Kategorie: Von mir geführte Gespräche

Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk

Kai Ehlers: Wie erleben Sie unsere heutige Situation?

Irina Golgowskaja: Ich denke, dass die westeuropäische Zivilisation zusammenbricht, noch schneller als vor schon fünf Jahren. Das geschieht faktisch dadurch, dass Amerika als schärfster Ausdruck der westlichen Zivilisation, im Niedergang begriffen ist. Amerika versucht Putin zum Krieg zu provozieren und glaubt, dass es dabei davonkommt. Tatsächlich wird das anders ablaufen: Die Amerikaner beginnen, dann treten die Muslime mit in den Krieg ein, danach die Chinesen, Russland wird am Ende übrigbleiben. Continue reading “Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk” »

Ukraine – Nationalismus – Russischer maidan – Alternativen – Kriegsgefahr: Kai Ehlers spricht mit dem russischen Dichter-Schritsteller Jefim Berschin

Kai Ehlers: Die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist sehr gespannt. Wo siehst du die Gründe für diese Entwicklung?

 

Jefim Berschin: Ich denke, dass die Entwicklung schon seit langem läuft. Sie steuert jetzt auf den Höhepunkt zu. Es ist die Wirtschaft, die heute herrschende Konsumethik, die auf den Höhepunkt zutreibt. Nichts kann ewig wachsen.

Weiterlesen

Russische Innenansichten – „Einen Plan B gibt es nicht.“ Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki, Gründer des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“

Als Analytiker des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“ ist Boris Kagarlitzki einer jener Kritiker Putins, die über die Tagesproteste und kurzatmige Aufgeregtheiten hinaus denken. Das Gespräch dreht sich um die Frage, welche politischen Entwicklungen nach den zurückliegenden Duma- und Präsidentenwahlen zu erwarten sind. Das Gespräch fand im Juli in den Räumen des Institutes in Moskau statt.

Weiterlesen

Gespräche, die ich geführt habe

Jedes Gespräch öffnet eine Welt – jede schritliche Fixierung fordert aber auch sehr viel Einsatz. Daher finden Sie hier  bisher nur einige schriftlich fixierte dokumentiert. Sie können den Gesprächspool aber über Stichworte der Suchfunktion nutzen – so finden Sie thematischen Zugang über Texte, Themenhefte, Radio-Features und Bücher, in denen Kernstücke von Gesprächen dokumentiert sind.

.

Im Übrigen, wenn weitergehendes Interesse besteht, bitte mich einfach zu kontaktieren

Impulse von Tschingis Chan?

Ein Gespräch mit Prof. Bira in Ulaanbaatar über die Bedeutung des asiatischen Universalismus für die Globalisierung.

Das Gespräch führte Kai Ehlers

Prof. Bira ist leitender Sekretär der „Internationalen Assoziation für mongolische Studien“ (IAMS) in Ulaanbaatar (Ulanbator). Die IAMS zentralisiert historische und aktuelle Studien zur Geschichte, zur Lage und zur Rolle der Mongolei in der Welt, die Institution arbeitet eng zusammen mit dem „Institut für Zivilisation und Nomadentum“ (ICN), das seit 1999 mit Unterstützung der UN ebenfalls in Ulaanbaatar tätig ist. Seit 1962 treffen sich Mongolisten, Altaiisten und Nomadismusforscher der ganzen Welt alle fünf Jahre zu einem internationalen Kongress in Ulaanbaatar unter Leitung der IAMS. Zum letzten Kongress, der im Sommer 2002 stattfand, legte Prof. Bira einen Beitrag unter dem Titel „Die Mongolische Theorie des Tengerismus“ vor, in dem er darauf aufmerksam machte, dass die mongolische Expansion im 13. und 14. Jahrhundert unter den kosmologischen Vorstellungen von der Welt als Einheit stattfand. Daraus seien interessante Lehren für die heutige Globalisierung zu ziehen. Kai Ehlers, Teilnehmer der beiden letzten internationalen Kongresse der Mongolisten in Ulaanbaatar (1997 und 2002), nahm die Thesen Prof. Biras zum Anlass, ihn nach der Rolle der Mongolei und der Bedeutung Chinas im Prozess der heutigen Globalisierung zu befragen.

KAI EHLERS: Prof. Bira, in Ihrem Artikel, beschreiben sie den mongolischen Tengerismus als eine universalistische Weltsicht, die auch Bedeutung für die heutige Globalisierung haben könnte. Ich habe im Zusammenhang mit dem Problem der Globalisierung viel über chinesischen Universalismus als Impuls einer möglichen Zukunft nachgedacht. Es will mir so scheinen, als sei die Idee in Beidem fast die gleiche.

PROF. BIRA: Nun, Tengerismus – ich gebrauche diesen Begriff zum ersten Mal in der Wissenschaft. Bekannt ist, dass die Mongolen im Zusammenhang mit dem Schamanismus Tengri als die Verkörperung der großen kosmischen Einheit verehrten; der Kult Tengris war die hauptsächliche Konzeption des Schamanismus, die älteste Volksreligion der mongolischen und der turkischen Völker.

In der Tat ist Tengerismus auch so etwas Ähnliches wie Universalismus. Die chinesische Lehre des Tien min, des einen Himmels ist dem mongolischen sehr ähnlich, deshalb meinen einige Wissenschaftler, dass die Mongolen und auch die Turkvölker die Lehre von Tengri oder die des Himmels von der alten chinesischen Philosophie und politischen Lehre übernommen hätten.

Einen gewissen Einfluss von chinesischer Seite auf den mongolischen Tengerismus hat es sicher gegeben, vor allem zur Zeit der mongolischen Khane in China. Sie imitierten die Lehren von Tien Min. Von dort her mögen die Mongolen eine weitere Stärkung ihrer Lehren von Tengri bekommen haben.

Wir sollten aber nicht vergessen, dass der Schamanismus unter den nomadischen Völkern schon vor der Berührung mit dem chinesischen Universalismus existierte; und eines der wichtigsten Elemente des Schamanismus ist eben die Verehrung von Tengri als der alles umfassenden Einheit. Darüber hinaus gibt noch einen großen Unterschied zwischen dem mongolischen Tengerismus und dem chinesischen Universalismus, den wir auch nicht vergessen sollten: Der chinesische Universalismus ging niemals über die nationalen Grenzen Chinas hinaus. Die Chinesen versuchten niemals, ihren Universalismus irgendwo einzuführen (Prof. Bira benutzt das englische Verb „to implement“), seine weltweite Verbreitung zu praktizieren. Es waren die Mongolen, die als Erste versuchten, diese Lehre in die Praxis umzusetzen. Wenn Sie die weltweite Expansion des mongolischen Reiches im 14.Jahrhundert und danach betrachten, dann werden Sie sehen, dass es die mongolischen Khane waren, die versuchten diese Lehre in die Praxis umzusetzen. Deshalb ziehe ich es vor zu sagen, dass die Mongolen nicht nur die ersten Theoretiker, sondern vor allem die ersten Praktiker des Universalismus oder Tengerismus waren und deshalb entschied ich mich, ein Papier zu diesem Thema für diesen Kongress zu schreiben, weil ich die Aufmerksamkeit unserer Wissenschaftler auf dieses sehr wichtige Thema lenken möchte.

KAI EHLERS: Ja, bisher war es wohl so, dass die Chinesen sich nie über die hohen Gebirgsketten, die ihr Land umgrenzen, ausgebreitet haben; ihr Universalismus war immer ein chinesischer …

PROF. BIRA: Ja, genau, ganz und gar, der chinesische Himmel…

KAI EHLERS: …und wer sich in China aufhält, wird auch heute stark damit konfrontiert: Die Chinesen leben in China! China, China, China! Und sie beziehen die Welt auf China. Doch gibt es ein starkes ABER zu diesem bisher gültigen Bild: Die heutige wirtschaftliche Entwicklung Chinas, das geradezu in die Welt hinein explodiert! Halten Sie es für möglich, dass sich der chinesische Universalismus aus diesem Druck heraus erstmals über die ganze Welt verbreitet?

PROF. BIRA: Ich stimme ihnen zu, dass es zum ersten Mal so aussieht; es gibt Anzeichen für eine solche Entwicklung, aber ich glaube noch nicht, dass chinesischer Einfluss sich wirtschaftlich über die ganze Welt ausbreitet. Es ist zu früh, das zu sagen. Klar ist dagegen nach wie vor, dass die Chinesen, obwohl sie die älteste Tradition, die älteste Zivilisation haben, im Gegensatz zu anderen großen Zivilisationen, die inzwischen untergegangen sind, keinerlei historische Erfahrung mit der Verbreitung eines universellen Anspruchs haben. Die chinesische Geschichte kennt solche Erfahrungen nicht, eben weil die Chinesen es niemals versucht haben, ihre eigene Kultur in weltweitem Maßstabe zu verankern. Die Chinesen waren immer Siedler, keine Tierhalter. Die Chinesen konnten niemals weit unterwegs sein, sie hatten im Unterschied zu den nomadischen Völkern keine Transportmittel. Die nomadischen Völker waren die mobilsten und die offensten Völker. Ich sage immer, die nomadischen Völker haben niemals eine geschlossene Gesellschaft gebildet. Sie waren immer offen für andere Einflüsse, für andere Zivilisationen. Die nomadischen Völker kamen sehr leicht in Kontakt mit anderen Völkern und Nationen. Deshalb ist die Mentalität von nomadischen und siedelnden Völkern ziemlich verschieden.

KAI EHLERS: Welche Lehren sind Ihrer Ansicht nach aus dem traditionellen Tengerismus für die heutige Situation der Mongolei zu ziehen?

PROF. BIRA: Ich würde ich sagen, die Mongolen haben eine sehr reiche Erfahrung in Sachen Globalisierung. Wir hatten unsere eigenen reichen Erfahrungen. Das ist der Grund, warum ich jetzt über den Tengerismus spreche. Die Menschheit sollte Erfahrungen aus der mongolischen Geschichte des 13. und des 14. Jahrhunderts ziehen: Es gab einen realen Tengerismus, es gab so etwas wie eine Prozess der weltweiten „Verhimmlichung“ der Welt, denn die mongolische Botschaft war, alle Völker und Nationen der Welt sollten unter einer politischen Macht vereint sein, alle Völker, die es unter dem Himmel gibt. Das war die Hauptphilosophie der Mongolen.

Diese Vorstellungen wurden natürlich gewaltsam implementiert, mit militärischer Gewalt, hauptsächlich, aber nach der Vereinigung vieler Nationen gab es Interaktionen mit Europa, gab es Beziehungen zwischen verschiedenen Völkern Asiens und der Mongolei, es gab eine freie Bewegung zwischen den Völkern und freien Handel, das dem mongolischen „urtko“-System, dem mit Pferdestationen verbundenen Kommunikationssystem des mongolischen Reiches zu verdanken war. Und hinter dem Tengerismus standen natürlich wirtschaftliche Faktoren, wirtschaftliche Interessen. Die herrschende mongolische Klasse wollte reich werden, und wollte den Zugang zum Reichtum anderer Länder haben. Aber das Interessanteste an all dem ist, dass Tschingis Chan und seine Nachfolger ihre wirtschaftlichen Interessen weitgehend durch die Philosophie begründen, legitimieren, stützen konnten, durch eine intellektuell sehr hoch entwickelte Lehre des Tengerismus.

Und wie ist es heute? Was ist Globalisierung? Da gibt es ebenfalls wirtschaftliche Interessen. Transnationale Korporationen, wie Sie es nennen, nationale Korporationen sind sehr interessiert. Das ist die Tatsache. Die weltweiten Beziehungen, die Globalisierung bringt den Völkern viel Gutes, viele Werte, besonders den unterentwickelten Völker, Internet, Technologie usw., Auch das stimmt. Aber Seite an Seite mit den positiven Effekten gibt es auch sehr viele negative. Das ist der Grund, warum die Menschheit von dieser Entwicklung sehr betroffen ist. Das ist auch der Grund, warum die Doktrin der Globalisierung heute verbessert werden muss in gewisser Weise, in Hinsicht auf Moral, auf kulturelle Werte, spirituelle Werte usw. Die Globalisierung wird keine großen Ergebnisse haben, wenn sie nicht mit spirituellen Werten, mit moralischen werten in Übereinstimmung gebracht werden kann (er sagt: „harmonized“), wenn wir nicht den Unterschied von Religion und Zivilisation anerkennen. Eine der wichtigsten Dinge ist: Globalisierung darf nicht mit Gewalt, Brutalität oder auf ähnlichen Wegen durchgesetzt werden.

KAI EHLERS: Ja, die alten Wege sind nicht mehr gangbar. Darin stimme ich mit Ihnen überein. Welche Rolle könnte die Mongolei also heute in diesem Prozess spielen?

PROF. BIRA: Nun, zuallererst sollte die Mongolei mit anderen unterentwickelten Nationen kooperieren, um ihre einzigartige Kultur zu erhalten, die nomadische Lebensweise, die Werte der nomadischen Kultur und die Werte der Religion und Moralität. Reisende aller Jahrhunderte waren immer sehr inspiriert von der Moral, die sie hier bei den nomadischen Menschen gefunden haben, auch die frühen Christen, die hier das Christentum hier einzuführen versuchten, nachdem sie hier Menschen wie ihre eigenen vorgefunden hatten. Bevor sie hierher kamen, hatten sie keine Vorstellung von Asien; wenn sie an Asien dachten, dann stellten sie sich Herden von Tieren und Wesen mit Hundeköpfen und menschlichen Körpern vor usw. Erst nach dem Kontakt mit den Mongolen bekamen die Europäer ein realistisches Verständnis von asiatischen Menschen, einschließlich der Mongolen. Das ist der positive Effekt des mongolischen Imperiums, obwohl es auch durch Gewalt geschaffen wurde. Die Philosophie der Mongolen war aber eine sehr kosmische; sie wollten die soziale Harmonie. Das ist, was man auch die PAX MONGOLICA nennt.

KAI EHLERS: Wenn wir diese historischen Erfahrungen auf heute beziehen, dann stellt sich mir die Frage: Kann die Mongolei, die jetzt

zwischen China und Russland, zwischen Europa und Amerika, also zwischen allen Interessen und Kulturen liegt, heute eine ähnliche Kraft entwickeln? Diesmal allerdings nicht militärisch, sondern durch ihre andersartige nomadische Kultur, die einen Transformationsraum einer anderen, modisch gesprochen einer nachhaltigen Art von Modernisierung bildet, diesmal als neutraler Katalysator, der einen ruhenden Pol in einer Welt bildet, die sich heute regional und global neu organisiert?

PROF. BIRA: 169 Dies ist eine sehr wichtige Frage. Ich denke ebenfalls über diese Frage nach. Ich denke; Ja, die Mongolei könnte mit der Hilfe der Vereinten Nationen eine Rolle als neutralisierender Faktor spielen. Und eine Rolle, um die negativen Konsequenzen der Globalisierung zu minimieren. Ich denke, es geht dabei nicht nur um die Mongolei, die als kleine Nation so eine Rolle spielen kann. Das gilt auch für andere kleine Nationen…

KAI EHLERS: Rund um die Mongolei…

PROF. BIRA: Ja, rund um die Mongolei. Und es gilt auch für die weiter entfernten Nationen. Die Mongolei sollte eine führende Rolle dabei übernehmen, andere kleine Nationen zusammenzuführen, um deren einzigartigen Kulturen und Zivilisationen zu schützen. Das ist sehr wichtig. Wenn es diese kleinen Nationen nicht gibt, die sich zusammentun, dann werden wir die soziale und moralische Balance verlieren. Ich wundere mich manchmal darüber, wie sehr Leute sich grämen, wenn eine der bedrohten Pflanzen untergeht; dann heißt es, wir verlieren die ökologische Balance; aber wenn kleine Nationen verschwinden, dann kümmert das kaum irgend jemanden. Das ist sehr befremdlich! Aber es geschieht. Die Völker werden einfach assimiliert, verschwinden. Wenn Globalisierung jedoch in die richtige Richtung gehen soll, dann muss sie alle Menschen, einschließlich die der kleinen Völker, respektieren.

Den Namen Tanger oder Tenger in der Bedeutung der obersten, ursprünglichen Gottheit und alles umfassenden Kraft findet sich übrigens nicht nur im Erbe jener tatarisch-mongolischen Völkerschaften Zentralasiens, des Kaukasus und Mittelrusslands, die mit den Mongolen nach Westen zogen und dann dort siedelten, sondern auch bei den Tschuwaschen an der Wolga, die schon 700 Jahre vorher mit Attila auf dem selben Weg unterwegs waren.

©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

“Wir arbeiten wie die Spione” Oleg Panfilow, Moskau, über die Gründung eines „Zentrums für Journalisten in extremen Situationen.“

Kasten
Oleg Panfilow lebte bis zur Auflösung der Sowjetunion in Tadschikistan, wo er sich als Lehrer, Journalist und Kulturmanager einen Namen machte. Seit 1991 hält er sich als tadschikischer Staatsbürger in Moskau auf, wo er als Korrespondent an verschiedenen Zeitungen arbeitete. Von 1994 an leitete die Dokumentations- und Monitoring-Abteilung  der 1992 von Alexej Simonow gegründeten Moskauer „Stiftung zum Schutze von Glasnost“. Nebenbei war er für „Radio freies Europa“, Prag und für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften in Moskau und in Tadschikistan tätig, von 1994 bis 1997 außerdem als Experte der OSZE für Menschenrechte in Tadschikistan. Anfang des Jahres 2000 schied Oleg Panfilow mit einigen Mitarbeitern aus der „Stiftung zum Schutz von Glasnost“ aus und gründete unter den Namen „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ eine eigene Organisation.

Herr Panfilow, Sie haben ein „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ gegründet. Was ist die Idee dabei?

OLEG PANFILOW: Der Gründungsgedanke besteht darin, Journalisten zu helfen, die unter extremen Bedingungen arbeiten, also im Krieg und in den Ländern der GUS, wo unstabile Verhältnisse herrschen, wo Journalisten unter Bedingungen arbeiten müssen, in denen es keine Freiheit der Presse gibt. Wir führen Monitoring über die Verletzung der Rechte von Journalisten auf dem Gebiet der GUS durch. Wir arbeiten zu fünft hier im Moskauer Büro, ein Jurist, der Koordinator des Programms, der Büromanager, ein Übersetzer und ich; außerdem arbeiten noch acht Korrespondenten in Ländern der GUS; das ist Moldawien, Georgien, Armenien, Azerbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan und zwei Korrespondenten in Tadschikistan.

Warum haben Sie die „Stiftung Glasnost“ verlassen?

OLEG PANFILOW: Es gab private Gründe, die entscheidenden aber waren die beruflichen. Sie liegen vor allem darin, dass die Stiftung sehr wenig Aufmerksamkeit auf die Detailarbeit des Monitoring verwandte. In Russland, überhaupt in der GUS kommen jedes Jahr fünfzehn bis zwanzig Journalisten um. Die Stiftung gab Erklärung ab, wenn wieder einer umgebracht wurde, aber es gab keinerlei Untersuchungen.     Darüber hinaus ist die „Stiftung Glasnost“ einfach zu gigantisch geworden; eine Organisation von solchen Ausmaßen kann nicht mehr sinnvoll arbeiten, dafür braucht man eine kleine Organisation mit einer sehr engen Ausrichtung. Wir haben nun eine solche Ausrichtung  gewählt, das ist das Monitoring. Wir beabsichtigen Bücher und Ratgeber herauszugeben. Wahrscheinlich werde ich ein drittes Buch   schreiben, wie Journalisten während des zweiten Tschetschenischen Krieges arbeiten. Es wird auch ein Buch über Andrej Babizki geben, außerdem Bücher über Journalisten, die lange in Kriegsgebieten der Sowjetunion tätig waren. Alle diese Bücher sollen zeigen, wie man als Journalist im Krieg richtig arbeitet. Journalisten wissen schlecht darüber bescheid, wie man erste Hilfe leistet; sie kennen die Waffen nicht, die im Krieg benutzt werden, sie wissen wenig darüber, wie man vermeidet auf Minen zu treten, sie wissen nicht, wann man einem Offizier eine Flasche Wodka geben muss, oder den Soldaten Feuerzeuge, dafür, dass sie einen Journalisten durchlassen. Wir wollen wir Lehrseminare geben, in denen man den Journalisten beibringen muss, sicher zu arbeiten. Das Wichtigste, worüber man reden muss, ist der Hang russischer Journalisten, Gesetze nicht zu beachten. Ich denke, ein gut Teil, vielleicht ein viertel der Probleme von russsischen Journalisten, aber auch von Journalisten aus anderen Ländern der GUS, lassen sich vermeiden, wenn sie lernen, Gesetze zu beachten und richtig zu nutzen.

Sie haben mit der Arbeit bereits begonnen?

OLEG PANFILOW: Ja, aber man muss sagen, im Unterschied zur „Stiftung Glasnost“, die sich in letzter auf Prozesse gegen Journalisten konzentriert hat, befassen uns nur mit ernsthaften Vorfällen, also Mord, Überfälle auf Journalisten, Drohungen, Zensur. Wir verbreiten unsere Informationen wöchentlich ONLINE. Praktisch geben wir die Informationen schon in dem Moment weiter, wenn wir sie erhalten. Über 500 Menschen bekommen unsere Informationen. Das sind Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Radio in vielen Ländern der Welt, nicht nur in Russland und nicht nur in der GUS. Pressekonferenzen habe ich auch schon durchgeführt, mit Andrej Babizki und zu verschiedenen anderen Anlässen. Seit Mitte April haben sich in unserem Archiv ungefähr anderthalbtausend Vermerke zu Übergriffen auf Journalisten in der GUS angesammelt. Man kennt uns schon ziemlich gut und man bezieht sich viel auf unser Material oder schreibt Artikel über uns und zwar sowohl in der russischen als auch in der westlichen Presse. Seit Anfang Oktober läuft auch ein  neues Programm bei „Radio liberty“ unter dem Titel: „Macht contra Presse.“ Diese Sendung basiert auf unserem Material.

Wie kommen Ihre Untersuchungen zustande?

OLEG PANFILOW: Unsere Korrespondenten sind Leute, die niemand außer uns kennt. Sie arbeiten nicht legal. Sie befinden sich in dauernder Gefahr, weil…

…. sie fast wie Spione arbeiten? (beide lachen)

OLEG PANFILOW: Jaja, wenn man uns nach unserer Arbeit fragt, dann antworten wir: „Wir sind eine normale Spionageorganisation!“ Wir sammeln ja wirklich wie geheime Informationen, wir arbeiten sie auf, ja, wir arbeiten wie Spione…

Und veröffentlichen sie unter Pseudonymen?

OLEG PANFILOW: Nein, unsere Korrespondenten arbeiten weder unter Pseudonym, noch unter ihrem Namen. Wenn wir die Informationen verbreiten, die wir von ihnen erhalten, schreiben wir darunter, dass uns der Name der Korrespondenten bekannt ist, wir ihn aber aus Sicherheitgründen nicht nennen können.

Wie sieht das Bild aus, das Sie auf diese Weise gewinnen?

OLEG PANFILOW: Der erste Indikator ist Russland.
Ich glaube, dass die Lage in Russland sich zur Zeit grundlegend verändert. Ich meine in bezug auf das Verhältnis von Macht und Presse. Die Verhältnisse, die unter Gorbatschow geschaffen wurden, als das erste Pressegesetz verabschiedet wurde, wurden unter Jelzin erhalten, aber nicht verbessert. Jelzin war im Vergleich zu Putin ein stärkerer Demokrat, wenn man so sagen kann, jedenfalls hat Jelzin öffentlich nie die Presse gerügt. Putin ist ein ganz und gar anderer Mensch: er ist ein Mensch der Spezialdienste, ein Mensch, der im Geist der Gewalt aufgezogen wurde und nicht dem der Klugheit. So waren das Erste, was er neben einer gewissen der Reform wirtschaftlichen Machtverhältnisse tat, Schritte zur Einschränkung der Presse. Dabei ist es ohnehin in Russland  schon beängstigend  geworden, als Journalist zu arbeiten, vor allem auf zwei Gebieten, dem der politischen Kommentare und dem der journalistischen Untersuchungen. Das Genre der Untersuchungen verschwindet in Russland schon fast, denn erstens ist es sehr gefährlich und zweitens haben Beamte an höchsten Stellen, zum Beispiel die Assistentin des Vorsitzenden der Staatsduma, Sliska  Ljubow, öffentlich erklärt, dass man Journalisten untersagen müsse, Untersuchungen zu machen. Der Minister für das Pressewesen, Michail Lessin, erklärte, dass man das Pressegesetz ändern müsse. Untersuchungen sollen nur noch nach Gerichtsbeschluß möglich sein und Quellen nur Forschern eröffnet werden dürfen. Das würde auf der Stelle zehntausende von Anklagen gegen Journalisten nach sich ziehen. Man könnte jeden Journalisten zwingen zu erklären, woher er die Informationen hat.
Die Lage ist sehr ernst, besonders nachdem der Sicherheitsrat eine neue Sicherheitsdoktrin vorgelegt hat. Das ist eine absolut sowjetisches Dokument. Dort gibt es diese schwammigen Floskeln wie „Informationskrieg“, „Waffen der Information“, man müsse „dem Einfluss ausländischer Medien Widerstand leisten“. Mit Letzterem sind offensichtlich Radiostationen gemeint wie „Deutsche Welle“, „BBC“, „Stimme Amerikas“, „Radio liberty“. Es ist klar, dass die Macht davon träumt, die Sender mundtot zu machen, denn wenn sie wieder Staatspropaganda betreibt, werden die Leute wieder in der Küche sitzen und westliche Sender hören.

Putin hat kürzlich Journalisten zu einem Gespräch eingeladen. Was wurde dort beschlossen?

OLEG PANFILOW: Es wurde nichts beschlossen. Die Informationen über dieses Treffen waren äußerst dürftig. Offenbar hat Putin die Versammlung gebeten, öffentlich nicht verlauten zu lassen, worüber man dort gesprochen hat. Aber dieses Treffen war natürlich ein sehr bezeichnender Vorgang.

Welchen Einfluß hat Putin in Sachen Medien auf die GUS?

OLEG PANFILOW:  Er ist ein Mensch mit imperialen Sichtweisen und selbstverständlich will er den Einfluß Russlands auf die GUS erneuern. Das gelingt ihm jedoch ebenso schlecht wie vielen anderen russischen Politikern vorher. Mir scheint, dass die GUS ohnehin stirbt. Aber leider ist es nicht Putin, der sich mit der Politik gegenüber der GUS beschäftigt, es sind nicht einmal die Ministerien des Landes, sondern die Militärs. Darin liegt das Problem. Die Länder, in denen es keine russischen Militärbasen gibt, sind ziemlich schnell von Russland weggekommen, aber da, wo es Militärbasen gibt, werden die Länder noch einige Zeit unter dem Einfluss Russlands stehen.

Und welches Bild bieten die Länder der GUS?

In Russland wird es schlechter, aber dort wird es noch schlechter. Die Lage in Zentralasien wird schwieriger und schwieriger. In Kirgisien, das man die Insel der Demokratie in Zentralasien nannte, haben die Journalisten heut sehr viele Probleme. Es gibt nur zwei Länder in der GUS, wo es weniger Probleme gibt, Armenien und Maldowien. Nur in diesen beiden Ländern, wo die Präsentenwahl einen demokratischen Wechsel des Präsidenten gebracht hat, kann man ansatzweise von Freiheit des Wortes reden. Alle anderen Länder durchleben zur Zeit eine sehr starke Krise im Verhältnis von Macht und Presse.

Wenn man nicht nur abstrakt reden will, womit können Sie helfen?

OLEG PANFILOW: Nun, praktisch, also dorthin Computer zu schaffen oder Möbel, das ist Unsinn. Man muss den Leuten einfache Dinge erzählen: Wenn ich Seminare in Kirgisien oder Kasachstan durchführe, dann sehe ich, was Journalisten brauchen. Das ist Erstens: Kenntnis von Gesetzen. Zweitens, in Ländern wie Kirgisien oder Kasachstan, wo man Meetings oder picketing-lines durchführen kann, wird die Situation nicht genutzt, weil die Journalisten nicht wissen, wie man das anstellt. Ich habe im letzten Jahr den Journalisten von Kasachstan beigebracht, wie man eine Demonstration, wie man eine richtige picketing-line  durchführt. Dazu kommt rein professioneller Unterricht:. Viele Journalisten wissen ja nicht, was Management ist, was modernes Design usw.

Das klingt nach einem Aktivisten für Menschenrechte. Ich könnte mir denken, dass staatliche Stellen das nicht besonders schätzen.

OLEG PANFILOW: Das ist wahr. Ich habe mich in dieser Sache praktisch nicht ein einziges Mal mit staatlichen Vertretern getroffen. Ich bin mit einigen Präsidenten von Ländern  der GUS bekannt, aber ich traf sie nur, als ich Experte der OSZE für Menschenrechte war. Damals habe ich mich mit Präsidenten Turkmeniens, Kirgisiens, Kasachstans, Tadschikistans getroffen. Aber jetzt, wo ich mich mit Fragen der Medienfreiheit befasse, gehen mir alle diese offiziellen Leute aus dem Wege. Sie schicken ihre Assistenten vor, Pressesekretäre usw., die Dinners organisieren, und sich dann bemühen, mich während des Dinners davon zu überzeugen, dass es da nichts zu schützen gebe, dass die Journalisten Idioten seien usw. usf. – Wenn es ein gutes Essen war, sage ich Danke. (lacht) Das war´s dann aber auch.

Ihre Organisation befindet sich hier in Moskau, bearbeitet aber den GUS-Raum. Wie verbindet sich das?

OLEG PANFILOW: Im Grunde ist die Lage der Journalisten in Russland, in Kasachstan,  der Ukraine oder in Armenien die gleiche. Wir kommen ja alle aus der früheren Sowjetunion. Die Probleme sind rundherum absolut identisch. Was wir für die Journalisten Kasachstans tun, ist also genauso nützlich für die Journalisten Moldawiens. Natürlich gibt es Details. In Moldawien entwickelt sich sehr schnell eine Presse in rumänischer Sprache, also in der Sprache des Landes. Auch in Usbekistan schreibt man jetzt mehr in Usbekischer Sprache als in russischer. In Kasachstan und in Kirgisien ist es genau umgekehrt. Dort kehrt die Presse zur russischen Sprache zurück. Dort fühlt sich die Presse in kirgisischer oder kasachischer Sprache sehr schlecht. Dann gibt es noch finanzielle Varianten: Wenn es in Kirgisien zwei Zeitungen gibt, die sich durch Verkauf selbst tragen, so gibt es solche Zeitungen in Kasachstan nicht. In Moldawien ist das Geschäft mit der Presse sehr gut entwickelt, in Azerbeidschan dagegen wieder nicht. Da sind die unabhängigen Zeitungen äußerst arm. In Azerbeidschan gibt es überhaupt nur die Aufteilung in staatliche und oppositionelle Presse, unabhängige gibt es kaum.

Befassen Sie sich nur mit Zeitungen?

OLEG PANFILOW: Nein, mit allen Medien. Ich denke, dass wir uns demnächst auch noch mit dem Internet beschäftigen werden, denn es ist zu erwarten, dass der russische Geheimdienst demnächst die Provider kontrollieren will und die elektronische Post.

Welche Pläne haben Sie für die nächste Zeit?

OLEG PANFILOW: Sagen wir: Geld zu bekommen, um gut arbeiten zu können. Unser aktuelles Monitoring-Programm wird von der Stiftung SOROS finanziert, dem „Institut für eine offene Gesellschaft“ aus Budapest. Für die Zukunft hoffen wir auf deutsche Stiftungen. In Moskau ist eine sehr anormale Situation entstanden, in der viele Organisationen vor allem aus amerikanischen Fonds finanziert werden., einige immer aus denselben Quellen. Für Neue ist der Zugang da sehr schwer. Das ist schon fast eine Mafia. Deshalb bemühen wir uns um Finanzierung aus anderen Ländern.

Die „Stiftung zum Schutze von Glasnost“ hat zwei Bücher zum ersten Krieg in Tschetschenien herausgegeben, die große Beachtung in den russischen, auch in internationalen Medien fanden.

Russland: Auf dem Weg zum „Nationalen Kommunismus“? Gespräch mit Gennnadij Schuganow, Vorsitzender des ZK der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ und Leiter ihrer Fraktion in der staatlichen Duma.

Die Bomben von Grosny haben deutlich gemacht, dass Boris Jelzin nicht mehr allein Herr der Lage ist. Zeit also, sich mit der Opposition genauer zu befassen. Einen Schlüssel zum Verständnis dessen, was als „patriotische“ Alternative zu Boris Jelzin möglich ist, liefert Gennadij Schuganow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation.
Mit Schuganow stritt sich Kai Ehlers.

Kasten:
Gennadij Schuganow wurde im Februar 1993 zum ersten Vorsitzenden des Zentralkomitees der nach Aufhebung des KP-Verbotes neugegründeten „Kommunistischen Partei der Russischen Föderation“ gewählt. Dem ZK der neuen Partei gehören unter anderen Nikolaj Ryschkow, sowjetischer Premierminister unter Michail Gorbatschow, und Jegor Ligatschow an, der im Westen als orthodoxer Gegenspieler Gorbatschows galt. Bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember `93 wurde die Partei mit 12,4 Prozent der Stimmen und 65 Parlamentsitzen drittstärkste Kraft.
Schuganow war in sowjetischen Zeiten, so seine Selbsteinschätzung, wissenschaftlicher Parteiarbeiter und Universitätsdozent für Philosophie, Theorie und Ideologie. Beim Ende der KPdSU saß er bereits im ZK.
Seinen eigenen Angaben zufolge wurde die Partei in allen russischen Republiken, Verwaltungsbezirken und Regionen wiederaufgebaut und hat mittlerweile 550 000 Mitglieder. Nach einer ganzen reihe von Parteiversammlungen und wissenschaftlichen Konferenzen formulierte sie im April 93 ein Minimalprogramm. Darin setzt sie sich auf ökonomischer Ebene für vielfältige Formen des Eigentums ein. Priorität soll aber Gemeineigentum haben. Sie strebt eine breite „Union aller staatstragenden patriotischen Kräfte“ an, die Boris Jelzin ablösen soll. Sie soll sich für Gerechtigkeit, Humanität und „Duchownost“ einsetzen. Dieser Begriff hat seine Wurzeln in der Geschichte der russischen Staatskirche. Heute wird er im Sinne von höherer Geistigkeit benutzt, wobei die religiöse Bedeutung deutlich mitschwingt. Es geht, sagt Schuganow, um „Ideale, die charakteristisch sind für Russland, und zwar nicht nur für die letzten siebzig Jahre, sondern für die ganze russische Geschichte und Kultur.“

K. Ehlers: Es heißt, Sie seien unbestrittener Chef der Partei,
ähnlich wie Schirinowski.

G.Schuganow: Nein, nein! Schirinowski hat einer „Führerpartei“. (deutsch) Er trifft Entscheidungen, die sind verbindlich. Bei uns gibt es nichts dergleichen: Bei uns wirkt ein Präsidium. Darin sitzen äußerst seriöse Leute, Leute mit hoher wissenschaftlicher Ausbildung, Leute die in hohen Strukturen der Verwaltung gearbeitet haben. Das sind alles Akademiker, wissenschaftliche Korrespondenten, Direktoren großer Unternehmen, Universitätsdozenten, Abgeordnete staatlichen Wirkens…

K. Ehlers: Der Vergleich mit Schirinowskis Partei wird aber von vielen im Lande gezogen…

G.Schuganow: Das scheint mir ein ungesundes Interesse. Wenn Sie diese Frage interessiert, wenden Sie sich an Schirinowski. Ich halte es nicht für nötig, meine Zeit mit der Erörterung dieses Themas zu verschwenden. Ihm wird viel zu viel Aufmerksamkeit auch von Ihrer Seite gewidmet – weitere Ausdehnung des Landes, die Vernichtung der nationalen Kultur, die „Lumpenisierung“ der Bevölkerung, das legt einen Grund für politischen Extremismus. Eine solche Politik ist nicht nur für uns tödlich, sondern für ganz Europa.

K. Ehlers: Also, zu anderen Fragen, Privatisierung: Im Volksmund heißt sie schon lange „Prichwatisazija“, Raub. Jetzt hat Ihr verehrter Präsident einen Ukas herausgegeben, demzufolge nun eine zweite Phase der Privatisierung beginnen soll. Was bedeutet das?

G. Schuganow: Was in Russland Reform genannt wurde, erschien zunächst als Dezentralisation der Verwaltung, als Privatisierung, als Liberalisierung der Preise und als Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Praktisch hat sich das alles genau ins Gegenteil verkehrt. Eine Demokratisierung gibt es nicht, stattdessen Alleinherrschaft des Präsidenten und der ihn umgebenden Kreise, die niemand gewählt hat und die unkontrolliert und unverantwortlich das Vermögen des Landes vergeuden. Die Privatisierung verkehrte sich in massiven Raub, vor allem durch die staatlichen Beamten. Da gibt es reichlich Beispiele. Tschubais prahlte erst kürzlich damit, dass er aus der Privatisierung ein Einkommen von gut 27 oder ich weiß nicht wie viel Milliarden erzielt habe. Entschuldigung, aber das sind 30 Millionen Dollar! Das heißt, er hat das Land um ein Kapital gebracht, das ungefähr dem einer mittleren Firma entspricht. Da kann man sich vorstellen, wohin das übrige Geld verschwunden ist und auf welche Weise und wer den Nutzen davon hat. Außerdem ist die Privatisierung in einer solchen Weise durchgeführt worden, dass sie sich heute scheuen, vor Vertretern der Volksvertretung offenzulegen, wie diese erste Etappe, die sogenannte „Voucher“-Privatisierung („Volksaktien“) abgelaufen ist und wo diese Mittel abgeblieben sind. Für mich ist das Wesen dieser ganzen Operation vollkommen klar: Wenn man die internationalen Statistiken anschaut, dann wurde in unserem Lande über viele Generationen hinweg ein Vermögen von 150 000 Dollar pro Kopf gebildet. Statt dieses nun in der Weise zusammenzutragen, dass das Kapital in die Hände der Arbeitskollektive kommt und damit dem gemeinsamen Aufbau dient, wurde alles getan, dass es genau anders lief: ein winziger Teil wurde als Aktien ausgegeben und für ein paar Dollar aufgekauft, das waren damals 10.000, gut 1.000 Dollar) den Rest von 149.000 Dollar verteilten sie unter sich.
Die zweite Etappe der Privatisierung beinhaltet, bei bereits paralysierter Produktion, durch massive Bankrotte, mit den Mitteln verschiedener Aufkauffonds einzelner Clans von Ganoven und der Mafia und unterstützt von ausländischem Kapital, das Vermögen zusammenzuziehen, das es inzwischen im Lande gibt. Das ist schon keine Privatisierung mehr, sondern De-Nationalisierung, Zerstörung des Staates, seiner elementaren Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, eine noch nie gesehene Versklavung und Demontage der industriellen Entwicklung des Staates und Wiederkehr der alten Ausbeuterstrukturen.
Es gibt jedoch ein großes „Aber“: Ein solches System, wo einer den anderen beraubt, während er vorgibt, ihm zu helfen, hat noch nirgendwo funktioniert, angefangen in Rom: Es gibt keine Ethik, Gesetze gelten nicht, sogar die, die sie schreiben, zerstören sie am nächsten Tag. Aber jetzt hat man sich zum Ziel gesetzt, dass Eigentum in der Hand von drei, maximal fünf Prozent zu konzentrieren und alle anderen auszurauben. Dabei hat man die Restlichen aber schon bis ins Unerträgliche ausgeraubt. Man hat sie schon zu Arbeitslosen gemacht. Jeder Zweite im Lande erhält schon keinen Lohn mehr. Die Rede ist nicht von irgendwelchen Zuschlägen, sondern von Lohn! Zwanzig Millionen sind heute schon ohne Arbeit. Alle tragenden sozialen Garantien, angefangen bei der Bildung bis zur medizinischen Versorgung sind zerstört. Den Menschen wird es bald reichen. Dann werden sie fragen: Wo ist meine Arbeit?

K. Ehlers: Ich verstehe die die neu angekündigte Phase der Privatisierung so, dass jetzt der Kampf um die Vorherrschaft beginnt.

G. Schuganow: Ja, der Kampf zwischen den Clans, die ihr Gründungskapital zusammengetragen haben, hat schon begonnen. Die Kapitale sind aber vor allem im Finanz-System zusammengetragen worden. Der Kampf findet also zwischen Bank-Kapital und Industrie statt. Die, welche große Mittel zusammengekauft haben, wollen das jetzt in Waren materialisieren, in Nahrungsmitteln, in Immobilien.

K. Ehlers: In den letzten Monaten sind Moskau, St. Petersburg und andere größere Städte sichtbar aufgeblüht. Die Läden sind voll. Wer Geld hat, kann kaufen – und die Leute kaufen. Das gilt sogar für kleinere Orte in der Provinz. Im Land aber sieht man, dass die Produktion steht, dass die Landwirtschaft vor sich hinkrankt. Ich erlebe die Blüte als künstlich, als Scheinblüte.

G. Schuganow: Ich stimme dem zu, aber sie ist nicht nur einfach künstlich, sondern künstlich herbeigeführt. Der Anschein der äußeren Verbesserung besteht nur an einzelnen, herausgehobenen Punkten, in Moskau zum Beispiel, St. Peterburg. Zwischen den größeren Zentren auf der einen und der Provinz auf der anderen Seite, vor allem dem Lande bildet sich inzwischen ein Verhältnis heraus wie zwischen erster und dritter Welt, verstehen Sie? Durch Moskau zum Beispiel werden heute ungefähr 70% der finanziellen Ressourcen Russlands geschleust. der Rest ist bloß noch fetter Schaum, der sich auf die restliche Bevölkerung verteilt, die weiter verarmt. Eine Seelenlosigkeit ohne Gleichen breitet sich aus, der Konsum wächst ins Unermessliche; auf der anderen Seite ist der Unterschied zwischen den Ärmeren und den Reicheren schon um das Dreiundzwanzigfache gewachsen, in Fragen der sozialen Sicherheit um das Zehnfache. Gleichzeitig sind die Preise für Industrie-Produkte gewachsen, die für Textilien zum Beispiel, für landwirtschaftliche Ausrüstung. Eine Erneuerung der Ausrüstung ist nicht möglich. Das ist praktisch in allen Verwaltungsbezirken und Regionen so. Wenn sie in die Provinz gehen, sehen sie sterbende Dörfer, stillstehende Produktion, eine „lumpenisierende“ Bevölkerung, wachsende Hilflosigkeit. Womit das endet, kann man voraussagen.

K. Ehlers: Die Regierung erklärt, die Situation habe sich stabilisiert. Es gibt auch Gerüchte über eine bevorstehende Geldreform.

G. Schuganow: Die Stabilität ist ziemlich niedrig. Es findet eine Atomisierung der Gesellschaft statt, eine Betonung des privaten Interesses. Das ist wirtschaftliche Alchimie, obwohl auch die, die zuerst heiße Aktien erhielten, schon erste große Schocks erlitten haben. Das ganze dauert bis zum 1. Oktober. Danach wird man sehen, dass die landwirtschaftlichen Betriebe nicht zurechtkommen, dass keine Heizungsmöglichkeiten bestehen, dass sich die Energieversorgung unzureichend ist. Das umschließt die Möglichkeit von Kälte-Aufständen, die sich über ganz Russland ausbreiten. Dazu gibt es keinerlei Lebensmittelvorräte für diesen Winter. Deshalb werden da noch völlig neue Schwierigkeiten auf die Regierung zukommen. Das ist ganz offensichtlich.

K. Ehlers: Mein Eindruck ist, dass die Leute bescheid wissen, aber an Aufstand denken sie nicht. Vor Unruhen haben alle Angst.

G. Schuganow: Das ist richtig. Das ist bei uns schon ein genetisches Gedächtnis: In Russland gab es in den letzten hundert Jahren vier große Kriege, schwerste Repression. Sie hat 100 Millionen Menschen vernichtet. Deshalb verstehe ich meine Landsleute vortrefflich. Sie sind für friedliche, ruhige Entscheidungen der Widersprüche. Sie sind nicht auch bereit für sofortige Neuwahlen des Präsidenten. Deshalb bereiten wir gegenwärtig nicht eine Unterschriftenliste für vorgezogene Präsidentenwahlen vor, sondern dafür, dass ihr Termin durch eine zentrale Versammlung festgelegt wird.

K. Ehlers: Auch von Klassenkampf wollen die Menschen nichts wissen.

G. Schuganow: (lächelt nachsichtig) Ungeachtet dessen findet aber eine Proletarisierung der Masse der Bevölkerung statt, das bedeutet die die Entstehung von Klassenbewusstsein.

K. Ehlers: Die polit-ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die Marx für den westlichen Kapitalismus beschrieben hat, scheinen hierzulande aber zurzeit offenbar nicht zu greifen…

G. Schuganow: (lacht) Bei uns greifen zurzeit überhaupt keine Gesetze, nicht einmal die Ukase des Präsidenten.

K. Ehlers: Die soziale Differenzierung wird aufgefangen durch patriarchale Fürsorgestrukturen. Das „Wir“ steht über der Differenzierung.

G. Schuganow: (lacht) Das ist einfach unsere Mentalität, die kollektivistische, der komplizierte Charakter einer traditionellen Gesellschaft. Wir haben keine bürgerliche Gesellschaft vom Typ Deutschlands. Deutschland ging seinerzeit vom religiösen Typ einer Gesellschaft zur bürgerlichen über. Bei dieser Prozedur hat es damals fast die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Das War auch äußerst krank und schwierig. Wir haben dagegen eine korporativistische und kollektivistische Art zu Denken und die korporative Art, die Regierung zu organisieren, liegt uns näher. Also ist uns Japan näher oder China, um uns bei Entscheidungen zu helfen, als Amerika, das uns mit Gewalt Leute aufdrängt, die selbst zu Haus die Praxis nicht kennen.

K. Ehlers: Wenn ich die aktuelle Blüte in den Städten beobachte, dann drängt sich mir die Frage auf: Woher kommt das Geld?

G. Schuganow: Das ist schnell erklärt: Das Land ist reich. Man verschleudert Straßen, ganze Städte, Häuser, Stadtviertel. Man verkauft die eigenen Wohnungen zu wahnsinnigen Preisen, man handelt mit strategischen Materialien, Metallen. Es wird verkauft, was das Zeug hält. Estland ist auf den ersten Platz im Verkauf von Edelmetallen gerückt. Geld in der Produktion anzulegen, ist nicht profitabel. Wenn Du investierst, verheizt Du es: Steuern, achtzig bis fünfundachtzig Prozent, die Kreditbedingungen. Profitabel ist, mit Geld oder mit Waren zu handeln, die du vermittelst, schnell umschlägst, in die du aufs Neue investierst. Da kriegst du solides Fett.

K. Ehlers: Und wie lange, glauben Sie, kann das so weitergehen?

G. Schuganow: Ich denke, im Herbst oder Winter dieses Jahres wird das zusammenbrechen. Die Frage ist allein, in welcher Form das geschieht. Wir sind dafür, die Macht auf friedlichem Wege an die national-staatsbejahenden Kräfte zu überführen: Gründung einer Union der volksverbundenen und patriotischen Kräfte – Kommunisten, Sozialisten, Agrarier, national orientiertes Industriekapital, Veteranenorganisationen, Frauen …

K. Ehlers: Eine Art Volksfront?

G. Schuganow: Eine Volksbewegung. Wir nennen es „Union der staatbejahenden patriotischen Kräfte. In vielen Regionen ist bereits Realität. Dort sind bereits normale, sachkundige Leute miteinander tätig.

K. Ehlers: Normale, sachkundige Leute? Was heißt das in der gegebenen Situation?

G. Schuganow: Einfach Leute, die regieren können, die die Gegebenheiten ihres Landes kennen, die das Schicksal ihres Landes kennen, seine Besonderheiten, die Psychologie seines Volkes, Menschen, die wirklich reflektierten, was geschieht und die nicht in dieser oder jener abseitigen Ideologie engagiert sind, der sie folgen müssen.

K. Ehlers: Schirinowskis Leute und andere Patrioten nennen Russland heute ein „Land der Okkupanten.“ Früher wurden die Deutschen bei Ihnen so genannt. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?

G. Schuganow: (lacht verhalten) Es liegt eine gewisse Wahrheit darin. Ich habe seinerzeit alle Dokumente gelesen, die mit der deutschen Besetzung zusammenhängen. Da gab es Empfehlungen der Art, besonderes gute Verbindungen mit Leuten herzustellen, die öffentlichen Einfluss haben, Schriftsteller, Leute mit Autorität usw. Es gab sogar Empfehlungen, die kollektiven Strukturen der Sowchosen und Kolchosen nicht vollkommen zu zerstören, weil eine hungrige Bevölkerung andernfalls unruhig werden könnte. Jetzt reißt man dagegen alles auseinander. In unseren Dörfern kann man heute nichts kaufen und nichts produzieren, keinen Traktor, keinen Mähdrescher, nichts. Unsere heutige Elite, Schriftsteller, Künstler, Spezialisten haben angesichts ihrer gebrochenen Existenz (lacht unfreiwillig sarkastisch) sehr schnell begriffen, dass ihr Leben durch die Ankunft der Okkupanten nicht besser geworden ist, sondern schlechter. Ich selbst benutze den begriff nicht. Ich denke, der Hauptwiderspruch in unserem Lande verläuft zur Zeit zwischen national-staatlichen Kräften und der kompradorischen Ausverkäufern, die nicht nach links und nicht nach rechts schauen, wenn sie nur verkaufen und sich dabei bereichern können.

K. Ehlers: In welchem, Verhältnis steht die von Ihnen beabsichtigte Bewegung staatsbejahender patriotischer Kräfte zu nationalen Bewegungen in den Republiken?

G. Schuganow: In einen Vielvölkerland ist es sehr wichtig eine Politik zu betreiben, die maximal die eigene Traditionen, Sprache, Gewohnheiten, Kultur schützt und für deren weitere Entwicklung eintritt. Aber verbunden damit muss man auch für den Schutz der Spezifika eintreten, die für die Gründung der russischen Staats-Union, der UdSSR galten. Einer der Gründer dieser Union war eben das russische Volk. Deshalb ist es notwendig, sich dem Schutz der russischen Sprache zu widmen als der Sprache der zwischen-nationalen Beziehungen. Wenn Sie jetzt ein paar Schritte weiter auf die Twerskaja (eine der großen Straßen Moskaus), da erleben Sie, dass dort fast nur noch Englisch gesprochen wird.

K. Ehlers: In einem ähnlichen Gespräch wie diesem hat mir Alexander Prochanow letztes Jahr wörtlich erklärt, er sei Faschist. Auf die Frage, was das bedeute, sagte er: „Ich bin ein traditioneller Imperialist (Schuganow lächelt) in dem Sinne, dass ich allen ihren eigenen kulturellen Weg zubillige, vorausgesetzt, dass sie unsere Vorherrschaft akzeptieren. Wir Russen sind die wichtigsten, die kultiviertesten, die stärksten.“ Sie kooperieren doch mit Prochanow. Wie stehen Sie zu solchen Äußerungen?

G. Schuganow: Nun, ich denke, Prochanow hat nicht gesagt, dass er Faschist sei. Das ist nicht wahrscheinlich. Er ist ein Mensch, der national-staatliche Interessen verfolgt und das mit seinen Mitteln macht. Er ist ein befähigter, talentierter Schriftsteller, Literat und Publizist, dem zuzuhören mir angenehm ist. Aber da sind die Fakten, da ist die Geschichte der Entwicklung des russischen Staates: Wer war der Sammler der Erde? Das Moskauer Zarentum, die Kiewer Rus, die russische Herrschaft. Was war die UdSSR- die geopolitische Form des russischen Imperiums? In jedem beliebigen Staat gibt es ein Volk, welche den Aufbau des Staates trägt. Die Russen stellen in der jetzigen Föderation 84% der Bevölkerung. Man muss die Traditionen, Gewohnheiten, Kulturen genau ansehen, muss sehen, wer in die Republiken gegangen ist, nach Mittelasien, Kaukasien, dort technische Hilfe für die Produktion hingebracht, dort entsprechende Institute entwickelt hat, wer zum Beispiel dort die schwierigeren Teile der Produktion leistet. Jetzt nimmt man die Russen auf, die von dort kommen, Massen, die ihre Häuser zurücklassen, Wohnungen, ganze Fabriken. In Kirgisien ist die Schwerindustrie praktisch zum Stillstand gekommen – aus eigenen Kräften schaffen sie es dort nicht. Das ist die bekannte historische Mission und es verbietet sich, das in der gegebenen Situation nicht anzuerkennen. Wer hat das geopolitische Gleichgewicht hier aufrechterhalten, das russische Imperium, die Sowjetunion im Laufe von drei Epochen? Jetzt ist diese Balance der Kräfte zerstört worden. Jetzt werden neue geopolitische Räume gebildet und es ist nicht ausgeschlossen, dass uns alle äußerst unangenehme Entwicklungen erwarten. Deshalb müssen die besonderen Wege verschiedenster Völker und Staaten unbedingt als Lehre für die weitere Entwicklung genommen werden.

Ich weiß, wie sich beispielsweise Deutschland herausgebildet hat: ein Reich, das zweite, das dritte. Da ist eine besondere Seite der Geschichte. Aber ich kann in Ihrer Literatur nicht sehen, dass man sich jeden Tag gegenseitig dafür beschimpft, dass Hitler an die Macht kommen konnte und dass man sich bis auf die Haut deswegen zerfleischt.  Bei uns dagegen zieht man die Untersuchungen über die Vergangenheit ins Endlose und beschäftigt sich in keinster Weise mit der Gegenwart. Man hat die Generationen auseinandergerissen, die ältere gegen die jüngere gehetzt, die jüngere dabei verloren, unklar wofür und für wen. Jetzt plündern sie die Geschichte, einfach erniedrigend, völlig ohne Perspektive.

K. Ehlers: Was Hitler betrifft, irren Sie. Bei uns gibt es eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte.

G. Schuganow: Ich habe drei Jahre in Deutschland gedient. Ich kenne Ihre Gegebenheiten ganz gut. Man hat Literatur darüber, das Thema wird erörtert, aber ohne Selbsterniedrigung. Man untersucht, versucht zu ergründen, aber ohne von jedem zu fordern, dass er ständig seine Geschichte ausbreitet.

K. Ehlers: Ich möchte noch einmal zu Prochanow zurückkehren. Er sagte mir, sei Faschist in dem Sinne…

G. Schuganow: (unterbricht grob) Ich bitte Sie, diesen Terminus nicht zu gebrauchen. Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Ich habe davon nie etwas gehört…

K. Ehlers: Ich kann ihnen sagen, was er mir direkt ins Mikrofon diktiert hat: Er wolle den Korporativismus Mussolinischen Typs und den russischen Anarchismus vereinen, das werde möglicherweise Faschismus – aber ohne rassistische Aspekte. Halten Sie das für eine vertretbare Position?

G. Schuganow: Nun, wenn Sie auf dem Thema weiter herumreiten, dann sage ich Ihnen geradeheraus: Was kann ein Mensch denken, dessen Vater, dessen sämtliche Verwandte an der Front umkamen, um ihr Vaterland zu schützen und der sich jetzt persönlich dafür einsetzt, die Gerechtigkeit in seinem Lande zu verteidigen? Faschismus unterscheidet in ideologischer Hinsicht durch zwei Qualitäten davon: das ist der nationale Antrieb und die nationale Ausschließlichkeit. Beides ist Russland, aber auch dem russischen Menschen absolut fremd. Und zum zweiten hat der Faschismus, als er an die Macht kam, als allererstes die Kommunisten an die Wand gestellt. Nichts dergleichen hat es in Russland gegeben und gibt es auch jetzt nicht, wenn ich es nicht an Gaidar und Co festmachen will. Die fordern nämlich zur Zeit ein Verfahren gegen alle führenden Kräfte, die Mitglieder der KPdSU waren, fordern die Aberkennung von Titel, die in der KPDSU erworben wurden bei mehr als der Hälfte der Schriftsteller, die dort waren. Das Herumreiten auf der Vorstellung eines Faschismus in Russland erweist sich damit als künstlich.
Überhaupt: „Rot-braun“ ist nicht mehr als ein gut ausgedachter psychologischer Begriff, um die Roten zu erniedrigen, die doch die Braunen in Europa aufgehalten haben, die dem deutschen Volk damit geholfen haben und die dafür nicht nur mit zwanzig Millionen Menschen bezahlt haben, sondern mit weitaus mehr. Bei der Volkszählung in Russland am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten 194 Millionen Menschen in Russland. Das Wachstum der Bevölkerung betrug fast vier Millionen. 1945 hätten es 200 oder 215 Millionen Menschen sein müssen. Geblieben sind uns 167 Millionen. Wir verloren also fast 50 Millionen. Deshalb sind alle Versuche, faschistische Philosophie auf russischem Boden zu installieren, insbesondere unter meinen Bekannten in der Partei, moralisch völlig unannehmbar. Da wird nur versucht, Unvereinbares miteinander zusammenzukleistern: Was ist denn „rot“ in der russischen Sprache? Schöner Platz, schönes junges Mädchen, schöner Ort, schönes altes Bauernhaus. Nein, nein, das ist ein Versuch, die ganze nationale Kultur und Sprache, die sich in tausenden von Jahren geformt hat, zu vernichten. Nein, das ist ein psychologischer Trick derer, die Russland erniedrigen, es verachten, zerstückeln, sich die größte Mühe geben, das nationale Bewusstsein und die nationale Kultur zu zerstören. Ich halte das für eine scheußliche Angelegenheit. Bedauerlichewerweise beschäftigen sich damit viele unserer Journalisten, die die Spaltung sähen, also die alte von der jungen Generation trennen. Sie bemühen sich um die „Neuen Russen“, für die sogar gewaltsame Auflösung des Parlaments (Schuganow benutzt das für diesen Fall auch im Volksmund gebräuchliche Wort „rastrel“, Erschießung für Auflösung) ein Schauspiel ist, aber keine nationale Tragödie, für einige von ihnen.

K. Ehlers: In den „Moskowski Nowosti“ ist soeben ein Artikel unter der Fragestellung „Nationaler Kommunismus?“ über ihre Partei erschienen. Trifft das Ihre Linie?

G. Schuganow: (lacht verächtlich) Was diesen sachunkundigen, talentlosen Artikel betrifft, so entspricht sein Inhalt mit Sicherheit nicht der der realen Meinung unserer Partei. Was das Wort „Kommunismus, Kommune“ angeht, so ist ja das nur die Übersetzung des russischen Begriffes von gemeinschaftlich (Schuganow sagt, „obschteschstwenni“, das leitet sich von „obschtschina“ her, Bauerngemeinde). Da geht es einfach um das Primat gemeinschaftlicher Interessen vor privaten. Durch die ganze Geschichte zieht sich der Kampf dieser zwei Tendenzen: Aber das kann ich voraussagen: Wenn diese privatistische Tendenz siegt, dann wird in zwanzig Jahren von unserem Planeten nichts übrig bleiben. Man wird alles ausplündern und zugrunde richten. Schon lange sind die individuelle, gemeinschaftlichen Bedürfnisse und die privaten in schweren Widerspruch mit der Natur geraten. Auch Deutschland wird nicht blühen, wenn diese Probleme nicht gelöst werden.
So haben wir auch jetzt den Kampf dieser Tendenzen und er wird sich entscheiden. Die Annäherungen an eine Lösung sind verschieden. Zum Beispiel Deutschlands Verwirklichung der Marktwirtschaft, das ist ja Ergebnis einer Geschichte, die Sie auch nicht besonders erfreut. Wenn man also jetzt beginnt, mein Land mittels verschiedner historischer Tatsachen runterzumachen, der Art, dass es da den Oktoberumsturz gegeben habe um., dann frage ich nur: Und die Massenaufstände Iwan Obolotnikows, Stepan Rasins, Emiliano Pugatschows – von wem wurden die unterdrückt. Was war mit ihnen? Waren sie Bolschewiken? Waren sie Kommunisten? Der Aufstand der Dekabristen, der Offiziere und viele andere Ereignisse? Nein, wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie, kollektivistisch, ökumenisch (Schuganow benutzt den religiösen Terminus „sobornost“, heilige Versammlung), korporativistisch. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.

K. Ehlers: Das wäre Ihr Weg für Russland?

G. Schuganow: Nun, jeder hat seinen Weg. Da sind die japanischen Besonderheiten, da ist Ehrhards Weg. Gaidar macht alles genau umgekehrt: Ehrhardt hat die Liberalisierung der Preise ganz an den Schluss gesetzt, das war der letzte Akt seiner Reform, er wusste sehr gut, warum. Es gibt das chinesische Modell, die chinesischen Besonderheiten. Es gibt einen nationalen Charakter des Menschen. Das kann man nicht übergehen. Kann man halb Russe und halb Estländer sein? Man kann. Kann man zur Hälfte Russe sein und zur Hälfte Ukrainer? Man kann. Aber man kann nicht zur Hälfte katholisch und zur Hälfte prawoslawisch (russisch-orthodox christlich) sein. Das muss man begreifen. Es gibt nationales Kolorit und nationale Besonderheiten. Ich zum Beispiel habe in Deutschland mit Vergnügen „Ordnung ist Ordnung“ gehört. In Russland gibt andere Traditionen…

K. Ehlers: Welche Bündnispartner kommen für Sie in Frage, welche nicht? Wie ist es etwa mit Schirinowski, wie mit Barkaschow?

G. Schuganow: (lacht aggressiv) Man hat mir gesagt, sie seien ein seriöser Mensch. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie solche banalen Fragen stellen, hätte ich mich auf das Gespräch gar nicht eingelassen. Das ist sinnlos. Wenn Sie sich mit diesem Thema beschäftigen wollen, bitte, das ist nichts für mich. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, die keinen Krieg in Russland wollen, keine territorialen Aufspaltungen, mit allen im Hause, die damit übereinstimmen. Schirinowski ist Delegierter der Staatsduma. Er ist Mitglied des Rates genau wie Gaidar, Jawlinksi. Er sitzt nebenan und redet mit. Das ist die Realität, die ich anerkenne, die ich anerkennen muss. Hinter Schirinowski steht zudem nicht die ganze Partei, nicht einmal die gesamte Fraktion. Da gibt es verschiedene Leute und Leute mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen. Deshalb arbeiten wir mit allen zusammen, die nicht wollen, dass Russland in der Tragödie eines massiven Umsturzes untergeht.

K. Ehlers: Das Ganze läuft doch auf eine Erneuerung der im Herbst 93 aufgelösten „Front der nationalen Rettung“ hinaus?

G. Schuganow: Ja, die Schaffung einer Union der staatsbejahenden patriotischen Kräfte ist der Schlüssel für die Lösung der Krise. Bei uns sind alle Systeme zerstört: Der Staat existiert nicht mehr. Das Eigentum ist in räuberischer Weise verteilt. Die Sicherheit geht gegen Null. Unsere Armee wird zur Gefahr, statt dass sie gegen Gefahr schützt. Die Hälfte ihrer Vertreter blieb ohne Wohnungen in diesem kalten Winter. Mit einem Menschen, der die Automatische in der Hand hat, darf man so nicht umgehen. Die kulturellen Traditionen sind zerstört. Die Mediensysteme geben nicht das Bild, Man drängt dem Land fremde Religionen auf. Das ist nicht mehr nur einfach gefährlich, das ist schon eine Situation, die mit gewöhnlichen Mitteln fast nicht mehr zu heilen ist. Mit jedem Tag verstärkt sich diese Situation und Ihr guter Freund (er meint Schirinowski), der bereits Regisseur eines Orchesters wurde, hat kaum die Rezepte zur Heilung.

K. Ehlers: Eine abschließende Frage: In der deutschen, aber auch in der russischen Politik beginnt man neuerdings wieder von einer „deutsch-russischen Achse“ zu sprechen. Was halten Sie davon?

G. Schuganow: Ich schätze, dass die geopolitischen Interessen Deutschlands und Russlands einander nicht widersprechen. Beide Länder können auf sämtlichen Gebieten zusammenarbeiten, auf wirtschaftlichen, auf kulturellem, in der Sicherheit, bei in geopolitischen Verbindungen, beliebig. Objektiv sind Deutschland und Russland an der Entwicklung einer Beziehung interessiert.

K. Ehlers: (697) Meinen Sie, dass da eine privilegierte Beziehung entsteht?

G. Schuganow: Es ist auf jeden Fall einer der Prioritäten russischer Politik.

K. Ehlers: Sie wissen, dass die Nachbarstaaten Angst davor haben?

G. Schuganow: Nun, Große und Starke fürchtet man immer.

*

Soeben erschien von Kai Ehlers:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 300 Seiten.

Über den „gespaltenen Zentralismus“ Gespräch mit Valentin Falin im „Institut für Friedensforschung“

Valentin Falin war von 1971 bis 1978 Botschafter der UdSSR in Bonn. „Sieben Jahre, vier Monate, drei Tage“, sagt er. Seit dem 14.1.92 hält er sich in Hamburg auf, wo er im „Institut für Friedenforschung“ ein wissenschaftliches Projekt über Verlauf und Ergebnisse der Perestroika verfolgt. Mit Valentin Falin sprach Kai Ehlers.

I: Herr Falin, sie leben jetzt in Deutschland. Kamen Sie freiwillig oder als Emigrant?

F: Freiwillig wäre überzogen gesagt. Es ist vor allem die Notwendigkeit, einen Ersatz zu schaffen für meine verlorenen Voraussetzungen, zuhause wissenschaftlich zu arbeiten. Ich habe in Russland meine wissenschaftliche Bibliothek verloren, die Notizen, die aus den letzten dreißig Jahren stammen. Sie waren in meinem Büro im ZK. Ich habe sie nicht herausbekommen. Hier sind die Bedingungen für eine normale analytische Arbeit viel besser. Deswegen haben meine Frau und ich das Angebot des „Instituts für Friedensforschung“ angenommen.

I: Sie sind bekannt als jemand, der auch während der Zeit der etwas gespannteren Beziehungen zwischen Ost und West immer für einen Dialog eingetreten ist. Wie kommt es, dass in einer Situation, in der der Ost-West-Dialog im Mittelpunkt steht, gerade Sie in solche Schwierigkeiten kommen?

F: Es ist nur ausgewählten Personen bekannt, was ich zu verschiedenen Zeiten zu tun versuchte, um die Partei umzuordnen, unsere Gesellschaft, unsere Innen- und Außenpolitik. Das ist ziemlich lange her. Ich hatte Möglichkeiten, mit ersten Personen des Staates und der Partei einen ganz direkten Kontakt zu pflegen. Ich begann meine Arbeit in einer Analysezentrale, die für Stalin Papiere verfertigte. Später, Anfang der sechziger Jahre, hatte ich das Privileg und (lächelt verhalten) die Strafe jede Woche seinen Nachfolger Chruschtschow zu sprechen und ihn zu hören…

I: Wieso Strafe?

F: Weil seine Monologe nicht immer so überaus interessant war. Am Ende war es auch ein bisschen traurig, zu beobachten, wie ein Mann zugrunde ging, indem er über sich selbst stolperte.

I: Wie stehen Sie zu dem sogenannten Putsch?

F: Das ist ein merkwürdiger Putsch in jeder Beziehung. Ich würde ganz definitiv sagen: Wenn dieser Versuch im Geheimen vorbereitet war, so vor allem geheim gegenüber der Partei. Ich selbst war zu der Zeit der Auslösung des Putsches im Urlaub. Ich kam erst nach Moskau, als die Krisensitzung, die ich als Präsident leiten sollte, schon beendet war und konnte nur, sozusagen am Rande, meine Fragen stellen. Da bekam ich von dem geschäftsführenden Mann, Schenin, die Antwort: Stellen auch Sie keine Fragen, auf die Sie keine Antworten kriegen! Mein hartnäckiges Bohren provozierte eine weitere Replik von ihm: Das sei vor allem eine Frage des Staates und nicht der Partei! Am nächsten Tage habe ich, wie auch die anderen, erfahren, der gleiche Schenin habe im Namen des Sekretariats ein Telegramm an die Parteiorganisation des Ortes verbreitet, in dem es hieß, dass man namens der Organisation das Komitee unterstütze. Es wurde in dem Telegramm aber auch gefragt, wie weit die Maßnahmen der Verfassung entsprächen. Heute wird der zweite Teil des Telegramms weggelassen, der sich auf die Verfassung bezieht. Es wird nur der erste zitiert, also, die Maßnahmen des Komitees zu unterstützen. Das wird als Beweis angeführt, dass die Führung der Partei in die Vorbereitungen und Ausführung des Putsches involviert war. Das war nicht der Fall!

I: Abgesehen von dem, was sich da im Hintergrund alles abgespielt hat, hätten Sie sich mit den Zielen des „Notstandskomitees“ identifizieren können?

F: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil die Putschisten formell die Respektierung des Volkswillens aus dem Referendum vom 17. März 91 zum Ausdruck gebracht und für die Einhaltung der Verfassung plädiert hatten. Soweit die Verfassung existiert, soweit die Gesetze in Kraft sind, egal, ob gut oder schlecht, sollen sie respektiert werden, wenn sie durch andere, durch bessere nicht ersetzt werden. Das ist das Prinzip aller Staaten, egal welchen  Systems. Aber, was die Methoden angeht, die Gewalt und vor allem die Pläne des „Komitees“, ihre Opponenten in Konzentrationslager zu verbannen und alle regelmäßigen Treffen außer Kraft zu setzen, das würde ich strikt ablehnen. Das haben wir in unserem Lande schon erlebt. Für mich war es vollkommen undiskutabel, so etwas zu wiederholen.

I: Wenn ich mir heute anschaue, wie Jelzin regiert, dann ist das doch genau das Notstandsregime, für das vorher die Putschisten eingetreten sind.

F: Ich kann bedingt der These zustimmen, dass Jelzin nicht gerade weich regiert und außerordentlichen Methoden nicht vollkommen fremd ist. Das ist auch Gegenstand der Kritik an ihm im Kongress der Volksdeputierten. Es ist auch eine besondere Frage, die eine Analyse braucht, wie drei Personen alle Verträge und alle verfassungsmäßige Entscheidungen aus dem Jahre zweiundzwanzig und später außer Kraft setzen konnten und der Existenz der Sowjetunion ein Ende bereiteten. Das schafft viele ungesetzliche Situationen. In dem Sinne ist unser Land noch weiter von einem Rechtsstaat entfernt als je zuvor.

I: Es gibt Stimmen bei Ihnen im Land, die die Sache so sehen, dass im Grunde ein Zustand erreicht worden sei, wie vor der Perestroika – nur unter anderer Form.

F: Es gibt verschiedene Meinungen zu diesem Thema. In außerordentlichen Situationen ist es unmöglich, mit ordentlichen, weißen Handschuhen  zu regieren. Es ist nur eine Frage des Maßes und des rechtlichen, wenn Sie gestatten, Taktes. Ich selbst würde vorziehen, dass keine Rückschläge in der Frage der Rechtspflege entstünden. Kontinuität beim Aufbau einer Gesellschaft, in der das Recht regiert und nicht Personen, wäre mir lieber. Dafür bin ich immer eingetreten, längst vor Perestroika. Ich habe zum Beispiel versucht, Chruschtschow zu überzeugen, dass eine Regierung der Sachverständigen viel vorteilhafter wäre als die Regierung der Parteifunktionäre. Aber ich würde eine andere Frage in den Vordergrund stellen, nämlich: Welches Programm der Präsident ausführen soll und entsprechend dem Programm würde ich seine Vollmachten bestimmen, nicht umgekehrt.

I: Wie beurteilen Sie das, was unter den Stichworten der Privatisierung und der Marktwirtschaft bei Ihnen im Lande passiert? Mir scheint, da entsteht nicht Marktwirtschaft, sondern Chaos.F: Ich stimme Ihnen zu. Dieses Chaos ist von der Tatsache abzuleiten, dass die Leute, die über Marktwirtschaft, über Privatisierung sprechen, im Grunde nicht verstehen, worüber sie sprechen. Was ist ein Markt? Man sagt bei uns, das sei die Frage des Eigentums. Aber Markt ist vor allem die Frage des Wettbewerbs. Ob ein Staatsmonopol oder ein privates Monopol existiert, dem Markt ist das gleichermaßen schädlich, ebenso für den Konsumenten. Wenn wir einen Markt erreichen wollen, müssen wir vor allem dafür Sorge tragen, dass von diesem Markt die verschwinden, die imstande sind, den anderen Dank ihrer Monopolstellung ihren Willen aufzuzwingen, ihre Preise, ihre Quantität, ihre Qualität und vieles andere mehr. Ich habe versucht, das dem Generalsekretär zu erklären, später dem Präsidenten Gorbatschow, den Kollegen im obersten Sowjet, in der Führung der Partei. Man darf das nicht verwechseln. Man muss erst mit der Demonopolisierung der Wirtschaft beginnen.

I: Schließt das die nationale Selbstständigkeit mit ein?

I: Welchen Weg würden Sie beschreiten wollen?

F: Einen demokratischen.

I: Eine Förderation?

F: Es kann auch eine Konföderation sein. Eine Föderation würde den internationalen Trend mehr entsprechen, aber keine aufgezwungene, sondern eine freiwillige, erkannt aus ökonomischen, ökologischen und anderen Imperativen, die uns bei Gründung des Staates dahin bewegten, nicht auseinander, sondern zusammen zu gehen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Auf diesem riesigen Territorium, das früher Sowjetunion hieß, gab es in der Geschichte kein einziges Jahr, in dem es überall zugleich eine gute Ernte gab. Das heißt, bei den vielfältigen klimatischen Bedingungen, die in dem Lande existieren, sind oder waren verschiedene Teile des Volkes und des Landes aneinander gebunden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die russische Dorfgemeinde bis Anfang dieses Jahrhunderts existierte. Nur gemeinsam, als eine Gemeinde im Dorfe, als eine gemeinsame Institution der oder anderer Art war es möglich, mit diesen Herausforderungen der Natur fertig zu werden. Wie jetzt? Wie wird es jetzt sein? Das ist eine Frage, auf die man keine Antwort gibt und die Frage, die man gerne vermeidet.

I: Die KPdSU, als zentraler Mechanismus, hat die alten gemeinschaftlichen Strukturen ja praktisch, nun sagen wir, vom Anspruch her ersetzt. Jetzt ist sie zerfallen. Was kann an ihre Stelle treten?

F: Nun, es wird so sein: Anstelle einer Staatsideologie wird eine andere eingepflanzt, die als demokratische oder als demokratischere bezeichnet wird. Aber wie ein Monopol in der Wirtschaft, so führt auch das Monopol in der Ideologie, in der Kultur in der Politik in die Sackgasse. Das ist mit unserer kommunistischen Partei geschehen. Das wird auch mit anderen geschehen, die versuchen, eine Ideologie zu erfinden und sie zu pflegen, egal wie sie heißt. Vom Wettbewerb der Ideen – das konnte in einer Partei schon geschehen. vom Wettbewerb von verschiedenen Schulen der Philosophie, der Kultur, der Kunst usw. kann man sich etwas versprechen. Gerade in diesem Punkt hat Stalin – und seine Nachfolger auch – den Marxismus der Seele beraubt. Was Stalin aufbaute, war Antisozialismus. Stalins Modell hatte mit Sozialismus nichts zu tun. Und wenn man heute über den Niedergang des Stalinsozialismus spricht, dann, korrekter gesehen, trägt man den Antisozialismus stalinschen Schlages zu Grabe.

I: Ich sehe darin schon eine Entwicklungsform des Sozialismus. Man darf sich nicht um die historische Kritik drücken.

F: Es ist nicht die heutige Erkenntnis, dass Stalin etwas dem Sozialismus Entgegengesetzes aufgebaut hat. Das ist zum ersten Male im August 1932 formuliert worden, und zwar von Rüting. Stalin tötet unter dem Motto „Leninismus!“, unter dem Motto „Proletarische Diktatur“. Das war damals schon Leuten klar. Später war es bequem aus verschiedenen Gründen, auch aus materiellen, diese Lehren zu vergessen. Und dieser langwierige Abschied vom Stalinismus: sechsundfünfzig mit Chruschtschow eingesetzt und bis zum Ende der Perestroika nicht zu Ende geführt!  Wie anders konnte die Partei von den Methoden dieser grausamen Zeit Abstand nehmen, als dass sie letztenendes ein eigenes Todesurteil unterschrieb! Ich habe das ganz offen gesagt, 1957, mehrmals später ’68 aus Anlass des Prager Frühlings, dann ’80 aus Anlass der Geschehnisse in Polen, ’86 aus Anlass der Gestaltung des ideologischen Programms der Perestroika. Aber es gab die Weiseren, die imstande waren, der Führung etwas anderes nahezulegen.

I: Halten Sie eine politische Sammlungsbewegung unter Gedanken des konservativen Kommunismus in der ehemaligen SU für möglich?

F: Das hängt davon ab, wohin das Land weiter steuert. Wie der Weg, der heute beschritten wird, die Bevölkerung herausfordert, auf die Straße zu gehen. Wenn, was ich befürchte, dieser Sommer eine katastrophale Missernte bringt, weil auf dem Lande alles fällt, dann – Ende! Dann ist nichts ausgeschlossen! Dann wird es den Ruf nach einer „harten Hand“, einer Art von Stalin, Neo-Stalin oder ich weiß nicht wie geben. Das wird leider nicht so verstanden. Es wäre das für lange Zeit das Ende des Versuches, eine unblutige Veränderung zustande zu bringen. Bei allem, was Gorbatschow gut oder schlecht gemacht hat, bei all dem, was wir heute mit dem sogenannten Putsch in Zusammenhang bringen – man vermied Blut, Meere von Blut! Das schien mir eine ganz neue Qualität in der Entwicklung nicht nur unserer Ordnung zu sein, sondern in der Entwicklung der internationalen Politik überhaupt, weil es bis dahin kaum jemanden gelang, den Sprung aus einer sozialen und politischen Qualität in die andere ohne Opfer zu unternehmen.

I: Betrachten wir in diesem Zusammenhang die Politik des neuen Deutschland. Nützt sie einer solchen friedlichen Transformation?

F: Nun, die Bundesrepublik vertritt ihre eigenen Interessen. Das ist legitim und verständlich. Die Regierung will beweisen, dass das, was erreicht wurde, Wiedervereinigung Deutschlands, Abschaffung einer militärischen Gefahr, Ergebnis einer langfristigen Ostpolitik war, an der die CDU, zum Teil die FDP aktiv teilgenommen, die sie zum Teil mitgestaltet habe. Nach diesen Vorstellungen ist alles, was im Osten passierte, ein Sieg des Staates, ein Sieg der Regierung, ein Sieg der Ordnung, die hier in der Bundesrepublik existiert. Man versucht sogar den Gedanken zu entwickeln, die Ostpolitik am Anfang der 70er Jahre (also, die der SPD – K.E.) sei eine falsche Politik gewesen. Hätte man sie nicht betrieben, wäre der Zusammenbruch der UdSSR und der DDR schon früher eingetreten! Das heißt, man unterstellt, dass die Politik der Gewalt eine produktive gewesen sei. Sie soll fortgesetzt werden in der oder einen anderen Form. Die Zeit für solche Politik ist nicht abgelaufen. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Neben den Vorteilen, die aus der Entwicklung entstanden sind, erkennt man auch klare Nachteile: Es gab eine stabile Situation im Osten, solange die Sowjetunion existierte. Es gab eine überschaubare Politik des Landes, soweit es überhaupt möglich ist. Es hatte sich auch eine Praxis herausgebildet, die eine Kontrolle über die Rüstungen ermöglichte etc. Praktisch sind wir heute alle in einer Null-Situation. Wir müssen vieles aufs Neue beginnen. Es ist zwar merkwürdig, aber doch eine Tatsache, dass der Abrüstungsprozess sich irgendwie im Stillstand befindet. Man braucht neue Konzepte, braucht neue Mechanismen, braucht vieles weiteres Neues. Aber wie dieses Neue aussehen wird, weiß niemand im Moment.

I: Ist die deutsche Vereinigung ein Ergebnis erfolgreicher deutscher Politik oder des Zusammenbruchs, bzw. einer klugen Politik von Seiten der Sowjetunion?

F: Beides gehört zusammen. Es gibt keine einheitliche und nicht nur eine einzige Antwort auf eine solche Frage. Ich würde Folgendes sagen wollen: Die Frage, wann die Spaltung überwunden werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Aber es ab verschiedene Modelle der Entwicklung. Es gab auch verschiedene Zeitvorstellungen für eine solche Wiedervereinigung und die damit zusammenhängende Überwindung der Spaltung Europas, Überwindung der Spaltung in der Welt. Wenn es anders verlief, so ist das zum Teil Ergebnis der von der sowjetischen Führung herbeigeführten Politik, von Manövern in dieser Politik, die bis heute nicht erklärt sind. Zum Teil ist es auch Ergebnis der sehr dogmatischen Position der damaligen DDR-Führung. Und letztenendes war es auch eine Entwicklung der ganzen Situation im Warschauer Pakt-Bereich.

I: Wenn Sie das Ergebnis betrachten, das dabei herausgekommen ist, dieses neue Deutschland: War es das wert?

F: Dieses neue Deutschland wird in den nächsten Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die heutige Entwicklung ist viel teurer als die, die möglich gewesen wäre, wenn man Alternativen berücksichtigt hätte. Sie ist vor allem für die einfachen Menschen teurer, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist. Letztenendes wird das technologische Niveau in den neuen Bundesländern höher sein als in den alten Bundesländern, zum Teil höher als in anderen europäischen und möglicherweise auch in nicht-europäischen Ländern. Man setzt neueste Produktionen ein wie nach einem Kriege. Neueste Technologien, die nicht im Kompromiss mit alten in Angriff genommen werden, sind den alten immer einige Jahre voraus. Kein Land inklusive Japan ist imstande so etwas zuhause zu leisten. Das ist einfach zu teuer. Ich gehe davon aus, dass die Deutschen es schaffen, obwohl das, ich wiederhole, ungeheuer viel materielle, moralische und menschliche Kosten verursacht. Aber letztendendes bin ich sicher, soweit alles normal in der Welt verläuft, ist das erreichbar für dieses dynamische Volk und für diesen dynamischen Staat. Dies haben die Deutschen nicht nur einmal in der Geschichte bewiesen.

I: Kann dieses Deutschland, das Sie so beschrieben haben, Modell sein für die ehemalige Sowjetunion?

F: Ja, wenn Deutschland seine Potenzen in einer konstruktiven, friedlichen Politik zu verwirklichen sucht und nicht in einer Politik der Gewalt, direkt oder indirekt, wenn Deutschland versteht, das es ein Teil Europas und der Welt ist, und nicht ein Zentrum und, dann ja. Ich möchte aber auch unangenehme Aspekte nennen, die leider auf Grund der Analyse nicht auszuschließen sind: Ein äußerer Zwang, so zu sein, ist auch für Deutschland verschwunden. Die Existenz der DDR bewegte Bundesdeutschland, stärkeres Gehör zu entwickeln gegenüber Forderungen von Mittelschichten, Bauern, Rentnern, als unter anderen Umständen politische Führungen bereit sind zu zeigen.

I: Es gibt bei uns viele Leute, die sich einem neuen starken Deutschland fürchten.

F: Solche Gefahren sind immer latent. Es hängt davon ab, ob die Atmosphäre, die materiellen und die anderen Voraussetzungen existieren, die aus dieser latenten Gefahr eine akute machen. Die jüngsten Wahlen in Baden-Würthemberg und Schleswig-Holstein haben gezeigt, dass dies als ernste Herausforderung zu verstehen ist. Ich möchte nicht zu denen gehören, die solche Gefahren überschätzen. Unterschätzen und überschätzen ist gleichermaßen falsch. Man muss genau wissen, woher der Wind weht und welche Methoden es gibt, um die Entwicklung nicht nur zu überwachen, sondern nach Möglichkeit zu beeinflussen. Das ist die Kunst der Politik, die Kunst, die uns zu eigen zu machen wir verurteilt sind, wenn wir uns über die Zukunft der nächsten Generation Gedanken machen wollen.

I: Viele beklagen ja auch die gegenwärtige Weltunordnung und sehen sich zum früheren Status quo zurück. Was halten Sie davon?

F. Die Bi-polare Welt beugte manchen Amokläufen der einzelnen Nationen vor. Andererseits ist die heutige Entwicklung kein Schlusspunkt. Die andere Ordnung wird sich etablieren, die den modernen Herausforderungen adäquater ist als die, die es gegeben hat.

I: Welche neue Ordnung, gar welche neue Utopie könnte sich Ihrer Ansicht nach aus dem Zusammenbruch entwickeln?

F: Erst einmal war das keine Utopie. Das war ein praktischer Versuch, eine praktikable Ordnung zu gründen, ein Versuch, der im Laufe der Entwicklung entartete, auf Grund des Kampfes auf Leben und Tod mit dem anderen System, also praktisch Sozialismus in einem Lande und nach dem Kriege in mehreren Ländern. Dieser Versuch hat keine friedliche Stunde erfahren. Das war ein permanenter, zermürbender Kampf. Auch in diesem Kampf hätte eine Ordnung, die sich als sozialistische bezeichnet, allerdings nicht zugrunde gehen müssen, wenn die Führer dieser Ordnung eine korrekte Politik durchgeführt hätten. Das war aber auch nicht der Fall.Trotz allem hat die sozialistische Idee in diesem Jahrhundert ganz tiefe Spuren hinterlassen. Wenn Sie den Kapitalismus von heute mit dem Kapitalismus aus dem Jahre ’17 vergleichen, dann sind auch das zwei verschiedene Ideologien. Das ist nicht von ungefähr vom Himmel gefallen, Das ist ein Ergebnis der Anpassung des Kapitalismus an die neue Welt, die dank dieses Versuches, Sozialismus aufzubauen, entstanden ist. Wenn schon der Versuch solche Folgen gehabt hat, dann können wir uns vorstellen, welche produktiven Potenzen in der Idee der sozialen, der nationalen und der menschlichen Gerechtigkeit liegen. Das ist nicht die Frage des Marxismus etc. Der Sozialismus ist viel älter als der Marxismus. Die Idee ist wenigstens zweitausend Jahre alt. Deswegen die Idee zu Grabe zu tragen, weil die marxistische Variante dieser Idee sich nicht so gerechtfertigt hat wie gewünscht, ist weder fair noch praktikabel.

I: Welche Schlussfolgerungen haben Sozialisten Ihrer Meinung nach aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen?

F: Sozialisten sollen einmal irgendwann versuchen, nicht nur sozialistisch zu plaudern, sondern sozialistisch zu denken und vor allem zu handeln. Sozialistisch, das heißt, die Moral in den Vordergrund zu stellen, das Wort der Tat gleich zu machen. Es heißt, keine leichten Versprechungen zu verstreuen, um Stimmen zu gewinnen, und dafür Sorge zu tragen, dass nicht die Gewalt die Welt regiert, sondern Recht und nicht einzelne Personen die Schicksale der Zivilisation und des Individuums gestaltet.