Laufe der Geschichte hat sich die Staatsmacht schrittweise – besser gesagt, in einem labyrinthischen Prozess von Versuch und Irrtum – differenziert. Einen entscheidenden Einschnitt brachte die Entflechtung von Religion und Staat durch das Christentum, die in der westlichen Tradition schließlich zur Trennung von Staat und Kirche führte. Von erheblicher Bedeutung ist die Entwicklung der Wirtschaft als eigenständige Kraft, die sich in der französischen Revolution von der unmittelbaren Vormundschaft des Staates befreite. Seither kennen wir die gedankliche Dreiteilung des gesellschaftlichen Organismus in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, geschlechtsneutral gesagt, Solidarität. Das bedeutet im Ansatz ja nichts anderes als die Forderung nach einem gleichwertigen Nebeneinander von Glaube, Staat und Wirtschaft.

Aus der Bewegung, die zur französischen Revolution führte, haben wir zudem die Dreiteilung der staatlichen Gewalt nach den Vorschlägen von Montesquieu in Exekutive, Legislative und Judikative, die als großer Fortschritt gegenüber dem absolutistischen Staatsverständnis der Zeit vor der französischen Revolution wie auch gegenüber despotischen Staatsorganisationen zu anderen Zeiten und in anderen Gebieten der Welt ein durch nichts zu bezweifelnder Gewinn in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darstellt. Hinter diese Gliederungen der Gesellschaft zurückzufallen hat katastrophale Folgen  – wie die totale Monopolisierung aller gesellschaftlichen Bereiche durch den Staat im Faschismus und Stalinismus gezeigt hat.

Diese Totalisierung von Staatsmacht, die den einzelnen Menschen unter Zusammenfassung aller Lebensbereiche zum Schräubchen einer allein dem materiellen Fortschritt verschriebenen Megamaschine erniedrigte, steht als Mahnung vor der heutigen Menschheit, was sie erwartet, wenn es ihr nicht gelingt eine Wiederholung dieser Geschichte in noch größerem Ausmaß zu vermeiden. Sie steht zugleich als Aufforderung, weiterführende zeitgemäße Gliederungen des gesellschaftlichen Lebens zu fördern, die einem Rückfall in solche monolithischen Strukturen entgegenwirken.

Im Zentrum steht dabei die Lösung von Wirtschaft und kulturellem Leben vom Machtmonopol des Staates. Die Wirtschaft wie auch das geistig-kulturelle Leben müssen ihren eigenen Gesetzen in Selbstverantwortung, wenn auch in gegenseitiger Anregung und Kontrolle folgen können, ohne von der Politik, von einem allmächtigen Staat gegängelt zu werden. Staat in einem die historischen Erfahrungen berücksichtigen Sinne, kann nur in der Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, zwischen Gruppen und Individuen bestehen, nicht in deren Beherrschung durch Überwachung, Kontrolle und Machtmonopol, dem das gesamte gesellschaftliche Leben unterworfen ist. Als rechtlicher Regulator, als Vermittler, als Berufungsinstanz bei Konflikten zwischen selbstverwalteten Bereichen kann der Staat vom Herrscher zum Diener werden.

 

Der Realität ins Auge sehen

Die Realität ist zur Zeit allerdings eine andere: Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft ist zwar zugleich die Krise des Sozialstaates, genauer des nationalen Einheitsstaates, der die Versorgung seiner Mitglieder nicht mehr garantieren kann, obwohl die Produktivität des Wirtschaftslebens es mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit erlauben würde. Aktuelle Folge sind zurzeit allerdings nicht Demokratisierungs-, nicht Differenzierungsprozesse, sondern Nationalisierungs- und Zentralisierungstendenzen. Staaten wandeln sich zusehends zum Instrument privilegierter Minderheiten, die das Leben ‚ihrer ‘ Bevölkerungen kontrollieren, einschränken, illegalisieren und sogar existenziell gefährden. Statt eines Rückzuges des Staates, der zu begrüßen wäre, wenn es darum ginge, autoritäre Auswüchse des Fürsorgestaates bismarckscher, faschistischer oder auch sowjetischer Prägung aus der Vergangenheit zugunsten selbstverwalteter demokratischer Strukturen weiter abzubauen, sind gegenwärtig  Tendenzen zu beobachten, den Staat neuerlich zu totalisieren und als Sicherheitsstaat gegen die Proteste der marginalisierten und unterprivilegierten Mehrheit von Armen im nationalen, im europäischen und globalen Rahmen in Stellung zu bringen, statt den Ursachen der Armut an die Wurzel zu gehen. 

Angesichts dieser Perspektiven kann es keinen anderen Weg geben als das Credo der herrschenden Verhältnisse, die auf Privateigentum von Kapital basierende Lohnarbeitsordnung, grundsätzlich in Frage zu stellen, zugleich demgegenüber Elemente der Selbstverwaltung, der Kooperation in Teilungsverträgen, der demokratischen Vielfalt, der weiteren Gliederung der globalen Gesellschaft zu stärken. Andernfalls drohen Zivilisation und Kultur in den Revolten der Armen und dem Versuch sie niederzuhalten gewaltsam unterzugehen.

Diese Feststellung mag zynisch oder fatalistisch klingen, sie ist aber bei unvoreingenommener Betrachtung nur die Beschreibung der Realität, mit der wir heute konfrontiert sind, wenn wir nicht den Mut haben, die heute herrschenden Lebensverhältnisse in dem oben beschriebenen Sinne zu verändern.

Woher aber den Mut nehmen? Diese Frage ist allein zu beantworten, wenn erkannt wird, was es bedeutet, wenn der Reichtum der ‚entwickelten Gesellschaften‘ weiterhin in zunehmendem Maße Armut und Verzweiflung hervorbringt – und das nicht nur als materielle Not, sondern auch als emotionale Verödung und geistige Leere im Leben der globalen Gesellschaft insgesamt. Der Kampf gegen die Armut umfasst nicht nur die materielle Grundsicherung, er braucht auch neue geistige, moralische, ethische Impulse, sagen wir es ruhig, er braucht eine spirituelle Erneuerung der Beziehung der Menschen zueinander und zu ihrem Sein in der Welt. Ohne Grundsicherung allerdings kann auch dieser Kampf nicht geführt werden. Aus diesem Widerspruch gibt es kein Entrinnen.  

(Dieser Text erschien zuerst in „Hintergrund“ 4/2018)
 

 

Weiterführendes diesem Thema:

  • Kai Ehlers, Grundeinkommen für alle als Sprungbett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte 2007
  • Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, BoD, 2016

Beide Bücher zu beziehen über den Autor www.kai-ehlers.de

Stichwort: Wie wollen wir leben? ‘Soziales Kapital’ – soziale Arbeitsorganisation – Chance für die ‚Überflüssigen‘ von heute und morgen?

Unter der Frage: Wie wollen wir leben, wenn nicht nach den Vorgaben des traditionellen Sozialismus oder des jetzigen entfesselten globalen neo-liberalen Kapitalismus? geht es heute um die Wiedergeburt des Sozialen jenseits der jetzt herrschenden kapitalistischen Produktionsweise von Lohnarbeit und Kapital.  Dabei geht es nicht um einen ‘dritten Weg’ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern um einen Schritt über die kapitalistische, auch die staats-sozialistische Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialordnung hinaus, bei dem der Mensch nicht nur als Konsument begriffen wird. Gibt es Indikatoren für einen solchen Weg?

Von Elenor Ostrom, Nobelpreisträgerin für Ökonomie 2009[1], inzwischen verstorben, stammt die aktuellste Vision für einen solchen möglichen Weg. Ihre Untersuchungen beschreiben das neue Aufkommen der historischen Allmende auf dem Niveau der heutigen Industriegesellschaften. Als Allmende beschreibt sie Gemeinschaften,  Zusammenschlüsse, selbst Institutionen der verschiedensten Art und Größe bis ins Globale, die ein begrenztes, definiertes Feld von Ressourcen autonom bewirtschaften, dabei im freien Austausch mit privat-wirtschaftlichen Zusammenhängen und staatlichen Strukturen stehen, von deren Bevormundung sie sich tendenziell befreien.  

Die ostromsche Vision stützt sich auf die wachsende Zahl solcher Zusammenschlüsse, die heute unter dem Druck der Automatisierung entstehen, inzwischen ‚Vierte Technische Revolution‘ genannt. In deren Zuge werden immer mehr Menschen als ‚Überflüssige‘ aus der Gesellschaft gedrängt¸ zugleich werden die Ressourcen in katastrophenträchtiger Weise belastet.

Hinter der von Elenor Ostrom konstatierten Entstehung moderner ‚Commons‘ werden zudem Erfahrungen des gemeinschaftlichen Wirtschaftens und Lebens erinnerbar, wie sie sich im alten Russland und darauf aufbauend in der Sowjetunion[2], wie sie sich in anderer Weise in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg infolge der von Rudolf Steiner angeregten Dreigliederung[3], einfach gesagt, der Entstaatlichung eines vom Staat monopolisierten gesellschaftlichen Lebens entwickelten. Bedauerlicher Weise hat Elenor Ostrom diese Erfahrungen, östliche wie hiesige, trotz ihrer ansonsten weltweit angelegten und historisch fundierten Feldforschungen in ihre Untersuchungen nicht mit einbezogen. Auch die aktuelle Commons- und Gemeinschafts-Bewegung tut das bisher nicht.

Machen wir es aber kurz, ohne dieses Manko an dieser Stelle  nachholen zu wollen; das kann an anderer Stelle geschehen: Hauptproblem, mit dem sich nicht nur Frau Ostrom, sondern alle Initiativen oder Bewegungen, die sich für eine Überwindung des herrschenden Konkurrenzkapitalismus und der damit verbundenen Lohnarbeitsordnung einsetzen, zu tun haben, ist die Tatsache, dass es Mitglieder der Gesellschaft gibt, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der gleichen Weise in der Erwerbsarbeit stehen wie die Mehrheit ihrer Zeitgenossen. Unterschiedslos als ‚Trittbrettfahrer‘ klassifiziert, dienen diese Menschen den Gegnern gemeinschaftsorientierter Arbeits- und Lebensentwürfe als Beweis, dass es zum herrschenden System, sei es staats- oder privatkapitalistisch organisiert, keine Alternativen gebe, dass es sie prinzipiell aus der egoistischen Natur des Menschen heraus nicht geben könne – weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft.  Zwang, indirekt oder direkt, sei daher unumgänglich, um die Menschen auf Dauer zur Arbeit zu veranlassen.

  

Worum es nicht geht…

Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Phänomen des ‚Trittbrettfahrers‘ macht aber klar, worum es bei der Entwicklung von Alternativen zu den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen NICHT geht, heute weniger als je zuvor: Es geht nicht darum, ein idealistisches Weltbild zu erfinden, in dem es keine Konflikte zwischen privatem und öffentlichem Interesse, zwischen Privateigentum und kollektivem Eigentum, zwischen Privateigentum und Staatseigentum oder direkt im Arbeitsleben gäbe. Sehr wohl aber geht es darum ein geistiges Klima zu schaffen und dem folgend gesellschaftliche Strukturen, unter denen Arbeit nicht als Zwang, sondern als allseitiger Weg zur Selbstverwirklichung erlebt werden kann. Dies bedeutet selbstverständlich, den Menschen aus seiner heutigen Reduzierung auf einen ‚homo ökonomicus‘ schärfer gesprochen, auf ein ‚animal ökonomice‘ zu befreien, also eine geistige Orientierung zu entwickeln, die über den neoliberalen Öknomismus hinausführt.

Es geht auch nicht darum, eine Situation zu erfinden, in der es kein persönliches Interesse gäbe, das nicht immer wieder zu dem Phänomen des Trittbrettfahrens des Einen auf Kosten anderer ginge. Wir alle sind irgendwann und irgendwo einmal ‚Trittbrettfahrer‘ in dem Sinne, dass wir bei einer von anderen Menschen getragenen Aktivität ‚mitfahren‘, sei es zu Haus in der Familie, sei es im Freundeskreis, sei es in der Kommune oder auf der Ebene des gesamten Gesellschaftskörpers. Oder wir sind vielleicht auch in anderen Bereichen tätig  als denen des unmittelbaren Erwerbslebens. Das kann jede/r an der eigenen Realität überprüfen.

Zum Problem wird das Mitfahren‘ erst, wenn es keinen geistigen, über das  Ökonomische hinausgehenden Entwurf gibt, in dem die Menschen miteinander leben wollen, wenn kein Verständnis für Tätigkeit der Anderen da ist, wenn dann bei Verletzung eingegangener Selbstverpflichtungen und miteinander gefasster Regeln keine Korrektur stattfindet. Aber es ist viel, was da zusammenkommen muss, bevor aus einer zeitweiligen Untätigkeit, Nachlässigkeit, selbst Übertretung  vereinbarter Regeln eine Situation wird, die man als ‚Trittbrettfahrt‘ bezeichnen muss. Auch fallen Kinder, Kranke, Hilfsbedürftige und Alte ohnehin nicht unter dieses Verdikt.

Es geht auch nicht darum, Eigentum abzuschaffen. Es geht vielmehr darum, wie Eigentum so genutzt werden kann, dass es dem Wohl des Einen wie auch dem der Anderen dient. Zweifellos macht es Sinn, der Entstehung des Eigentums genauer nachzugehen, wie seinerzeit Rousseau es tat, der die Entstehung des Eigentums damit beschrieb, dass jemand einen Zaun um das Eigene zog, mit dem er sich von der Gemeinschaft abgrenzte.

Aber es kann heute nicht um Abschaffung des Eigentums, nicht um Enteignung, nicht um Phantasien einer eigentumslosen Gesellschaft und dergleichen gehen. Formwandel von privatem zu staatlichem oder öffentlichem Eigentum oder umgekehrt von öffentlichem oder Staatseigentum zu privatem hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, vor Rousseau und auch nach ihm. Nicht eine dieser Wandlungen endete mit Abschaffung des Eigentums, ebenso wenig  wie mit dessen endgültiger Sicherung; bestenfalls führten die Veränderungen zu Umverteilungen zwischen alten und neuen Eigentümern; danach konnte dann alles von vorn beginnen.

Und scharf betrachtet, enden auch alle Theorien zur Frage der Eigentumsordnung im Grunde, wie sie schon bei Rousseau endeten, nämlich in der Beschreibung eines so oder anders begründeten ‘contract sociale’, also eines ‘Sozialvertrages’ oder noch genereller in einem ‘volonté générale’ [4], einem ‘allgemeinen Willen’, der angeblich zwischen Eigentümern und nicht Eigentümern zustande kommt – ungeachtet der Frage, wie solche ‚Verträge‘ zustande kamen, friedlich oder gewaltsam, und wer die jeweiligen Eigentümer waren und in welchen geistigen Kontinuum das geschah.  

Eine Gesellschaft, die einen möglichen Urzustand, in dem es außer dem persönlichen Eigentum nur zeitlich begrenzten Besitz, also vorübergehende Nutzungsrechte am Gemeineigentum für alle Menschen gleichermaßen gab, auf einem höheren Niveau wiederhergestellt hätte, wurde seit der von Rousseau beschriebenen Errichtung eines Zaunes bisher jedenfalls nicht wieder erreicht.

 

Nichts  ohne Arbeit

 Es ist sogar zu bezweifeln, ob dieser Zaun je mehr als eine Metapher für einen Vorgang war, der sich noch weit vor seiner Errichtung ereignet hat und seitdem auch immer wieder ereignet. Dreh- und Angelpunkt des Eigentumskarussells ist nämlich eine Tatsache, die sich unabänderlich jeden Tag aufs Neue bestätigt: Kein Eigentum, nicht privates und nicht gemeinschaftliches, nicht kapitalistisches, nicht sozialistisches und auch kein denkbares alternatives entsteht und besteht ohne Arbeit! Auch nicht unter den Bedingungen der ‚Vierten industriellen Revolution‘. Arbeit hat nur ihre Form gewandelt und wandelt sie auch heute. Arbeit ist auch heute die Basis des Lebens. Das gilt auch für ererbte oder geraubte Vermögen. Ohne dass Naturstoffe, auch Pflanzen und Tiere von Menschenhand bearbeitet und gepflegt werden, besitzen sie keinen Gebrauchswert und bekommen ihn auch nicht, wenn sie noch so hoch und noch so oft eingezäunt werden. Weder Beeren, Birnen, Äpfel und sonstige Naturprodukte, ja, nicht einmal Bananen fliegen dem Menschen von selbst in den Mund. Desgleichen Grund und Boden: welchen Wert hätten sie, wenn sie nicht zuvor urbar gemacht, kultiviert oder bebaut worden wären? Und selbst eine Robot-Gesellschaft muss ernährt, muss mit Ressourcen versorgt, gepflegt und unterhalten werden.   

Kurz, Arbeit, also die Verwandlung von Naturstoff in die für den Menschen nützlichen Mittel zum Leben, Zivilisation und Kultur ist die Grundlage allen Eigentums, ob in der Form des persönlichen Vermögens oder in der Form des Privateigentums an Produktionsmitteln. Es ist die Stellung im Arbeitsprozess, in dem sich soziale Differenzierungen immer wieder manifestiert haben und sich auch heute manifestieren. Es ist die Entwicklung und der jeweilige Stand der Arbeitsteilung und der Arbeitsorganisation, worin sich die historischen Niveaus der uns vorangegangenen Gesellschaften unterscheiden – von der gemeinschaftlichen Jagd über die Teilung der Gesellschaften in Sklaven, Freie und Aristokraten, über die egalitären Versuche der verschiedenen sozialistischen Gesellschaften bis hin zu den   gegenwärtigen Verhältnissen, in denen sich Privateigentümer von Produktionsmitteln oder leitende Funktionäre von Staatseigentum Millionen, ja, inzwischen Milliarden Menschen als Lohnarbeiter, treffender für viele zu sagen, als Lohnsklaven halten können, die sie auf diese Weise von ihren Möglichkeiten enteignen sich selbst durch ihre eigene Arbeit als Mensch zu entwickeln.

Oberste bisher erreichte Sprosse dieser Leiter ist heute die Polarisierung von Kapital und ‚Humankapital‘. In dieser Beziehung dient der Mensch, darin inzwischen auf die gleiche Stufe gedrückt wie die zur Produktion benötigten materiellen Ressourcen, nur noch als Verwertungsmasse für die Selbstvermehrung des Kapitals, bevor er – ausgepresst – als Überflüssiger‘ freigesetzt wird.

Es ist klar, dass die heutige Art der Arbeitsorganisation allen Effektivitätsphantasien, allen Maßnahmen der Rationalisierung und Automatisierung zum Trotz, ja, letztlich gerade durch sie bedingt, das Gegenteil von effektiv ist, wenn man Effektivität an der Entwicklung des Menschen zum Kulturwesen misst – und nicht nur am Ausstoß von Waren, Konsum oder Profit.

Eben dieser wachsende Widerspruch zwischen industrieller Rationalität und dem Bedürfnis des Menschen nach Kultivierung seines Menschseins ist es, der die Motivation und die geistige wie physische Dynamik hervorbringt, die über die jetzige Arbeitsorganisation hinausweist. Was in diesem Widerspruchsfeld heute entsteht, ist das Verlangen der verbal zum ‚Humankapital‘ erhöhten; real jedoch als ‚Überflüssige‘ ausgestoßenen und erniedrigten Menschen, ihre Arbeit, ihre Beziehung zu anderen Menschen, den Umgang mit den Ressourcen, die Ziele ihrer Arbeit und deren Verwertung selbstbestimmt, in gegenseitiger Hilfe zu ihrem eigenen und zugleich gemeinsamen Wohl organisieren zu können.

Mit anderen Worten, es entsteht das Verlangen  nach einem neuen gesellschaftlichen Niveau der Arbeitsteilung, in welcher der Mensch aus seiner prekären Vereinzelung heraus in selbstorganisierte, selbstverantwortete, aber gemeinschaftliche Arbeitsprozesse eintreten kann, die ihn unabhängig, zumindest erst einmal unabhängiger machen von der bisherigen Polarität von Markt‘ ODER ’Staat‘.

 

Projektgesellschaft

Und es entsteht nicht nur das Verlangen: In der sozialen Realität von heute ist dieses Feld schon längst bebaut, in die Sprache schon längst eingeführt. Wovon ist die Rede? Die Rede ist vom Projekt. ‚Projekt‘ heißt heute fast alles, was auch nur ansatzweise Anspruch auf gemeinschaftliche Selbstorganisation und Originalität erhebt. Menschen tun sich zusammen, entwerfen ein Projekt – einen Film, eine Kindertagesstätte, die Produktion eines trendigen Konsumartikels. Man gewinnt eine Gruppe von Freunden, Bekannten, Interessierten dafür, zur Finanzierung des Projektes persönlich mit Geld oder auch mit Arbeitsleistung beizutragen. Man verpflichtet sich zu gegenseitiger Hilfe für die Dauer des Projektes. Man haftet gemeinsam für den Erfolg. Mögliche Erträgnisse aus dem Projekt fließen nach dessen Abschluss an die Geldgeber und Bürgen zurück. Selbst Firmen oder allgemeine Zukunftsplanungen laufen heute unter dem Titel ‘Projekt’.

Was so entsteht, ist nichts anderes als die moderne Variante einer Allmende. Die Vielzahl solcher Projekte lässt heute ein Kraftfeld selbstbestimmter und selbstorganisierter Initiativen entstehen, die sich aus dem Dualismus von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Förderung zu befreien versuchen.

Auch hier ist wieder wichtig zu sagen: Das heißt nicht, dass ‘Staat’ oder ‘Markt’ durch diese Initiativen ersetzt, überwunden oder gar in einem revolutionären Akt eines ‘Dritten Weges’ nun endlich abgeschafft würden; es heißt nur – aber in diesem ‘nur’ liegt eben die Kraft – dass ‘Staat’ oder ‘Markt’ nicht mehr passiv als quasi naturgegebene Autorität erduldet, sondern als Unterstützer von selbstbestimmten Projekten verstanden und genutzt werden. In einer geläufigeren Begrifflichkeit ausgedrückt heißt das: projektbezogene Kooperation aktiviert die Kräfte, die gebraucht werden, um die Ohnmacht zu überwinden, die heute aus dem scheinbar untrennbaren Paar von Turbokapitalismus auf der einen und dem zu seiner Eindämmung auftretenden planwirtschaftlichen Bürokratismus, konkret, des nationalen Einheitsstaates mit seinem Verwaltungsmonopol auf der anderen entstanden ist.

In Projekten ist die Kooperation vom Interesse der Beteiligten, von der Sache, von der Effektivität des gemeinsamen Willens bestimmt, in ihrer zeitlich und örtlich unabhängigen Mobilität entspricht sie den Erfordernissen und Möglichkeiten einer globalisierten Welt, statt weiter von Gesetzen der Selbsterhaltung der Bürokratie, staatlicher wie auch privater Kapitale bestimmt, beschränkt, behindert oder ganz verhindert zu werden.

 

‚Vertrauenskapital‘

Diesen Raum beschreibt Elinor Ostrom mit dem Begriff des ‘sozialen Kapitals’, das meint – im Gegensatz zum Begriff des ‚Humankapitals‘, das den Menschen entpersönlicht – die Qualität der aus individuellem Interesse hervorgehenden gemeinsamen Arbeit. Man mag diesen Begriff für unglücklich halten, weil das, was Elenor Ostrom mit ihm bezeichnen will, mit dem herkömmlichen Begriff des Kapitals nur wenig gemein hat. Als Arbeitshypothese – und einen höheren Anspruch stellt sie selbst nicht – mag er zunächst ausreichen, auch wenn, wie eingangs gesagt, Erfahrungen aus der russischen und real-sozialistischen Welt wie auch aus der Dreigliederungsbewegung des letzten Jahrhunderts darin noch nicht mit eingegangen sind, weder die positiven noch die negativen.

Gemeint mit ‘Sozialem Kapital’ ist das, was umgangssprachlich auch als ‚Vertrauenskapital‘ bezeichnet wird, auf konkreten Beziehungen beruhende Effektivität gemeinsamer Tätigkeit. Gemeint sind die Einsparungen an Kraft, Material und Zeit, die gewonnen werden, weil und wenn Allmenden – oder auch in anderer Formulierung: Projekte, Gemeinschaften – keine staatlich oder privat finanzierte Bürokratie, keinen aufwendigen Sicherheits- und Kontrollapparat brauchen – jedenfalls den Aufwand für solche Maßnahmen radikal minimieren. Im Gegenteil setzen sie – vom Eigeninteresse ihrer Mitglieder ausgehend – eben jene Motivation, Kreativität und Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe frei, die unter dem Druck staatlicher oder privatwirtschaftlicher Strukturen üblicherweise erdrückt werden.

‘Soziales Kapital‘ – sprechen wir diese Beziehung einmal nicht vom Kapital, sondern von den Menschen her aus, dann könnte man sagen: Die heute sichtbar werdende Perspektive weist in die Richtung einer neuen sozialen Realität der Entstehung einer mobilen Projektarbeiterschaft, sie weist in die Richtung eines neuen Sozialvertrages zwischen Privateigentümern, mobilen Projekteigentümern und Funktionären von Staatseigentum, ja, sie weist in die Richtung der Herausbildung eines neuen Grundkonsenses zwischen diesen Gruppen der Weltbevölkerung –  dieses Mal von unten. Der selbstbestimmte, selbstorganisierte, sich zu gegenseitiger Hilfe verpflichtende Projektarbeiter wird in dieser Perspektive zum Impulsgeber einer gesellschaftlichen Ordnung, die über die gegenwärtige Dualität von Markt oder Staat, von Privateigentum oder Staatseigentum hinauswächst. Noch anders gesagt, denn von ihnen müssen wir zunehmend sprechen: Die ‚Überflüssigen‘ sind – wenn sie es verstehen – die Boten einer Gesellschaft der Selbstermächtigung, dies alles, ohne die alte Gretchenfrage ‘Wie hältst du es mit dem Eigentum?’ als Kriegserklärung stellen zu müssen.

 

Eigentum durch Arbeit definieren

Die Frage nach dem Eigentum stellt sich aber sofort, wenn wir nicht nur auf die strukturellen, organisatorischen, politischen Beziehungen von Privatkapital, Staatskapital und ‘Sozialem Kapital’ schauen, sondern wenn wir in die innere Beziehung zwischen Arbeit und Kapital gehen, das heißt, wenn wir uns der Frage der Lohnarbeit genauer zuwenden – allerdings auch dies nicht in Form der ‚Abschaffung‘ von irgendetwas, der ‚Enteignung‘ oder dergleichen, sondern in einem Prozess der Transformation der grundlegenden Beziehung von Kapital und Arbeit, der die Arbeitskraft des Menschen wieder zu dem macht, was sie ursprünglich einmal war, was sie ‚eigentlich‘ ist, nämlich, das ganz persönliches Vermögen jedes Menschen, sein unveräußerliches Eigenes, eben sein ursprüngliches Eigentum.

 

Kern ist hier, jenseits aller aktuellen Vernebelungen, die davon ausgehen, dass Wirtschaften erst mit der Zinsnahme entstehe, die Frage, wie das Arbeitsprodukt oder auch dessen Wert unter denen aufgeteilt wird, die es miteinander zustande gebracht haben – Unternehmer und die von ihm Beschäftigten.

Geregelt ist dies heute im Lohnvertrag, der zwischen Unternehmer und Arbeitern abgeschlossen wird, also zwischen dem Menschen, der Geld und oder Maschinen, sowie Fabrikanlagen zur Verfügung hat und zum Einsatz bringen kann und jenen, die für Geld, manchmal auch für Sachwerte die notwendige Arbeit leisten, damit das Produkt real zustande kommen kann. Die Beschäftigten haben im traditionellen Lohnvertrag in der Regel keinen Einfluss auf die Produkte ihrer Arbeit, weder auf die Werbung, den Umfang der Produktion, den Vertrieb noch den Verkauf. Die Aufteilung des Mehrwerts, obwohl  gemeinsam erwirtschaftet,  liegt im Belieben der Unternehmer; die Höhe des an die Beschäftigten ausgezahlten Anteils ist in der Regel ein Ergebnis des ‚Arbeitsmarktes‘, genauer, des Arbeitskampfes: stehen reichlich Menschen als Reserve zur Verfügung, sinken die Löhne, sind Arbeitskräfte knapp, steigen die Löhne. Jede durch Automation eingesparte Arbeitskraft erhöht den Mehrwertanteil der Unternehmerseite.

 

Der Zwang zur Selbstorganisation

 Wohin diese Organisation der Arbeit tendiert, kann nicht oft genug benannt werden – ins Heer der ‚Überflüssigen‘, die gezwungen sind sich irgendwie, und sei es im Leben auf Müllhalden, selbst zu organisieren, um ihr Leben und ihre Würde als Mensch zu bewahren, sowie zur Entstehung einer Unternehmer- und Manager’elite‘, die losgelöst vom Wohl der Mehrheit der Bevölkerung nur sich selbst verpflichtet ist, bestenfalls der Absicherung ihres eigenen Risikos..

Aus den heutigen Verhältnissen führt der Weg aber nicht nur in die zunehmende Polarisierung zwischen der Masse der ‚Überflüssigen‘ und einer ‚Elite’ von Unternehmern, Managern, privilegierten Spezialisten oder Facharbeitern, es entsteht, anknüpfend an Mitbestimmungs- und Beteiligungsansätzen, die sich in den Betrieben herausgebildet haben, auch innerhalb der Betriebe eine Tendenz zur Transformation der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.

Fassen wir es kurz und in einem Bild: Es entsteht auch im Bereich derer, die sich nicht oder noch nicht zu den Überflüssigen‘ zählen müssen, eine Situation, in der Menschen sich nicht mehr nur als Unternehmer und Arbeiter begegnen, also als Kapitaleigner auf der einen und von ihm eingekaufte ‚Arbeitskräfte‘ auf der anderen Seite. Viele Betriebe haben sich faktisch über dieses Grundverhältnis hinaus in Arbeitsgemeinschaften verwandelt, in denen sich Kapitaleigner, Manager, Spezialisten, Facharbeiter und Ungelernte zusammenfinden, die miteinander etwas produzieren.

Faktisch, das ist zu betonen, nicht rechtlich und häufig auch nicht in ihrem Selbstverständnis, bilden sie bereits eine Gemeinschaft, im weitesten Sinne eine unerklärte Allmende. Hier bedarf es, historisch gesehen, nur noch eines winzigen Schrittes, um aus der unerklärten eine erklärte Situation werden zu lassen, so wie ein Küken seine Schale aufbricht. In diesem ‘nur’ steckt allerdings, wie immer die entscheidende Hürde.

 

Vom Lohnvertrag zum Teilungsvertrag

Von Rudolf Steiner stammt der Vorschlag, zwischen Menschen, die gemeinsam produzieren wollen, einen, wie er es nennt, Teilungsvertrag anstelle eines Lohnvertrages miteinander einzugehen. Für die Leser/innen, die Steiner nur als ‚Esoteriker‘ kennen, sei kurz daran erinnert, dass dieser Mann wie kaum ein anderer nicht Marxist im letzten Jahrhundert mit Marx und Engels darin übereinstimmte, dass das Proletariat als Klasse dazu berufen sei, die Zukunft der Menschheit zu gestalten. Steiner folgte Marx auch in dessen Analyse der Mehrwertproduktion, er forderte allerdings, die Ersetzung des Lohnvertrages durch einen Teilungsvertrag, in welchem die Arbeiter die Verfügungsgewalt über ihr Produkt an den Geldgeber nicht für die Lohnzahlung abgeben. In dieser Frage war er ungeduldiger als vor ihm Marx und präziser als die heutigen Theoretiker der von ihnen so genannten ‘Eigentumsgesellschaft’ wie Gunnar Heinsohn, Peter Sloterdijk und andere, die an der Frage der Verteilung des erarbeiteten Mehrwerts vollkommen vorbeigehen, ja, die Arbeit als Basis des Eigentums wegdefinieren und gegen die Mehrwerttheorie von Marx als ihrer Ansicht nach folgenschweren historischen Fehler polemisieren.[5]

Ein Teilungsvertrag anstelle eines Lohnvertrages, hätte aber gerade die Bedingungen zu regeln, entlang derer der gesamte Arbeitsprozess zwischen allen daran Beteiligten  m i t e i n a n d e r  organisiert und das gemeinsam erarbeitete Produkt nach Maßgabe von Position, Leistung und Bedarf der einzelnen in diesem Prozess und unter Berücksichtigung notwendiger Investitionen wie notwendiger außerbetrieblicher Abgaben aufgeteilt wird. Eine solche Regelung könnte dann auch das private Eigentum an Produktionsmitteln als Form der Vergangenheit hinter sich lassen, allerdings – wie Steiner es sich im Unterschied zu Marx dachte – nicht im Verlaufe immer wiederholter Lohnkämpfe und letztlich der gewaltsamen Enteignung der Kapitaleigner, sondern schrittweise, wo es möglich ist, jetzt und hier. Entsprechend setzte Steiner sich in seiner Zeit als Dozent an der Arbeiter-Bildungsschule in Berlin 1899-1904 aktiv für die Stärkung der damaligen Betriebsrätebewegung und für die Bildung assoziativer Wirtschaftsbeziehungen ein. Er erwartete von den Arbeitern mehr als nur Forderungen nach mehr Lohn – eben den Einsatz für radikale Beteiligungsmodelle anstelle der Lohnvertragsordnung.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch mit dem Modell des Teilungsvertrages als Basis kooperativen Arbeitens wird weder das Privateigentum aufgehoben, noch ein Gleichheitsanspruch zwischen den Subjekten des Vertrages aufgestellt – im Vertrag werden nur die kooperativen Beziehungen, wird nur die Realisierung, Nutzung und Aufteilung der gemeinsam geschaffenen Werte miteinander vereinbart. Dies allerdings! In den Vertragsbedingungen gilt es dabei Positionen, Leistung und Bedarf gegeneinander abzuwägen. Der eine bringt Kapital (auch in Form von Anlagen und Arbeitsmitteln), der andere Ideen und Wissen,  logistische Fähigkeiten, wieder andere ihre Arbeitskraft oder auch soziale oder künstlerische Fähigkeiten mit.  

Entscheidend ist, dass niemand aufgrund der Art seines oder ihres Einsatzes, unkündbare oder vererbbare Alleinverfügungsgewalt über den Gesamtprozess hat, angefangen bei der Planung der Arbeit, über die Produktion bis zur Verteilung. Leitungsfunktionen entstehen aus gegenseitiger Vereinbarung und durch Wahl und werden übergeben, sobald sie nicht mehr ausgefüllt werden können. Die Verteilung des Arbeitsertrages unterliegt einem von der Betriebsgemeinschaft überwachten Schlüssel, wobei zum Betrieb nicht nur die Produktion, sondern auch der Vertrieb und die Bedarfsanalyse gehören, die den Betrieb mit der übrigen Gesellschaft verbindet.

Was sich unter solchen Bedingungen entwickeln kann, ist ein neues Verständnis von Arbeit als Kern einer anderen Eigentumsordnung, nicht der Abschaffung von Eigentum, ja, nicht einmal der Abschaffung des Kapitals, auch nicht der „Abschaffung von Arbeit“, wie manche es formulieren, sehr wohl aber der Überwindung des Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, nämlich der Selbstverwertung des Kapitals bei gleichzeitiger Entwertung der menschlichen Arbeit und der ‚Freisetzung‘ von immer mehr ‚Überflüssigen‘.

Kapital ist ja eine Ressource, die allen Menschen, man darf sogar über die Menschen hinausdenken, allen Wesen der Erde als vom Menschen geschaffene Ressource ‚eigentlich‘ zur Verfügung steht. Die natürlichen Ressourcen der Erde wurden im Lauf der Jahrtausende und werden heute zunehmend in zivilisatorische, genereller gesagt, kulturelle verwandelt – bei Verschärfung der Rückstände allerdings, die aus der Verwandlung entstanden. Aber auch dieses Problem ist bei gemeinschafts- und bedarfsorientierter Arbeitsorganisation anders zu lösen als bisher.

Damit tritt immer deutlicher ein Zug der Arbeit in neuer Weise wieder hervor, der durch die Reduzierung der Mehrheit der Menschheit auf bezahlte ‚Arbeitskräfte‘ am ‚Arbeitsmarkt‘ verloren gegangen war, nämlich Arbeit als Kommunikation, als gegenseitige Unterstützung; Arbeit als Hilfe zur gegenseitigen Entwicklung – und nicht nur Erwerbsarbeit, Job, Geldquelle – der Mensch als Ware.

Hier findet auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ihren Sinn, wenn die ‚Überflüssigen‘ nicht aus den Betrieben, allgemeiner gesehen nicht aus der Gesellschaft ausgeschieden werden, sondern ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihre freigesetzten Kräfte kreativ in das gesellschaftliche Leben einzubringen – allerdings nicht nur durch ein finanzielles Grundeinkommen von Seiten des Staates, sondern auch durch Sachwerte im kommunalen oder betrieblichen Rahmen sowie in Form der infrastrukturellen Angebote der Gesellschaft, der lokalen wie auch der gesamt gesellschaftlichen.[6]

All das ist eine tiefer in der Arbeit liegende Qualität: Nur wenn meine Arbeit nützlich für andere ist, nützt sie auch mir; nur wenn ich mich auf die Hilfe anderer verlassen und mich frei entwickeln kann, kann eine Gemeinschaft entstehen, in der die Würde des Menschen Priorität hat. Die heute sich herausbildende Möglichkeit zu Entwicklung einer kooperativen Form der Arbeitsteilung geht in Richtung dieser uralten Einsicht auf neuem Niveau – es bedarf nur der bewussten Wahrnehmung einer Entwicklung, die schon läuft, dann wird diese neue Arbeitsteilung zu einem integrierenden Prozess, der längst vergessen geglaubte soziale Impulse und Dynamiken neu in Gang setzt.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Bücher von Kai Ehlers zum Thema: :

Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen, Erweiterte Neuauflage, September 2016, BoD

Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte, 2. Auflage 2007

Erotik (Eros) des Informellen, Impulse für eine Andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation, edition 8, 2004

Die Bücher sind direkt über den Autor zu beziehen:

www.kai-ehlers.de

Dieser Text erschien zuerst in:  ‚Hintergrund‘ 2/2017

[1] Ostrom Elenor, Die Verfassung der Allmende, Mohr Siebeck, Tübingen 1999

[2] Siehe dazu die unten angegebene Literatur über russisch/sowjetische Gemeinschaftstraditionen

[3] Steiner, Rudolf, Die Kernpunkte der sozialen Frage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984, S. 108)

[4] Rousseau, Jean Jaques, Diskurs über die Ungleichheit, 6. Auflage, Schöning UTB, 2008, S. 243 ff

[5] Siehe dazu: Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Überflüssigen, Neuauflage, 2016, BOD

[6] Siehe dazu Kai Ehlers, Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte , 2007

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