Kategorie: Themen in der Diksussion

Zur Debatte: Europa der Regionen

‚Was ist eine Region?` Wie kann ein Europa aussehen, in dem die Bevölkerung nicht dem Diktat der Banken und Monopole unterworfen wird, aber andererseits auch nicht auf historisch zurückliegende Stufen der Kleinstaaterei, des Nationalismus und Lokalpatriotismus zurückfällt?

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Rußland in der Demografiefalle

Rassistische Massenkrawalle in Moskau.  Wer verstehen will, was sich abspielt, muß weit hinter die Kulissen der letzten Vorfälle schauen. Da ist zunächst dies: Rußland ist heute, wie die Mehrheit der alten Industrieländer mit dem konfrontiert, was im Fachjargon der internationalen Demographie „disproportionale Bevölkerungsentwicklung“ genannt wird: Schrumpfung im Norden, überproportionale Zuwachsraten im Süden des Globus.

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Die Eurasische Union zwischen EU und SOZ

Die Gründung der Eurasischen Union ist die neueste Wendung im Prozess einer ins Globale erweiterten Perestroika. Besorgte Fragen tauchen auf, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland, insbesondere auf die zwischen Deutschland und Rußland haben werde...

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Für ein Europa der Regionen

Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft - Unser Treffen zur „Charta für ein Europa der Regionen“ war ernüchternd und anregend zugleich: Ernüchternd, weil die Diskussion um die Vorlage sich, klar gesprochen, von Frage zu Frage hangelte, eine offener, ungelöster, widersprüchlicher als die nächste, anregend eben deshalb – eben weil die Fragen nach einem demokratischen Entwicklungsweg Europas durch den Entwurf für diese „Charta“ sehr grundsätzlich angesprochen werden.

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Brennpunkt Syrien

Auswertung des  17. Treffens zu „Brennpunkt Syrien“ vom 12.05.2012

und Einladung zum Treffen am Sonntag 10.06.2012, 16.00 Uhr;

Thema: Charta für ein Europa der Regionen

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Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,

das Thema „Syrien“ geht zur Zeit jeden Tag durch die Medien. Es soll hier daher nicht der tägliche Informationsstand referiert werden. Ich werde mich in diesem Bericht auf die Benennung der Grundfelder beschränken, auf denen sich das Gespräch im Forum bewegt hat – und darauf, worauf es sich unseres Erachtens bewegen sollte.

Anders als andere Themen, die uns bewegen, sahen wir uns außerstande, das Thema „Syrien“ auf eine Hauptfrage zu fokussieren – es sei denn man nehme die Tatsache, daß hier das gegenwärtige labile Gleichgewicht des Weltfriedens, besser zu sagen vielleicht, des Nicht geführten Weltkrieges zur Debatte steht.

Womit beginnen? Wie immer, versteht sich, mit dem Versuch einer Bestandsaufnahme der Interessenfelder, die sich hier in vielfältigster, kaum entwirrbarer Form überlagern:

Syrien als ein Glied in der Kette der muslimisch geprägten arabischen Welt. Das ist offensichtlich. Da gelten die gleichen allgemeinen Entwicklungstendenzen wie im gesamten arabisch-mittelmeerisch-muslimischen Kulturraum: Aufbruch einer sich rapide vermehrenden Bevölkerung in dem Wunsch der Teilhabe an den Errungenschaften der europäisch geprägten Moderne, konkret an den im Westen (Europa, USA und auch Rußland) als Ergebnis ihrer Jahrhunderte dauernden kolonialen Vorherrschaft konzentrierten wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten.

Gleichzeitig treten starke Tendenzen der Rückbesinnung auf die Qualitäten der eigenen muslimischen Geschichte und Kultur auf – von gemäßigten bis zu radikalen Positionen.

Diese Motive und Strömungen im Einzelnen, wie sie in Syrien jetzt in Erscheinung treten, auseinander zu halten und nach fortschrittlich oder rückschrittlich, berechtigt oder unberechtigt zu sortieren, dürfte zur Zeit nicht einmal Spezialisten gelingen – und ich denke auch, daß es nicht unsere Aufgabe ist, solche Sortierungen von außen her vorzunehmen.

Sicher ist, daß die unterschiedlichen Strömungen und gesellschaftlichen Fraktionen im Zuge der allgemeinen Entwicklungsprozesse des arabisch-mittelmeerischen Raumes heute an dem gewaltsam hergestellten Konsens einer nach-kolonialen autoritären Modernisierung rütteln, die nicht der Mehrheit der Bevölkerung, sondern nur Teilen der zur Zeit Herrschenden zugute kommt. Sicher ist auch, daß dies eine Entwicklung ist, durch die sich eingesessene Herrschaftsinteressen der westlichen Welt existentiell bedroht sehen.

Der arabische Modernisierungsprozeß, ist nicht als eindeutige Hinwendung zum Westen, aber auch nicht als Rückwendung zu einem wie immer gearteten muslimischen Fundamentalismus zu begreifen. Es geht um eine Besinnung auf die Kraft der eigenen Kultur, aber auch um Überwindung von Entwicklungshemmnissen in der eigenen Kultur. Das ist ein Prozeß, der seine eigene innere Dynamik hat, in den einzugreifen für den Westen nicht ratsam ist.

Darin waren wir uns einig. Es gehen in diesen Prozeß, über diese Tatsachen hinaus, aber auch noch schwer kalkulierbare ethnische und kulturelle Konfliktpotentiale mit ein, die aus den von den westlichen Kolonialmächten zu vorgenommenen willkürlichen Grenzziehungen am Ende der Kolonialzeit hervorgehen – ein syrischer „Nationalismus“, der nur durch die Macht der Einparteienherrschaft der Bathpartei aufgebaut werden konnte und der jetzt innerhalb des Gebietes, das heute Syrien umschließt, gegenüber diversen Sonderinteressen im wesentlichen autoritär gehalten wird.

Strukturell dürfte sich Syrien damit wenig von den anderen Staaten des arabisch-mittelmeerischen Raumes unterscheiden  – ausgenommen Israel und Palästina, die sich unter dem Druck des israelisch-palästinensischen Dauerkonfliktes gewissermaßen in das verwandelt haben, was man, ins Internationale gehoben, eine „Einpunkt-Bewegung“ nennen könnte: für oder gegen ein Existenzrecht Israels in diesem Teil der Welt.

Konkret aber sieht es so aus, als ob die Fraktionierung der im syrischen Gebiet lebenden Bevölkerung auf Grund des historisch undefinierten ethnischen und kulturellen Pluralismus eines Durchgangsraumes zwischen den unmittelbaren Nachbarn der Türkei im Norden, des Irak und des Iran im Osten, des Dauerkrisengebietes Israel/Palästina im Süden und den dies alles durchziehenden globalen Interessen der USA, Rußlands, Chinas weitaus tiefer gehen als in den übrigen Ländern der arabisch-mittelmeerischen Welt.

Das alles bedeutet, daß eine innere Destabilisierung des Landes, ebenso wie eine einseitige Orientierung an einer der genannten regionalen oder auch globalen Mächte sich sehr schnell zu einer Destabilisierung des gesamten mittelmeerisch-arabischen Raumes auswachsen kann. Dies gibt der Herrschaft Assads eine Rolle, die nicht einfach umgangen werden kann, ohne unkontrollierbare Folgen für den Raum nach sich zu ziehen.. Einfach gesagt: Syrien ist nicht Libyen.

Es wären dem bisher Gesagten selbstverständlich noch reichlich Einzelheiten hinzuzufügen, um die Zerrissenheit des Landes und die darauf als Klammer sitzende autoritäre Struktur noch besser zu verstehen. Hier soll aber jetzt zur entscheidenden Frage weitergegangen werden; sie lautet: Wie sollen, wie können wir, wie kann die Welt sich zu „Syrien“ verhalten?

Zwei „Optionen“ stehen sich gegenüber, beide auch benannt in den Texten, insbesondere dem, des österreichischen Friedensforschers Galtung, die wir das letzte Mal mit herumgegeben hatten. Kurz und direkt gesagt: die westliche „Libysche“ Variante (NATO-„Hilfe“ für einen Regimewechsel) und die russisch-chinesische Variante der „Gespräche“

Vor dem Hintergrund, daß jedes gewaltsame Eingreifen von außen, in diesem Gebiet der Welt speziell von Seiten des Westens als Dejá vu des westlichen Kolonialismus erlebt wird, vor dem weiteren Hintergrund, daß eine Beseitigung der mit dem Iran verbundenen Herrschaft Assads den Weg für westliches (Israelisch/amerikanisches) Vorgehen gegen den Iran freimachen würde und schließlich angesichts unbestreitbaren Tatsache, daß die „Friedensmissionen“ der NATO in Afghanistan, Pakistan, Libyen keineswegs zu demokratischen Verhältnissen und geführt haben – und selbstverständlich aus prinzipiellen Erwägungen heraus, daß tragfähiger Frieden und eine tatsächliche demokratische Entwicklung nicht mit Waffengewalt erzwungen werden können, sondern die Erhaltung einer Mindest-Stabilität dafür Voraussetzung ist, kamen wir in unserer Gesprächrunde darin überein, uns für die russische Variante zu entscheiden, d.h., einen „runden Tisch“ zwischen allen Beteiligten – Assad und Kritikern – zu fördern, auch wenn klar ist, daß dies der schwierigere Weg ist und auch dann noch und immer wieder, wenn schon keine Hoffnung mehr zu bestehen scheint. In der Realität vor Ort hat Leben immer Priorität!

Wobei die Paradoxie offenkundig ist und auch Bestandteil der komplizierten Gemengelage in der syrischen Problematik, daß die Variante des „runden Tisches“ ausgerechnet von autoritär regierten Staaten wie Rußland oder auch China vorgeschlagen wird, die ihrerseits reichlich Probleme mit, freundlich gesprochen, verschleppten Reformen haben.

Sich für Gespräche einzusetzen bedeutet daher nicht, das sei unmißverständlich gesagt, das blutige Vorgehen der herrschenden syrischen Kräfte gegen ihr Kritiker, zu rechtfertigen oder auch nur gut zu heißen, es bedeutet auch nicht Rußland oder China zu Mustern demokratischer Politik zu erklären, es bedeutet nur einfach, sich der Dämonisierung Assads nach Art der Dämonisierung Saddam Husseins oder Gaddaffis zu widersetzen – wie gesagt: das Leben hat Priorität! In dieser Frage folgen wir einstimmig der Argumentation des Friedensforschers Galtung. (Wir geben sie deshalb diesem Bericht zur nochmaligen Kenntnisnahme bei).

Wir kamen damit wieder einmal zu der Frage, was wir selbst, über die Enttarnung der in den Medien betriebenen Desinformation hinaus zur Entwicklung von tatsächlichen demokratischen Kräften beitragen können. Unsere vorläufige Antwort:

Wir werden uns beim nächsten Treffen mit der in Entstehung begriffenen „Charta für ein Europa der Regionen“  befassen. In ihr geht es darum, ein Europa zu denken und zu gestalten, daß bei sich selbst Ernst macht mit Selbstorganisation, Entwicklung demokratischer Strukturen und – Menschenrechten.

Wir treffen uns zu dieser Frage am Sonntag, d. 10. Juni 2012 um 16.00 Uhr

Anmeldung über Kontakt zu mir

Zur Vorbereitung liegt diesem Bericht eine vorläufige Fassung der „Charta für ein Europa der Regionen“ samt erläuternden (ebenso vorläufigen) Anhängen bei, außerdem bisher noch nicht eingearbeitete kritische Anmerkungen von mir. (Kai Ehlers). Es handelt sich bei dem jetzigen Stand der „Charta“ nicht um eine endgültige Vorlage für eine endgültige Verfassung, sondern um ein Diskussionsangebot für ein anderes als ein imperial-bürokratisches Europa.

Erarbeitet wurde dieser Entwurf als Ergebnis des „Kongresses integrale Politik“ vom August 2008 in St. Arbogast/Österreich. Er soll dem diesjährigen zweiten „Kongreß integrale Politik“ als Vorlage zugeführt werden. Wir können unseren Beitrag mit einfließen lassen.

Wer aktiv teilnehmen möchte, kann das Vorbereitungsmaterial bei mir über Kontakt bestellen.

Liebe Freunde, liebe Freundinnen, wir würden uns freuen, Dich und Dich und Dich in diesen Diskussions- und Findungsprozeß mit einbeziehen zu können: Die Zeit ist reif.  Wir freuen uns auf Dein Kommen oder auch auf Deinen Beitrag.

Im Namen des „Forums integrierte Gesellschaft“

Herzlich, Kai Ehlers

 

 

Rußland: Zwischentöne zur Wahl

Rußland hat gewählt. Eine neue Duma wird zusammentreten. In ihr wird die „Partei der Macht“, Einheitliches Rußland, die Partei Medwedews und Putins mit 238 von 450 Sitzen zwar noch die absolute Mehrheit haben. Ein Weiter-So auf einem von einem willigen Parlament abgestützten Tandem, auf dem Medwedew und Putin nach Belieben die Plätze tauschen, wird es dennoch nicht geben.

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Öl-NATO contra Gas-Russland Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Kooperation oder Konfrontation mit Russland? Um diese Fragen kreisen die aktuellen politischen Debatten in der Europäischen Union und in der NATO. Zwei Strategien stehen sich gegenüber:
Auf der einen Seite forcieren die USA die Entwicklung der NATO zur Energie-NATO. Angestoßen vom EU-Neumitglied Polen wurde diese Forderung von US-Senator Luger erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend damit, Russland auf einen Rohstoff-Lieferanten zu reduzieren und seinen politischen Einfluss zu isolieren. Die Strategie fügt sich in das unipolare Konzept der US-amerikanischen Hegemonialordnung ein, wie es von Sbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ entwickelt wird. [2] Dem steht Russlands Vorschlag gegenüber, über Gasprom eine weltweite kooperative Vernetzung von Energie-Lieferanten und Energieverbrauchen zu schaffen. Der deutsche Außenminister Steinmeier griff diesen Impuls auf der Münchner NATO-Tagung 2007 unter dem Stichwort einer Energie-KSZE auf. Es gehe darum die Kooperation von Rohstofflieferanten und Rohstoffverbrauchern, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entstehe. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Es fügt sich im Übrigen in die seit Gorbatschow in der russischen Außenpolitik entwickelten Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung ein.
Seit der NATO-Sicherheitstagung 2007 in München stehen sich die Forderungen nach einer „Energie-NATO“ und einer „Energie-KSZE“ gegenüber. Die EU ist in der Frage gespalten.

Die Geschichte der genannten Konzepte ist die Geschichte einer Eskalation.

Seit 1991 bemüht sich das „atlantische Bündnis“ unter Führung der USA aggressiv um die Neuaufteilung des zentralasiatisch-kaukasischen Raumes. Dabei ging es vorrangig um Erdöl und Erdgas, die in diesem Raum konzentriert sind. Der führende US-amerikanische Stratege Brzezinski spricht vom „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf das die USA sich den Zugriff sichern müssten. Kernstück der daraus entwickelten Strategie wurde der Ausbau eines Transportkorridors, auf dem Öl und Gas südlich des Bauches von Russland von Ost nach West befördert werden könnten, ohne durch russische, aus der Sowjetzeit noch vorhandene Röhren gehen zu müssen. Das bedeutete, Russland von Zentralasien, vom Süd-Kaukasus und vom Iran zu trennen, den russischen Schwarzmeerhafen Novorossisk, sowie die Pipelines durch Tschetschenien zu umgehen.
Die EU beteiligte sich an dieser Strategie mit den Programmen TACIS, INOGATE und TRACECA, über welche Milliarden Euro in den Ausbau der Ost-West-Transport-Infrastruktur von Usbekistan bis Europa flossen. TACIS, das ist die Abkürzung für “Technical assistance to the commonwealth on independent states”, INOGATE für “Interstate Oil and Gas Transport to Europe”, TRACECA für “Transport Corridor Europe-Caucasus-Central Asia”. Die drei Programme sind ausgelegt als Aktionsbündnisse mit den aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten Zentralasiens, des Kaukasus und des Balkan (selbst Griechenland partizipierte) – nur Russland wurde expressis verbis ausgegrenzt.
Wichtigstes Ergebnis dieser Programme waren drei neue Pipelines, die unter Umgehung der bis dahin genutzten sowjetischen Transportwege gebaut wurden:
– Öl von Baku in Aserbeidschan zum Schwarzmeerhafen Supsa – seit 96 in Betrieb,
– Öl von Baku über Tiblissi nach zum Mittelmehrhafen Ceyhan in der Türkei –
„BTC“ genannt nach den drei Städtenamen, seit 2005 in Betrieb;
– Gas von Baku über Süd-Europa in die EU –“Nabucco“– geplant ab 2012.
Nicht erfolgreich war der US-Plan, eine Pipeline durch Afghanistan in den Persischen Golf zu führen. Der in den 90er Jahren gemachte Ansatz blieb in den Kämpfen mit den Mujaheddin stecken. Auch die neueren Pläne, die von Sbigniew Brzezinski kürzlich wieder ins Gespräch gebracht wurden, werden nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn Afghanistan schnell „befriedet“ wird.
Zeitgleich mit der Entwicklung des Ost-West-Transportkorridors unternahmen westliche Öl-Konzerne den Versuch, den innerrussischen Öl- und Gas-Markt zu „liberalisieren“, „für den Weltmarkt zu öffnen“, kurz, unter Kontrolle westlicher Konzerne zu bringen. Das geschah zum einen über Einflussnahme auf den seit 1991 privatisierten russischen Öl-Markt. Der nach-sowjetische private Öl-Konzern YUKOS wurde in de4 Jahren 2003/2004 bereits von New York aus geleitet. Yukos-Chef Chodorkowski stand vor seiner Verhaftung und vor der gerichtlichen Auflösung des Konzerns kurz vor dem Verkauf von Mehrheitsanteilen an US-Texaco.
Es geschah zum Zweiten über Versuche der EU über Verhandlungen mit Russland für eine Europäische Energiecharta, über ein gesondertes Kooperations- und Partnerschaftsabkommen und über die Entwicklung einer „strategischen Partnerschaft“ zu einer „Liberalisierung“ des Öl- und Gasmarktes zu kommen.
NATO-Erweiterung und EU-Erweiterungen flankierten diese Strategie der Einkreisung Russlands, gepuscht von den USA; die EU konnte, sehr zum Ärger der USA keine klare einheitliche Linie zur Energiepolitik gegenüber Russland finden, sondern schwankte immer wieder zwischen aktiver Beteiligung an der US-Einkreisungspolitik und langfristiger Kooperation im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. – was u.a. dazu führte, dass die Nabucco-Pläne nur zögernd voran kamen und kommen.

Russlands Antwort

Nach Auflösung der Sowjetunion und Einleitung der Schock-Therapie der Totalprivatisierung war Russland dieser Strategie zunächst weitgehend ausgeliefert. Aus dem Gas-Ministerium der Sowjetzeit entstand Gasprom als eine undefinierbare Mischung aus alten sowjetischen und neuen privatwirtschaftlich genutzten Strukturen. In der Bevölkerung galt diese Organisation als Selbstbedienungsladen ihrer Funktionäre. Die Ölindustrie wurde zum Privateigentum weniger Oligarchien, verquickt mit ausländischem Kapital. Erst mit der Krise 98, als der IWF sich weigerte Russland mit Krediten aus der Patsche zu helfen, bzw. für Russland unannehmbare Bedingungen stellte, begann Russland sich wieder auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Die wesentlichen Schritte sind schnell aufgezählt:
– 2002 Reform Gasproms zum internationalen Multi. Die korrupten Funktionäre der 90 Jahre werden durch Vertraute Putins ersetzt, Gasprom zu einem politischen Instrument des Staates und einer Stütze des russischen Budgets entwickelt.
– 2003/4 mit der Verhaftung Michail Chodorkowskis und der Auflösung des YUKOS-Konzerns nimmt der russische Staat auch die größten Teile der Öl-Wirtschaft wieder unter Kontrolle.
– 2005/6 wird am Plan der Ostseepipeline erkennbar, dass Gasprom die Strategie einer aktiven Vernetzung des russischen Energiemarktes mit der EU verfolgt; mit Kasachstan und Turkmenistan werden alte Verbindungen aktiviert.
– am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline („South-Stream“) zusammen[4]: Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga (bei Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen[5].
– 2008 geht es Schlag auf Schlag: Vertrag zum Bau der „South-Pipeline“ mit Serbien im Januar 2008[6], mit Ungarn im Februar[7], mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an der “Nabucco“Pipeline als auch an „North-Stream“ beteiligen. Ein Joint Venture von “Nabucco“ und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Transmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. [8] Im Juli 2008 offeriert Gasprom Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. [10] Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. [11] Gasproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom sich auch nach Osten[12]: Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Ebenfalls im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. [13] Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein. [14] Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“ [15], d.h. ein umfassendes Netz von der Förderung bis zum Endkunden aufzubauen.

Kooperation contra Konfrontation

Zum Gipfel der G8 in St. Petersburg im Mai 2006 legte Russland den Vorschlag vor, eine globale Energiepolitik zu entwickeln. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland brachten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vor und kündigten an, ihrerseits Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So wurden von dem „Energie-Summit“ harte Konfrontationen erwartet. Im Ergebnis verabschiedete der Gipfel überraschend einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben schienen. Nur ein halbes Jahr später, 26.11.2006 forderte US-Senator Luger beim NATO-Gipfel in Riga die Entwicklung einer Energie-NATO, die nach § 5 des NATO-Bündnisvertrages eingreifen müsse, wenn Gas- oder Öllieferungen mit erpresserischer Absicht unterbrochen würden. Auch eine befürchtete „Gas-OPEC“ geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“-Gesetz.
Die Erfolge Gasproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften auch als Hintergrund für die Eskalationen im Kaukasus im August 2008 zu sehen sein. 17] „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ [18] Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive[20]. Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das atlantische Bündnis dürfe „die Fortschritte, die in Aserbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblissi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen“ müsse „die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der “Nabucco“Pipeline gedient“ werde.
Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache liege darin, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ [21] Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Pipeline bombardieren wollen.
Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“ [22], habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der in erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“.
Unter den Bedingungen der globalen Systemkrise entspannte sich die Konfrontation vorübergehend. Auf der Müncher „Sicherheits“-Tagung 2009 standen andere Themen im Vordergrund, insbesondere der Wiedereintritt der USA ins internationale Bündnissystem. Zudem ist Gasprom durch den Preisverfall bei Öl- und Gas vorübergehend geschwächt. Ein neues Anziehen der Öl- und Gaspreise und damit die Aktualisierung des Wettlaufes um die kaukasischen und zentralasiatischen Ressourcen ist jedoch unausweichlich.

veröffentlicht in:  „Neues Deutschland“

Ukraine – Kampfplatz der Vermittler

 

Der Staub, den der neuste Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine aufgewirbelt hatte, beginnt sich zu lichten. Aber immer noch ist schwer erkennbar, wer da wen über den Tisch ziehen wollte, wer wen zu Recht beschuldigt. Die Ukraine zeigt auf Russland, Russland auf die Ukraine; beide zusammen auf den ominösen Zwischenhändler RosUkrEnergo, der Millionen aus der Veruntreuung russischer Gaslieferungen gezogen haben soll. Die EU, als Vermittler angerufen, verhielt sich neutral, verwahrte sich sogar gegen die Rolle des Vermittlers, weil sie den Anschein der Parteinahme vermeiden wollte. Selbst aus den USA war nicht viel mehr als eine milde Mahnung zu hören, die streitenden Parteien sollten die „humanitären Implikationen der Versorgungsunterbrechung“ bedenken. Sogar die übliche Suada der Medien gegen Russland blieb weitgehend aus. Nur Russland, konnte man schließlich doch noch lesen, habe es nicht unterlassen können, die USA zu beschuldigen, die Ukraine zum Gasdiebstahl angestachelt zu haben. Typisch Russen, aber absurd, so der Tenor. Soweit, so langweilig, könnte es scheinen.

Allmählich werden durch den abziehenden Dunst jedoch die Hintergründe erkennbar: Da wären zunächst einmal die beiden Abkommen zu erwähnen, die dem aktuellen Konflikt direkt vorauf gingen. Genau genommen folgten sie unmittelbar auf die Tatsache, dass NATO und EU der Ukraine in diesem Jahr sowohl den Zugang zur EU als auch zur NATO versperrten, bzw. mit windigen Erklärungen auf die lange Bank schoben. Ersatzweise aber schloss die EU mit der Ukraine im September 2008 ein Assoziierungsabkommen, das zwar keine Zusage auf Mitgliedschaft in der EU enthält, doch die Aussicht darauf eröffnet. Ein wesentlicher Punkt darin ist die verstärkte Zusammenarbeit in Fragen der Energiesicherheit.

Im Dezember 2008, zwei Wochen vor Ausbruch der Streitigkeiten, unterschrieb US-Außenministerin Condoleeza Rice dann die „Charta über strategische Partnerschaft“ zwischen der Ukraine und den USA. „In Übereinstimmung mit dem US-EU-Gipfel vom 10. Juni 2008“, heißt es darin, „vertiefen die Ukraine und die USA den dreiseitigen Dialog (wenn es denn einen dreiseitigen Dialog gibt! – ke) mit der Europäischen Union  für eine verbesserte  Sicherheit der Energieversorgung.“ Das bedeute, „die USA wollen der Ukraine bei der Modernisierung der veralteten ukrainischen Gaspipelines helfen.“

Hinter diesen Abkommen tritt sodann die Erklärung eines „US-EU Partnership Committees for Ukraine“ hervor, das am 14. Mai 2007, also weit vor diesen offiziellen Vereinbarungen in Berlin gegründet wurde. Es hat sich den Ausbau der Energiesicherheit in Zusammenarbeit von EU und Ukraine und die Verringerung der Abhängigkeit der Ukraine von Russland zum Ziel gesetzt. Initiator dieses Komitees war kein Geringerer als der Kurator und Berater des „Center for strategic and international studies“ (CIS), Sbigniew Brzezinski von amerikanischer Seite; auf deutscher Seite steht der Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe im Namen der „Deutschen Gesellschaft für ausländische Politik“ (DGAP) Mit von der Partie sind Personen wie die Ex-Außenministerin der USA, Madeleine Albright, wie der bekannte US-Senator R. Luger, der Mann, der seit dem NATO-Gipfel in Riga öffentlich den Einsatz der NATO zur Verteidigung der Energiesicherheit der Mitglieder des Bündnisses fordert, und weitere einschlägige „adviser“ aus dem Umkreis Brzezinskis, die sich für eine Demokratisierung der Ukraine in diesem Komitee zusammengefunden haben – ähnlich wie früher schon im „Komitee für den Frieden in Tschetschenien“, dessen 2. Vorsitzender ebenfalls Brzezinski ist.

Eine seiner zentralen Aufgaben sieht das „US-EU-Partnership Komitee for Ukraine“ laut einer Erklärung vom Mai 2007 darin, ein zunehmend autoritäres und imperial orientiertes Russland davon abzuhalten, politische Konflikte mit der Ukraine dafür zu benutzen, die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung auf einen äußeren Feind zu lenken. „Noch ist die Ukraine kein Ziel gewesen“, heißt es, aber „sie könnte es werden…“

Brzezinski erklärt in einem Interview zu den Zielen des Komitees u.a.: „„Wenn die Ukraine sich  nicht nach Westen bewegt, dann wird sich Russlands Nostalgie für eine imperiale Rolle intensivieren, und dadurch wird Russland zu einem größeren Problem, die Ukraine könnte weiter bedroht werden, und deshalb liegt es im Interesse aller, diesen Prozess (der Demokratisierung der Ukraine – ke) voranzubringen.“

Wer dies liest, tut gut, sich daran zu erinnern, was Brzezinski schon vor zehn Jahren in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ zur Ukraine schrieb: „ Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ Auf die Ukraine müsste sich US-Politik konzentrieren, wenn sie sicherstellen wolle, dass ihr kein Konkurrent in Eurasien entstehe. Nato- und EU-Erweiterung, Unterstützung der „orangenen Revolution“ waren Schritte auf diesem Weg. Jetzt ist „Zückdrängung der Energie-Abhängigkeit“ auf die Agenda gerückt.

GAZPROM – Konfrontation oder Kooperation? veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

Über GAZPROM zu sprechen, heisst über gegenläufige Tendenzen der Globalisierung zu sprechen. Gazprom ist weit mehr als sein Name vermuten ließe, der übersetzt Gasindustrie bedeutet. Gasprom ist identisch mit Russlands Energiepolitik, korrekt gesprochen, rund 51% der Gazprom-Aktien sind Staatsbesitz. Der Vorgänger von Alexei Miller, des heutigen Chefs von Gasprom, Rem Wechirew pflegte zu sagen: Was Gasprom nützt, nützt Russland.. Gasprom ist der drittgrößte Konzern auf dem globalen Energiemarkt, Teil des internationalen Finanzgeflechtes mit Tendenzen einer Monopolisierung, was ihm von westlicher Seite den Vorwurf des Energie-Imperialismus einträgt. Allen voran geht dabei der Chefstratege der USA, Sbigniew Brzezinski, der nach der Zerschlagung des Yukos Konzerns und der Inhaftierung dessen ehemaligen Chefs Michail Chodorkowski 2004 das Stichwort ausgab, Wladimir Putin wolle einen russischen „Energiefaschismus“ aufbauen. Gazprom ist jedoch zugleich – nicht zuletzt auch von denselben Kritikern moniert – ein undurchsichtiger Gesamtzusammenhang von Staat, Geld und Gesellschaft, in dem nach wie vor keine „marktwirtschaftlichen“ Prioritäten gesetzt, sondern schlicht die Ressourcen des Landes verkauft, teilweise sogar noch im Tauschverkehr abgegeben werden. Von dem Verkauf lebt das russische Staatsbudget zu mehr als einem Drittel und mancher Betrieb und manche Kommune existiert nur dank geldloser Lieferungen von Gasprom. Was Gasprom schadet, könnte man sagen, schadet also auch Russland. Und in der Tat: Vor der Finanzkrise war Gazprom der Gewinner der exorbitant steigenden Ölpreise, nach der Krise einer der stärksten Verlierer. Der Ölpreis stürzte fast über Nacht von 140 Dollar um mehr als die Hälfte auf 50 Dollar pro Fass, die 49% an der Börse handelbarer Aktien des Konzerns mit ihm. Der russische Staat musste mit Stützungsgeldern in Milliardenhöhe einspringen. „Mit dem Kopf in der Globalisierung und mit den Füßen im Garten“ dürfte daher nach wie vor eine passende Beschreibung für den widersprüchlichen Charakter dieses Riesen sein. Kurz: Gazprom ist ein authentischer Ausdruck Russlands. Aber was resultiert aus dieser Sachlage? Sind die hysterischen Stimmen ernst zunehmen, die davor warnen, dass Gazprom die EU wegen ihrer Abhängigkeit von russischen Energie-Lieferungen in die Zange nehmen könne? Immerhin bezieht die EU heute 44% ihrer Gasimporte aus Russland. Oder muss man umgekehrt fürchten, dass Gazprom sich in Krisenzeiten als unfähig erweisen könnte, seine Lieferverpflichtungen zu erfüllen und damit die Gesellschaften der EU in eine Wirtschaftskrise reißen könnte? Fragen dieser Art werden nach dem Krieg in Georgien im August 2008 wieder heftig und her bewegt , nachdem sich die letzte Welle der Unsicherheit anlässlich der Preisstreitigkeiten zwischen Gasprom und der Ukraine bei der Vertragserneuerung am Jahresende 2005 einigermaßen gelegt hatte. Eine Antwort auf diese Frage muss man in den Tatsachen suchen: Auf Gazprom entfallen 85% der russischen und rund ein Fünftel der weltweiten Erdgasförderung. Für das Pipelinenetz in Russland hält Gazprom das Monopol. Gasprom entstand im Zuge der Auflösung der Sowjetunion aus dem sowjetischen Ministerium für Gas- und Ölförderung und dem dazugehörigen Verteiler- und Zulieferernetz. Der Konzern hat heute – hatte vor dem Finanzkrach – einen Börsenwert von 360 Milliarden Dollar. Genau 50,002 % der Aktien befinden sich in der Hand des Staates, 29,482 gehören anderen Gesellschaften, 13,068 Privatpersonen, 6,5 % der deutschen E.ON Ruhrgas, 0,948“ ausländischen Personen. Gazprom hat mehr als 50 Tochtergesellschaften, darunter viele, die nicht im Gasgeschäft tätig sind, unter anderem Gazprom-Neft (Öl) Gazprom-Bank, Gazpro-Media, dazu die mit der deutschen Wintershall zusammen gebildete Nordstream AG, ganz zu schweigen von dem Geflecht der Regionalniederlassungen, Service- und Zuliefererfirmen in den verschiedensten Sektoren. Obwohl der Staat heute über 50,002% der Gazprom-Aktien hält, noch ergänzt durch andere Teilhaber von Gazprom, in denen der Staat ebenfalls Anteilseigner ist, also faktisch die absolute Mehrheit der Gesellschafterstimmen bei Gazprom innehat, bestimmt nicht der russische Staat, sondern Gazprom die Abnehmer-Preise. Im Juli 2008 sah die russische Regierung sich sogar veranlasst, Gazprom wegen der von ihm im Inland verlangten Monopolpreise auf Benzin zu verwarnen. Zuvor war Alexei Miller bereits von Putin scharf darauf hin gewiesen worden, dass Gazprom sein Pipeline-Monopol anderen Firmen gegenüber nicht ausspielen dürfe. Seit April 2008 läuft eine gerichtliche Klage eines kleineren Betreibers gegen Gazprom vor der russischen Antimonopolbehörde. Grund dürften interne Differenzen zwischen Gasprom und Rosneft um den russischen Ölmarkt sein. Anzumerken ist auch noch: Gazprom macht bis heute keine „Marktpreise“, sondern entscheidet nach sozialen und politischen Kriterien. Zwei Drittel der Lieferungen gehen ins Inland, aber mit ihnen macht Gasprom nur ein Drittel des Umsatzes. Gasproms Auslandspreise sind bis heute politisch gestaffelt: Als Folge der immer noch nicht vollständig gelösten Versorgungslinien der Sowjetzeit zahlen ehemalige Sowjetrepubliken entsprechend ihrer politischen Nähe zur Russischen Föderation in unterschiedlicher Weise. Einen Sonderpreis bekommt Weißrussland; mit 130 Dollar pro 1000m³ liegt auch die Ukraine trotz der Erhöhung um 40% bei Vertragswechsel von 2005 noch unter dem Weltmarktpreis. Sonderkonditionen erhalten Südossetien, Djesterepublik, Serbien, selbst noch Georgien. Tendenziell will Gazprom die Vorzugspreise abbauen, aber hierfür gibt es kein zeitliches Limit. Umgekehrt ist Gazprom seit 2007 dazu übergegangen beim Abschluss neuer Verträge für den Bezug von Gas aus Turkmenistan und Kasachstan günstigere Bedingungen anzubieten als die westlichen Abnehmer, in der Absicht die Quellen dieser Länder für den eigenen Pipelineverbund zurückzugewinnen, nachdem die alten Verbindungen seit 1990 unterbrochen waren. Im Juni 2008 erschreckte der Vorstandsvorsitzende Alexei Miller die westliche Welt mit der Ankündigung, angesichts des steigenden weltweiten Gasbedarfs sei offensichtlich, dass die Bedeutung Gazproms in der Zukunft nur wachsen könne. In den kommenden Jahren werde Gazprom „nicht nur eine der großen Gesellschaften der Welt sein, sondern die einflussreichste auf dem Energiesektor.“ Gazprom plane zudem das Netzwerk der Gas exportierenden Länder zu einer ständigen Organisation auszubauen, zu einer Art Gas OPEC. Im Unterschied zur bestehenden OPEC jedoch seien die prinzipiellen Ziele dieses Gas-Forums „nicht allein die Verteilung laufender Produktionsquoten, sondern langfristige Aktivitäten und Investitionspläne in der Gasindustrie.“ Über den bloßen Export hinaus wolle Gazprom ein weltweites Verteilernetz direkt bis zum Endverbraucher hin ausbauen: „Wir schlagen unseren europäischen Partnern ein Projekt über die Schaffung eines dichten Netzes mit Gas-Tankstellen unter Beteiligung von Gazprom vor,“ so Miller. Für die nächsten zehn Jahre, in denen der Ölpreis voraussichtlich auf 250 Dollar steigen werde, sei keine bessere Alternative in Sicht. Alle aktuell von Gazprom betrieben Projekte, so Miller, wie die Ostseepipeline, die „South Stream“, die „Precaspian Gas pipeline“, die „Stockmannfelder“ entwickelten sich sehr schnell. Mit Indien und China stehe man in Verhandlungen. Mit Nigeria stehe man kurz vor einem Abschluss. Darüber hinaus habe Gazprom Projekte in Nord Amerika, ebenso wie in Asien und Süd Amerika. „Nord Amerika“, hob Miller besonders hervor, “sehen wir als Region unseres strategischen Interesses“.

Blick zurück
Hier könnte die Darstellung zur Skizze des aktuellen Energiepokers übergehen, denn die Reaktionen auf diese Ankündigungen kamen prompt und sie fielen sehr schrill aus. Es wird aber gut sein, zuvor noch einen kurzen Blick in die Geschichte von Gazprom zu werfen, um besser zu verstehen, an welchem Punkt seiner Entwicklung der Konzern heute steht: Gazproms Vorgeschichte, so könnte man sagen, beginnt mit der Erschließung der kaukasischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts. Das geschah wesentlich durch westliches Kapital, erst britisches, nach der Revolution 1917 amerikanisches. Erst ab 1923 begann die Sowjetunion selbst den Weltmarkt zu beliefern. Zu dem Zeitpunkt wurden 75% der in der SU benötigten Energien im kaspischen Raum gewonnen. Hitlers Angriffe auf Baku zwangen die Sowjetunion zur schnellen Erschließung und Ausbeutung neuer Felder in Sibirien. Die Bedeutung des kaspischen Raums ging zurück. Zudem gewann die Gasförderung gegenüber der des Öls seit den 70er an Bedeutung. „Wurden Anfang 1950 noch knapp 40% des Rohölbedarfs der Sowjetunion aus der Region Baku gedeckt, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1980 auf nur etwas über 2%“ Die Förderungen konzentrierten sich auf die neuen sibirischen Vorkommen. Die alten Anlagen verfielen, die neuen wurden überstrapaziert. Ende der 80er bestand für die gesamte Gas- und Ölindustrie dringender Modernisierungsbedarf. Die Umwandlung des Branchenministeriums der Gas-Versorgung in einen Staatskonzern 1989, dessen Privatisierung als Aktiengesellschaft 1992 ließ eine autonome Organisation mit quasi hoheitlichen Funktionen entstehen. Die Modernisierung jedoch blieb stecken. Die Bevölkerung erlebte Gazprom als Selbstbedienungsladen ehemaliger Funktionäre und deren Klientel. Die Ölbranche ging eigene Wege; sie entwickelte sich zum Eldorado privater Oligarchen. André Kolganow, Dr. der Ökonomie an der Moskauer Staatsuniversität, führendes Mitglied der Neulinken Gruppe „Alternative“ charakterisierte den Konzern Mitte der 90er Jahre als „zur Zeit ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. (…) Seit der Privatisierung verfügt Gazprom über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von Gazprom unterstellt. Gazprom führt also Aufsicht über sich selbst. Gazprom ist eine merkwürdige Organisation: Nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. Gazprom ist überhaupt eine mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“ Interessant seien die „eigenen sozialen Strukturen“, die Gazprom befähigten sich „eigen eigenen sozialen Kompromiss mit seinen Arbeitern zu leisten“ Kolganow meinte damit die Gründung einer eigenen, Gazprom zugehörenden „gelben“ Gewerkschaft. Ein leitender Mitarbeiter von Gasprom brachte die Verhältnisse in einem nicht-öffentlichen Untersuchungsgespräch auf den Nenner: „Was die transnationalen Aktivitäten anbetrifft, so handelt Gazprom wie eine normale europäische, westliche Kooperation. Was Gazproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der extrapolaren Wirtschaft, aber über sie ist Gazprom doch gezwungen , sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“ „Extrapolare Wirtschaft“ ist ein Stichwort des russischen Ökonomen Prof. Theodor Schanin mit dem er und die von ihm gegründeten „Moskauer Schule für Politik und Soziales“, die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Realität Russlands definieren, die nicht als sozialistische, aber auch nicht als kapitalistische, sondern als zwischen diesen Modellen befindliche „extrapolare“ beschrieben werden müsse. Gemeint ist das Ineinandergreifen von Geld- und Tauschwirtschaft in einer Symbiose von Industrieproduktion und Strukturen der ergänzenden familiären und kollektiven Selbstversorgung. Für westliche Augen war diese Struktur einfach ein Rätsel: „Die Firma übernahm das sozialistische Erbe der Verantwortung für Kindergärten, Schulen, Wohnungen in den Gaszentren des Nordens; wo das ‚blaue Gold’ bei minus 30 Grad aus dem Eisboden geholt wird“, schrieb beispielsweise die „Zeit“. „Betriebsspartakiaden für die Belegschaft und Yachtclubs für das Management rundeten den Kleinkommunismus ab. Gasprom schluckte Milchfabriken, Banken, Metallhütten, Chemiebetriebe und Zeitungsredaktionen. Doch der Niedergang hatte begonnen. Die Gesamtproduktion von Gasprom sank von 602 Milliarden Kubikmetern 1992 auf 520 im Jahr 2001, während die Förderung im privaten Ölsektor steil anstieg. (…) Der Gasinlandsmarkt ist ein Plansystem der Quoten und der staatlich festgeschrieben Niedrigpreise, sodass Gasprom gezwungenermaßen ganze Industriezweige subventioniert. Eine Aufteilung des Konzerns in die Sparten Förderung und Transport und Verkauf würde verdeutlichen, wo Werte geschaffen oder vernichtet werden. Doch die Intransparenz ist vielen nützlicher.“ Fazit der „Zeit“: „So blieb Gasprom der größte russische Betrieb, der nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegt.“ „Was Gazprom genau ist,“ wunderte sich auch das deutsche „Managermagazin“, „lässt sich kaum in einen einzigen Begriff pressen (…) Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an? In der Region verwischen sich die Konturen. Was Bayer für Leverkusen oder VW für Wolfsburg, diese Rolle des sozialen Korrektivs nimmt die Firma für ganz Russland ein. In Westsibiriens Kreisstadt Badym lebt nahezu die komplette Kommune vom Geld des Megakonzerns.(…) Überall schimmert er durch, der eingebrannte Stolz auf die Autarkie“ Gazprom wurde das Feld, auf dem sich die Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs Russlands in den 90er Jahren konzentrierten. Der bekannteste Rechte Russlands, Alexander Prochanow charakterisierte diese Auseinandersetzung mit den Worten: „Gazprom ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist eindeutig nützlich für den Staat. In ihr gewinnt man riesige Gelder. Gazprom bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat Gazprom die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. Gazprom hat aber zugleich die Verbindung zum Business. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist übel. Außerdem arbeitet Gazprom leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen beiseite. Aber über Gazprom verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. Gazprom reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt sich auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf Gazprom zur Zeit die Angriffe: Allzu schmackhaft sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski . Deshalb ist der Kampf um Gazprom wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistische Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen“

Ein Korridor gegen Russland
Parallel zur inneren und äußeren Auflösung der Sowjetunion gingen die westlichen Industriemächte daran, allen voran die USA und in ihrem Gefolge die EU, seit Anfang der 90er einen sog. Ost-West-Transportkorridor, romantischer auch „Projekt-Seidenstraße“ genannt, an Russlands „Bauch“ entlang zu führen, durch den zentralasiatisches und kaspisches Öl und Gas unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols nach Westen geschafft werden könne. Milliardenschwere Programme wurden dafür aufgelegt, Technische Entwicklungshilfe für die GUS (TACIS), das gigantische eurasische Pipelineprogramm (INNOGATE) und das Programm zu Modernisierung von Trassen-, Schienen und Hafenanlagen (TRACECA) – alles mit dem Ziel, den kaukasischen und zentralasiatischen Raum durch den Ausbau von Ost-West-Verbindungen von der bisherigen Zentrierung auf Moskau zu lösen. Von einer Beratung und Mitwirkung bei diesen Programmen war und ist Moskau expressis verbis ausgeschlossen. Den strategischen Hintergrund für die Programme konnte man in Bzrezinski´s Buch „Die einzige Weltmacht“ nachlesen. Eurasien sei der „geopolitischer Hauptgewinn“ der USA schrieb er. Russland müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen: von Seiten der NATO und EU-Erweiterungen im Westen, durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan im Osten, durch Eingriffe im „Eurasischen Balkan“ am „Bauch“ Russlands im Süden des eurasischen Kontinentes – Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem südlichen Raum gehe es für die USA darum, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern. Mit TACIS, INOGATE und TRACECA folgte die EU dieser Vorgabe. Ergebnis dieser Programme war als Erstes der „Jahrhundertvertrag“ von 1993, der die Ausbeutungsrechte globaler Multis, außer Gazprom, versteht sich, am azerbeidschanischem Öl für 30 Jahre regelte. In den Verhandlungen um die zukünftigen Transportwege setzten sich die USA mit ihren Vorstellungen durch, den neuen Transportkorridor sowohl an Russland als auch am Iran vorbei über Georgien und die Türkei zum türkischen Mittelmeerhaven Ceyhan zu bauen. Die zentralasiatischen Felder sollten durch Zuleitungen am Boden des kaspischen Meeres mit einbezogen werden. 2005 konnte die Pipeline, noch ohne diese Zuleitungen, in Betrieb gehen; nach den Anfangsnamen der Städte Baku, Tiblisi, Ceyhan heißt sie heute BTC-Pipeline. Zweites wesentliches Ergebnis war der seit 2006 auf Vorschlag der USA verfolgte Plan der EU eine Gas-Pipeline, genannt Nabucco-Pipeline vom Osten der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis ins österreichische Baumgarten an der March führen. Von dort soll das Gas über das Verteilernetz des österreichischen Energiekonzerns OMV in die EU weitergeleitet werden. Baubeginn ist für 2009 geplant, Betriebsbeginn für 2013. In Verbindung mit den EU- sowie NATO-Osterweiterungen, sowie der am 23. Mai 2006 beschlossenen Deklaration der Rest-GUAM (Georgien Ukraine Azerbeidschan, Moldawien und) eine „Brücke zur NATO und zur EU“ unterhalten zu wollen, konnten USA und EU sich als vorläufige Sieger in der Auseinandersetzung um den Zugriff auf die zentralasiatischen und kaspischen Energievorkommen betrachten, auch wenn der ökonomische Nutzen der BTC-Pipeline ohne die zentralasiatischen Zuleitungen noch zu wünschen übrig ließ.

Straffung durch PUTIN
Mit der Krise 98, noch unter Jelzin setzte die Gegenbewegung Russlands ein. Im Ergebnis der Krise löste Russland sich, nicht unbedingt freiwillig, aber effektiv, vom Tropf der IWF-Kredite. Unter der Vorgabe, die eigenen Kräfte zu stärken, machte Putin sich dann daran, die in den 90er gewachsene Macht der privaten Privatisierungsgewinnler zugunsten eines wieder erstarkenden russischen Staates zurückzudrängen. Das traf 2001 zuallererst die Führung von Gazprom. An die Spitze von Gazprom traten jetzt Alexei Miller als Vorstandsvorsitzender und Dimitri Medwedjew, der jetzige Präsident Russlands, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wjechirew und sein Klientel mussten gehen. Von ihnen gehaltene Anteile gingen an den Staat über. Der private Charakter des Konzerns als AG sowie seine halbmarktwirtschaftliche Grundstruktur jedoch blieben erhalten. Mit dem so erneuerten Instrument Gazprom ging Putin gegen den Medien-Oligarchen Gussinski und die graue Eminenz der Jelzin-Zeit Beresowski vor, die beide das Land verließen. Wendepunkt im Kampf um den Zugriff auf die Ressourcen wurde der Prozess gegen Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Als die Prozesse gegen Chodorkowski begannen, hatte Yukos seinen Firmensitz in New York und Chodorkowski war drauf und dran große Anteile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco US-Kapital zu verkaufen. Die Auseinandersetzung endete mit der Eingliederung des Öl-Konzerns Sibneft in den Gazpromverband. Damit war die (Wieder)Zusammenführung von Gas- und Öl-Industrie eingeleitet. Nach der inneren Neuordnung der Energiewirtschaft gingen Putin und sein „Kommando“ planmäßig daran, verlorenes Terrain auf dem Energiemarkt zurückzugewinnen:

  • 2005 schließen Gazprom mit Wintershall einen Vertrag zum Bau der Ostsee-Pipelene (North-Stream), die russisches Gas unter Umgehung der Transitländer Osteuropas direkt ins Herz der EU liefern soll. Sie soll ihren Betrieb spätestens 2013 aufnehmen.
  • Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) am 15. Juni 2006 schlägt Putin die Gründung „eines SCO Energieclubs“ vor. Er weist darauf hin, dass die SCO-Mitglieder 20 Prozent der Weltölreserven und 50 Prozent der Weltgasreserven kontrollieren. Bei einem Besuch Putins in Algerien, erlässt er dem Land die Schulden und stellt umfangreiche Waffenlieferungen in Aussicht. Danach beginnen Gazprom und der algerische Energiemulti Sonatrac mit „geologischen Ekundungen“.
  • Beim Petersburger Treffen der G 8 2006 bietet Russland sich als Kontrolleur des Welt-Energiemarktes an. In den Börsennachrichten vom 24.4. 2007 wird gemeldet, Russland wolle Milliarden aus seinen gewaltigen Öl- und Gaseinnahmen in internationale Konzerne investieren. Man werde Anteile in diversen Branchen zeichnen, unter anderem im Öl- und Gasgeschäft. Auch Investitionen im Immobiliensektor seien möglich.
  • Am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline (South-Stream) zusammen : Sie soll vom russischen Schwarzmeerhaven Dschubga (Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen .

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vertrag mit Serbien im Januar 2008 , mit Ungarn im Februar , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an Nabucco als auch an North-Stream beteiligen. Ein Joint Venture von Nabucco und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Tansmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“ Im Juli offeriert Gazprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. Gazproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom such auch nach Osten : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein.. Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“

„Energie als politische Waffe“
Die Erfolge Gazproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Bereits im November 2006 hatte US-Senator Ludger auf dem NATO-Gipfel in Riga erklärt, die geplante OPEC sei eine „explizite Bedrohung“, die unter den Artikel 5, Beistandsverpflichtung des NATO-Bündnisvertrages falle und die „Erpressung durch Einstellung der Energieversorgung“ komme einer „militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration“ gleich. Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“, und ähnliche Aussagen konnte man wenige Wochen später in den deutschen Mainstream-Medien lesen und hören. Auch die Gas-OPEC geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“_Gesetz. „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gazproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Azerbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für gerantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblisi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der Nabucco Pipeline gedient“ werde. Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache darin liege die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Linie bombardieren wollen. Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, er klärte er in der „Welt“, habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“

Gebremste westliche Alternativen
Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und bedauernd konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde. Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen Nabucco und Süd-Strom liege in der Frage der Eigentümer: Nabucco werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, der ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“ Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn Turkmenisches und Kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ vom südrussischen Schwarzmeerhafen Noworissisk durchs Schwarze Meer nach Samsung zu verlegen. Kapazitätsverluste für Nabucco wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novororossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossteien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen. Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmensiches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.

Gebremste Alternativen
Wie sehr der Aufruf Brzezinskis Russland zu isolieren von Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen, die nach dem Ende der Kämpfe in Georgien – höchst widerwillig – bekannt gab, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom’“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“ Verhängisvoll? – ja, wenn BTC- und Nabucco-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wäre die Antwort dagegen, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von Nabucco, „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, wenn es auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll Die tatsächlich stattfindenden Vorbereitungen für den Bau von North Stream und South Stream zeigen ebenfalls in diese Richtung. Okonomische und politische Vernunft spricht für solche Lösungen – solange noch keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind. Muß die Welt eine solche Entwicklung fürchten? Auf diese Frage gab Vizevorstandschef von Gazprom Alexander Medwjedew, Mitglied des Aufsichtsrates von Gazprom der Presse im Sommer 2007 eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom’ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risikos enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird. Dem ist nur noch die Frage hinzuzufügen, ob EU und USA an einem solchen Partner interessiert sind. Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de Kai Ehlers

veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

 

EU – Russland: Schluss mit Ping-Pong?

EU-Ratspräsident Sarkozy schlug auf dem EU-Russland-Gipfel in Nizza vor, demnächst Gespräche über einen Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag mit Russland zu führen, statt sich weiter über Raketenstationierungen zu zerstreiten. Damit griff er, wie die FAZ korrekt berichtet, eine Idee des russischen Präsidenten Medwedew auf, der im Juni des Jahres angeregt hatte, einen neuen Vertrag über kollektive Sicherheit in Europa zu entwickeln. Sarkozy möchte diesen Plan nunmehr im Juni oder Juli 2009 beim nächsten Gipfeltreffen der OSZE beraten. Allerdings, schränkte Sarkozy ein, müssten auch die Amerikaner mit einbezogen werden. Das könne auf dem nächsten NATO-Gipfel im April 2009 geschehen.
Widerspruch zu diesem Vorschlag wurde nicht laut; die – bis auf die Stimme Litauens – geschlossene Zustimmung der EU-Mitglieder, ab sofort Sanktionsabsichten gegen Russland fallen zu lassen und in die Diskussion um die Entwicklung eines neuen Grundlagenvertrages zwischen EU und Russland einzusteigen, signalisiert eher allgemeine Bereitschaft auch diesen Plan gutzuheißen. Medwedew erklärte, er sei unter solchen Umständen in der Raketenfrage bereit zu einer „Null-Lösung“. Wäre nun in der Tat also nur noch Obama zu fragen?
Schön wär´s – zumindest als Ausgangspunkt. Außerhalb der Nizza-Diplomatie hört man jedoch Signale, die das schöne Bild stören: Die EU-Energiekommission legte soeben ein Strategiepapier vor, in dem sie die zukünftige Richtung der EU-Energiepolitik skizziert: Georgien sei als Transportkorridor nach dem Vier-Tage-Krieg keineswegs abzuschreiben, vielmehr müsse der Ausbau der Nabucco-Pipeline nun mit Volldampf vorangebracht werden; EU-Energiekommissar Andris Piebalgs reiste in dieser Angelegenheit in der letzten Woche nach Aserbeidschan und durch die Türkei. Aktive Diplomatie soll auch die Versorgung mit Gas aus Ägypten, Libyen, Algerien so in Gang bringen, dass Lieferungen von dort spätestens 2020 mit denen aus Russland gleichziehen können.
Der georgische Präsident Saakaschwili assistierte solchen Bemühungen im Funksender France Inter mit Bemerkungen wie: Seit Russland wieder begonnen habe „andere Länder zu erobern“, könne „das nicht einfach so wieder eingestellt werden, das wird fortgesetzt.“ Ein anderes Problem seien die Energielieferungen für Europa: „Sollte Aserbaidschan dem starken Druck Russlands nachgeben und einer Stationierung von 16 000 Soldaten zustimmen, wird man dem Alternativ-Korridor für die Öllieferungen ‚Adieu‘ sagen müssen. Von diesem Zeitpunkt an wird Russland 60 Prozent mehr Energie, Öl und Gas kontrollieren als heute.“
Mit wenigen Änderungen wiederholte er diese Argumentation am Donnerstagabend, nach seinem Treffen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, im Fernsehsender Canal Plus und wenig später im Satellitensender France 24. Dabei verglich Saakaschwili die heutige Politik Russlands mit der Politik Hitlers und Stalins in der Tschechoslowakei, Polen und Finnland.
Die deutsche Kanzlerin Merkel empfing parallel zum Nizza-Gipfel den turkmenischen Staatspräsidenten Berdymuchammedow zu einem Staatsbesuch in Berlin. Neben Menschenrechten, wie immer bei solchen Treffen, ging es vor allem um turkmenisches Gas und Öl. Dazu ist daran zu erinnern, dass Turkmenistan erst vor wenigen Wochen einen langfristigen Liefervertrag mit Gasprom abgeschlossen hat. Das Gas soll nach Fertigstellung in die „South Stream“ eingespeist werden, die Gasprom zusammen mit italienischen, bulgarischen, griechischen, serbischen ungarischen und österreichischen Betreibern gegenwärtig in Konkurrenz zur Nabucco-Planung der EU selbst betreibt. Salopp gesagt: Der Kampf ist nicht vorbei. Er beginnt erst.
Als Russlands Ministerpräsident Putin ebenfalls dieser Tage erklärte, wenn die EU die Nordsee-Pipeline nicht haben wolle, „dann werden wir sie eben nicht bauen“, wurde dies in der westlichen Presse sogleich zur „Drohung“. Dem steht eine andere Meldung direkt entgegen, die besagt, das Gasprom und BASF einen langfristigen Vertrag zur gemeinsamen Erschließung neuer sibirischer Gasfelder abgeschlossen haben.
Hinter all diesen und weiteren ähnlichen Meldungen, die nur findet, wer die Medien aufmerksam studieren kann, wird eine weitere Zuspitzung der internationalen Konflikte auf die Frage der globalen „Energiesicherheit“ sichtbar. Zwei strategische Konzepte stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite die von den USA forcierte Entwicklung der NATO zur Energie-NATO, erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 von US-Senator Luger öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend mit einer aktiven Isolierung Russlands.
Dem steht die Variante einer Energie-KSZE gegenüber, die vom deutschen Außenminister Steinmeier auf der Müncher NATO-Tagung 2007 ins Gespräch gebracht wurde. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferant und Rohstoffverbraucher, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Wofür wird die EU sich entscheiden? Zurzeit werden in der EU beide Strategien gleichzeitig verfolgt. So forderte der Generalsekretär der NATO soeben wieder die schnelle Einbeziehung der Ukraine in die NATO. Frau Merkel hält die Einbeziehung Georgiens und der Ukraine zwar für tendenziell richtig, erklärt sie aber nach wie für verfrüht. Es sieht alles so aus, als ob man in der EU auf ein Machtwort Obamas warte.
Vermutlich gibt es aber kein Entweder-Oder, sondern nur die weit größere Variante: Energiesicherheit nicht „atlantisch“ oder „eurasisch“ zu lösen, sondern, ganz abgesehen von der Notwendigkeit der Entwicklung alternativer Energien, als wahrhaft globales kooperatives Verteilungssystem.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Brennglas Kaukasus

Die jüngste Eskalation im Kaukasus, die mit der Offensive Georgiens gegen Südossetien in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 in einen offenen Krieg überging, kam nicht überraschend. Seit dem Zerfall der Sowjetunion laufen die Konfliktlinien neuer Staatenbildung ebenso wie die der Neuordnung der geopolitischen Kräfteverhältnisse in dieser Region wie in einem Brennglas zusammen.
Die lokalen Ursachen der Konflikte liegen zweifellos in der ethnischen Vielfalt des Kaukasus. Historisch ist der Kaukasus Durchgangsraum zwischen dem Osten und dem Westen Eurasiens sowie zwischen der eurasichen und der afrikanischen Landmasse. Am „Berg der Sprachen“ werden im Kaukasus, je nach Zählweise nicht weniger als 40 – 60 Sprachen gesprochen, manchmal in einem Dorf mehrere nebeneinander. Zugleich ist der Kaukasus auch „wilde Land“, in das schon Griechen und Römer sich nur ungern begaben. Die russischen Zaren unterwarfen sich das Gebiet als Zugang zu den warmen südlichen Meeren, für die Sowjetunion wurde es Kornkammer und Energielieferant; für die russische Föderation ist es heute die Achillesferse ihrer Stabilität.
Von 76 Territorial- und Nationalitätenkonflikten, die der Auflösung der Sowjetunion 1990 folgten, betrafen mehr als zwei Drittel den Kaukasus. Sie alle sind ein spätes Produkt der Sowjetzeit. Hatte Lenin von 1917 bis 1921 noch versucht durch eine Politik der „Korennisazija“, Verwurzelung, der Vielfalt gerecht zu werden, damit jedes Volk in den sowjetischen Machtstrukturen mit eigenen Repräsentanten vertreten sein könne, so wurden viele der von ihm gewährten Autonomierechte durch Stalins Gebietsreformen, später Deportationen ganzer Völker wieder rückgängig gemacht. Einige der Kriege, die um die 90er aus dieser Geschichte hervorgingen, überlebten als „eingefrorene Konflikte“: so Berg Karabach zwischen Aserbeidschan und Armenien, die Djnesterrepublik als Abspaltung von Moldawien, Abchasien und Südossetien als Gebiete, auf die Georgien Anspruch erhebt.
Abchasien und Südossetien haben eine besonders unruhige Geschichte. Beide Gebiete wehrten sich schon in vorzaristischer Zeit gegen georgische Herrschaftsansprüche. Im 8. Jahrhundert bildete sich im heutigen Westgeorgien ein abchasisches Königreich, das 929 vom georgischen geschluckt wurde. Als dieses sich Ende des 15. Jahrhunderts spaltete, wurde Abchasien erneut ein selbstständiger Staat.
Im 16. Jahrhundert gerieten Abchasen wie auch Geogier in den Einzugsbereich des Osmanischen Reiches. 1810 kamen beide unter den Einfluss der russischen Zaren. Ein bolchewistischer Aufstand in Abchasien wurde von Georgischen Menschewiki im Juni 1918 niedergeschlagen; 1921, nachdem die Rote Armee die georgische Republik unterworfen hatte, erhielten Georgien und Abchasien den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik, waren einander also gleichgestellt. 1931 wurde Abchasien zu einer autonomen Republik innerhalb der georgischen SSR zurückgestuft. Dies alles war immer wieder von Kämpfen begleitet.
Osseten und Geogier liegen ebenfalls seit Jahrhunderten im Konflikt miteinander. Die Georgier besiedelten das Gebiet an der Südgrenze Russlands im 17. Jahrhundert; die Osseten wanderten im 18. Jahrhundert zu. Sie wurden wiederholt zwischen Russland und Georgien aufgeteilt. Als Georgien sich 1918 zur Republik erklärte, wurde Ossetien in Nord- und Südossetien geteilt. Aufstände zur Vereinigung Südossetiens mit dem Norden in den Jahren 1918 – 1920 wurden von Georgien niedergeschlagen. Die Kämpfe kosteten mindestens 5000 Tote, 20.000 Südosseten flohen nach Nordssetien (bei damals ca. 100.000 Einwohnern Südossetien, davon 65.000 Osseten).
Nach Eingliederung Georgiens in die UdSSR 1922 wurde Südossetien zum autonomen Gebiet innerhalb der georgischen SSR erklärt, Nordossetien verblieb in der UdSSR, bekam dort 1936 den Status einer autonomen Republik.

Das nahende Ende der Sowjetunion ließ 1989 die alten Konflikte aufbrechen. Demonstrationen für eine abchasische Unabhägigkeit in Tiblissi wurden am 9. April 1989 von der Roten Armee niedergeschlagen; 19 Menschen kamen ums Leben. 1989/90 bildete sich auch in Südossetien eine nationale Bewegung, Georgien erklärte daraufhin Georgisch, Ossetien im Gegenzug Ossetisch zur Amtssprache.
Im März 1990 deklarierte Georgien seine Unabhängigkeit. Der neue Präsident Georgiens, Gamsachurdija erhob – ohne dass darüber völkerrechtlich entschieden worden wäre – Anspruch auf Eingliederung Abchasiens und Südossetiens in das georgische Staatsgebiet und liess einmarschieren.     Im Krieg zwischen georgischen und abchasischen Milizen um die Autonomie Abchasiens kamen 1990/1 mindestens  8000 Menschen zu Tode; fast die Hälfte der Einwohner (meist Georgier, etwa 250 000) floh aus Abchasien.
1992 wurde Gamsachurdija gestürzt. Sein Nachfolger Schewardnaze, vormals sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow,  versprach eine gemäßigtere Politik in der „Nationalitätenfrage“. Trotzdem marschierten georgische Truppen in Abchasien ein. Im Verlauf des Jahres 1993 wurden sie von abchasischen Truppen zurückgeworfen. Russland erkannte zwar Georgiens Souveränität an, unterstützte dennoch die Abchasischen Truppen.
Nicht viel besser ging es in Ossetien zu: Am 20. September 1990 erklärte Ossetien sich für souverän, ein blutiger georgisch-südossetischer Krieg folgte. 1991 drangen georgische Milizen auf südossetisches Gebiet vor, zerstörten hundert Dörfer und belagerten Zchinvali. Moskau griff nur zögerlich ein. Unterstützung bekam Süd-Ossetien von Freiwilligen einer zuvor entstandenen „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Im Mai 1992 erklärte die Republik Südossetien endgültig ihre Unabhängigkeit. Erneut folgten schwere Kämpfe, in deren Folge Zchinwali erstmals zerstört wurde.
Nach dem Sturz Gamsachurdias kam ein erstes Friedensabkommen zustande, das zwischen Schewardnaze und Boris Jelzin ausgehandelt wurde. Es sah eine gemeinsame Friedenstruppe von 1500 Mann vor, die zu gleichen Teilen aus Russen, Georgiern, Süd- und Nord-Osseten bestand. Sie sollten in einem 15 km breiten neutralen Streifen rund um das südossetische Gebiet Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Als Zeichen des Goodwills räumte Schewardnaze den Russen darüber hinaus den Bau von vier Stützpunkten ein, veranlasste den Eintritt Georgiens in die GUS und dessen Teilnahme am Taschkenter Bündnis, das 1992 zwischen den Staaten der GUS „zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes“ abgeschlossen worden war.
Eine Kommission der OSZE, KSZE überwachte, von Minsk ausgehend, die Vereinbarungen Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Sie entwarf mehrfach Friedenspläne, die aber immer wieder auf Eis gelegt wurden; die Konflikte froren auf dem Stand einer de-facto-Existenz Abchasiens und Südossetiens ein. Eine internationale Anerkennung kam – wie auch zu Berg Karabach und der Djnesterrepublik – nicht zustande.
In der „Rosenrevolution“ 2003, die Schewardnaze stürzte, kam Michail Saakaschwili mit der erklärten Absicht an die Macht, Abchasien und Südossetien wieder unter „volle Kontrolle“ des georgischen Staatsgebietes bringen zu wollen. Die Beziehungen blieben zunächst noch entspannt. Saakaschwili stand sogar zur Mitgliedschaft in der GUS und hielt ausdrückliche Distanz zur NATO.
Im Mai 2004 jedoch, nach der Wiederwahl des ossetischen Präsidenten Eduard Kokoitys, der Saakaschwilis Eingliederungsabsichten mit nationalen Tönen beantwortet hatte, sperrten georgische Truppen die Grenze zu Südossetien und richteten Kontrollpunkte entlang der südkaukasischen  Fernstraße ein. Sie schlossen den Ergneti-Markt, Südossetiens wichtigste Einnahmequelle. Truppen wurden an der Pufferzone stationiert. Als Russland daraufhin zusätzliche Kräfte in die Region transportierte, brachen erneut Kämpfe aus.
Am 13. August 2004 wurde der Waffenstillstand erneuert. Seine Einhaltung wurde ab 2005 von der KSZE mit acht Militärbeobachtern kontrolliert. Seit 2006 jedoch häuften sich die Konflikte. Saakaschwili erklärte wiederholt, dass er auch militärisch die Einheit Georgiens wiederherstellen werde, wenn Südossetien sein Angebot eines Autonomiestatus nicht annehmen werde. Zchinwali lehnte dieses Angebot mit Hinweis auf seine faktische Selbstständigkeit ab.
Auch die Friedenstruppe wurde Gegenstand der Auseinandersetzung: Saakaschwili warf Russland vor, in der Friedenstruppe durch Unterstützung der Südosseten zweifach, zusammen mit dem nordossetischen Kontingent sogar dreifach vertreten zu sein. Er wertete das als Besetzung Georgiens durch russische Truppen. Zudem forderte er den Rückzug Russlands aus den von Schewardnaze 2004 zugestandenen Stützpunkten. Im Juli 2006 verlangte das georgische Parlament, die Friedenstruppen, vor ihren russischen Teil durch eine internationale Polizeitruppe zu ersetzen. Seit 2007 baute Georgien, gefördert von den USA und der NATO, ca. 20 km. von Zchinwali entfernt bei der Stadt Gori eine Militärbasis auf. Die Ausgaben für den Militärapparat hatten sich zu diesem Zeitpunkt von 0,5% des georgischen Bruttosozialproduktes im Jahr 2003 um das Sechsfache auf 3% im Jahr 2007 erhöht.
Politische Provokationen gegen Russland begleiteten diesen Kurs: so die offene Unterstützung der „orangenen Revolution“ in der Ukraine,  so die wiederholten Ankündigungen Saakaschwilis, dass Georgien die GUS verlassen, dafür in die NATO eintreten wolle, nicht zuletzt die offene Finanzierung dieses Kurses durch die USA: Nach Angaben des Statedepartments erhielt Georgien seit 2002 820 Millionen US-Dollar an Hilfe. Damit war Georgien der drittgrößte Empfänger von US-Hilfe per pro Kopf nach Irak und Armenien und noch vor Afghanistan. („Russland Analysen“, S. 4)
Am    23. Mai 2005 konstituierte sich schließlich, ebenfalls gefördert von den USA, die GUAM (bei ihrer Gründung so genannt nach den Mitgliedstaaten Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbeidschan und Moldawien) unter Hinzutreten von Litauen und Rumänien neu als prowestlich orientiertes Konkurrenzbündnis zur GUS, nachdem Usbekistan und Aserbeidschan vorher ausgetreten waren.
Eine Zuspitzung der Konflikte trat ein, als am 27. September 2007 vier russische Offiziere in Georgien wegen Spionage verhaftet und öffentlich vorgeführt wurden Russland antwortete mit nahezu totaler Wirtschaftsblockade Georgiens. Trotz westlicher Hilfe kam Saakaschwili auf diese Weise in einen immer stärkeren Zugzwang: Sein Wahlversprechen auf Herstellung territorialer Einheit konnte er nicht einlösen; die Wirtschaft zeigte zwar Zuwachs, der aber an der Mehrheit der Bevölkerung auf Grund von Korruption und Clanwirtschaft vorbeiging. Anfang November kam es zu Massenprotesten, die Opposition forderte den Rücktritt Saakaschwilis. Er ließ die Demonstrationen zusammenknüppeln und einen oppositionellen Fernsehsender schließen. In den vorgezogenen Wahlen am 5. Januar 2008  stürzte er auf 53% der Stimmen ab.

Wer dies alles vor Augen hat, wird verstehen, warum Saakschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. 8. 2008 sein Heil schließlich in einer militärischen Flucht nach vorne suchte, die selbst sonst russlandkritische Beobachter wie die in Bremen herausgegebenen „Russland Analysen“ zu der Frage führte: „Wer hat welchen Anteil an der Eskalation? Die Frage ist nicht einfach. Der Krieg ging aus einer sich im März 2008 verdichtenden Ereigniskette gegenseitiger Provokationen zwischen georgischen, ossetischen und russischen Akteuren hervor. Wie es dann zu der unseligen georgischen Offensive gegen Zchinwali vom 7.-8. August kam, bleibt gleichwohl eine offene Frage, die der georgische Präsident vor allem seinem eigenen Land zu beantworten hat.“
Bleibt festzustellen, dass Russland in seiner Rolle als Friedensmacht selbstverständlich nicht ohne Widerspruch dasteht. Russlands primäres Interesse nach dem Zerfall der Union 1990 bestand zunächst darin, die eigene Staatlichkeit vor weiterem Zerfall zu bewahren. Folge war der Krieg in Tschetschenien und der Versuch, die Konflikte im Süden nicht eskalieren zu lassen. Solange Russland s durch den Krieg in Tschetschenien geschwächt war, war das „Einfrieren“ der Konflikte aus russischer Sicht strategisch nützlich. Es half Russland Gewaltausbrüche zu verhindern und zugleich differenzierten innenpolitischen Einfluss auf die beteiligten Konfliktparteien im Kaukasus ausüben. Eine „Gemeinschaft der nicht anerkannten Staaten“ bildete sich; auch das stärkte Russlands Einfluss. Konfliktträchtig war die Tatsache, daß die russischen Friedenstruppen zugleich Konfliktpartei waren. Sie partizipierten zudem mit illegalen Waffenverkäufen an der Halblegalität. Als Folge offener Grenzen zu Russland und georgischer Sanktionen wurden die Gebiete in den russischen Wirtschaftsraum eingesogen. Hinzu kam die Ausgabe russischer Pässe an Bewohner Abchasiens und auch Südossetiens seit 2002, außerdem die Auszahlung Renten durch den russischen Staat, die über dem georgischen Niveau liegen.
Es entstand, so Stephan Bernhardt im Eurasischen Magazin in einer Analyse weit vor der offenen Eskalation, eine „schleichende Annexion“ der Schutzgebiete durch Russland. Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA, Großbritannien und einige EU-Staaten im März 2008 gab Wladimir Putin den russischen Behörden die Anweisung  quasi-staatliche Beziehungen Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Im Mai verstärkte Russland seine Truppen in Abchasien; im Juni 500 schickte es Fallschirmjäger nach Ossetien. Außerdem wurden im Sommer 2008 noch einmal 400 Mann zur Reparatur einer Bahnstrecke in Abchasien geordert. Am 15. 7. 2008 führte Russland ein Manöver „Kaukasus 2008“ an der grenze zu Georgien durch. Kurz, es ist offensichtlich, daß Russland mit einem möglichen Vorstoß Saakaschwilis rechnete. Noch in den letzten Wochen gab es allerdings Versuche von russischer Seite, die Konflikte auf dem Verhandlungswege zu entschärfen. Selbst der Abschuss einer Drohne über Abchasischem Gebiet war von Russland öffentlich gemacht worden, um Saakaschwilis Mobilisierung zu stoppen. Saakaschwilis Erklärung, er habe einem russische Angriff zuvorkommen müssen wird  selbst von seinen eigenen Militärs der Unwahrheit bezichtigt (siehe NATO-Bericht in der FAZ vom 6.9.2008). Nachträgliche Untersuchungen belgischer Abgeordneter kamen darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Stadt Zchinvali nicht durch „Kämpfe“ zerstört worden sei, sondern dass sie bereits durch georgischen Beschuß dem Erdboden gleichgemacht war, bevor das russische Militär die georgischen Angreifer zurückschlug. Ob dabei die „Verhältnismäßigkeit“ überschritten und ob mit der anschließenden Anerkennung Abchasiens und Ossetiens das Völkerrecht verletzt wurde, ist unter westlichen Völkerrechtlern umstritten.

Vom Völkerrecht, argumentieren selbst russlandkritische Autoren –  wenn man denn in Bezug auf Krieg überhaupt völkerrechtlich argumentieren will – sei auch ein de-facto-Staat, als die Abchasien und Ossetien seit dem Zerfall der Sowjetunion nun einmal gelten müssten –  zweifellos geschützt, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits gegen Aggressionen von außen, andererseits könne er sich von außen Hilfe zum Selbstschutz herbeirufen.
Völkerrechtlich sei Russland auch zum Angriff berechtigt gewesen, weil die Friedenstruppen unter Bruch der geltenden Verträge von Georgien angegriffen und russische Soldaten dabei getötet worden seien. Auch Russlands Angriff auf Nachschubstellungen des georgischen Militärs sei gedeckt, soweit von ihnen Angriffe ausgegangen und weiter zu erwarten gewesen seien. Wie weit dabei die Verhältnismäßigkeit überschritten worden sei, sei eine Ermessensfrage, deren Beantwortung notwendig nach Einschätzung der Lage schwanke.

Bei diesen Feststellungen könnte man es bewenden. Es gibt da aber einige Elemente in der Eskalationsgeschichte dieses Konfliktes, die noch einer weiteren Ausleuchtung bedürfen:

Da ist zuallererst die Tatsache, Georgien parallel zum russischen Manöver „Kaukasus 2008“ auf georgischem Territorium ein Manöver zusammen mit der NATO durchführte. Man könnte also meinen, dass auch die NATO vorbereitet war. Bemerkenswert ist weiterhin, dass zwei der über Abchasien und Ossetien abgeschossenen Drohnen Fabrikate israelischer Bauart (Elbit Hermes 450) waren, offenbar also nicht nur die USA, sondern auch Israel am Aufbau der georgischen „Sicherheitskräfte“ beteiligt war. Festzuhalten ist auch, dass die USA nicht nur bereit, sondern auch in der Lage waren, die 2000 Mann zählende georgische Hilfstruppe aus dem IRAK umgehend zur Unterstützung des georgischen Militärs nach Georgien einzufliegen.
Zu erinnern ist weiterhin an die NATO-Tagung in Bukarest, auf der Georgien und der Ukraine angesichts erkennbarer gespannter Entwicklung der Lage im Kaukasus eine Beitrittsperspektive zur NATO zugebilligt wurde. Nur gestreift werden sollen hier schließlich die Kampfansagen aus den Tiefen des US-Wahlkampfes, in denen Russland wieder einmal unter die Schurkenstaaten eingereiht wurde.
Hinter der örtlichen Zuspitzung der Widersprüche taucht die große „stategische Ellipse“ auf, die NATO, EU und US-Planer immer wieder beschwören, wenn es um die globale „Energiesicherheit“ geht. Die „strategische Ellipse“ umfasst vom Süden her die arabischen Staaten und den Iran, von dort erstreckt sie sich über das schwarze Meer, den Kaukasus und das kaspische Meer bis in den mittleren Norden Russlands. Sie enthält 80% aller heute bekannten fossilen Ressourcen. Ihr südlicher Teil – Arabien und der Iran – ist vergeben, ihr nördlicher Teil ist Gegenstand der heutigen strategischen Auseinandersetzungen. Seit 1990 wirken USA und EU gemeinsam an der Herstellung eines sog. Transportkorridores, der von West nach Ost am Bauch Russlands entlangführt. Durch ihn soll Öl und Gas unter Umgehung russischer Beteiligung fließen. Die Pipelines, die dafür gebraucht werden, müssen und können nur  – sollen sie russisches Gebiet oder mit Russland befreundete Länder wie den Iran und Armenien umgehen – durch Georgien führen. Das ist die von den USA finanzierte Pipeline Baku – Tiblisi – nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste, demnächst auch noch das EU-Projekt der Nabuko-Linie von Baku über Tiblisi, Ankara direkt nach Südeuropa. Das hat Georgien zum unverzichtbaren Transitland auf dem Schachbrett des „großen Spiels“ gemacht, von dem Sbigniew Brzezinksi, seinerzeit Sicherheitsberater Clintons, heut Hintermann Obamas, bereits 1997 sprach: Er nannte den Kaukasus das „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf den die USA sich den Zugriff als Weltmacht sichern müssten, indem sie verhindern das eine der dort beteiligten Kräfte sich auf Kosten anderer wieder zur Vormacht entwickeln könnte. Für die USA sind Geogier, Abchasen und Osseten Bauern in diesem Spiel; für Russland sind sie Nachbarn; mit denen es leben muss. Nach den neuesten Ereignissen stellt sich die Frage, wer auf dem kaukasischen Brett jetzt den nächsten Zug tut.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Quellen und weiterführende Literatur:

1. Russland Analysen 169
2. Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008
3. laufende Berichterstattung von russland.ru
4. Stephan Bernhardt, Eurasisches Magazin 3/08 und 4/08
5. Mündliche Berichte

6. Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer bt 14358, 1997/99

veröffentlicht in: Gazette

Quo vadis Europa? Irrwege und Auswege.

Quo vadis Europa? Irrwege und Auswege.

Reader zur Konferenz „Eu global – fatal 2“,
Stuttgart 30.und 31.März 2007;

Herausgegeben von Attac EU-AG Stuttgart und Region
ISBN 978-3-00-022080-7, 10 € regulär, 15€ Soli
Darin ein Referat von mir, S. 40 ff
„Die europäische Union zwischen Russland und den USA.“

Russland – Europa: Osterweiterung der unerwarteten Art

Bemerkenswerte Dinge spielen sich zwischen Russland und der EU ab, ohne dass die Öffentlichkeit beider Länder, ausgelastet mit verständlichen, aber vordergründigen Kritiken an Wladimir Putin und abgelenkt durch das Riesenprojekt der Ost-See-Pipeline es richtig realisiert: Mitte Oktober wurde von der russischen Regierung in aller Stille ein Gesetz zur Schaffung von Sonderwirtschaftszonen in Hafen.- und Flughafenbereichen Russlands beschlossen. Danach sollen für einen Zeitraum von neunundvierzig Jahren sog. „Hafen-Zonen“ auf dem Gelände von Fracht- und Flughäfen des internationalen Verkehrs eingerichtet werden. Auf ihnen sollen dort angesiedelte Firmen von Einfuhrzöllen und Mehrwertsteuer für Baumaterialien, technische Ausrüstungen, sowie Anlagen für die Reparatur und die Ausrüstung von Schiffen befreit werden. Von Steuern befreit werden sollen ebenfalls Be- und Entladearbeiten, sowie die Lagerung von Waren, auch Mineralölsteuer muss nicht entrichtet werden. Innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Ansiedelung wird den Investoren darüber hinaus eine Befreiung der Grund- und der Eigentumsteuer in Aussicht gestellt.
Das Gesetz war bereits seit Februar 2006 in der Diskussion, konnte aber wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen der „Föderalen Agentur für Sonderwirtschaftszonen“ und dem Finanzministerium, die beide an seinem Zustandekommen beteiligt waren, nicht verabschiedet werden. Jetzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Danach werden die für die Sonderwirtschaftszone in Frage kommenden Unternehmen in zwei Gruppen unterteilt. Das sind zum einen solche, die sich am Aufbau der notwendigen Infrastruktur der „Hafen-Zonen“ beteiligen müssen und zum anderen Dienstsleister, die auf den so hergerichteten Geländen tätig werden wollen. Mindestens 100 Mio Euro müssen beim den Bau neuer Häfen, mindestens 50 Mio beim Bau neuer Flughäfen hingelegt werden, um in den Genus der Vergünstigungen zu kommen. Für die Aufbereitung der Infrastruktur bereits bestehender Häfen müssen 3 Mio Euro als Minimum faktisch eingesetzt werden. Für Unternehmen der Dienstleistung dagegen reicht es Bankgarantien in Höhe von 7.000 – 900.000 Euro nachzuweisen, um sich in den Sonderwirtschaftszonen ansiedeln zu können.
Russische Experten äußern sich befriedigt. Die Kosten für Neuanlagen seien problemlos aus dem laufenden Betrieb der bestehenden Häfen, bzw. Flughäfen aufzubringen. Das schließt selbstverständlich bestehende staatliche Zuwendungen und Vergünstigungen an die Hafen- und Flugbetriebe ein. Die ganze Aktion macht den harmlosen Anschein einer einfachen innerrussischen Modernisierung. Betrachtet man die Entwicklung der letzten sechs Jahre seit dem Amtsantritt Wladimir Putins genauer, dann wird allerdings deutlich, dass der aktuelle Beschluss nur einer der letzten Hammerschläge zu einem seit lange gezimmerten Gebäude einer schrittweisen Erweiterung der EU von ganz neuer Art ist, die über die Ost-Erweiterung in Tempo und Qualität weit hinausgeht und zu weiterer Kapitalflucht aus Europa und Senkung des Lebensniveaus, sprich Arbeitsplatzeinbußen, Lohn- und Sozialabbau führen wird.
Es begann mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftsbedingungen in den Ländern des ehemaligen Comecon, die ihre Steuersätze nach ihrer Lostrennung von der Sowjetunion drastisch, auf 24 (Tschechien), 20 (Ungarn), 19 (Slowakei, Polen) reduzierten. Die baltischen Staaten boten noch bessere Bedingungen für Investoren. In Lettland wurden mehrere Sonderzonen eingerichtet, in denen Steuererleichterungen von über 80 Prozent angeboten werden. Estland hat Unternehmensgewinne vollkommen von Steuern befreit.
Russland zog erst sehr zögernd nach. 1996 wurde ein Ausnahmegesetz zur Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone für die Region Kaliningrad beschlossen. In den letzten Jahren der Jelzin-Ära und noch bis zur Ost-Erweiterung der EU wurden die in dem Gesetz gewährten Privilegien jedoch mit widersprüchlichen Nachbesserungen faktisch immer wieder außer Kraft gesetzt. Erst der Vollzug der Ost-Erweiterung, der die Kaliningrad zu Enklave der EU machte, veranlasste die russische Regierung zu einem Kurswechsel. In dessen Gefolge rückte die Enklave zum Muster für ein gesamtrussisches Entwicklungskonzept auf. Im Juli 2005 lag der Duma ein „Gesetz über die Sonderwirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad und über die Änderungen in einigen Gesetzen der russischen Förderation“ vor, am 23. Dezember 2005 wurde es verabschiedet, wenige Tage später von Wladimir Putin gebilligt.
Noch nicht verabschiedet, hatte das Gesetzesvorhaben, wie es die deutsche „Bundesagentur für Außenwirtschaft“ (bfai) ausdrückte, bereits „einen wahren Boom von Ideen und Initiativen zahlreicher russischer Regionalverwaltungen und interessierter Investoren ausgelöst“. Anfang Oktober lagen der Regierung bereits 43 Anträge von Regionen für die Gründung solcher Zonen vor. Die erste Gründungswelle von Sonderzonen schwappte um Dezember 2005 / 2006 durch das Land. Nach der Versuchsphase vom Jahreswechsel 2005/2006 soll eine zweite Gründungswelle 2006/2007 folgen. Dabei wird die Zentralregierung einen beträchtlichen Anteil der Anfangsinvestitionen für die Errichtung der notwendigen Infrastruktur in den Zogen tragen. Im Haushalt 2005 waren dafür 8 Milliarden Rubel (235 Mio Euro) vorgesehen, 2 Milliarden Rubel sollten aus den beteiligten Regionen oder Kommunen kommen. Effektiv lief es dann auf eine Beteiligung von jeweils 8 Milliarden für die Zentralregierung sowie für die Regionen hinaus.
„Nach Berechnungen der Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel“, heißt es in einem bfai-Bericht von 2005 dazu, „können Unternehmen, die sich in einer Industriesonderzone ansiedeln, ihre Aufgaben für die Überwindung administrativer Hürden um 5 – 7% senken, und Unternehmen, die sich in einem Technologiepark ansiedeln, um 3 bis 5%. Des weiteren dürften die Ausgaben für Infrastruktur um 8 bis 12% und die Ausgaben für Produktionszwecke um 5 bis 7 % fallen.“ Dazu kommen Steuer- und Zollvergünstigungen und sonstige Voraussetzungen für Investoren in der Art, wie sie vor wenigen Wochen auch für die „Hafen-Zonen“ beschlossen wurden.
Beteiligt an dem Run auf die Einrichtung von Zonen der besonderen Bewirtschaftung waren zunächst russische Gemeinden, sehr bald aber auch ausländische Investoren, die sich über die Regionen und Kommunen in die Gründungsanträge für die Zonen mit einschalten. So plant die Stadt St. Petersburg zusammen mit finnischem Kapital der Firma „Technopolis“ eine „Technologie-Sonderwirtschaftszone“. Die Stadt Moskau hat gleich fünf Anträge gestellt. In allen Fällen sollen – zusätzlich zu den steuerlichen, den Zoll betreffenden und anderen Vergünstigungen die Entschließungs- und Infrastrukturkosten für die Einrichtung der Zonen von der „öffentlichen Hand“ getragen werden. Ein Eldorado für ausländisches Kapital!
Ende 2005 waren als Ergebnis der ersten Ausschreibung 2005/2006 sechs Sonderzonen vorgesehen. In Tatarstan werden im Gebiet Lipezk elektrotechnische Haushaltsgeräte und Möbel zusammen mit dem italienischen Unternehmen Idesit hergestellt. Vier „Technoparks“ werden in Zelonograd (Moskau) Dubna (Moskau), St. Petersburg und Tomsk gegründet. In Zelonograd ist die Firma Giesecke&Devrient beteiligt, in St. Petersburg handelt es sich, in der Formulierung des bfai, um ein „Projekt mit Beteiligung finnischer Developer“.
Man darf davon ausgehen, dass im Jahr 2006/2007 weitere Zonen zu den bisher sechs beschlossenen hinzukommen werden. Ganz in vorderster Front steht Nowosibirsk mit einem schon lange geplanten „Technopark“ direkt in seiner „Akadem-Gorod“, dem Universitären Forschungszentrum Sibiriens, aber auch der Oblast Kaluga mit der Stadt Obninsk, einem Zentrum der russischen Atomforschung steht in der Reihe, ebenso die Republik Sacha (Jakutien), in der eine „Industriezone für die Produktion von Brillianten und Juweliererzeugnissen“ Das kürzlich beschlossene Gesetz zur Einrichtung von „Hafen-Zonen“ wird die Einrichtung einer weiteren Reihe von Sonderzonen nach sich ziehen.
Befürworter preisen die Einrichtung von Sonderzonen als beste Form der Entwicklungshilfe, die Investoren ins Land ziehe, die Infrastruktur des Landes entwickle, Arbeitsplätze schaffe usw. usf. Gern wird dafür auf die Entwicklung der osteuropäischen Länder verwiesen, sich die jedes für sich als komplette Sonderwirtschaftszone betrachtet werden können, in einigen Fällen noch durch örtliche Super-Sonderkonditionen gesteigert. Ihr Aufstieg wird mit den „asiatischen Tigern“ verglichen. Tatsache ist, dass die Einnahme-Ausfälle, die diesen Ländern durch die steuerlichen Sondertarife und andere Vergünstigungen an die – zumeist ausländischen – Investoren entstehen, zu schweren Belastungen der Haushalte führen. Konsequenz ist eine harte Sparpolitik, die der Bevölkerung aufgelastet wird: niedrige Löhne, Streichung kommunaler und sozialer Leistungen. Die Löcher im Haushalt, die durch zu niedrige Steuereinnahmen entstehen, bergen zudem die Gefahr von Wirtschaftskrisen. Schon vor der Ost-Erweiterung der EU erreichte das Haushaltsdefizit Estlands fast 15 Prozent. Das ist fünfmal soviel wie 2001 in Argentinien, bevor dort die Finanzkrise ausbrach. In Ungarn kam der Forint unter Druck. Das Außenhandelsdefizit erreichte dort bereits 58 Prozent. In Lettland lag es bei 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Entgegen allen Verlautbarungen aus Brüssel, Berlin und anderen EU-Metropolen hat sich die beschriebene Entwicklung mit Eintritt der ost-europäischen Länder in die EU nicht verbessert, sondern im Tempo verschärft, was im Endeffekt bedeutet, dass sich die soziale Differenzierung in diesen Ländern verschärft. Mit der neuen Entwicklung in Russland tritt eine neue Komponente hinzu, die diesem Prozess noch einmal eine weitere Dynamik hinzufügt, denn durch die hohe Kapitaldecke, die Russland zur Zeit aus dem Export seiner fossilen Ressourcen bezieht, ist die russische Regierung in der Lage, die Einrichtung der Sonderzonen finanziell abzudecken, ohne dafür das Budget aushöhlen zu müssen. Im Gegenteil, die hohe Beteiligung an den Infrastrukturkosten gibt der Staatskasse die Möglichkeit, sich von überflüssigen Geldern durch Investition zu befreien und in ihren Sonderzonen Bedingungen anzubieten, bei denen die osteuropäischen Länder nicht mithalten können, ohne dabei die Knie zu gehen. Das ist eine Ost-Erweiterung der unerwarteten Art, die schwere Konflikte innerhalb der EU nach sich ziehen könnte. Was dabei mit Russland geschieht, ist eine zur Zeit nicht zu beantwortende Frage.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Eins der letzten Bücher des Autors trägt den Titel:
„Russland – Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte,/Entwürfe, 2005, 8,– €

Europa minus Ukraine?

Die Formel „Russland minus Ukraine“, nach welcher der russische Konzern Gasprom seinen Lieferstop gegenüber der Ukraine betreibt, klingt nach Eskalation: Gasprom beschuldigt die Ukraine, trotz Lieferstop illegal Gas zu entnehmen, die Ukraine bestreitet das. Die westlichen Nachbarn der Ukraine dagegen melden verringerte Gasvolumen. Entsprechend hätte man scharfe Reaktionen seitens der EU erwartet, ähnlich wie seinerzeit zum Fall Chodorkowski; die blieben jedoch aus. Selbst die USA warnten nur vage, es bestehe die Gefahr, dass Energierohstoffe zum politischen Druckmittel würden.
Für die Zurückhaltung besteht guter Grund, wenn die Konflikte nicht aus dem Ruder laufen sollen: Auseinandersetzungen um russische Gaslieferungen an die Ukraine sind nicht neu. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte und in der Hoffnung auf eine Wiederannäherung im Rahmen einer „eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ bestehend aus Kasachstan, Russland, Weißrussland und der Ukraine, lieferte Russland der Ukraine dennoch seit nunmehr fast 15 Jahren Gas zu Sonderkonditionen ohne Gegenleistung. Seit der erklärten Abwendung der Ukraine von der Perspektive einer Union mit Russland, seiner demonstrativen Hinwendung zur EU und zur NATO in und nach der sog. „Orangenen Revolution“ vor einem Jahr ist die Basis für eine Vorzugsbehandlung der Ukraine, die Russland jedes Jahr drei Milliarden Euro kostete, jedoch nicht mehr gegeben. Weißrussland, das die Union mit Russland weiter anstrebt, behält seinen subventionierten Preis.
In der Ukraine stehen zudem neue Wahlen ins Haus. In ihnen sind Aktualisierungen der Auseinandersetzungen um die politische Orientierung des Landes zu erwarten, die zum Sieg der „Orangenen Revolution“ geführt haben. Die Ukraine ist weit davon entfernt, sich demokratisch stabilisiert zu haben: Die Popularitätswerte Juschtschenkos sinken gegen 30%, das Anti-KorruptionsBündnis Jutschtschenko/Timoschenko ist an Korruptionsaffären der neuen Regierung geplatzt. Die Anbindung der Ukraine an die EU ist ein Traum geblieben; bis heute ist die Ukraine für die EU nicht mehr als ein Transitland, über das 80% des aus Russland bezogenen Gases nach Europa kommen. Mit der Ostsee-Pipeline versucht man sich seitens der EU aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Dessen ungeachtet stehen die in- und ausländischen Akteure bereit, die seinerzeit zur Radikalisierung der „Orangenen Revolution“ beitrugen, ihre Interventionen für eine „demokratische“ Ukraine zu wiederholen.
Schließlich sind die Umgruppierungen auf dem russisch-eurasischen Öl- und Gasmarkt, die sich aus dem Verlauf der YUKOS-Chodorkowski Affäre ergeben, keineswegs abgeschlossen, sondern treiben neuen Konflikten zu. Der amerikanische Versuch sich über Yukos-Beteiligungen Zugriff auf die Öl- und Gasressourcen Russlands zu verschaffen, wurde von Russland mit der Zerschlagung von Yukos vorerst abgeschmettert. Gewinner dieser Runde ist der Konzern Gasprom, der seither auf dem Gas- und auf dem Ölmarkt expandiert. Noch wenige Tage vor dem Lieferstop schloß Gasprom mit Turkmenistan einen Vertrag, der eine Erhöhung der turkmenischen Gaslieferungen von bisher sieben auf dreißig Milliarden Kubikmeter vorsieht – nur einen Tag bevor die Ukraine ihrerseits einen Vertrag mit Turkmenistan über die Lieferung von 40 Milliarden Kubikmetern bekannt gab. Gasprom praktiziert jetzt, was russischen Managern von IWF, Weltbank, WTO usw. seit Jahren als zivilisierter Weg gepredigt wird: knallharte Marktwirtschaft, Einflussnahme über wirtschaftlichen Druck statt Subventionen, Diversifizierung des Energiehandels. Das wirft noch ein weiteres Licht auf die geplante Ostsee-Pipeline: Mit ihr will auch Gasprom sich unabhängig von den Transitländern Polen und Ukraine machen. Bleibt schließlich noch daran zu erinnern, dass Russland nach Abschluß des Yukos-Prozesses Ende letzten Jahres erklärte, seine Devisenreserven zukünftig nicht mehr allein in Dollar, sondern zu gleichen Teilen in Euro anlegen zu wollen. Dies alles mag die vorsichtigen Töne im aktuellen Konflikt erklären. Hinter den Kulissen jedoch rumort es heftig.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Ukraine nach der Wahl: Halbzeit an den kaukasischen Front

Die erste Schlacht ist geschlagen. Der westorientierte Kandidat Viktor Juschtschenko konnte die Nachwahl mit 52,02 % für sich entscheiden; sein Konkurrent Viktor Janukowitsch blieb mit 44,16 Stimmen zurück. Ein Plus für beide und für die politische Kultur im Lande: die Wahl fand ohne bemerkenswerte Zwischenfälle statt Nach kurzem Zögern erkannte auch Janukowitsch das Ergebnis faktisch an, indem er von seinem bisherigen Amt als Regierungschef zurücktrat und damit den Weg für eine Regierungsneubildung durch Janutschenko freigab. Alle weiteren möglichen Versuche nachzukarten – wie etwa eine Revision der vor der Wahl zwischen den Parteien vereinbarten Verfassungsreformen – sind bereits Vorgriffe auf den zukünftig zu erwartenden innenpolitischen Kleinkrieg um die Frage, welchen weg die Ukraine nunmehr zwischen Russland, der Europäischen Union und ihrem großen Bruder USA einschlagen wird. Dabei ist schon nicht mehr klar, in welcher Fragmentierung der ukrainischen Gesellschaft und in welcher taktischen Konstellation der beteiligten aussenpolitischen Mächte sich dieser Krieg abspielen wird.
Der Sieger Juschtschenko hat in einem Spiegel-Gespräch gleich nach der Wahl erklärt; Russland bleibe strategischer Partner der Ukraine, einzige Bedingung sei, „dass Putin unseren Weg der Ukraine in die EU nicht blockiert“. Das heißt: Der Spagat zwischen Russland und der Europäischen Union wird zum Programm.. Eine „Regierung des nationalen Vertrauens“ soll den Spagat möglich machen und zwar auf der Grundlage, so Juschtschenko, „die wir mit unseren Partnern vereinbart haben“. Welche Vereinbarungen das sind, lässt er offen.
Sehr Vertrauen erweckend klingt das nicht, wenn die beabsichtigte Revision der vereinbarten Verfassungsreform schon jetzt die „moralische Zustimmung“ des neue gewählten Präsidenten findet. Einiges wird dennoch schon jetzt sichtbar: So erklärt Juschtschenko, dass er „keine Rückkehr zur Zeit der Privatisierung“ wolle, um gleich darauf zu präzisieren, von Renationalisierung halte er nichts. Er wolle Stabilität und klare Rechtsverhältnisse; die Unternehmer müssten vor ungerechtfertigten Verfolgungen geschützt werden, Verfolgungen des früheren Präsidenten und seiner Familie werde es nicht geben; andererseits müsse ab dem 26. Dezember 2004 jeder in der Ukraine Steuern bezahlen; die Schattenwirtschaft müsse beendet werden. Dies alles liest sich – verwunderlich aber wahr – wie die verspätete regionale Variante der Verlautbarungen, mit denen Wladimir Putin Anfang 2001 seinen Vorgänger Boris Jelzin ablöste: Keine Verfolgung der Jelzinschen Familie, Stabilität, Rechtssicherheit, Steuergerechtigkeit, kurz, Absicherung der durch die Schock-Privatisierung erreichten Eigentumsverhältnisse ungeachtet der Wege, auf denen sie zustande kamen. Der besondere Ukrainische Weg Juschtschenkos reduziert sich darauf, die Absicherung des Erreichten, die Stabilität und die Reintegration nicht wie Putin zwischen Asien und Europa, sondern zwischen Russland und der Europäischen Union erreichen zu wollen. Eine Entscheidung für die eine oder andere Option ist das nicht! Das strategische Tauziehen wird also weitergehen. Nach wie vor offen ist die Position der Ukraine zwischen den Wirtschaftsräumen der von der russischen Politik gewünschten „slawischen Union“ aus Russland, Weissrussland und der Ukraine, bzw. deren aktueller Form der Wirtschaftsgemeinschaft von Russland, Kasachstan, der Ukraine und Weissrussland und auf der der anderen Seite der Europäischen Union. Das betrifft insbesondere die schwer-industriellen Industrie- und Rüstungskomplexe im Osten der Ukraine, die engstens mit Russland verflochten sind. Konfliktträchtig ist zudem die Rolle der Ukraine als Durchgangsraum für den Energietransfer aus dem kaspischen Raum nach Europa – bzw. in die USA, die bisher mit Russland verbunden sind. In der strategischen Auseinandersetzung um die Kontrolle des kaspischen und von dort ausgehend des gesamten euroasiatischen Raumes nimmt die Ukraine eine zentrale Stellung im Ringen der Großmächte ein. „Ohne die Ukraine“, an diesen Ausspruch des US-Strategen Brzezinski, daran sei hier nur noch einmal erinnert, „ist Russland kein Imperium mehr.“
Vor diesem Hintergrund kommt der Einrichtung eines „Dialogforums“ zwischen Russland und Deutschland zur Lösung des tschetschenischen Konfliktes und zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Kaukasus, wie sie zwischen Wladimir Putin und Gerhard Schröder bei ihrem letzten Treffen in Hamburg zum Ende des alten Jahres vereinbart wurde, die Funktion zu, die nächste Etappe des strategischen Ringens zu eröffnen. Man darf gespannt sein, wie die USA auf den Versuch Russlands, seine Isolierung durch eine besondere Annäherung an Deutschland und über Deutschland an die EU zu durchbrechen, reagieren werden. Eine Antwort wird nicht lange auf sich warten lasen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Ukraine: Sieg der Demokratie?

Es scheint vollbracht. Die Genugtuung ist nicht zu überhören. Der ukrainische Präsident Kutschma erkennt das Urteil des obersten Gerichtes an, die Stichwahl zu wiederholen. Die streitenden Parteien haben sich darauf geeinigt, im Parlament über ein Paket von Forderungen beider Seiten abzustimmen. Juschtschenkos erwartet die Entlassung der Regierung Janukowitschs sowie eine Neubesetzung des Landeswahlausschusses und eine Änderung des Wahlrechtes noch vor dem genannten Termin für die Neuwahl. Präsident Kutschma will, dass die Opposition einer Verfassungsänderung zustimmt, die vorsieht, die Rechte des Präsidenten u.a. bei der Wahl von Gouverneuren zugunsten des Parlamentes und des Ministerpräsidenten zu beschneiden. Die OSZE will an die 2000 Wahlbeobachter ins Land zu schicken, um eine Spaltung des Landes zu verhindern, der russische Präsident Putin rügt den Westen für „koloniale Methoden der Einmischung“, erklärt sich aber bereit, den Ausgang der Wahl anzuerkennen. Alles gut also? Wieder ein Dominosteinchen für ein demokratisches Haus Europa aufgestellt? Mitnichten, fürchte ich; schauen wir genau hin:
Erstens: Was hat das oberste Gericht beschlossen? Das Gericht kritisiert die Wahlkommission dafür, dass sie die Ergebnisse schon bekannt gegeben habe, als noch Klagen anhängig waren, weiter, dass „ein und derselbe Bürger mehr als einmal in die Listen aufgenommen wurde“, dass der Umgang mit den Wahlberechtigungsscheinen die „Anforderungen verletzte“, dass der „Wahlkampf in den Medien ohne Kontrolle über gleichmäßigen Zugang“ durchgeführt wurde und schließlich, dass das „Verbot der Einmischung von Angehörigen der Exekutive und von Beamten örtlicher Behörden in den Wahlkampf“ nicht erfüllt worden sei. Unter diesen Umständen kam das Gericht nicht etwa zu dem Schluss, Juschtschenko sei betrogen worden und müsse als Wahlsieger anerkannt werden, sondern es erklärte, „dass es unmöglich (sei), den wirklichen Wählerwillen festzustellen“ und daher die Wahl zu wiederholen sei.
Zweitens: Welche Änderungen des Wahlgesetzes verlangt die Opposition? Sie verlangt, dass in Zukunft nicht mehr stellvertretende Stimmen abgegeben werden dürften und dass es keine mobilen Wahllokale mehr geben solle. Wenn man weiß, wie Wahlen traditioneller Weise im vor-sowjetischen und sowjetischen Raum wie auch danach noch stattfanden, nämlich im patriarchalen Konsens, sprich gemeinschaftlich organisiert, dann bedeutet dies – vom materiellen Gehalt her gesehen – nicht mehr und nicht weniger, als dass die Beeinflussung der Wählerinnen und Wähler in Zukunft nicht mehr unmittelbar in ihren jeweiligen Kollektiven oder auch noch direkt vor der Wahl geschieht, sondern auf einen Wahlkampf vorverlagert wird. Dies kann man als einen Fortschritt an formaler Demokratie betrachten; ob er automatisch zu mehr Demokratie im Sinne einer freiheitlichen Selbstbestimmung führt, das kann man nicht nur, das muss man bezweifeln, wenn man sich die Wahlvorgänge in entwickelten Demokratien, zuletzt zum Beispiel in den USA anschaut.
Drittens: Was beinhaltet die Zustimmung der Opposition zur Verfassungsänderung? Der materielle Gehalt der Änderung läge darin, Präsidialbürokratie, Provinzbarone und die mit ihnen verflochtenen Oligarchen der ukrainischen Olikratur kontrollierbar zu machen. Käme es so, wäre das sicher ein Gewinn für gesellschaftliche Transparenz in der Ukraine. Aber erstens soll – gleich wer gewählt wird – die Verfassungsänderung erst ab September 2005 in Kraft treten; bis dahin ist viel Wasser den Dnepr hinuntergeflossen. Ein Blick auf die Akteure im Hintergrund lässt zudem erkennen, dass auch eine von der Opposition gestellte Präsidentschaft und Regierung Spielball der Olikratur bliebe. Bezeichnend ist beispielsweise die Rolle, die Pintschuk, Schwiegersohn von Kutschma, jetzt spielte. Er ist einer der einflussreichsten Oligarchen auch im Osten des Landes. Das hat nicht daran gehindert, die „orangene Revolution“ kräftig zu sponsorn und bekannte US-Größen wie Kissinger, Soros, Brzezinksi vor der Wahl ins Land einzuladen. Er hat, wie der Spiegel in Anlehnumg an eine volkstümliche Beurteilung des Oligarchen es ausdrückt „Eier in jedes Körbchen gelegt“.
Bleibt schließlich noch anzumerken, dass selbst zweitausend Wahlbeobachter der OSZE nichts an der Tatsache ändern können, dass auch das sauberste formaldemokratische Wahlritual nicht die tatsächlichen Hindernisse für eine Selbstbestimmung der ukrainischen Bevölkerung beseitigt, nämlich die Lage ihres Landes zwischen einem um seinen Bestand kämpfenden Russland und einer sich ausweitenden Europäischen Union. Dieses Problem wird nicht durch die Wahl des einen oder des anderen Kandidaten entschieden, sondern einzig allein durch deren Kooperation, auf welchen politischen Ebenen diese sich auch immer entwickeln mag. Diese Kooperation wird ohne aktive Beteiligung Russlands und der EU und darüber hinaus der internationalen Staatengemeinschaft jedoch nicht zustande kommen. So verstanden, kann die Ukraine zum Testfall einer globalen Demokratisierung werden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Ukraine –schon wieder Putin?

Die Wahl in der Ukraine brachte nicht den Mann ins Präsidentenamt, den der Westen und die west-orientierte Opposition erwartet hatte: Statt des
Liberalen Juschtschenko rief die zentrale Wahlkommission den konservativen Janukowitsch zum Wahlsieger aus, den Wladimir Putin zuvor mit zwei persönlichen Besuchen in Kiew als seinen Wunschkandidaten unterstützt hatte und dem er noch vor der amtlichen Bestätigung zu seinem Wahlsieg gratulierte. Statistische Hochrechnungen hatten vor der Wahl eine klare Mehrheit für Juschtschenko erwarten lassen, um so weniger konnten die Parteigänger Juschtschjenkos dessen unerwartete Niederlage akzeptieren. Sie klagen Wahlfälschung an und erklären, die Straße erst verlassen zu wollen, wenn ihr Kandidat als Präsident vereidigt worden ist.

In diesen Vorwürfen werden sie durch die Bush-Regierung, die euro-päischen Union wie durch Wahlbeobachter der OSZE bestärkt, die Russland, insbesondere Wladimir Putin, massive Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates vorwerfen, mit der er eine demokratische Entwicklung in der Ukraine und einen davon ausgehenden demokratisierenden Dominoeffekt in Weißrussland und in kaukasischen Staaten verhindern wolle. Wieder einmal steht der „Neo-Imperialist“ Putin am Pranger – und mit ihm pikanterweise zugleich auch sein Freund Gerhard Schröder, der ihn wenige Tagen zuvor in einer Talkshow zum „lupenreinen Demokraten“ erklärt hatte.

Man muss kein Mitglied der putin-nahen Partei „Einheitliches Russland“ und
kein rechter SPD-ler sein, um in diesen Bewertungen dasselbe Muster zu
erkennen, mit dem eine Gruppe von „internationalen Persönlichkeiten“ nach
den Ereignissen von Beslan auf Initiative US-amerikanischer Konservativer in einem “Offenen Brief“ an die NATO und EU eine Korrektur der bisherigen
kooperativen Russlandpolitik forderte und es muss darauf im Wesentlichen
dieselbe Antwort gegeben werden: Ja, es wurde manipuliert, allerdings von
beiden Seiten, so wie üblicherweise in den nachsowjetischen Staaten
manipuliert wird, wo bisher keine formaldemokratischen Wahlabläufe eingeübt sind, sondern nach patriarchalen Vorgaben gewählt wird. Aber müssen sich gerade die USA zur Kritikern aufwerfen, nachdem die Welt soeben ihre chaotischen Wahlverfahren mit ansehen musste? Und weiter: Ja, Putin hat sich eingemischt, Russland hat Interesse an einer autoritären Stabilisierung der Ukraine und mit dem Eingreifen wird die Entwicklung gestoppt, zumindest behindert, die gemeinhin als Demokratisierung bezeichnet wird.

Aber was ist das für eine Demokratisierung, die die Ukraine seit dem Ende
der Sowjetunion Schritt für Schritt an die NATO, an Europa bindet, sie aber
zugleich von einer Mitgliedschaft einer europäischen Wirtschafts-gemeinschaft ausschließt? Faktisch wurde die Ukraine zum Armenhaus, zum Frontstaat, zum Aufmarschgebiet zwischen Russland und der „einzig verbliebenen Weltmacht“ USA, die seit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan systematisch daran arbeiten, Russland auf einen Kernbestand zu reduzieren, um die öl-haltigen „Filetstücke“, die Gas- und sonstigen Ressourcen Euroasiens neu verteilen zu können. Wer es nicht glaubt, lese Zbigniew Brzezinksis „Einzige Weltmacht“ und vergleichbare Äußerungen von konservativen US-Strategen, die gerade die Abspaltung der Ukraine aus dem ehemaligen russischen Verband als besonders dringlich bezeichnen.

Die EU-Strategen, weniger offen, aber nicht weniger begehrlich, sprechen verschämt von der „strategischen Ellipse“, die Objekt einer gezielten europäischen Sicherheitspolitik sein müsse. Diese „Ellipse“ ziehen sie von Saudi-Arabien, dem Iran, Afghanistan über die kaspische Region, den Kaukasus bis nach Nord-Russland. Die Ukraine ist Teil davon. Wer
auch dieses nicht glaubt, nehme sich die neuesten Veröffentlichungen der
regierungsnahen Zeitschrift „Osteuropa“ zur Hand, die soeben unter dem Titel „Europa unter Spannung –Energiepolitik zwischen Ost- und West“ erschienen sind.

Ins Niemandsland zwischen NATO, EU und Russland gedrückt, ist die Ukraine zum politischen Spielball zwischen den Blöcken geworden. Der Ausgang der jetzigen Wahlen, wie sehr im Detail auch manipuliert worden sein mag, ist daher nicht in erster Linie Ergebnis von äußeren Eingriffen, weder russischer, noch westlicher, auch nicht von Manipulationen, sondern mit seinem faktisch unentschiedenen Ergebnis authentischer Ausdruck dieser Situation: Die Ukraine ist ein geteiltes, ein gespaltenes Land, das zur Zeit nicht weiß, ob seine Zukunft in einer Wirtschaftsunion mit Russland liegt, die 2004 mit Aussicht auf eine Zollunion unter Einschluss von Kasachstan, Weißrussland und Moldawien gebildet wurde, oder ob sie einen Mitgliedschaft in der EU anstreben soll, die jedoch in unerreichbarer Ferne liegt.

Wladimir Putins Eintritt für seinen Wunschkandidaten Janukowitsch ist unter diesen Umständen nicht mehr und nicht weniger zu kritisieren als die politischen Aufmunterungen aus Washington, die finanziellen Zuwendungen für die liberale Opposition oder die Ausbildungsprogramme der NATO. Beides ist Ausdruck schlichter Machtpolitik, die auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Europa – Modell oder Festung?

Europa ist ins Gerede gekommen. Vom alten Europa wird gesprochen, vom neuen, von europäischer Schwäche, von notwendiger europäischer Stärke. Der Euro ist dabei, den Dollar zu überholen, aber die europäischen Kernwirtschaften sind in der Krise. Was ist los mit Europa? Ist Europa das Modell für die Gesellschaft von morgen oder ist es ein Überbleibsel von gestern, das sich gegen den Fortschritt der Globalisierung abschottet?

Europäische Intellektuelle streiten: Der französische Philosoph André Glucksmann nannte Europa einen Vogel Strauß, der seinen Kopf vor der Realität in den Sand stecke. Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger kleidete seine Kritik an einem, wie er meint, handlungsunfähigen Europa in das Bekenntnis, der Fall Saddam Husseins habe ein Gefühl des Triumphes bei ihm ausgelöst. Professor Jürgen Habermas erklärte, zugleich mit dem Sieg über den IRAK hätten die USA ihre moralische Autorität eingebüsst.

In der Welt der ehemaligen europäischen Kolonien sind die Sympathien klar verteilt: Europa ist der Traum, die USA sind die Wirklichkeit. „Europa“, sagte kürzlich der Vorsitzende einer städtischen afghanischen Gemeinschaft zu mir – einer von denen, die nach dem Rückzug der Sowjets aus Afghanistan ins Exil gingen und heute von Europa aus um den demokratischen Aufbau Afghanistans bangen: „Europa, das war für uns in Afghanistan, seit ich denken kann, immer der zivile Weg der Entwicklung: Das war Wohlstand, Frieden und Toleranz, Pluralität. Die USA stehen bei uns für das Gegenteil: Sie stehen für Gewalt, für Zerstörung von Tradition und gewachsener Identität. Das Problem mit Europa ist, dass es dabei zuschaut.“ Solche Töne hört man nicht nur aus afghanischem Munde: „Ihr wachst zusammen, wir dagegen zerfallen,“ so schallte es dem europäischen Reisenden zu Hochzeiten der Perestroika auch aus dem Kernland der Transformation, aus Russland entgegen. Und auch in Russland wird klar zwischen Europa und den USA unterschieden.
Ethnische Entmischung, kulturelle Differenzen, wirtschaftliche Ungleichheiten sind in der globalen Umbruchsituation, welche auf die Öffnung der bi-polaren Welt zur Globalisierung folgte, heute weltweit das Problem Nummer eins. Europa verkörpert die Vision einer Ordnung, die über das gegenwärtige Chaos hinausweist – und zwar nicht trotz, sondern wegen seiner Schwäche. Während der Invasion in den IRAK wurde Europa gerade wegen seiner mangelnden Kriegsbereitschaft für viele zur Hoffnung auf einen zivilen Weg aus der Krise.
Ist Europa heute also der Träger des allgemeinen demokratischen Impulses, während die USA das koloniale Erbe des alten Europa in einem neuen Empire globalisieren? Ist Europa der Phönix, der aus der Asche der europäischen Kolonialordnung als Guru einer neuen pluralistischen und kooperativen, kurz: demokratischen Völkergemeinschaft wiedergeboren wird?

Zunächst muss man wohl wissen, was Europa nicht ist: Europa ist keine feststehende Größe, Europa ist ein Prozess: Europa – das war ein mühsamer, immer wieder von Kriegen und Katastrophen zurückgeworfener Aufstieg vom Spätentwickler der Menschheitsgeschichte zur imperialen Vormacht der Welt, Europa – das ist der Fall von dieser Höhe in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – die Weltkriege, der Faschismus, der Stalinismus – und danach der mühsame Wiederaufstieg zum zivilen Partner der Völkergemeinschaft in einer nachkolonialen Welt.

Europa ist die Kraft der Geschichte, welche die Welt am nachhaltigsten umgestaltet hat, obwohl seine natürlichen Wiegengaben dafür anfangs eher ungeeignet waren: Die zerrissene Insellandschaft zwischen Mittelmeer, Atlantik und den Nordmeeren war noch eine Eis- und Sturmwüste, als andere Teile der Erde bereits erste Kulturen hervorbrachten. Europas Geschichte beginnt erst, als das Eis zurückweicht und Menschen aus wärmeren Gegenden der Erde in die sich erwärmenden Gebiete einwandern. Durch den Golfstrom wurde der europäische Raum dann allerdings zum klimatischen Paradies. Mit anderen Worten: Europa ist nicht erst heute zum Einwanderungsland geworden, die Einwanderung ist der Ursprung seiner Geschichte.

Die Impulse für Europas Entwicklung liegen sämtlich außerhalb des heutigen europäischen Kerngebietes: Aus dem Süden floss der mesopotamische und ägyptische Kulturstrom; aus Zentralasien kamen die Ionier, die Dorer, die Thraker und andere halbnomadische Stämme geritten. In Kleinasien, Sparta, Athen, Griechenland brachten sie ihre Kultur zur Blüte, als im heutigen Europa noch die Bären brüllten Unter Alexander I. drangen sie bis in den persischen Raum vor; die Barbaren des Nordens interessierten sie nicht. Die Römer machten das Mittelmeer zum Binnenraum ihres Imperiums, das sich ebenfalls bis nach Asien erstreckte; die Völker des Nordens grenzten auch sie als Wilde aus der römischen Welt aus. Erst die Teilung in ein ost- und ein weströmisches Reich gegen Ende des vierten Jahrhunderts westlicher Zeitrechnung schuf die Voraussetzungen für den Beginn einer zivilisatorischen Entwicklung des heutigen europäischen Raums.

Richtig los ging es sogar erst mit der noch viel später erfolgten Teilung der christlich-römischen Welt in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinisch-fränkische Entwicklungslinie. Zu dem Zeitpunkt zählte man aber bereits das 8., 9. und 1o. Jahrhundert nach Christi Geburt: Hochkulturen in anderen Teilen der Erde – die mesopotamischen, die asiatischen, die amerikanisch-indianischen – hatten schon mehrere Zyklen hinter sich; die arabisch-islamische Kultur schaute von großer Kultur-Höhe auf die unbehauenen Barbaren im europäischen Norden herunter. Erst in den Kreuzzügen, mit denen es die muslimische Expansion zurückdrängte, entwickelte Europa den Ansatz einer eigenen Identität. Die Kreuzzüge waren die eigentlichen Geburtswehen Europas.

Aber dem Sturm der Mongolen entkam dasselbe Europa ein paar Generationen später dann nur durch einen historischen Zufall: Der mongolische Großkhan starb just zu der Zeit, als die vereinigten Ritterheere des westlichen Europa in der Schlacht bei Liegnitz 1251 von den mongolischen Angreifern vernichtend geschlagen waren. Die europäischen Fürstentümer bis hinein nach Gibraltar lagen offen vor dem mongolischen Heer. Nur durch die Tatsache, daß die feindlichen Heerführer ins ferne Karakorum zurückehren mussten, um bei der Wahl des neuen Khan anwesend zu sein, verdanken die Europäer, daß sie von mongolischer Fremdherrschaft verschont blieben.

Im Treibhaus dieser Enklave am westlichen Rande des mongolischen Großreiches entstand Europa, in einer fränkischen und in einer Moskauer Variante, einer westlichen und einer östlichen also. Verbindendes Element war das Christentum, wenn auch in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinische Linie gespalten. Dazu kam die gemeinsame Feindschaft gegen Asiaten und den Islam. Versuche, das in dieser Weise halb vereinte halb geteilte Europa zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden und als Weltreich zu etablieren, blieben jedoch immer wieder erfolglos, wenn nicht gar in Katastrophen endeten: Die Bemühungen Karl V., ein einheitliches christliches Reich zu schaffen, in dem die Sonne nie untergehen sollte, scheiterten an der Reformation. Der darauf folgende 30jährige Krieg, verwüstete Europa nicht nur, sondern zerstückelte es. Die napoleonischen Träume führten in die mörderischen Kriege der europäischen Nationalstaaten.

Mit Hitler kamen die Versuche, Europa gewaltsam zu einen, endgültig zum Abschluss: Der nationalsozialistische Traum von Groß-Europa, das die Welt beherrschen sollte, hinterließ nicht nur Deutschland, sondern weite Teile Europas in Ruinen, entledigte es seiner Kolonien und vertiefte seine historischen Ost-West-Bruchlinien zur Spaltung in zwei getrennte Welten. Das brachte den Kontinent an den Rand seiner Existenz, während der Kampf um die Weltherrschaft an die beiden rivalisierenden neuen Weltmächte USA und UdSSR überging.

Ungeachtet ihrer Zerrissenheit, vielleicht sogar gerade deswegen entwickelte sich aus der Enklave Europas jedoch eine Expansionsdynamik, die ihresgleichen in der Geschichte der Menschheit bis dahin nicht hatte: Die Chinesen, obwohl hochentwickelt, begnügten sich mit der Sicherung des chinesischen Beckens; zu ihren Hochzeiten hatten sie eine Flotte, sogar Ansätze einer Industrie, aber sie schufen damit kein überseeisches Imperium. Die Pharaonen begrenzten ihre Herrschaft auf ihre Verewigung in den Pyramiden. Die Griechen kamen über die Polis und deren philosophische Begründung letztlich nicht hinaus; Alexander I. war bereits ein Usurpator ihrer Geschichte. Die Römer beließen es bei der Ausgrenzung der von ihnen unterworfenen Kulturen aus dem mediterranen Kern des Imperiums, bis sie von ihnen überrannt wurden. Selbst die überaus mobilen Mongolen erschöpften sich nach wenigen Generationen in der Verwaltung des Eroberten. Darüber hinaus gab es bei ihnen keine verbindende Ideologie. Nur der Islam entwickelte zeitweilig eine annähernd vergleichbare Dynamik wie Europa, bis er sich durch Traditionalismus und Fatalismus ausbremste.

In der europäischen Entwicklung dagegen verband sich die Vielfalt und die Enge des europäischen Kontinentes mit dem missionarischen Impuls des Christentums zu einer durchschlagenden und ungebremsten Herrschafts-Ideologie – europäische Missionare trieb es an alle Höfe, in alle Hütten, Zelte und Krale der Welt in dem Bemühen, auch noch die letzte Seele für Gott zu gewinnen; Politiker und Kaufleute aus Europa sorgten dafür, daß die notwendigen Mittel dafür aus den Weiten des Globus herangeholt wurden – im Westen Europas per Schiff über die Ozeane, im Osten zu Pferde quer durch die Weiten der asiatischen Steppen.

Bei allen Differenzen gleichen sich die zwei Seiten des christlichen Abendlandes letztlich in einem: In dem Willen zur Missionierung und kolonialen Unterwerfung der Welt. Gerade weil er nicht aus einem einheitlichen Kommando kam, sondern aus einem vielgliedrigen, differenzierten und widersprüchlichen Prozess hervorging, verwirklichte er sich umso nachhaltiger und totaler; fünfhundert Jahre benötigte Europa für den ersten Schritt: Das reichte von Karl I. bis Christopher Columbus im Westen Europas, also vom Beginn des 9. Jahrhunderts bis zum Jahre 1492, das reichte von der Kiewer Rus bis zum Sieg Iwan III. über die Tataren, also von 882 bis 1480, im europäischen Osten. Aber nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus und nach Iwans III. Sieg über die Tataren-Mongolen expandierte der europäische Kolonialismus geradezu explosionsartig, im Westen in seiner maritimen, im Osten in seiner territorialen Variante.

Am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet Europa deshalb vor allem eines: Herrschaft! Im Falle der Russen war es die Selbstherrschaft innerhalb eines Imperiums, im Falle der westlichen Europäer die Fremdherrschaft über Gebiete in Übersee; das Verbindende aber war die Unterwerfung von Kolonien.

Europa, das war bis hinauf zum 1.Weltkrieg der Export des christlich-abendländischen Willens zur Veränderung und zur Beherrschung der Welt. Materiell bedeutete das: Ausbeutung der weltweiten Ressourcen durch die Europäer; ideologisch bedeutete es: Christianisierung oder Unterdrückung traditioneller einheimischer Kulturen bis hin zu deren gezielter Vernichtung. Es war eine rücksichtslose Expansion, die mit brutaler Gewalt durchgesetzt wurde. Produkt dieser Herrschaft war der weltweite Export der Industrialisierung und der damit verbundenen Lebensweise.

Nichts schien diese Expansion aufhalten zu können. Dann aber, im Übergang vom 19. auf das 20. Jahrhundert wurde die Welt zu eng für Europas weitere Expansion: In Afghanistan prallten die Landmacht Russland und die Seemacht England aufeinander, in Nordafrika standen sich Briten und Franzosen gegenüber. Als die Deutschen, gestärkt durch die Reichseinigung von 1871, sich anschickten, den Briten mit dem Bau einer eigenen Hochseeflotte die Seehoheit streitig zu machen, war der 1. Weltkrieg praktisch eröffnet. Es bedurfte nur noch des Anlasses. Der Krieg wurde zur Festigung der entstandenen kolonialen Ordnung geführt – was er brachte, war der erste Schritt zur Emanzipation der Kolonien.

Der 2. Weltkrieg vollendete diesen Niedergang der europäischen Kolonialmächte bis zur Unabhängigkeit der meisten Kolonien und der Spaltung Europas. Mit Spaltung war Europa allerdings nicht einfach geografisch geteilt, wie es sich in Stammtisch-Erinnerungen darstellt, also kommunistisch im Osten und kapitalistisch im Westen; es teilte sich vielmehr in einen staatskapitalistischen Osten und einen Westen, der sich auf soziale Marktwirtschaft orientierte.

Die eine Seite Europas war als deren Gegenbild in der anderen enthalten; aber die beiden Seiten waren nicht miteinander vermittelbar, weil jede Seite Vorposten ihres jeweiligen Lagers war. In der Berliner Mauer fand diese Konfrontation ihren schärfsten Ausdruck. Doch die Teilung war nicht nur ein deutscher, sie war ein europäischer Niedergang. Nach 1945 wurde Europa faktisch zum Vorhof der Supermächte USA und UdSSR, Osteuropa und die DDR wurden Satelliten der UDSSR, West-Deutschland und Westeuropa wurden zu Juniorpartnern der USA. Aus Herrenvölkern waren vom Kriege ermüdete mittlere Mächte geworden.

Gerade in Europas Niedergang liegt aber auch der Keim seiner Wiedergeburt als Hoffnungsträger für eine zivile Weltordnung: Der Schock der beiden Weltkriege manifestierte sich am radikalsten in der deutschen Formel: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz und in der Entwicklung West-Deutschlands zum demokratischen Vorzeigestaat der kapitalistischen Welt und Ostdeutschlands zum Aushängeschild des demokratischen Sozialismus. Dass die DDR noch weniger sozialistisch als die BRD musterhaft demokratisch war, ändert nichts an der Tatsache, daß beide Teile Deutschlands die Vorzeigestücke des jeweiligen Systems waren. Mit der Vereinigung beider Hälften 1989 kamen sie zu einem neuen Ganzen zusammen, dessen Charakter, auch wenn die Vereinigung unter der Dominanz des westlichen Teils stattfand, bis heute noch nicht wirklich klar ist.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war auch eine Wiedervereinigung Europas. Sie beschloss den schrittweisen Aufstieg West-Europas aus dem Nachkriegschaos zu demokratischer Pluralität. Nie wieder Hegemonie einer europäischen Macht war das treibende Motiv dieses Integrationsprozesses, der 1949 mit der Gründung des Europarates begann, 1957 in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft überging und zur Europäischen Union führte. Als Michael Gorbatschow mit der Öffnung der Mauer 1989 der Integration Westeuropas die Demokratisierung Osteuropas hinzufügte, wurde Deutschland zum Verbindungsflur des neu entstehenden gesamt-europäischen Hauses. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union sind inzwischen weitere neue Mieter in dieses Haus eingezogen.

Ob dieses Haus sich allerdings bis nach Wladiwostok erstreckt, wie manche meinen, darf bezweifelt werden. Zwar ist Russland bis zum Ural zweifellos Teil der europäischen Geschichte und dies begründet eine besondere Beziehung Moskaus zur Europäischen Union, aber Moskaus sibirische und zentralasiatische Territorien gehören heute ebenso wenig zur Europäischen Union wie die ehemaligen und verbliebenen Rest-Kolonien des westlichen Europa. Die Zeiten, in denen sich Europa als Herz einer weltweiten Kolonialordnung definierte, sind endgültig vorbei.

Der Einfluss Europas auf die Welt ist heute nicht mehr durch koloniale Bindungen vermittelt, sondern durch seine wirtschaftlichen Beziehungen. Darüber hinaus liegt Europas Anziehungskraft heute in seiner nach-kolonialen Botschaft. Die Hausordnung in Europas Neubau, die oft zitierte europäische Wertegemeinschaft, die aus den Trümmern des alten imperialen Europa hervorgegangen ist, enthält diesen Anspruch: Danach ist Europa die Überwindung des Nachkriegs-Chaos durch wirtschaftliche und zivile Kooperation in Europa selbst und darüber hinaus. Europa ist ein Beispiel für die Möglichkeit von Integration in schweren Zeiten. Europa ist Vielfalt der Kulturen und Toleranz. Europa ist eine Gesellschaft, die dem Prinzip des Sozialstaates verpflichtet ist. Europa ist Demokratie. Europa ist Mobilität. Europa ist Regionalmacht im globalen Geflecht. Europa ist Katalysator einer neuen pluralen Weltordnung. In Europa steht Pluralismus nicht nur in der Hausordnung, er wird auch philosophisch, sozial- und bildungspolitisch gefördert. Europas Philosophen treten für eine Kultur der Vielfalt ein, die Europäische Union fördert Programme zum Schutz von Minderheiten aller Art, eine „Pädagogik der Vielfalt“ wird an den Universitäten, Lehr- und Bildungsanstalten auch auf alltäglichem Niveau offiziell gefördert. Mit dem Titel „Herausforderung Vielfalt“ ist beispielsweise eine Internationale Konferenz überschrieben, die vom Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des Landes Schleswig-Holstein unter Beteiligung kirchlicher Träger im Sommer 2003 durchgeführt wurde. Da geht es um „Fremdheit und Differenz,, um „Pluralisierung und ihre Folgen“, um „Strategien gegen Diskriminierung“, um Perspektiven für die Entwicklung einer „Kultur der Anerkennung“, die nicht nur das Fremde dulden und akzeptieren, sondern das Fremde, das Andere als Bereicherung des Menschseins erleben soll.

In Europa finden die Gegenbewegungen zur Globalisierung, die in den USA zur Zeit entstehen, ihren fruchtbarsten Boden: Die neueste US-Botschaft dieser Art schwappt derzeit unter dem Stichwort „managing diversity“ nach Europa hinüber. Sie ersetzt das Leitwort von der „corporate identity“, das bisher im Management gegolten hat. Bemerkenswert daran ist nicht, daß die USA als Stichwortgeber für Europa fungieren, bemerkenswert ist, dass das Stichwort der „managing diversity“ gerade jetzt aus den USA kommt und gerade jetzt in Europa Fuß fasst, da sich eine konservative US-Regierung anschickt, den gesamten Planeten gewaltsam unifizieren zu wollen.

Selbstbestimmung in einer Welt des bewusst gestalteten Pluralismus, der gegenseitigen Anerkennung und Hilfe der Menschen und der Völker, das ist heute Europas gute Botschaft. Sie geht als Impuls auch in die Globalisierung ein: Multipersonal, multikulturell und im politischen Raum schließlich auch multipolar – das sind die Begriffe, auf die sich diese Botschaft bringen lässt. Sie schaffen Identität in Zeiten der Globalisierung, denn sie helfen dem einzelnen Menschen, gleich welchen Geschlechtes oder Alters, welcher Hautfarbe oder welchen Standes den Ort ihrer Selbstverwirklichung und damit ihrer Würde als Menschen zu finden. Politisch gilt das auch für die Völker. Diese Botschaft ist eine echte Alternative zu den Versuchen der unipolaren militärischen Disziplinierung, die zur Zeit von den USA ausgehen.

Aber Europa hat auch ein anderes Gesicht. „Dieser Trend zur Pluralisierung verläuft nicht geräuschlos und schon gar nicht konfliktfrei“, heißt es z.B. in den Kommentaren der an Vielfalt engagierten schleswig-hosteinischen Pädagogen: „Es geht immer um Eingriffe in die bisherige Verteilung von Macht. Prozesse der Fundamentaldemokratisierung stoßen auf das Bestreben, Privilegien zu verteidigen und jene Machtmittel möglichst unsichtbar zu machen, mit denen sie aufrechterhalten werden. Sie werden auch intrapsychisch so versteckt, dass Angehörige des gesellschaftlichen „Mainstreams“ ihre Privilegien überhaupt nicht mehr wahrnehmen.“.
Die Botschaft der Pluralität, heißt das, kann sich in die Verteidigung der Pluralität gegen tatsächliche oder vermeintliche Gefährdungen von außen verwandeln.

uch dies ist keineswegs neu für Europa: Als Einwanderungsland entstanden, haben die in Europa Ansässigen sich doch immer gegen neue Einwanderer gewehrt: Bereits Rom baute den Limes gegen die Völker des Ostens, gegen die Zuwanderung aus den asiatischen Steppen, gegen die Hunnen Attilas; den Norden Europas befriedete Cäsar durch Unterwerfung, welcher bekanntlich nur ein kleines gallisches Dorf an der Küste der Normandie widerstand… Spätestens mit den Kreuzzügen gräbt sich das Verständnis von Europa als Bollwerk gegen die Ungläubigen tief in dass kollektive europäische Unterbewusstsein ein – in Ost-Europa nicht viel anders als im Westen: Danach waren die Muslime, die Sarazenen, die Türken oder wie immer man sie nannte, gottlose Ungeheuer, welche die Christenheit verschlingen wollten. Vor ihnen galt es die Menschheit zu retten. Die Aufrufe Papst Urban II. und späterer Päpste, zum Töten der Ungläubigen auszuziehen und dafür das ewige Leben zu ernten, lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.

Das ganze frühe Mittelalter, einschließlich der Heldensagen, ist von der Totschlag-Romantik der Kreuzritter geprägt. Auf den Grundsteinen des Kreuzrittertums wurde wenige Generationen später die Festung gegen die Mongolen ausgebaut. Tschingis Chan galt ihren Verteidigern als Kinderfresser, in ihm verschmolzen alle bisherigen Feinde zur asiatischen Gefahr, zur Bedrohung durch das Andere schlechthin, zum Anti-Christ;. Die Kirche erklärte Tschingis Khan zur Geißel Gottes, die Gott zur Prüfung der Menschheit geschickt habe. Besondere Verdienste bei der Verteidigung gegen diese Gefahr nahm dabei Russland für sich in Anspruch, das sich die Rettung des christlichen Abendlandes vor den Mongolen zu gute schrieb, ohne sich daran zu stören, dass dies die historischen Tatsachen zurechtbog, da Europa, wie gesagt, seine „Rettung“ lediglich dem Wechsel der Khane in Karakorum zu verdanken hat. Ungeachtet solcher Feinheiten konnte Joseph Goebbels die Skizzen des von ihm geschaffenen russischen Untermenschen später nach dem mittelalterlichen Klisché von Hunnen und Mongolen fertigen lassen, die sich, krummbeinig, hässlich, mit einem Säbel zwischen den Zähnen in die Mähnen ihrer ebenso hässlichen Ponys klammern, um so das Abendland zu überfluten.

Im Schreckensruf „Die Türken vor Wien“ festigte sich das abendländische Bedrohungs-Syndrom im 17. Jahrhundert weiter. Mit der Niederlage der Türken im Jahre 1683 löste sich zwar der Druck auf West-Europa; für Ost-Europa wurden die Türken und alle mit ihnen verwandten und verbundenen Völker in den folgenden Kriegen zwischen Russland und der Türkei jedoch nicht nur zum wichtigsten Gegner, sondern auch zum inneren Feind. Diese Spur zieht sich bis ins heutige Russland, wo die „Tschornije“, die Schwarzen, das rassistische Hassobjekt für den russisch-orthodoxen christlichen Chauvinismus sind. Auch der gegenwärtige westeuropäische Rassismus ist nicht frei von diesem Klisché.

Im eisernen Vorhang, der West-Europa von Ost-Europa, noch mehr aber den Westen von Asien trennte, fand die Mär vom abendländischen Bollwerk gegen die asiatische Bedrohung seine neuzeitliche Aktualisierung: Im Bild des sowjetischen Kommunismus, der hinter dem eisernen Vorhang nur darauf lauert, das verbliebene christliche Abendland zu verschlucken, verwoben sich die alten Klischés von Attila bis zu den Türken zum kollektiven Wahnbild einer kommunistischen Bedrohung aus dem Osten, für das der US-Präsident Ronald Reagan noch kurz vor Gorbatschows Perestroika-Kurs schließlich die schöne Bezeichnung vom „Reich des Bösen“ erfand, vor dem die USA die Welt beschützen müssten.
Heute ist auch das Böse globalisiert. An die Stelle des eisernen Vorhangs ist die weltweite Front gegen den internationalen Terrorismus getreten. Das „Reich des Bösen“ ist zur asymmetrischen „Achse des Bösen“ geworden. Aber ob asymmetrisch oder nicht, in dem Aufruf gegen die „Achse des Bösen“ treten auch die traditionellen europäischen Bedrohungs-Syndrome in neuer Gestalt wieder hervor, aufgebaut von Ideologen, die den globalen Kampf der Kulturen als Menetekel an die Wand malen und durch einen US-Präsidenten, der zum Kreuzzug gegen das Böse aufruft.

In diesem Kampf wird alles ausgegrenzt und tabuisiert, wodurch sich die christlich-abendländische Wertegemeinschaft bedroht fühlt; das ist, klar gesprochen, alles, was nicht weißhäutig, nicht christlich und nicht hochindustrialisiert ist. Ausnahmen machen die nicht-weißen US-Amerikaner und Amerikanerinnen, aber auch nur, solange sie offizielle Repräsentanten der Supermacht Nr. Eins sind. Ausnahmen machen auch die Menschen und Völker, die man als Bündnispartner braucht, aber nur, solange sie sich gebrauchen lassen. Das erinnert stark an die Praktiken früherer Imperatoren, etwa jene der Römer, welche Germanen, Hunnen und andere so lange hofierten, wie sie als Grenztruppen andere Völker vor den Grenzen aufhielten.

Im Namen von Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung, heißt das, beginnen sich Europäer heute gegen eben diese Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung zu wenden. Ausdruck davon sind politische Strömungen wie die Partei des ermordeten Niederländers Pym Fortyn, die mit liberaler Argumentation eine im Kern rassistische Ausgrenzungspolitik vertreten: Wohlfahrt, Vielfalt und Selbstbestimmung ja, lauten ihre Parolen, aber nur für Bürger Europas, nicht für Ausländer – die sollen bleiben, wo sie geboren sind. Ausdruck dieser Wende sind auch Positionen wie die des englischen Premiers Tony Blair, der eher bereit ist, die demokratische Grundsubstanz des europäischen Pluralismus den Zentralisierungsforderungen der USA unterzuordnen, als ein „multipolares Chaos“ zu riskieren. Wo diejenigen stehen, die wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder oder der franzöische Statspräsident Jaque Chirac auf der Höhe der IRAK-Krise kurzfristig den Begriff „multipolar“ benutzten, muss sich noch zeigen.

Unter solchen Voraussetzungen droht sich die schöne europäische Hausordnung in ihr Gegenteil zu verkehren: Aus Freiheit für Europa könnte sehr bald Abschottung gegenüber dem Rest der Welt resultieren. Das Schengener Abkommen von 1985 und seine Folgevereinbarungen hinterlassen bereits eine beängstigende Spur: Aus der Garantie auf Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte, rassisch oder aus anderen Gründen Diskriminierte wird ein ausgeklügeltes System zur Vermeidung von Asyl durch Vorverlagerung der Asylentscheidungen in die Grenzländer der Europäischen Union oder gleich ganz in die Herkunftsländer von Flüchtlingen. Probestrecke für dieses Verfahren war der Krieg im Kosovo, als Bosnische Flüchtlinge gleich vor Ort interniert wurden. Eine Fortsetzung fand das neue Verfahren in Afghanistan und kürzlich wieder im IRAK.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstehen hässliche Lager in den Randzonen der Europäische Union. Die tschechische Republik zum Beispiel musste sich bereit erklären, wenn sie betrittsfähig für die Europäische Union werden wollte, ein Auffang- und Abschiebelager in Balkowa zu bauen, in dem die Lebensbedingungen bewusst auf Abschreckung angelegt sind. Beobachter humanitärer Organisationen scheuen sich nicht von diesen Lagern als KZs zu sprechen. Ähnliche Lager entstehen in anderen Grenzbereichen der erweiterten Europäischen Union. Die europäische Öffentlichkeit erfährt in der Regel nichts davon. Die Maßnahmen werden auf europäischen Innenminister-Konferenzen vereinheitlicht, die sich der parlamentarischen Kontrolle entziehen. Die Medien berichten kaum.

Noch schwerer erkennbar sind die virtuellen Lager in den nicht-europäischen Herkunftsländern potentieller Flüchtlinge oder Einwanderer. Diese Länder werden über wirtschaftlichen Druck zur Kontingentierung ihrer Auswanderer veranlasst, um nicht zu sagen gezwungen; in der Folge sind die Grenzen nur für eine Minderheit mit Geld oder mit Beziehungen offen. Freizügigkeit und Selbstbestimmung, eines der höchsten Güter im Wertekatalog der Europäischen Union, bleiben bei diesem Verfahren glatt auf der Strecke. Eine solche Politik kann auch für die innere Verfassung Europas auf Dauer nicht ohne Auswirkungen bleiben. Die Konzentration europäischer Innenpolitik auf die Abwehr von Einwanderern und die Bekämpfung des internationalen Terrorismus droht auch Europa in die Sackgasse eines präventiven Sicherheitsstaates zu führen, in dem die Rechte der Bürger das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen.

Was also ist Europa? Ein Modell oder eine Festung?
Als Modell für eine plurale Ordnung könnte Europa zeigen, wie der Verzicht auf militärische Stärke bewusst zum Ausgangspunkt eines zivilen Integrationsprozesses werden kann. Es könnte Impulsgeber für den Weg zur Festigung der pluralen Völkerbeziehungen und kooperativer Entwicklungsstrategien sein, die sich faktisch im letzten Jahrhundert herausgebildet haben. Damit läge im Modell Europa gegenüber der gegenwärtigen Politik der USA eine echte Alternative, die unter dem Motto: `Europa für alle´ Grundlage zukünftiger Politik Europas und der Völkergemeinschaft sein könnte. Sie enthielte auch den richtigen Ansatz zur Lösung der globalen Problems der Migration. Ein Ausbau Europas als Festung dagegen provoziert die Gefahr, dass die Ansätze zu einer multipolaren Ordnung, die real bereits herangewachsen sind, sich gegen den Willen Europas und der auf dieser Linie mit ihm verbündeten USA und hinter deren Rücken durchsetzen, dann aber in scharfen Konflikten, welche die privilegierte Position des Westens mit Gewalt schwächen. Das würde auch auf Kosten der zivilen Werte gehen, für die Europa heute im Gegensatz zu den USA noch steht. Die Wahl, die wir zu treffen haben, ist also nicht allzu schwer, wenn das Modell Europa nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft beschreiben soll.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

„Europa, ein Vogel Strauss“? – Anmerkungen zu einem Text von André Glucksmann

Unter der Überschrift „Europa, ein Vogel Strauss“ konnte man vor wenigen Tagen einen Kommentar des französischen Philosophen André Glucksmann zum IRAK-Krieg lesen („Die Welt, 12.3.2003). Darin wirft er der Koalition der „Kriegsgegner“ vor, die Augen vor der Realität des weltweiten Terrors zu verschließen. Der Philosoph geht scharf mit den „Heuchlern“ der „Friedenskoalition“ ins Gericht; er erinnert an den Krieg Wladimir Putins in Tschetschenien, an das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in China, er klagt Joschka Fischer an, seine Lehre „Nie wieder Auschwitz“ vergessen zu haben und bezichtigt Jaques Chirac, mit seiner Inkonsequenz „die Entwaffnung eines berüchtigten Kriegstreibers verhindert“ zu haben.

Die Kritik klingt radikal; zudem spricht ein anerkannter Philosoph. Umso erstaunter ist man, dann eine Kritik zu lesen, in der die Namen der kritisierten Chirac, Schröder, Putin und der Chinesen problemlos durch Bush oder Blair ausgetauscht werden können: Es beginnt mit der Feststellung André Glucksmanns, heute gehe ein Riss durch den Westen – Querelen in der NATO, in der EU, sogar in der UNO. Da es den „Ostblock“ nicht mehr gebe, bedeute das Auflösung der bestehenden Ordnung. Stimmt, aber dann man vermisst man doch die Erkenntnis, dass es sich bei diesem Riss nicht einfach um vermeidbare Bündnis-Querelen handelt, sondern um eine grundlegende Krise der heutigen industriellen Welt, in der das Ende des Sowjet-Imperiums, Russlands und auch Chinas Umbrüche dem Westen nur vorangingen: Nach der Krise des „Ostblocks“ nun die Krise des „Westblocks“. Zu diesem Zusammenhang schweigt der Philosoph.

Zuzustimmen ist der Kritik André Glucksmanns, Chirac, Schröder, Putin und die Chinesen hätten allzu stark polarisiert, als sie „Friedenskoalition“ der „Kriegskoalition“ entgegenstellten. In der Tat, die Polarisierung hat etwas von einer Augenwischerei für die ganz Dummen an sich. Doch wird sie ja nicht nur von einer, sondern von beiden Seiten betrieben. Hat man doch einen George W. Bush gesehen, der seit seinem Amtsantritt, und zwar erkennbar weit genug vor dem 11.9. 2001, seine Verbündeten mit Alleingängen der „einzig verbliebenen Weltmacht“ vor den Kopf stößt und seit dem 11.9. 2001 die Welt in Gute und Böse aufteilt.
Eine Heuchelei ist es zweifellos, auch da ist André Glucksmann zuzustimmen, sich eine „Koalition des Friedens“ zu nennen, wenn man wie Putin in Tschetschenien eine ganze Stadt in Trümmern gelegt habe oder, wie die Chinesen, bis heute kein kritisches Wort über das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens zulasse. Aber gehört Vietnam nicht auch mit in diese Aufzählung, wo die USA versuchten, ein ganzes Volk auszurotten? Die „Friedenskoalition“ trete auf wie leibhaftige Apostel des Friedens, polemisiert Glucksmann. Ja, aber hat nicht George W. Bush den Kreuzzug gegen die „Achse des Bösen“ verkündet?
Hart kritisiert Glucksmann die Veto-Mächte des UNO-Sicherheitsrates: Die fünf ständigen Mitglieder des Rates, erklärt er, benutzen ihr Vetorecht zur verschleierten Durchsetzung eigener Interessen. Richtig, aber warum zählt der Kritiker nur vier der ständigen Mitglieder des Rates auf? Was ist mit dem fünften, den USA? Wofür benutzen die USA den Sicherheitsrat – wenn sie es überhaupt für nötig befinden, ihn zu benutzen? Etwa zur Demokratisierung der UNO?
Ja, der „Klub der fünf“ ist kein Parlament der Völker. Das ist wahr und die Frage Glucksmanns, wieso die Stimme Brasiliens weniger zählen soll als die der Veto-Mächte, ist mehr als berechtigt. Die Veto-Regelung ist ein Überbleibsel aus dem kürzlich zuende gegangenen Jahrhundert. Doch auch in dieser Kritik sind die Namen der „Friedens-“ und der „Kriegskoalition“ wieder austauschbar. Die Newcomer und die Kleinen in der UNO werden weder von der einen noch von der anderen Seite für voll genommen.
Selbstverständlich war es einfacher, wie Herr Glucksmann bemerkt, mit „Ho, ho, Ho Chi Min“ gegen den Vietnamkrieg auf die Straße zu gehen als mit „Kein Krieg in IRAK“ und „Nieder mit Saddam“ gegen einen Krieg im IRAK; Für ein Volk, das für den Sieg im Volkskrieg kämpft, ist eben leichter Partei zunehmen, als für eines, das sich unter einem Diktator duckt. Invasion bleibt deswegen aber immer noch Invasion. Hieraus abzuleiten, Protest gegen eine Invasion sei gleichbedeutend mit einer Unterstützung für die Diktatur, ist schlicht demagogisch.

Auch in der Kritik, wie Glucksmann sagt, an „meinem Freund Joschka Fischer“ muss man dem Philosophen zustimmen: Fischer war für den Krieg im Kosovo – nun ist er gegen den Irak-Krieg; das ist kurzsichtig, inkonsequent, und vielleicht sogar verlogen. Er hätte wissen können, dass die US-Intervention im Kosovo nur der Einstieg der USA in ein weltweites präventives militärisches Krisenprogramm war. Tatsache ist aber auch, dass die öffentliche Kriegserklärung des George W. Bush gegen die „Achse des Bösen“ nicht vor, sondern nach der Intervention im Kosovo, nämlich nach dem 11.9.2001 erfolgte. Heute ist daher deutlicher als damals, dass die Welt bei Durchführung einer solchen Globalpolitik vor der Perspektive einer unabsehbaren Reihe von Abrüstungskriegen unter US-Vorgaben stünde. US-Politik hat sich vor der Welt in rasantem Tempo als krisen- und inzwischen auch kriegstreibend entpuppt. Jetzt wird bereits Syrien bedroht – wer dann? Wie viele Diktatoren dieser Art sollen auf diese Weise beseitigt werden? Deutlicher gefragt: Welche Despoten sollen beseitigt werden und welche nicht? Wer bestimmt das? Mit welchem Ziel und in wessen Namen?
André Glucksmann gibt keine Antworten auf diese Fragen, er trifft nur die Feststellung, dass wir uns heute in einer „radikal neuen Situation“ befänden. Wahr gesprochen!

Aber ist die neue Situation eine Folge des 11. September 2001, wie Glucksmann meint? Nein, das ist sie nicht. Sie ist eine Folge der Auflösung der bi-polaren Welt-Ordnung und des darauf folgenden Versuches der Amerikaner, das, wie ihre Strategen es nennen, „historische Fenster“ zu nutzen, um sich die globale Vorherrschaft zu sichern und mögliche zukünftige Konkurrenten im Keim zu ersticken…

Ungeachtet dessen sieht André Glucksmann die Amerikaner als Opfer, die nun von den Kriegsgegnern als Täter hingestellt würden, wie das ja öfter geschehe. Absichtlich oder unabsichtlich rückt er „die Amerikaner“ damit in die Nähe der Juden, für die diese Aussage üblicherweise getroffen wird. Tatsache ist, dass am 11,9.2001 tausende Menschen Opfer des Terrors wurden. Sie sind zu betrauern. Aber ist Krieg die einzige mögliche Antwort? Darf man da anderer Meinung sein, ohne gleich zu den Bösen, unterschwelligen Anti-Semiten oder den europäischen Sträußen zu gehören, die den Kopf vor der Realität in den Sand stecken? Von welcher Realität ist die Rede? Dazu hören wir von Herrn Glucksmann nichts, außer dass nunmehr eine Verbindung von Bin-Laden-Terrorismus und Pjön Jang-Verdrängung drohe.

Was also will Andé Glucksmann uns sagen? Ihm wäre zuzustimmen, wenn er es dabei beließe, die allgemeine Heuchelei der Mächtigen zu geißeln. Das ist das Vorrecht des Philosophen. Wenn er dabei aber die USA aus seiner Kritik ausnimmt, dann heuchelt auch er. Das wäre sogar noch hinzunehmen; das Heucheln ist gegenwärtig in Mode. Schlimmer noch ist, dass er den Anschein erwecken möchte, als stünde er über den Parteien – ohne auch nur einen einzigen Gedanken vorzubringen, wie die Welt zu einer neuen Ordnung finden könnte, in welcher der Krieg nicht wieder zu einem Mittel der Politik wird, wie von den USA zur Zeit propagiert.

©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de