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von und mit mir

Revolution oder Revolte (jetzt auf deutsch)

Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie Du mit Deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semi-kapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie Du ihn nennen würdest bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die ‚Verdammten dieser Erde‘ heute eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland in dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?

Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht Deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun. Dieser Mangel ergibt sich aus objektiven Bedingungen, nicht aus unseren politischen Überzeugungen. Gleichgültig, was wir oder Leute wie wir in den 1980er-Jahren dachten: Sozialismus oder Revolution hatten damals keine Chance. Als wir glaubten, dass eine theoretisch hergeleitete Alternative wesentlich sei, hatten wir Unrecht. Alternativen haben in der Vergangenheit niemals Revolutionen hervorgebracht und werden das auch in der Zukunft niemals tun. Im Gegenteil: Nur andauernde Revolutionen bringen reale (nicht falsche, utopische oder imaginierte) Alternativen hervor.
Es ist seltsam, dass Du Russland »semi-kapitalistisch« nennst. Was ist falsch am russischen Kapitalismus? Warum soll ein russischer Oligarch ganz anders sein als ein amerikanischer, deutscher oder peruanischer? Das Weltsystem integriert alle Länder, und es gibt spezifische Nischen für die deutsche verarbeitende Industrie wie für russische, lateinamerikanische oder saudische Ökonomien, die den globalen Kapitalismus mit Rohstoffen und anderen Ressourcen versorgen. Dies macht die Kapitalismen jeweils besonders. Aber dieses Modell der Arbeitsteilung, das im Neoliberalismus entstand, ist nun in einer Krise, die uns über Kriege und Revolutionen in eine andere, sich radikal von der gegenwärtigen unterscheidenden Gesellschaft führen wird.
Der ökonomische Zerfall ist die Ursache der Krisen, die wir rund um uns herum erleben, einschließlich des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der wenig zu tun hat mit Demokratie oder Nationalismus. Trump, Brexit, Nawalny, der Krieg im Donbas und die Kapitulation von Syriza in Griechenland, die unerwarteten Erfolge von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind nur einige weitere Symptome dafür. Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten? Sowohl als auch. Viel hängt davon ab, wie wir entstehende Möglichkeiten nutzen und die Gefahren meistern, die auf uns zukommen.

Kai Ehlers: Zweifellos stehen wir am Beginn einer globalen Krise des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Form. Ich meine auch, dass Russland Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft ist – allerdings auf eine spezifische Weise, die Du als »peripher« bezeichnest, die ich als »hybrid« beschreibe. Wir sind uns auch einig, dass Erscheinungen wie Trump, Brexit, sogar Syrien etc. Symptome einer Entwicklung sind, die uns zu einer völlig anderen Gesellschaft führen wird.
Aber was meinst Du damit, wenn Du sagst, dass viel von unserem Handeln abhängt? Also was nun: Hängt ein Prozess, der objektiv abläuft, dennoch vom subjektiven Eingreifen ab? Wenn Revolutionen nicht von erdachten Alternativen erzeugt werden, sondern von objektiven Prozessen, mehr noch: wenn Alternativen erst von diesen Prozessen erzeugt werden – dann müssen wir klären, wie dies geschieht, was unsere Rolle dabei ist, wer überhaupt dieses »Wir« ist.
Auch was Deine Einschätzung über Krieg und Revolution anbelangt, liegen wir vielleicht nicht auf einer Linie. Muss die globale Erhebung, die wir erwarten, notwendig mit einem globalen Krieg einhergehen? Sie ist sicherlich nicht mit der Französischen, Russischen oder irgendeiner früheren Revolution vergleichbar, die sich von einem Land aus in der Welt ausgebreitet haben. Und ein globaler Krieg ist heute nicht wie der Erste oder Zweite Weltkrieg als Nebeneffekt radikalen sozialen Wandels oder zu dessen Verhinderung führbar. Er würde beide Seiten – Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus etc. ebenso wie Ansätze sozialer Befreiung – in einem einzigen dreckigen Aufwasch zerstören.
Natürlich haben wir heute eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt: lokale Proteste und Revolten, verschiedene Arten des Terrorismus, die von den Härten der Endphase des Kapitalismus hervorgebracht werden. Das ist der aktuelle Prozess, von dem Du sprichst. Aber bisher führt er nicht zu dem einen großen Knall, der einen globalen Revolution oder dem einen globalen Krieg, sondern radikalisiert sich Stufe um Stufe. Und solange dies so ist, kann es nicht unsere Rolle sein, mit aller Kraft Revolten anzuheizen, wie es gerade ein paar vereinzelte Militante, aus deren Sicht Gewalt eine ausreichende Botschaft darstellt, beim G20 in Hamburg versucht haben. Wir müssen Wege und Bilder zeigen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können und wie diese aussehen könnte.
Und daher ist es wichtig, die Widersprüche und Unterschiede zwischen den kapitalistischen Staaten zu sehen, zwischen entwickeltem und peripherem Kapitalismus, zwischen Kulturen, bis hin zu verschiedenen Formen von Widerstand oder möglichen Alternativen für unterschiedliche Völker mit unterschiedlichen sozialen und historischen Hintergründen. Das gilt auch für die gegenwärtige russische Gesellschaft, die von der besonderen sowjetischen Geschichte und Strukturen der Dorfgemeinschaft geprägt ist, auch wenn diese heute vom Kapitalismus überlagert sind.
Ich bin mit Dir einer Meinung, dass Alternativen immer konkret sind. Doch brauchen sie eine Leitidee; keine geschlossene Ideologie, aber Gedanken und Visionen, wie das Leben sein könnte. Um dies auf unser Thema zu beziehen: Die Revolution der heute Ausgestoßenen wird nicht über Revolten oder schlimmstenfalls faschistische Tendenzen hinauskommen, wenn sie sich nicht statt auf bloßen Aufruhr auf Ideen einer humanen Zukunft stützt, die auf überlieferten Werten beruht.

Boris Kagarlitzki: Anscheinend sind wir immer noch auf eine Vorstellung von Revolution fixiert, wie sie der stalinistische »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)« präsentiert. Als wären die Bolschewiki, sagen wir 1916, bereits eine verankerte Kraft gewesen! Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung aber existierten sie tatsächlich nicht. Alternativen, die naheliegend schienen, hatten wenig mit dem zu tun, was dann tatsächlich geschah. Wenige Wochen, bevor Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ihre Kampagnen begannen, gab es sie politisch nicht. Und genau darin war ihr Erfolg begründet. Gegenwärtig haben nur Bewegungen, Anführer, Ideen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, Aussicht auf Erfolg. Alles, was da ist und sichtbar, ist entweder bereits oder wird schnell diskreditiert. Und das hat keine ideologischen Gründe, sondern liegt daran, dass nichts von dem, was innerhalb des Bestehenden unternommen wird, funktionieren kann. Das ist ein objektiver Vorgang. Für mich ist nicht relevant, ob die Leute den Neoliberalismus mögen oder nicht. Tatsächlich mochten sie ihn nie. Aber Privatisierung und Deregulierung kamen, weil sie funktionierten. Nicht für die Mehrheit, aber für die Eliten. Nun aber führt die neoliberale Hegemonie ins Nichts, weil das System seine Potentiale erschöpft hat. Es kann sich einfach nicht mehr reproduzieren, seine Erträge können nicht einmal mehr die herrschenden Klassen zufriedenstellen – und das ist es, was Leute wie Trump oder Nawalny hervorbringt.
Die Ironie heute liegt darin, dass uns nicht die Möglichkeiten fehlen, sondern die Ziele. Die Linke ist zu einer Gemeinschaft liberaler Intellektueller geschrumpft, die sich für Tierrechte, Schwule und Feminismus interessieren (aber nicht für die real existierenden Tiere, homosexuellen Paare oder Frauen aus der Arbeiterklasse). Die Linke hat sich vollständig von der Klassenpolitik entfernt; auch wenn sie sich der Klassenrhetorik bedient, so bleibt diese inhaltsleer. Ironischerweise sind es heute im Westen einige Teile der radikalen Rechten, die der Arbeiterklasse zuhören und – wenn auch verworren und inadäquat – versuchen, deren Alltagsinteressen zu vertreten.
In Russland ist im Moment die radikale Rechte sehr schwach. Das macht die Sache für die Linke einfacher. Unsere Aufgabe ist: eine neue Linke zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht eher wie die originale alte sein wird. Zurück zu den Vor-60ern, zu den 1920ern. Das klingt etwas nach der hegelianisch-marxistischen Negation der Negation. Aber überlassen wir das den Philosophen, wir müssen praktisch sein.
Wer sind »wir« heute? Als eine politische Kraft existieren wir noch nicht. Wir müssen uns selbst erschaffen. Mit sehr einfachen Gedanken – Gemeinwirtschaft, Regulierung, Wohlfahrtsstaat, demokratische Partizipation. Können wir auf das Erbe der Sowjetunion zurückgreifen? Ja, warum nicht! Nur sollten wir nicht versuchen, die Sowjetunion zurückzubringen. Das wäre unmöglich.
In dem großen Fundus von Ideen und Methoden, den die Linke lange Zeit besessen hat, können wir finden, was wir brauchen. Die aktuelle Ausgestaltung wird von der Situation und den aktuellen Bedürfnissen abhängen. Versuchen wir aber gar nicht erst, etwas Neues zu erfinden. Das hat keinen Sinn. Wir brauchen keine neuen Ideen. Wir haben ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die meisten haben sich als falsch oder nicht praktikabel erwiesen. Wir brauchen Politik. Das heißt nicht, eine Organisation aufzubauen, sondern Leute zu schulen, die in der Lage sind, bei Bedarf sehr schnell Strukturen aus dem Boden zu stampfen. Diese Arbeit wird schon heute und nicht ohne Erfolg geleistet. Die Politik wird kommen, wenn es eine Gelegenheit gibt. In einem Jahr, einem Monat, in einigen Wochen. Oder niemals.

Kai Ehlers: Nichts Neues erfinden: Ja! Schulung: Ja! Aber der Teufel steckt im Detail: was, wie und wann! Zuallererst müssen wir uns vor Augen führen, dass der Glaube an bloße Effizienz und wirtschaftliches Wachstum auf Basis von Konkurrenz die Menschheit in eine Krise geführt hat. Diese kann nur durch Kooperation in selbstgewählten Gemeinschaften überwunden werden, die sich, statt am alltäglichen Krieg aller gegen alle, an der kulturellen Entwicklung jedes menschlichen Wesens und jedes Volkes orientieren. Stichworte: Liebe, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sonst werden künftige Erhebungen nur das wiederholen, was wir heute haben – und zwar in einem schlimmeren Grad. Und was die Frage der sozialen Ertüchtigung anbelangt: lokal wie global, in der Organisation der Arbeit wie des Alltagslebens. Wir müssen Wege suchen, wie wir uns selbst, wie der wachsenden Zahl von Außenseitern körperlich, wie geistig helfen, uns und sich selbst als Individuen zu finden, »ich« sagen zu lernen, und ebenso als Kollektivmacht zu entfalten, die sich selbst in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen organisiert. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach dem Wann: Jetzt natürlich, immer jetzt, weil jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt. ‚Morgen‘ würde niemals bedeuten. Und jede Betätigung in diese Richtung ist, denke ich, eine Art von Vorbereitung. Jeder Revolution ging eine solche Vorbereitung voraus, bei der Bevölkerung, den Minderheiten, mit sozialer Fantasie und der Hoffnung auf etwas Besseres, die dazu beitrugen, die unvermeidliche Gewalt einzugrenzen. Und ich hoffe, dass es dies auch heute gibt.

Boris Kagarlitzki: Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Werte zu verkünden, während die andere Seite Politik gemacht hat. Wir müssen sehr konkret werden. Jeremy Corbyns Kampagne ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr Erfolg beruhte auf praktischen Vorschlägen. So moderat die meisten davon auch sind, wirken sie nach 30 Jahren Neoliberalismus doch radikal oder sogar revolutionär. Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen, den Öffentlichen Dienst wieder in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen, oder staatliche Investitionen, um Wachstum zu erzielen, wenn Marktanreize erschöpft sind: Das ist alles sehr einfach.
In Russland liegen die Dinge noch mehr auf der Hand. Eine große Mehrheit möchte Öl- und Gaskonzerne und andere Firmen, die die Oligarchen der Bevölkerung gestohlen haben, wieder verstaatlichen. Trotzdem kämpft keine politische Kraft für diese populären Forderungen. Warum? Weil das Volk selbst nicht für seine eigenen Interessen und Rechte eintritt. Das Problem liegt nicht bei der Linken – es liegt bei den Massen. Solange sie passiv bleiben, spielt es keine Rolle, welche Werte wir verbreiten. Die Frage ist, ob sie sich bewegen. Wenn nein, verdienen wir alle eine düstere Zukunft. Aber mir scheint ein Wendepunkt sehr nahe zu sein. In diesem Moment müssen wir die praktische Bedeutung unserer Ideen beweisen. Wenn sie hier und jetzt in ein konkretes Programm eingehen und in Handlungen, die zu einer Transformation führen, dann werden sie funktionieren, und unsere Existenz hat einen Sinn.

(Dieser Text erschien zuerst in „Melodie und Rhythmus“, Heft 4/2018)

(Eine ungekürzte englische Version auf der Website: www.kai-ehlers.de unter „Revolution or Revolt“

Siehe dazu auch: Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzky, Band I und II, laika diskurs 2013/14

 

Revolution or Revolt – Ein Dialog zwischen Boris Kagarlitzki und Kai Ehlers

Dear Boris, now we know each other for roughly 30 years. We got to know each other, when M. Gorbatschow tried to reform Soviet socialism – and when we thought to build up a socialistic Alternative in Germany. You have tried hard to cause with friends a socialist turn of the perestroika. Our common book „25 years of talks with Kagarlitzki“[i] files of it a well-spoken report. We have tried ours here in the FRG. Today we know that there did not come a reform of socialism in Soviet Union, but a semi-capitalistic Russia and some Americanization of the so called social state in Germany and Europe, a neoliberal globalization all over the world. A revolution in Russia is hardly conceivable at the moment. People are fed up with Revolution. At best another neo-liberal pseudo revolution à la A. Nawalny against the ’system Putin could be imagined ‚,against it´s ‘peripheral capitalism’, as you call it, it´s ‘hybrid structures’, as I call it,. And Germany is far from any revolutionary movement. The world is moving towards a final crisis of capitalism in many respects, but revolutionary forces which would be comparable to the forces from the beginning of the previous century are not to be seen in in the centers of capitalism. There is no determined movement beyond capitalism, no alternative floating to revolution. The center of change has moved from greater Europe, let´s say from the ‘West’ into global dimensions. I think, the possible subject of future change is lying in the global Millions of  the worldwide increasing number of ‘Marginalisierten’, of  ’superfluous‘ in earlier 3. Aand 4. world, like I call them, although, of course, the process of precarisation is not restricted to the new world. However, do they have more perspective today than a restless, aimless and permanent revolt? Which could be the role of Europe and Russia in this oncoming worldwide evolution into a post-capitalistic future?

***

Dear Kai, there are all sorts of reasons to be upset about the past failures of the left and many more reasons to worry about the future. However I don’t agree with the way you see current situation in Russia or in Europe. The lack of formulated alternative has nothing to do with the question about possibility or impossibility of a revolution. It is produced by an objective process and conditions not by our political convictions. In 1980s there were no chances for socialism or revolution no matter what you or me or other people like us used to think. We were simply wrong thinking that having an ideologically conceived alternative was essential. Alternatives never produced revolutions in the past and never will produce them in the future. On the contrary, only ONGOING revolutions produce real (not false, utopian or imaginable) alternatives. And now the revolution is becoming a real or maybe even inevitable perspective, even if nobody on the left believes in it.

On the other hand, it is very strange that you call Russia “semi-capitalist”. What is wrong with Russian capitalism? Why do you think that Russian oligarch is so different compared to American, German or Peruvian one? The world-system is quite integrated and there are different niches in it for German economy of manufacturing and Russian, Latin American or Saudi extractionist economies providing global capitalism with raw materials and other resources. This makes these capitalisms quite specific. But this very model of division of labour which was created under neoliberalism is in crisis. And there is no way it can overcome this crisis unless we have wars and revolutions that will somehow lead us to a different society. To which extent this society will be socialist or will bring us close to socialism is another matter. But it will be radically different from the current one.

This economic disintegration is the deep cause of major event we see around us, including the crisis between Russia and the West which has very little to do with issues like democracy or nationalism. Crimea is no more important that the Austrian prince unfortunately assassinated in Sarajevo in 1914. Was First World War about it. Of course not! It was about the crisis of then existing model of imperialism.

Trump, BREXIT, Naval’ny, war in Donbass and the surrender of Siriza in Greece, unexpected successes of Jeremy Corbyn or Bernie Sanders are nothing more than just a few of the INITIAL symptoms of a massive upheaval, which is in its very beginning. Is it good news or bad news? A bit of both. But much will depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers.

***

Dear Boris, let’s first get clear in what we seem to agree. There is no doubt, that, as You call it, a massive upheaval against the current economic system and life order is in its very beginning. And I should add, that we are talking about a global dimension, of course, following out of the fundamental crisis of capitalism in its present neoliberal form. And of course revolutions result out of objective processes. And I agree, that today’s Russia is part of this world wide process, although in a specific way, which you call peripher, which I call semi-capitalistic or hybrid. This is a topic of it´s own, of course. I agree, too, that current political topics like Trump, Brexit, Nawalny, Donbass, even Syria etc. pp. are symptoms  of this upcoming development, and there can be no doubt, that this development, as you say, will lead us to a “somehow different society, but in any case radically different from the current type of society”. Definitely, yes!

But questions, which may be controversial, rise, when you are stating – virtually just by the way –, that this can happen by war or revolution and questions rise further on, when You finish Your statements with the sentence, that much would depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers. So what? Is the objective process, nevertheless, depending on subjective interfering?

These, I think, are just those questions, which should be set clear: If revolution is not roused by alternatives, but by objective processes, moreover, if alternatives are produced by the ongoing process, so how is this proceeding, what is our part in this process, and who are “we”?

Is revolution and war a necessary, provoking asked, a ‘как бы‘ (somehow) natural connection? Couldn’t it be, that revolution under today’s conditions of a strongly linked up world does not necessary mean war, more exactly said, that the global upheaval, which is to be expected, is not necessarily bound to a global war?

It seems to me, that this is the main question, if we won’t understand history and social processes as mere, quasi natural outbreak of spontaneous power, but ask for the historical subject on the historical level of evolution.

I think the outstanding global upraise is not comparable to French or Russian or any other earlier revolution, which spread out of one country into the world in each case. And I think, a global war is not leadable in the kind of the first and second world war today as side effect or maybe even prevention of radical social changes, without destroying both, capitalism, imperialism, neo-liberalism etc. and social freeing impulses in one big dirty washing-up.

Of course we have a growing readiness for violence today, local protest, local revolts, different sorts of terrorism, produced by the cruelty of the final crisis of capitalism. This is the ongoing process, about which You are talking. But as far as this process is not bursting out in one big bang, neither the one global revolution nor the one global war, but amplifying step by step, our part can’t be just heating up revolts by force or too provoke upraises, like tried by some lonely militants just now in Hamburg, to whom violence as violence was already a sufficient message. We have to look for, to find and to show ways and images, how another world could look like – if the power shall not only „blow up“.

And in this sense – to come back to this question here – I think it important, to see the contradictions and differences between the capitalistic states, between  developed and peripheral capitalism, between cultures, as far as different forms of opposition or possible alternatives with different people with a different social and historic background arising from them. This is valid also to the Russian society of today, which I called a hybrid capitalism, as it implies special Russian-Soviet history and structures of communitarism (общинность), even if at the moment in capitalistic covered form. You remember, we have been talking about this often as a specific Russian-Soviet heritage, wondering in what way it will change.

I agree with you again completely – alternatives are always concrete, but they need a leading idea; that does not mean a closed ideology, but ideas, images like life could be. To sharpen it on the title of our dialogue revolt or revolution: the possible revolution of today’s outcasts will stuck in revolts, or even in fascistic tendencies, if it does not rise from the bare clamour to the image of a more human future, based on the esteem of traditional values.

***

Dear Kai! It seems that we are still obsessed by the vision of revolution presented in Stalinist Краткий курс истории партии. (Kurze Geschichte der Partei) As if Bolsheviks were from an already existing popular force, say, in 1916. In fact, from the point of view of public opinion they didn’t exist. And alternatives that were actually visible “on the table” had very little to do with what actually happened. Jeremy Corbyn or Bernie Sanders politically didn’t exist a few weeks before they launched their campaign. And that was exactly the secret of their progress. In the current situation only a movement, a leader, an idea, coming from almost “nowhere” is going to have a chance. Everything that is present and visible is either discredited or going to be discredited. And not because of ideological reasons, but because nothing, that can and will be tried within current system would work. This is an objective process. I don’t care whether people like neoliberalism or not. In fact they never did. And no matter how much people subjectively disliked privatization or de-regulation, it happened because it was working – not for the majority but for the elites. Now it is the other way round. Even if they managed to establish neoliberal hegemony in many ways, that leads nowhere because the system exhausted its potential, it simply can’t reproduce itself, it can’t (in its practical results) satisfy even the ruling classes – and that’s where people like Trump or Naval’ny are coming from.

So what should we do, and who are “we”?

Political success depends on understanding the objective situation, opportunities, provided by it and on adequately using these opportunities to reach your goals. The irony is that we do not lack opportunities, but the left lack goals. The left became no more than a community of liberal intellectuals interested in animal rights, gays and feminism (but not interested in actually existing animals, single-sex couples or working class women). It completely abandoned class politics even if it reproduces class rhetoric without thinking of its content. Ironically, it is now some sectors of the Far Right in the West we really listen to what working class people say and try to represent their daily interests. However their represent these interests in confused and inadequate form.

It is interesting that at this moment Russian Far Right is very weak, so in many ways the task for the left is easier. What do we have to do: we have to create yet another new left. Which will be in many ways more like the original old one. Back to the pre-60th. Back to the 1920th. Seems a bit like Hegelian-Marxist Negation of Negation (Отрицание отрицания – I don’t know the original German term). Anyhow, let philosophers conceptualize this, we have to be very practical.

Who are “WE” now? We don’t exist yet – as a political force. We have to create ourselves politically. With very simple ideas – public sector, regulation, welfare state, democratic participation. Can we use Soviet heritage? Yes, why not. What we should do – we shouldn‘ try to bring back the Soviet Union. For the same reason, for which we can’t sustain a current system. It’s not because we like or dislike it. Simply because it is impossible.

There is a huge store of ideas and methods the left possessed for a long time. We should find there what is necessary. Actual configuration will depend on the situation and public needs.

Don’t even try to invent something new. It makes no sense. We don’t need new ideas. We spent half a century on ideas, most of which proved to be either wrong or dysfunctional. As an intellectual I’m fe up with discussing ideas or abstract alternatives. We need politics. Not just building an organization but rather educating people who will be able to build it very fast when there is an opportunity. This work is being done right now and not without success. Because the generation, that will bring about new politics, is already here. Politics will come when there is an opportunity. In a year, in a month, in a few weeks. Or never.  

***

Dear Boris! Very short, because place is finishing: Not to invent something. Yes! Education. Yes! But here the devil is lying in detail: what, how and when! I think, at first there is to show, as far as to talk about objective facts, that the one very objective fact, which has to be understood today, is this: The credo in mere efficiency and economic growth, based on priority of competition as principle is leading into an evolutionary crisis of mankind, which can only be overcome by a lifeserving (lebensdienlich) way aiming towards cooperation based on self-chosen communities orientated on cultural growth of any human being and any people., instead of every day war. Keyword: love, mutual help and solidarity. This, of course, is a very principle orientation, but this must be understood first of all, otherwise future upraises will be a repetition of what we have now, only on more extreme level. And as to the question how, we ought to find answers in, let’s say, social exercises – local and global, which means, in organization of work and everyday life, by searching and finding ways, how to help oneself and the growing number of outcasts to find themselves, physically and mentally, how to find oneself and themselves as individual person, who knows to say: I, and to find as a collective power, organizing itself in conflict with the existing conditions. No power with claim to future without individual consciousness! And here, dear Boris, I find the answer to the question ‘when’, too: Of course, now – always now, as any journey begins with the first step. Tomorrow would mean, never. Any exercise of this kind is sort of preparation, I think. Any revolution had some preparation of that kind in the people itself, in minorities, in some social fantasy and hope for the better, which helped channeling the inevitable violence – and so today, I hope. And with this extremely short summery I surrender the last round to You.  

***

Dear Kai! Of course we have to insist on the importance of love and solidarity, but we spent too much time on discussing and promoting values while the other side was practicing politics. We have to be very concrete. I think of Jeremy Corbyn’s campaign as an example of success not because he brought about a lot of enthusiasm and achieved a real progress electorally, but first of all because he did so on the basis of very concrete proposals.

In fact, most of these proposals are quite moderate but after 30 years of neoliberalism they seem radical or even revolutionary. Bring back railways into public ownership, relaunch public sector to provide necessary services to people and generate public investment to achieve economic growth in the situation when market incentives are exhausted. This is all very simple. Speaking about Russia, things are even more clear. There is a great majority demanding nationalization of oil, gas and other corporations that were stolen from the people by the oligarchs. At the same time there is no political force fighting for these demands no matter how popular they are. Why? Because the people themselves are passive and they are not fighting for their own interests and rights. The problem is not with the left. It is with the people. As long as masses are passive it doesn’t matter which values and ideas we spread. It all makes no sense except for a tiny group of activists and intellectuals which has to be sustained and reproduced. But he question is whether people will say passive forever? If so, we all deserve the kind of future, which is anything but bright. However I think that there will be a turning point, which seems to be very close. At this moment we must show that our ideas are relevant – not in abstract but in practical terms. Can they be transformed into a practical political program and transformative action HERE AND NOW? Then they will work and our existence makes sense…   

[i] Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, laika diskurs 2013/2014

 

Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki

Russland geht auf die nächsten Präsidentenwahlen im Jahr 2018 zu. Es gibt eine Stimmung im Lande, die befürchtet, dass den Zeiten der relativen Stabilität nunmehr Zeiten sozialer Probleme folgen könnten, dass Putin die von ihm betriebene Politik des Krisenmanagers, des Lavierens im Konsens zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nicht mehr in der gleichen Weise wie bisher halten könne, dass eine Zeit der Instabilität bevorstehe, die entweder Putin selbst oder einen Nachfolger zwingen könne, zu einer „wirklichen Diktatur“ überzugehen, um die von ihm auf dem Weg der „gelenkten Demokratie“ nach Ansicht seiner Kritiker in Korruption steckenbleibende Kapitalisierung  nunmehr mit Gewalt sauber durchzusetzen. Alexei Nawalny ist hier der Stichwortgeber.

Die provokanteste Position zu diesen Fragen vertritt Boris Kagarlitzki, Russlands prominentester Neulinker, Direktor des Institutes für Erforschung der Globalisierung und der Sozialen Bewegungen. Das Gespräch wurde unmittelbar vor der letzten großen Massendemonstration vom 12.Juni geführt. Continue reading “Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki” »

Sommergespräch über Russland in Tarussa: Rückblick und Ausblick

Hallo allerseits! Ich bin wieder einmal in Russland unterwegs.

Im Folgenden können Sie sich in ein Gespräch einklinken, das der Herausgeber der Internetzeitung russland.ru und ich in seinem Wohnort in Tarussa geführt haben. Das Gespräch beginnt mit einer Rückschau auf touristische Annäherungen an Russland noch vor Perestroika und endet bei der Frage, warum die Sanktionspolitik desWestens Russland nicht wird in die Knie zwingen können. Nachfolgend das mit mir geführte Sommergespräch in Tarussa als Video:

Dazu die beiden erwähnten Bücher:

  • Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer – bestellen
  • Kai Ehlers, Jenseits von Moskau, 186 und eine Geschichte von der inneren Kolonisierungn- bestellen

Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk

Kai Ehlers: Wie erleben Sie unsere heutige Situation?

Irina Golgowskaja: Ich denke, dass die westeuropäische Zivilisation zusammenbricht, noch schneller als vor schon fünf Jahren. Das geschieht faktisch dadurch, dass Amerika als schärfster Ausdruck der westlichen Zivilisation, im Niedergang begriffen ist. Amerika versucht Putin zum Krieg zu provozieren und glaubt, dass es dabei davonkommt. Tatsächlich wird das anders ablaufen: Die Amerikaner beginnen, dann treten die Muslime mit in den Krieg ein, danach die Chinesen, Russland wird am Ende übrigbleiben. Continue reading “Der diagnostische Blick auf den Krieg: Gespräch mit Irina Golgowskaja, Psychiaterin, Leiterin des Instituts „Eurasia – Zentrum für sanogene Medizin“ in Nowosibirsk” »

Ukraine – Nationalismus – Russischer maidan – Alternativen – Kriegsgefahr: Kai Ehlers spricht mit dem russischen Dichter-Schritsteller Jefim Berschin

Kai Ehlers: Die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist sehr gespannt. Wo siehst du die Gründe für diese Entwicklung?

 

Jefim Berschin: Ich denke, dass die Entwicklung schon seit langem läuft. Sie steuert jetzt auf den Höhepunkt zu. Es ist die Wirtschaft, die heute herrschende Konsumethik, die auf den Höhepunkt zutreibt. Nichts kann ewig wachsen.

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Schattenblick-Interview mit Kai Ehlers am Donnerstag, 13. März 2014 in Hamburg

Schattenblick: Wir haben in dem vorangegangenen Vortrag und der anschließenden Diskussion die Sicht und Befindlichkeit Rußlands zwar gestreift, aber nicht allzu intensiv behandelt. Wie erlebt man dort deiner Erfahrung nach die Einkreisung durch die NATO und die EU, auf welche Mentalität trifft dieser neuerliche Vorstoß aus dem Westen, welche Gegenstrategien werden erörtert und entwickelt?

Kai Ehlers: Diese Fragen lassen sich nicht so einfach beantworten, weil man den Komplex in verschiedene Phasen unterteilen muß. Im Moment kann man sagen, daß in Rußland, soweit ich das einschätzen kann, die Empörung über das, was da über Jahre gelaufen und jetzt zu einem gewissen Ende gekommen ist, sehr hohe Wellen schlägt. Man hat den Punkt erreicht, an dem man sagt, es reicht jetzt. Wir sind über Jahre zurückgedrängt worden, haben Teile unseres ehemaligen Einflußbereiches verloren, und jetzt hat man diesen Kraftakt gegen uns durchgesetzt. Es reicht! So ist die Stimmung. Man kann durchaus von einem gewissen russischen Nationalismus sprechen, der da jetzt hochkommt und mir nicht nur angenehm ist. Er enthält auch Stimmen, die ich irrational finde, wenngleich ich gut verstehen kann, woher sie rühren. Das halte ich auch für sehr problematisch. Ich frage mich beispielsweise, wie sich Putin dazu stellt, der seit einer Woche schweigt. Er hat noch nicht Stellung zu der Ankündigung harter Sanktionen seitens der USA und EU genommen. Bei einer Konferenz in der letzten Woche äußerte er sich sehr moderat, sehr staatsmännisch. Er erklärte sehr viel und zeigte Verständnis für die Proteste des Maidan. Zugleich unterstrich er aber auch, daß es nicht so weitergehen könne wie bisher.

Es handelte sich eher um politische Aussagen, die nationalistische Tendenzen erkennen lassen, die man nicht ohne weiteres auf die Stimmung in der Bevölkerung übertragen kann. Viel ist in Bewegung, und wie mir ein Freund per Skype aus Moskau berichtete, fanden dort gerade zwei große Demonstrationen statt. Für übermorgen sind größere Demonstrationen der Liberalen geplant, die ganz und gar gegen die Pläne der Regierung sind. Dabei handelt es sich wiederum um einen Versuch, den Maidan nach Moskau zu holen.

 SB: Vor wenigen Tagen wurden in Moskau zahlreiche Demonstrationsteilnehmer verhaftet. Wie beurteilst du den Umgang mit solchen Demonstrationen und Bewegungen wie auch den NGOs? Die russische Regierung argwöhnt, daß es sich dabei um die Möglichkeit einer westlichen Unterwanderung handelt. Andererseits werden auch Bewegungen unterdrückt, die eigenständige soziale und politische Anliegen vertreten.

 KE: Eines ist klar, diese NGO-Geschichte ist ein altes Problem, zu dem ich immer die einfache Gegenfrage stelle: Was würde Frau Merkel sagen, wenn wir russische NGOs hier hätten, die sich in die deutsche Politik einmischen? Damit hast du schon die Antwort: Das würde Frau Merkel nicht akzeptieren. Würde die Türkei mit irgendwelchen islamistischen oder auch nur tendenziell türkeifreundlichen Organisationen dasselbe in Deutschland machen, stünden diese Gruppierungen unter schärfster Beobachtung und Kontrolle. Das ganze Gerede von der Unterdrückung der NGOs in Rußland ist einfach erstunken und erlogen, da es schlicht und einfach nur darum geht, daß sie sich ausweisen und ihre Ziele offenlegen müssen. Um mehr geht es gar nicht. Da viele NGOs das aber nicht wollen, ist daraus eine Auseinandersetzung entstanden, die immer schärfere Maßnahmen gegen sie in Gang gesetzt hat. Sie sollen sich gefälligst ausweisen, sonst werden sie nicht registriert. Mehr passiert ihnen ja eigentlich gar nicht. Wenn du andererseits bei der deutschen Szene prüfst, wie viele Organisationen vom Verfassungsschutz beobachtet oder nicht zugelassen werden, dann können wir eine ernsthafte Diskussion führen, die auch Sinn macht.

 SB: Putin wird von westlicher Seite im Grunde genommen als Person überzeichnet, als sei er allein Rußland. Zugleich wird in seiner Figur das Angriffsziel ausgemacht. Wie schätzt du die tatsächliche Bedeutung Putins ein? Sind seine Funktion und sein Auftreten innen- und außenpolitisch konsistent oder vertritt er dabei Interessenlagen, die unterschiedlich gewichtet sind?

 KE: Putin ist eindeutig der Mann, der die russische Staatlichkeit nach dem Zerfall der Jahre 1991 bis 1998/99 wiederhergestellt hat. Als solcher wird er von der Bevölkerung geschätzt, mit all den Widersprüchen, die dabei zum Tragen kamen. Er mußte natürlich bestimmte Kreise der Bevölkerung wie insbesondere die Oligarchen und teilweise auch die liberale Opposition hart anfassen. Was er seit 1999 betreibt, bezeichne ich als autoritäre Modernisierung. Man kann ganz klar sagen, daß es sich um keine demokratische, sondern um eine autoritäre Modernisierung handelt. Aber die findet statt, und ich habe ja schon vorhin beim Vortrag hervorgehoben, daß es Putin geschafft hat, die private Situation des Oligarchentums in eine staatliche regulierte korporative Kapitalentwicklung zu überführen. Das gefällt mir zwar auch nicht besonders und ist nach wie vor etwas, das ich eigentlich gar nicht haben möchte. Es ist aber auf jeden Fall ein Erfolg gegen diese Art von privater anarchischer Benutzung des kollektiven Eigentums durch einzelne Personen, die den Staat und die sozialen Bezüge weiter aufgelöst haben. Das wird Putin im Lande selber hoch angerechnet. Auf der anderen Seite wird er heftig kritisiert, wo seine Versprechungen, daß sozial alles besser werden soll, nicht in der Geschwindigkeit, die er gerne hätte, eingelöst werden. Vielleicht will er sie aber auch gar nicht einhalten, wer weiß das so genau. Er steht zwischen den Kapitaleignern und der Bevölkerung, die ihm sein Rating gibt, und ist damit eindeutig Teil der herrschenden Klasse und nicht etwa der Bevölkerung, das ist klar.

 Sein Auftreten nach außen und nach innen ist aus einem Guß. Wenn du siehst, wie sich dieser Mann einmal im Jahr den Fragen der Bevölkerung stellt, dann möchte ich das einmal von unseren Politikerinnen und Politikern erleben. Das ist jedesmal ein Marathon von fünf, sechs, sieben, acht, neun Stunden, in denen er wirklich auf die Fragen eingeht. Und bei der letzten Konferenz gab er in einer weltpolitisch äußerst brisanten Situation ein Interview, in dem er lange Ausführungen auch zur politischen Situation machte. Man würde sich wünschen, auch mal von deutschen oder europäischen Politikern derart inhaltliche Aussagen zu hören.

 SB: Du hast hinsichtlich des Konflikts zwischen Georgien und Ossetien unterstrichen, daß das Nein der russischen Regierung eine neue Phase des Umgangs mit ihr zur Folge hatte. Könntest du dir vorstellen, daß aus russischer Sicht im Falle der Krim oder der Ukraine wieder so eine Grenze gesetzt wird, die aus westlicher Perspektive durchaus als eine auch militärisch gestützte Schranke wahrgenommen wird?

 KE: Das Nein wurde bereits ausgesprochen. Der Beschluß des Föderationsrates, der Putin oder die Exekutive zum Eingreifen in diesen Konflikt ermächtigt, ist bereits als ein eindeutiges Njet zu werten. Ich selbst habe das als einen Schritt der Deeskalation bezeichnet, was keineswegs von allen meinen Freunden und auch der Friedensbewegung geteilt wird. Schaut man sich den Gesamtzusammenhang an, war es ein Schritt der Deeskalation, weil es faktisch zur Beruhigung der Situation beigetragen hat. Diese Entscheidung hat den Vormarsch gestoppt, der da in Gang gesetzt worden ist, mit all den Irritationen, die dazugehören. Ich gehe davon aus, daß die russische Regierung nicht bereit ist, hinter diese Position zurückzufallen. Sie hat nicht die geringste Absicht, einen Krieg vom Zaum zu brechen, sondern einfach nur gesagt, bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir akzeptieren das nicht, was ihr hier gemacht habt, das geht zu weit.Wir greifen ein. Damit hat sie eine Situation geschaffen, die die ganze Welt in Aufregung versetzt. Das ist eine klare Zäsur. Was darauf folgt, werden wir sehen.

 SB: In der hiesigen Berichterstattung und Kommentierung wird eher ausgespart als hinreichend erörtert, welche Bedeutung die Ukraine in ökonomischer Hinsicht für Rußland hat.

 KE: Die Ukraine und Rußland haben engste wirtschaftliche Beziehungen.

Rußland ist für die Ukraine sehr wichtig und die Ukraine umgekehrt auch für Rußland. Viele Ukrainer sind als Gastarbeiter in Rußland beschäftigt. Die südlichen Pipelines verlaufen durch die Ukraine in die Europäische Union. Es sind engste Verflechtungen, wenn man etwa an das Donezbecken mit seiner großen Industrie denkt, die derart mit der russischen Ökonomie verbunden ist, daß man das gar nicht auseinanderdividieren kann. Das wissen alle, auch die Europäer und Amerikaner, daß man das gar nicht auseinanderreißen kann. Wollte man es dennoch versuchen, würden das weder die dort lebenden Menschen akzeptieren, noch könnte es die Wirtschaft verkraften.

 SB: Du hast in deinem Vortrag angesprochen, daß Janukowitsch um seine Wiederwahl fürchten mußte, hätte er das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht ausgebremst. Liegt dem ein weit verbreitetes Bewußtsein in der ukrainischen Bevölkerung zugrunde, welche Folgen dieses Abkommen für sie hätte?

 KE: Nein, so würde ich das nicht formulieren. Mit Bewußtsein hat das erst einmal nicht viel zu tun. Es hat etwas mit dem konkreten Erleiden der Wirklichkeit zu tun. Wäre dieser Assoziierungsvertrag abgeschlossen worden, hätte das zweifellos bedeutet, daß die damit verbundenen Auflagen seitens des IWF oder der Europäische Union zu einem enormen Anstieg der Lebenshaltungskosten für die Bevölkerung führen. Beispielsweise fordert der IWF, daß die Gaspreise um zwei Drittel steigen müssen, daß die kommunalen Gebühren erhöht, daß die nicht effektiven Betriebe geschlossen werden und so weiter. Die Währung soll freigegeben und de facto abgewertet werden, was mit Einbußen bei den Lebensverhältnissen verbunden wäre. Dagegen erhebt sich Protest, und aus diesem könnte vielleicht so etwas wie Bewußtsein entstehen. So herum wird ein Schuh daraus. Janukowitsch hätte der Bevölkerung das Assoziierungsabkommen nach dem Motto verkaufen müssen, wir müssen den Gürtel enger schnallen, damit wir nach Europa kommen. Dann kommt man nach Europa, aber der Gürtel ist immer noch zu eng.  Dieser Prozeß läuft nun wieder an, hat doch der sogenannte Übergangspräsident Jazenjuk zuallererst verkündet, man müsse Einbußen akzeptieren. Wie lange er das wohl durchhält? Ich glaube, er hält das nicht lange durch. Vielleicht räumt man ihm ja Sonderkonditionen ein, aber danach sieht es nicht aus. Alles spricht dafür, daß der IWF tatsächlich genauso knallhart vorgeht wie vorher auch. Da werden Forderungen gestellt, das Öl- und Gasgeschäft wird jetzt auf amerikanische Banken und amerikanische Teilhaber überschrieben und so weiter. Es läuft genau das ab, was zu erwarten war, nämlich daß Herr Jazenjuk als Banker die Tür weit aufmacht für westliches Kapital und westliche Kapitalisten. So sieht es aus. Daß die Bevölkerung das honorieren wird, möchte ich schwer bezweifeln.

 SB: In welchem Maße ist der Ruf einer Ausrichtung nach Westen vor allem ein Anliegen der wohlhabenderen Gesellschaftsschichten? Vitali Klitschko sprach ja von den jungen, modernen Eliten, die richtungsweisend für die Ukraine seien. Kann diese Auffassung überhaupt bei der breiten Bevölkerung und insbesondere den ärmeren Leuten Fuß fassen?

 KE: Das kann ich kaum beantworten. Ich kann nur sagen, Klitschko ist Boxer, und ob er wirklich zur neuen Elite gehört, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich denke eher, er hat sich überhoben. Aber es ist kein spezielles Klitschko-Problem, sondern das Problem vieler, die da gegenwärtig unterwegs sind, daß sie gar nicht wissen, was sie tun.

Ich sage es mal ein bißchen salopp. Denn daß der Klitschko sich in seiner eigenen Stärke und in der Situation total verschätzt hat, liegt ja offen vor unseren Augen. Er wurde erst zu einer neuen Figur, einer neuen Bewegung, aufgebaut, und dann läßt man ihn fallen. Und wer ist dran? Die alten Eliten, die schon immer dran waren, nämlich die Oligarchen. Nur in einer neuen Garnitur. Klitschko darf ein paar Worte sagen, vielleicht sogar als Präsident auftreten, aber diese neue Bewegung, die er repräsentiert, spielt in der Übergangsregierung überhaupt keine Rolle. Da spielen die alten Oligarchen, die Neoliberalen, die Rechten, die Nationalisten und Faschisten eine Rolle. Aber Klitschko ist nicht dabei. Wo die jungen Leute bleiben, die mit großen Träumen von Europa auf den Maidan gegangen sind, wird man sehen. Das ist eine ganz tragische Situation.

 SB: Das ist vielleicht auch eine Fehlkalkulation der Konrad-Adenauer-Stiftung und ähnlicher Kreise, die eine Figur wie Klitschko aufgebaut haben. Oder war er von vornherein lediglich eine Spielfigur, ein Strohmann?

 KE: Das eine schließt das andere nicht aus, und die Antwort hast du selber schon gegeben. Er ist von der Adenauer-Stiftung, von der deutschen Politik, aufgebaut, geschult und finanziert worden. Das konnte man immer wieder nachlesen, weil es in völliger Schamlosigkeit und Offenheit dargestellt wurde. Dann hat man ihn ins offene Messer laufen lassen, weil eine Situation hergestellt wurde, der der arme Kerl überhaupt nicht gewachsen war. Er ist auf dem Maidan herumgeirrt und hat gerufen: Bleibt ruhig, bleibt ruhig! Die haben sich einen gelacht. Als am 21. Februar der Kompromiß in Form einer gesamtnationalen Übergangsregierung umgesetzt werden sollte, ist er hingegangen. Da hat man ihn total abserviert und gesagt, wer bist du denn überhaupt? Damit ist der Mann in meinen Augen als Politiker erledigt. Ich glaube, viele Ukrainer sehen ihn ganz anders als die deutschen Medienkonsumenten. Hier wurde er hofiert, aber doch nicht in der Ukraine!

 SB: Vorhin fiel die nicht nur ironisch gemeinte Zwischenbemerkung, daß die deutschen Wirtschaftsverbände im Grunde genommen beinahe die vernünftigste Position in diesem Konflikt vertreten. Man stolpert zunächst schon über den Widerspruch, daß deutsche Wirtschaftsinteressen für eine Zusammenarbeit mit Rußland und gegen eine Eskalation zu sprechen scheinen. Unternehmerverbände haben klar zum Ausdruck gebracht, daß die Geschäftsbeziehungen nicht aufs Spiel gesetzt werden dürften. Woher rührt demgegenüber der Druck, den die Bundesregierung an den Tag legt?

 KE: Diese Frage stelle ich mir auch. Woher kommt dieses Tempo, mit dem die Bundesregierung vorprescht? Ich kann es mir eigentlich nicht wirklich erklären, außer daß sie einfach unprofessionell arbeitet.

Wenn du Frau Nuland hörst, wie sie „fuck EU“ sagt, dann weißt du ungefähr, wo das Problem liegt. Die Europäer – und die Deutschen allen voran – machen in einer Art und Weise Politik, die den amerikanischen Interessen nicht entspricht. Die EU will sich offenbar von den amerikanischen Interessen emanzipieren und voranpreschen, hat dafür aber noch nicht das rechte Geschick. Die Amerikaner können es besser, weil sie bereits mehrere Jahrzehnte Interventionspolitik hinter sich haben. Die Europäer und speziell die Deutschen fangen erst damit an, sie können das noch nicht richtig und haben Fehler gemacht.

Wie sie den Klitschko in aller Öffentlichkeit aufgebaut und dann als Marionette deklariert haben, ist derart blöde gewesen, blöder geht es doch gar nicht mehr. Zumindest im Sinne einer imperialen Logik, die intervenieren will, verbietet es sich, einen Klitschko als Marionette am Gängelband der Adenauer-Stiftung zu präsentieren.

 SB: Würdest du in diesem Zusammenhang auch das Abkommen, das unter deutscher, französischer und polnischer Beteiligung geschmiedet, doch von anderen Kräften sofort gebrochen wurde, ebenfalls als Fehlgriff der EU sehen, die vermutlich von amerikanischen Interessen überholt und ausgehebelt wurde?

 KE: Ich habe das zumindest so wahrgenommen, ich war ja nicht dabei.

Man bekommt immer nur amputierte Informationen und muß stets die Frage stellen, wem das Ganze nützt. Bleibt man an den Einzelheiten hängen, ist man ohnehin schlecht beraten. Soweit ich das vom Ergebnis her bewerte, kann ich nur sagen, daß sich die deutschen und europäischen Interessen offensichtlich verkalkuliert und eine Geschwindigkeit angelegt haben, die sie selbst nicht kontrollieren konnten. Sie haben ihren Westerwelle und wer weiß, wen sonst noch auftreten lassen, sie haben angeheizt und eingeheizt, bis sie das Ganze nicht mehr herunterfahren konnten und es einfach übergekocht ist. Dann haben sie ihren Steinmeier als Feuerwehr geschickt, der mit seinen Amtskollegen aus Frankreich und Polen dem Janukowitsch etwas abgerungen oder versprochen hat, um die höchst brenzlige Situation zu entschärfen.

Kaum hatten sie Kiew den Rücken gekehrt, war ihre Intervention auch schon verpufft. Diese Feuerwehraktion hat überhaupt nichts gebracht, was wiederum zeigt, wie unprofessionell man vorgegangen ist. Ich sage mal ganz freundlich „unprofessionell“, man könnte es auch unverantwortlich nennen, daß sie hinterher nicht auf Einhaltung des unter internationaler Beteiligung ausgehandelten Kompromisses bestanden haben. Kein Wort vom Boden internationalen Rechts, auf dem man sonst so felsenfest steht – nichts dergleichen, du hörst kein Wort davon, das wird einfach hinten runtergekippt. Das soll Professionalität sein?

 SB: Du hast von einem Informationskrieg gesprochen. Die Berichterstattung in den deutschen Medien ist auf geradezu beispiellose Weise eskaliert, als allenthalben Putin mit Hitler verglichen und diverse andere historische Absurditäten kolportiert wurden. Dabei wurden Widersprüche und Gegeninformationen systematisch ausgeblendet oder schlichtweg geleugnet. Kannst du dir vorstellen, wie man so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit schaffen könnte?

 KE: Zunächst mal einen kleinen Einwand. Die Quelle des Putin-Hitler-Vergleichs ist Zbigniew Brzezinski, obgleich dieser in seinem neusten Buch eigentlich versucht, Rußland zu umarmen. Er entdeckt sogar demokratische Tendenzen in diesem neuen Rußland – wenn es sich denn von Putin lösen könnte. In der aktuellen Situation fällt er voll auf seine Bärbeißerei und sein Putin-Bashing zurück. Was die ehemalige amerikanische Außenministerin, Frau Clinton, von Putin-Hitler erzählt, hat sie bei ihm abgelesen. Er war der Stichwortgeber, und alles, was du diesbezüglich hier in der Presse liest, ist ein Plagiat der US-Medien.

 Andererseits gibt es in der Tat in der deutschen Presse so eine Art Grundorientierung gegen Putin, so eine Art Beißreflex, der auch rational nicht mehr zu erklären ist, weil er eigentlich dem Interesse der deutschen Wirtschaft zuwiderläuft. Einer meiner russischen Gesprächspartner, Boris Kagarlitzki, hat mir das einmal so erklärt: Das ist der ideologische Reflex auf der einen und die wirtschaftliche Wirklichkeit auf der anderen Seite. Deutschland sucht und braucht die Beziehung zu Rußland, da gibt es überhaupt nichts zu diskutieren. Aber der Neoliberalismus als Ideologie ist derart in die Köpfe der Medienmacher eingedrungen, daß sie selbst Opfer dieser Ideologie sind und gar nicht anders können. Sie müssen ihre neoliberale Ideologie über Rußland ausschütten. Da ist was dran an diesem Gedanken, daß das so eine Art Selbstgänger ist.

Gut, was kann man dagegen tun? Ich kann nur sagen, was ich dagegen tue: Ich versuche, die Situation irgendwie zu durchschauen, was schwer genug ist. Selbst wenn man hinfährt – das hat Susann vorhin auch deutlich gemacht -, kannst du erst einmal nur einen bestimmten Aspekt erzählen. Du brauchst andere Schlüssel, um das, was du selbst erlebt hast, in einen Zusammenhang stellen zu können. Es ist aus meiner Sicht sehr schwer, überhaupt so etwas wie eine Übersicht zu bekommen, und die Frage, wem das alles nützt, ist die einzig relevante Frage, die ich immer wieder stelle. Das ist mein Maßstab, und den würde ich auch gerne anderen mitgeben. Wem nützt das, was da abläuft? Wenn du so rangehst, dann kannst du anfangen zu sortieren. Und das Sortieren ist unbedingt notwendig. Ich gebe ein Beispiel, das ich gerade erlebt habe: In der Zeit von gestern steht sinngemäß über einem Artikel „Putins Ausreden und die Wirklichkeit“. Dann werden zehn angebliche Fragen aufgeführt, die anhand angeblichen Fakten abgearbeitet werden. De facto lösen sich dabei jedoch die Fragen alle im Nebel auf.  Unsere Aufgabe wäre es, in einer Art Faktenchek zu auftauchenden Fragen den Menschen etwas an die Hand zu geben. Was stimmt, was stimmt nicht? Was kann man beweisen, was ist lediglich ein Gerücht? Auf diese Weise könnte man auch den Gerüchtemachern aus der eigenen Kiste entgegentreten. Du hattest vorhin angesprochen, daß man bei der Frage, wer auf dem Maidan geschossen hat, nicht bloßen Verschwörungstheorien anheim fallen darf, da man sich andernfalls selber die Möglichkeit nimmt, seriös zu argumentieren. Man sollte ganz klar bei dem bleiben, was beweisbar ist, und eine Untersuchung des nicht Bewiesenen fordern.

Ich denke, daß in dieser Hinsicht sehr viele Engagement von unserer Seite erforderlich ist. Zudem sollte man den demokratischen Anspruch der Europäischen Union und Deutschlands in der Weise ernst nehmen, daß man seine Einhaltung fordert. Nur auf dieser Grundlage kann man eine wirksame Kampagne ins Leben rufen. Klassenfragen und dergleichen ziehen heute überhaupt nicht. Du mußt auf der Ebene der demokratischen Werte argumentieren, und auf dieser Ebene kann man, wenn überhaupt, mit Menschen ins Gespräch kommen: Schau dir an, was sie wirklich tun, wie sie lügen. So kannst du an die Menschen rankommen, sonst kommst du gar nicht ran.

SB: Du hattest Boris Kagarlitzki erwähnt. Welche Rolle spielt heute eine Linke in Rußland im allgemeinen und insbesondere auch in diesem Konflikt?

KE: Für Rußland gilt im Prinzip ähnlich wie für die Ukraine, daß die Linke eigentlich kaum eine Rolle spielt. Da aber Rußland größer und inzwischen geordneter als die Ukraine ist, hat die russische Linke auf intellektueller Ebene einen größeren Einfluß. Praktisch und politisch hat sie derzeit hingegen keinen Einfluß. Immerhin gibt es aber in Moskau das Institut für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen. Dieses Institut von Boris Kagarlitzki, das mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgebaut wurde und auch unterhalten wird, ist sehr aktiv in der Analyse und Publizistik. Ich denke, daß auf diesem Weg ein gewisser Einfluß ausgeübt wird, den man freilich nicht überschätzen sollte. Die Grenzen sind durch den liberalen Flügel, der nur an seinem Neoliberalismus interessiert ist, sehr eng gezogen. Auf der anderen Seite begrenzen die Altkommunisten den Bewegungsraum.

Beispielsweise wurden vor einigen Jahren Sozialforen organisiert, an denen 1.500 Menschen teilnahmen. Wenngleich das für Rußland natürlich sehr wenig ist, war es für sich genommen doch eine erfreuliche Anzahl.

Regelrechte Strategien kamen dabei allerdings nicht heraus, es ging eher darum, sich mal ausgetauscht zu haben, was auch schon ganz gut war. Interessant ist daran, daß Boris Kagarlitzki, das Institut und eine ihnen angeschlossene Gruppe namens Post Globalisation Initiative vor kurzem nach Brüssel einladen konnten, und zwar zum allerersten Mal nicht auf Kosten des Westens, sondern auf ihre Kosten. Sie haben westliche Freunde nach Brüssel eingeladen, wo wir eine Konferenz zur Lage in der Ukraine durchführten. Ich fand es sehr bemerkenswert, daß es in Rußland inzwischen Kräfte gibt, die bereit sind, die Linke zu unterstützen. Diese bekommt Gelder von irgendeiner Stelle, was wir Sponsoren nennen, während sie von Oligarchen sprechen.

SB: In der Landwirtschaftsausstellung Grüne Woche in Berlin gab es ein Forum Osteuropa, in dem klar formuliert wurde, daß die Zukunft der Welternährung aus Sicht der Agrarkonzerne in Rußland und in der Ukraine angesiedelt sei. Weißt du etwas darüber, inwiefern die Frage der Böden und der Nahrungsmittelressourcen ein strategisches Pfund ist?

KE: Ich weiß, daß die Chinesen gerade im Zuge der aktuellen Auseinandersetzungen in der Ukraine große Ländereien gekauft haben und weitere kaufen oder langfristig pachten wollen. Sie wollen dort Gemüse anbauen, Schweine züchten und so weiter, um die Versorgung ihres eigenen Landes sicherzustellen. Und das gilt nicht nur für die Chinesen, sondern auch für andere Interessenten, weil die Ukraine bekanntlich über sehr fruchtbare Schwarzerdeböden verfügt. Was Rußland betrifft, habe ich mich mit dieser Frage noch nicht intensiv befaßt. Ich weiß aber, daß große Teile des Landes brachliegen. Wenn du mit dem Zug durchs Land fährst – man macht dort schöne lange Reisen von mehreren Tagen -, dann ziehen am Fenster verlassene Kolchosfelder vorbei, auf denen inzwischen halbhohe Bäume stehen. Es sind Felder, die niemand mehr bestellt, und sie neu zu kultivieren bedürfte ungeheurer Anstrengung, weil diese Bäumchen schon stark verwurzelt sind. Land ist also reichlich vorhanden, und wenn man Geld einsetzen würde, könnten Riesenflächen wieder urbar gemacht werden. Aber wer das macht, über welche Kanäle das läuft und welche Gewinne damit erzielt werden, entzieht sich zur Zeit vollkommen meiner Kenntnis.

SB: Kai, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.

Links zu Schattenblick:

INTERVIEW/211: Der alte Feind – Mit umgekehrten Vorzeichen … Kai Ehlers im Gespräch (SB)  http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0211.html

 …und in der SB-Druckausgabe (.pdf) und SB-Ausgabe für E-Reader (.epub) unter:

 http://www.schattenblick.de/da/2014/03/sb_140324_schattenblick_druckausgabe.pdf

 http://www.schattenblick.de/da/2014/03/sb_2014-03-24.epub

 

Russische Innenansichten – „Einen Plan B gibt es nicht.“ Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki, Gründer des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“

Als Analytiker des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“ ist Boris Kagarlitzki einer jener Kritiker Putins, die über die Tagesproteste und kurzatmige Aufgeregtheiten hinaus denken. Das Gespräch dreht sich um die Frage, welche politischen Entwicklungen nach den zurückliegenden Duma- und Präsidentenwahlen zu erwarten sind. Das Gespräch fand im Juli in den Räumen des Institutes in Moskau statt.

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Gespräche, die ich geführt habe

Jedes Gespräch öffnet eine Welt – jede schritliche Fixierung fordert aber auch sehr viel Einsatz. Daher finden Sie hier  bisher nur einige schriftlich fixierte dokumentiert. Sie können den Gesprächspool aber über Stichworte der Suchfunktion nutzen – so finden Sie thematischen Zugang über Texte, Themenhefte, Radio-Features und Bücher, in denen Kernstücke von Gesprächen dokumentiert sind.

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Im Übrigen, wenn weitergehendes Interesse besteht, bitte mich einfach zu kontaktieren

„In Russland wird am schärfsten sichtbar, dass es keine fertige Antwort auf den Zusammenbruch der Utopie vom besseren Leben gibt“

Hans Wagner (Eurasisches Magazin) im Gespräch mit Kai Ehlers

In der Entwicklung seiner Wirtschaft hat Russland einst einen weitgehend anderen Weg genommen als Westeuropa. Wer reich wurde, sah sich dem Verdacht ausgesetzt, sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichert zu haben. Darauf konnte schließlich der reale Sozialismus aufbauen. Heute entsteht in Russland etwas, das über den realen Sozialismus wie auch über den gegenwärtigen Kapitalismus westlicher Prägung hinausweist. Das sind einige der Thesen des Transformationsforschers Kai Ehlers im Gespräch mit dem Eurasischen Magazin.

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Medwedes Jahresbotschaft

Moskauer Deutsche Zeitung 22 (245)

Wie bewerten Sie die Forderung Medwedews nach einer aktiven Rolle des Bürgers in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Ernsthafte Pläne oder leeres Gerede?

Meiner Meinung nach ist Medwedew – wie Putin vor ihm – in höchstem Maße daran interessiert, in Russland eine moderne Gesellschaft aufzubauen. Er will dabei russische Traditionen mit westlichen Standards, zum Beispiel im Management, verbinden. An der Ernsthaftigkeit seiner Absichten ist dabei nicht zu zweifeln.

Glauben Sie, ihm wird der Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft gelingen?

Ein Problem ist, dass in Russlands Geschichte Reformen immer von oben kamen. Das gilt auch für die neuere Entwicklung: Ob nun Perestrojka, Privatisierung oder Restabilisierung unter Putin – das haben immer einige wenige beschlossen und durchgesetzt. Dadurch ergibt sich auch für Medwedew der Widerspruch: Er will einen Mittelstand schaffen, kommunale Strukturen stärken, den Bürger zu mehr Aktivität animieren. Doch das alles funktioniert nur, wenn die Menschen dazu auch in der Lage sind. Deswegen muss erst einmal die Bildung verbessert werden, damit die Menschen überhaupt wissen, wovon die Rede ist. Es braucht einen auf Bildung fußenden, ehrlichen und offenen sozialen Dialog zwischen Regierung und Bürgern, damit die Menschen sich engagieren. Reformen können, müssen sogar von oben ausgehen, aber es müssen auch Impulse von unten kommen.

Stichwort Bürokratie: Was bedeutet Medwedews Kritik am bestehenden administrativen Apparat?

Einerseits hat er natürlich Recht, wenn er die Missstände in der Bürokratie anprangert. Anderseits ist der russische Staat historisch als bürokratische Verwaltungsstruktur angelegt. Sie ist Russlands Innovator, ausführendes Organ für alle Reformen und Triebkraft für Neuerungen. Sie hat sowohl die Perestrojka als auch die Privatisierung durchgeführt. Das ist die russische Art, einen Staat zu machen. Durch ihre enorme Machtstellung kommt es hierbei natürlich zu Wucherung und Korruption. Dass Medwedews zur Durchführung seiner Reformen also zunächst die Bürokratie erneuern will und muss, ist nur konsequent.

Viele sehen Medwedews verbalen Schlag gegen die Administration als Kritik an Putin, während dessen Regierungszeit die jetzigen Strukturen entstanden. Wendet sich der Präsident tatsächlich gegen seinen Vorgänger?

Ich sehe hier keinen Bruch zwischen Medwedew und Putin. Ganz im Gegenteil, die Kampfansage Medwedews gegen Korruption zeugt gerade von Kontinuität. Schon Putin prangerte dieselben Missstände an, und vor ihm Jelzin, und vor diesem Gorbaschtschow. Gerade weil die Bürokratie im russischen Staat eine so große Rolle spielt, muss sie immer wieder erneuert werden. Für Medwedews Pläne ist es hierbei abermals wichtig, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die Administration in einen sozialen Dialog mit dem Bürger tritt. Das ist aber nicht gegen Putin  (oder alternativ : Putins Erbe – bitte nicht „System Putin“) gerichtet. Medwedew will die Bürokratie ja nicht abschaffen, sondern effektivieren, eben weil sie, wie schon gesagt, ein wichtiger Teil des russischen Staates ist.

Wie passt diese liberale Innenpolitik zu den außenpolitischen Drohgebärden Medwedews, etwa, was die Aufstellung von Raketen in Kaliningrad angeht?

Außenpolitische Drohgebärden? Wenn ich das schon höre! Sobald ein russischer Politiker den Mund aufmacht, schreiben die westlichen Medien , dass er „drohe“! Das Problem ist, dass im Westen ein krankhafter Anti-Putinismus herrscht. Er ignoriert komplett, dass die Russen seit Jahren konstruktive Vorschläge für eine multipolare Neuordnung der Welt machen, die eine klare Alternative zu den jetzt herrschenen Verhältnissen darstellen. Dabei handelt es sich um Maßnahmen zur Entmilitarisierung, nicht um Kriegstreiberei. Anstatt ein Ping-Pong-Spiel aus gegenseitigen Drohungen zu inszenieren, sollte der Westen sich lieber anhören, was der Inhalt dieser Vorschläge ist.

Glaubt man westlichen Medien, wird Medwedew ohnehin nicht mehr lange genug Präsident sein, um all dies durchzusetzen. Seinen Vorschlag zur Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten sehen viele als Zeichen der baldigen Rückkehr Putins…

Diese Logik verstehe ich nicht. Was macht es für einen Unterschied, ob ein Präsident fünf oder sechs Jahre im Amt ist? Wenn die Russen denken, dass ihre Politiker mehr Zeit brauchen, um Reformen durchzusetzen, dann brauchen sie sie eben. Auch was die Wiederkehr Putins angeht, verstehe ich nicht, wo das Problem liegt. Erstens hat er selbst gerade gesagt, dass es derzeit zu früh ist darüber zu reden.  Zweitens würde er sich, wenn er wieder als Präsident antreten wollte, wohl kaum an die Macht putschen wollen. Wenn die Wähler ihn aber als nächsten Präsidenten haben wollten, dann, bitte sehr, wäre es eben so.

Interview: Saakaschwili hatte Rückendeckung der USA

Erscheinen in: Telepolis

„Saakaschwili hatte die Rückendeckung der USA“
Von Harald Neuber
Wie es zu dem Krieg im Kaukasus kommen konnte, wer von ihm profitiert und wie die Perspektive aussieht. Ein Interview mit Kai Ehlers (http://www.kai-ehlers.de)
Telepolis sprach mit Kai Ehlers – Publizist, Transformationsforscher und Autor zahlreicher Bücher über den postsowjetischen Raum
Herr Ehlers, der Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland ist vorerst beendet, nun sind die Diplomaten am Zug: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ebenso in die Region gereist wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy und die US-amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice. In der europäischen Presse wird die Krise um Südossetien gemeinhin als Wiederauflage des Kalten Krieges gesehen. Sind Sie mit dieser Interpretation einverstanden?
Nein, ich bin damit überhaupt nicht einverstanden. Meiner Meinung nach geht es hier nicht um eine Wiederauflage einer bekannten Situation. Was wir im Kaukasus derzeit erleben, ist eine neue Phase der Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt. Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, der Konfrontation der beiden Supermächte, stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Die USA meint, als einzig verbleibende Weltmacht eine bestimmte internationale Ordnung herstellen und aufrechterhalten zu können. Strategisch formuliert wurde das vom US-Geostrategen Zbigniew Brzezinski …
… der seit wenigen Wochen zum Beraterstab des Demokratischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama gehört …
… und der sich über dem Amtsinhaber George W. Bush mehrfach beschwert hat, weil dieser seine Außenpolitik schlecht umsetze. Auf der anderen Seite existiert eine Konzeption, die in China entstanden ist und sich in Russland von Michail Gorbatschow über Boris Jelzin bis hin zu Wladimir Putin und Dmitri Medwedew erhalten hat. Es ist die Konzeption einer multipolar organisierten und kooperativen Weltordnung unter Führung der Vereinten Nationen oder einer vergleichbaren internationalen Organisation.
Was sich der Zeit im Kaukasus abspielt, ist also mehr als ein Konflikt zwischen der Hegemonialmacht Russland und dem kleinen Georgien?
Eine solche Interpretation ist schlichtweg Unsinn. Im Gegenteil: Wir wurden im Kaukasus nach dem 8. August Zeugen eines Stellvertreterkrieges. Dieser unmittelbare Krieg ist nun zwar zu Ende, der dahinter stehende Konflikt ist aber nach wie vor ungelöst. Es ist ein Stellvertreterkrieg, der für die beiden Großmächte USA und Russland geführt wird, aber auch für die Europäische Union und andere Mächte, die auf diese Region schielen, aber an dem Geschehen nur mittelbar beteiligt sind: China, die Türkei, Iran.
Welche Rollen spielen – gerade vor dem Hintergrund der Balkankriege in den 1990er Jahren – Nationalgefühle und ethnische Komponenten?
Es ist ganz klar, dass der Kaukasus ein ethnischer Durchgangsraum ist, ein „Flickenteppich“, wie es immer so schön heißt. Brzezinski spricht vom „eurasischen Balkan“. Dabei kann man nicht von der Hand weisen, dass aus dieser ethnischen Struktur Probleme entstanden sind. Aber diese Probleme sind nicht die Ursache für die jetzigen heftigen Konflikte. Die ethnischen Unterschiede werden vielmehr als Vorwand genommen.
Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hat wohl bewusst von einem „Völkermord“ gesprochen, nachdem die russischen Truppen in das Kriegsgebiet eingerückt sind. Offenbar hat er auf den Beistand des Westens, vor allem der USA, gehofft. Hat er sich verschätzt?
Nein, das war im Grunde keine Fehleinschätzung von Saakaschwili, denn er hat ja die notwenige Rückendeckung der USA gehabt. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass er bis zuletzt ohne das Wissen der im Land befindlichen US-amerikanischen Militärberater gehandelt hat. Ganz abgesehen davon, dass der Einmarsch der Russen nicht Ursache des Krieges war, sondern Folge des Überfalls georgischer Truppen auf die Enklave Ossetien.
Wie viele sind das denn?
Es gibt verschiedene Schätzungen, die von bis zu 1000 Mann ausgehen. Genau kann man das nicht sagen, weil es in Tiflis und Washington bestritten wird. Nach einer der offiziellen Angaben sind es lediglich 24 solcher Berater – aber das ist lächerlich. Die USA finanzieren seit langen den Aufbau des georgischen Militärapparates.
Saakaschwili hat sich also nicht verschätzt, sondern – und das ist ein wichtiger Unterschied – er ist aus dem Ruder gelaufen. Mit ihm ist im Endeffekt das gleiche passiert wie zuvor mit Osama Bin Laden oder Saddam Hussein. Diese beiden sind Washington auch aus dem Ruder gelaufen. Das ist ein Ausdruck der US-amerikanischen Interventionspolitik: Es wird jemand aufgebaut und als Oppositionsfigur international hoffähig gemacht. In diesem Fall war das Ziel, ein Instrument zu schaffen, um Russlands Einfluss einzugrenzen. Saakaschwili hat sich verselbstständigt, weil er glaubte, unabdingbar geworden zu sein.
Auf der diplomatischen Ebene verfolgen die USA aber weiterhin eine weitaus aggressivere Linie gegen Russland als die EU. Haben Washington und Brüssel unterschiedliche Interessen?
Die USA und die EU haben teilweise gleiche Interessen, vor allem in Bezug auf den Transitkorridor in Georgien. Es geht dabei um den Versuch, Russland von seinen Ressourcen und seinem südlichen Einzugsraum zu trennen. Von Europa aus wird dafür südlich von Russland ein Transportkorridor aufgebaut, und in dieses Projekt werden Milliardenmittel gesteckt. Dabei ist vor allem die Pipeline hervorzuheben, die von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über Georgien bis in die türkische Hafenstadt Ceyhan verläuft – die so genante BTC-Pipeline.
In der Sache stimmen Europa und die USA also überein. Differenzen gibt es in der Frage des Vorgehens. Die US-Amerikaner bevorzugen die militärische, die Europäer die ökonomische Variante, um ihren Einfluss geltend zu machen. Abgesehen davon stehen Washington und Brüssel auch in direkter Konkurrenz, was man sehr deutlich in der Trennung zwischen einen „alten“ und einem „neuen“ Europa beobachten kann. Gerade im Hinblick auf den NATO-Beitritt Georgiens wird hier von den USA aus ein Spaltkeil in die EU getrieben.
Aber hat die Einbindung der osteuropäischen Staaten in EU-Strukturen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik nicht auch dazu beigetragen, dass Russland sich in zunehmender Isolation fühlt?
Sicher, denn hier stehen sich zwei Integrationsräume gegenüber. Das ist auf der einen Seite der russische und auf der anderen Seite der europäische Integrationsraum. Dazwischen gibt es einen Grenzbereich, der vom Balkan bis zum Baltikum verläuft. Dazu gehören auch die Ukraine und der Kaukasus. Einerseits wird zwischen der EU und Russland eine so genannte strategische Partnerschaft formuliert, andererseits steht man sich in diesen Regionen in direkter, bissiger und harter Konkurrenz.
In den vergangenen Tagen war viel von der erwähnten BTC-Pipeline die Rede. Die Energiepolitik ist also auch hier eine treibende Kraft?
Sie ist ein ganz wesentlicher Punkt. Geopolitisch betrachtet würde man hier von einer strategischen Ellipse sprechen. Diese Ellipse reicht vom arabischen Raum und Iran über das kaspische Meer bis nach Norden in den russischen Raum hinein. Der südliche Raum – Arabien und Iran – ist besetzt, weil die Kontrolle über die dortigen Energieressourcen von den nationalen Regimes nicht abgegeben wird. Aber der nördliche Raum scheint zur Disposition zu stehen, deswegen sind darauf alle Augen gerichtet. Bedeutend ist das allein schon, weil im gesamten Gebiet der strategischen Ellipse etwa 80 Prozent der weltweiten Energieressourcen liegen.
Aber wer profitiert von der BTC-Pipeline? Errichtet wurde sie ja noch unter US-Präsident William Clinton, betrieben wird sie jedoch von British Petroleum …
Diese Frage lässt sich im Grunde nur auf der Basis strategischer Überlegungen beantworten. Die USA haben in der Region eine Reihe von Pipelines bauen lassen, die ökonomisch überhaupt keinen Sinn haben. Sie scheinen nur dem Zweck zu dienen, Russland zu behindern. Das ist auch der Sinn der BTC-Pipeline, die eigentlich auch nicht rentabel ist. Sinnvoller wäre es, das Erdöl aus dem kaspischen Raum über die vorhandenen russischen Leitungen gen Westen zu transportieren. Und viele machen ja genau das. Auch die Aserbaidschaner verkaufen keineswegs nur über die BTC-Pipeline ihr Erdöl. Die ökonomische Vernunft wird hier also offensichtlich durch politische Motive überlagert. Dabei ist dann offenbar der strategische „Gewinn“ – also die Behinderung der Russen – größer als der ökonomische Profit.
Nach dem kurzen und heftigen Krieg sind nach Schätzungen internationaler Organisationen bis zu 100.000 Menschen vertrieben worden, vor allem aus Südossetien. Wie kann der humanitären Lage begegnet werden?
Das ist sehr schwer. Zunächst muss man feststellen, dass 2000 Menschen durch den Überfall georgischer Truppen auf die Stadt Tschinvali ermordet wurden. Sie sind tot und das nicht mehr zu ändern. Viele andere haben ihre Häuser und ihre Habe verloren. Man kann sie nun in Zelten unterbringen und versorgen. Dabei ist jeder einzelne gefordert, die einschlägigen Hilfsorganisationen wie das Internationale Rote Kreuz zu unterstützen. Eine andere Sache ist, dass die Menschen in der Region die Leidtragen einer Machtpolitik sind, die sie nicht wollen. An diesem Punkt müssen wir uns im Westen fragen, inwieweit wir Anteil an dieser Misere haben. Wir müssen uns fragen, welchen Anteil unser westlicher Lebensstil an der Entstehung dieses Krieges gehabt hat. Es geht hier also nicht nur um
Hilfszahlungen, es geht eben auch um mittel- und langfristige Veränderungen bei uns.
Herr Ehlers, Sie kennen Russland und die kaukasischen Staaten aus vielen Reisen. Wie, denken Sie, reagieren die Menschen im Krisengebiet auf den Konflikt? Gibt es eine von Nationalismus geschürte Kriegsbegeisterung wie etwa zu Beginn der Balkankriege?
Nein, die gibt es auf keinen Fall. Ich habe vor wenigen Tagen einen Brief von einem russischen Freund bekommen, der völlig entsetzt über die Berichterstattung der westlichen Presse war. In Zukunft wird in Russland der westlichen Presse und westlichen Politikern mit großem Argwohn begegnet werden. Heute erst hatte ich russische Gäste zu Besuch, die das alles von sich gewiesen haben und nicht darüber reden wollten. Im Konfliktgebiet selber sind die Menschen einfach nur entsetzt. Es ist nicht ihre Politik, aber sie sind die Opfer dieser Politik und des Krieges.

Gespräch zwischen dem Schriftsteller Kai Ehlers und dem Unternehmer Johannes Heimrath. Reif für das Grundeinkommen? Kulturkreatives Spektrum

Johannes Heimrath: Kai, du bist einer der wenigen Autoren, denen in Bezug auf ein Grundeinkommen bewusst ist, dass man eine derart weitreichende neue soziale Technik nicht einführen kann, ohne insgesamt fundamental umzudenken. Wir können das Grundeinkommen nicht wie ein neues Organ in den bestehenden Gesellschaftskörper einpflanzen. Zuvor – oder wenigstens zugleich – muss sich die Gesellschaft wandeln.

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Neue Heimat, Neue Kultur

Hamburg im Sommer1950. Den sechsjährigen Kai Ehlers zieht es mit Macht zu seiner Mama. Zwar musste er schon zu Bett gehen, während sie noch einmal das Haus verlassen hat, um Bekannte in der neuen Reihenhaus-Siedlung zu besuchen – aber Kai kann nun einfach nicht mehr auf sie verzichten. In der Dämmerung steigt er aus seinem Bettchen, klemmt sich die Decke unter den Arm und verlässt das Haus über die Gartentür. Die Erwachsenen fragen sich später, wie der kleine Junge es wohl geschafft haben mag, mitsamt seines Gepäcks kreuz und quer über zahlreiche Gartenzäune zu steigen. Doch tatsächlich bringt seine Suche Kai irgendwann in das richtige Grundstück, wo er seine verdutzte Mutter in die Arme schließt.

Ein idyllisches Landhaus in der Bodenseeregion, Mitte der Sechziger Jahre. In der Familie eines gutsituierten Sägewerkbetreibers lebt die kleine Frederike als jüngste von sechs Geschwistern. Alle sind hier schwer beschäftigt. Notfalls bis spät in die Nacht hinein harrt Frederike manchmal in ihre Bettdecke gehüllt auf der Treppe aus, um die Mutter abzupassen. In den kostbaren zehn Minuten, in denen die beiden dann zusammen noch ein Brot essen, hat sie ihre Mama endlich einmal ganz für sich.

Kai und Frederike – obwohl sie doch durch stark unterschiedliche materielle Herkunftsverhältnisse, durch Zeiten und Orte (und schließlich auch durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Lagern innerhalb der westdeutschen Alternativgesellschaft) geprägt sind, werden die beiden Kinder, die damals in eine Bettdecke gehüllt auf ihre Mutter gewartet haben, später zueinander finden. Als es Mitte der 80er-Jahre dazu kommen sollte, arbeitete Kai, dem ein Lehrer prophezeite, er würde entweder als Verbrecher oder als Revolutionär enden, bereits Jahre als undogmatisch-weltoffener Redakteur in der Zeitung einer kommunistischen Splittergruppierung. Und Frederikes Weg hatte sie zu einer anthroposophischen Eurhythmiekünstlerin gemacht, die damals nach der richtigen Inspiration suchte, um dem eigenen Anspruch nach positiver Einmischung in die Gesellshhaft einen geeigneten Ausdruck zu geben.

Aber der Reihe nach:

Eine einfache, glückliche Kindheit sieht wohl anders aus. Als Kais Mutter gegen Ende des Krieges mit Mühe und Not vor den rachsüchtigen Tschechen aus dem Sudetengau flieht, stirbt das Baby fast an der Ruhr. Nur dank dem volksmedizinischen Ratschlag einer alten Russin – „Kind krank! Trinken schwarzen Tee mit Pferdemist!“ – kommt Kai gerade noch durch. In Dresden wird die Mutter verschüttet; verletzt macht sie sich mit dem rachitischen Kai und seiner älteren Schwester auf ins heimatliche Hamburg. Da der Jüngste jedoch nicht in der Stadt geboren wurde, sondern im April 1944 (leider nur fast termingerecht zum magischen NS-Datum „Führers Geburtstag“) im Sudetengau, lässt die städtische Nachkriegsverwaltung das papierlose Kind jahrelang nicht zu seiner Mutter ziehen. Erst mit sechs darf es nach langem Behördenkampf und langen Jahren bei einer Pflegefamilie zwar endlich bei ihr wohnen, doch sie kann nicht in dem Maße für den Sohn da sein, wie dieser es bräuchte. In diese zwei Jahre, während der sie „eine kleine Familie“ sind, fällt die eingangs wiedergegebene Anekdote um Kais Hintergarten-Odyssee; dann jedoch gibt sie ihn aufgrund ihrer Arbeitsbelastung abermals weg, diesmal in die Familie eines Dorfschmieds in der Lüneburger Heide. Den folgenden Abschnitt erlebt Kai als „eine der intensivsten Zeiten“ seines Lebens, während der er ungeheuer viel lernt. Neben der Schule muss er „wie ein Alter“ in Haus, Hof und Betrieb arbeiten. Rückschauend empfindet er seinen dortigen Platz zwar einerseits als quälend; auf der anderen Seite zieht er noch heute Kraft aus der intensiven Erfahrung des Bauern- und Schmiedelebens. Gut in Erinnerung ist ihm zudem die sonderbare Stellung seiner Pflegeeltern im Dorf: Da die Frau des Schmieds vormals als eine von drei begehrenswerten Schwestern in der Nachbargemeinde selbständig einen etwas abgelegenen Haushalt führte, hängt ihr noch immer der Ruf einer Hexe an. Im Dorf erfährt Kai wegen dieses vermeintlich schlimmen Umstands allgemeines Mitleid; der Schmied selbst jedoch erkrankt wegen den üblen Nachreden an seiner Frau am Magen. Kais Mutter erkennt die Unmöglichkeit der Situation, und da er ohnehin von der Mittel- auf die Oberschule wechseln soll, landet er für die folgenden zwei Jahre in einer himmelschreiend bigotten Pastorenfamilie am Rande Hamburgs. Als er 13 oder 14 ist, nimmt ihn die Mutter, die nun offenbar gewillt ist, ihre bisherige Nicht-Präsenz zu kompensieren, wieder bei sich auf. Sie hat ihm ein „perfektes“ Zimmer eingerichtet, mit farblich abgestimmten Möbeln und Wänden: „ Alles Etepetete!“ Entsetzt von diesem Ausdruck der Fremdbestimmung, gestaltet Kai zunächst einmal die Tapeten seines „perfektes Gefängnisses“ großflächig mit Kohlestiften um. Sofort begreift die Mutter die Vergeblichkeit ihres Versuches, die verlorene Zeit durch materielle Zuwendung wiedergutzumachen, und so hält sich ihr Zorn in Grenzen. Für anderthalb Jahre versuchen die beiden miteinander auszukommen, doch sie muss sich irgendwann eingestehen, dass sie mit dem pubertierenden Schlüsselkind nicht klarkommt. Abermals muss Kai weg, diesmal in ein Heim für schwererziehbare Schüler bei Osnabrück: „Einfach grauslich!“ Als aufkommt, dass er statt zum Konfirmandenunterricht in die Tanzstunde gegangen ist, will der Heimleiter handgreiflich werden, doch Kai kann die Ohrfeige abwenden, indem er mit seiner Mutter droht. Tatsächlich steht diese zwei Tage später vor der Tür und kümmert sich darum, dass ihr Sohn bis zu seinem Abitur in einer Pension unterkommt. „Das war insofern ganz toll“ hält Kai ihr heute zugute,„sie war zwar auf Distanz zu mir, aber wenn es drauf ankam, war sie solidarisch zur Stelle.“

Schon mit 14 Jahren hat Kai angefangen, intensiv ein Tagebuch zu führen, welches er bis zum heutigen Tag unter dem Titel „ME – Mein Ersatz“  weiterschreibt: „Meine Mutter redete nicht mit mir, deshalb musste ich mir das Buch zulegen.“ Nun, im Gymnasium der konservativen Kleinstadt, organisiert der aufbegehrende Junge Arbeitskreise und gründet eine Schülerzeitung. Die restlichen Schuljahre verbucht er als gute Zeit, weil er sich mit den Dingen beschäftigen kann, die ihn tatsächlich interessieren; unter anderem besucht er etwa einen jungen Literatenzirkel. Nachdem sein Ruf im Ort spätestens durch ein phänomenales Abiturbesäufnis vollends ruiniert ist, zieht er für eine Weile durch die Welt – kehrt jedoch aus Italien zurück, weil seine Mutter möchte, dass er Lehrer wird.

In Göttingen studiert Kai „alles mögliche“, wohnt wunderschön in einem Gartenhaus, dessen romantisches Ambiente den Rahmen für erste Frauenbegegnungen abgibt. Endlich einmal so etwas wie Heimat? Sich-heimisch-fühlen auch in der lange entbehrten weiblichen Energie? Vielleicht. – Indes, das Studium von Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften vermag ihm bald nichts mehr zu geben. Ganz bewusst bricht Kai 1967 aus der Idylle nach Berlin auf, wo er – sicherlich nicht ganz zu unrecht – den Zeitgeist vermutet.

„Ich bin die ersten zwanzig Jahre in einer äußerlich total behüteten Situation aufgewachsen, an einem Ort mit fünf älteren Geschwistern und einem Kindermädchen“, beginnt Frederike die Erzählung ihrer Kindheit und Jugend. Die Holzhändlerfamilie bewohnt ein wunderschönes Anwesen in der „lyrisch-musikalischen Landschaft“ des Bodensees; der Vater, ein vertriebener adliger Gutsbesitzer aus Posen, hat noch weitere fünf Kindern aus erster Ehe. In der Familie wird viel gesungen, die Mutter hat eine tolle Stimme und lässt sie beim „Abwaschen, Äpfelpflücken oder Autofahren“ hören. Mit sechs bereits beginnt Frederike Klavierspielen zu lernen, zunächst drei Jahre lang autodidaktisch – ihr großes Ziel sind Beethovens Sonaten. Sehr früh schon fühlt sie außerdem eine starke Verbindung zur natürlichen Welt, zum Bach und zu den Bäumen des Grundstücks, denen sie sich ganz anvertraut; hier ist sie vielleicht mehr noch zu Hause als in der Welt ihrer Familie: „Das äußere Heil war im Grunde ziemlich marode, weil die Beziehungen nicht klappten.“ Dass sie nicht viel von ihrer Mutter hat, der faktisch die ganze Betriebsführung im Sägewerk obliegt – der Vater war innerlich an der Vertreibung zerbrochen –, davon kündet die eingangs beschriebene Treppen-Strategie der kleinen Frederike. Zwar wachsen die Geschwister teilweise in Internaten auf, aber die trotz dieser familiären Entlastung immer noch chronisch überarbeitete Mutter kann die kleine Frederike dennoch nicht angemessen begleiten, auch was die Förderung des jungen musischen Talents betrifft. Und noch etwas Anderes, eigentlich Unerklärliches überschattet Frederikes Leben schon früh: sie besitzt eine seltsame Affinität zu den Themen Tod und Krieg, die so etwas wie den Gegenpol zur lichten Seite ihrer Musikalität darstellt. In Friedrichshafen, wo sie den Kindergarten besucht, fühlt sie die Anwesenheit der vielen im Weltkrieg umgekommenen Menschen. Bereits zuvor hatte sie intuitiv die unverarbeitete Kriegssituation ihrer Eltern wahrgenommen. Die sprechen zwar durchaus viel über die Vertreibung, aber Frederike kann diese dunkle Vergangenheit nicht in Einklang bringen mit der eigenen, oberflächlich so heilen Gegenwart. Als sie mit drei Jahren – vielleicht zum ersten Mal bewusst – Musik hört, kommen ihr die Tränen, weil sich ihr hier alles Gegensätzliche der eigenen Situation offenbart. Nur mit einem Kirschbaum kann sie jedoch über diesen Abgrund sprechen. Zieht ein Gewitter herauf, hält sie die Spannung kaum aus. Oft läuft sie in den Wald, möchte sich am liebsten an die Wurzeln der Buchen klammern oder sich mit bloßen Händen in die mütterlich-schützende Erde eingraben. In der Schule zieht die eigentlich unnahbare Einzelgängerin Scharen von Kindern an, wenn sie die „tollsten Phantasiegeschichten mythischer Art“ erzählt. „Mich hat beschäftigt: Wo hört die Welt auf, und wo ist die Brücke, über die es in den Himmel geht?“

Die Pubertät bringt Frederike natürlich nur noch weitere Pein. Als Zwölfjährige schwört sie dem Fernseher ab und will nur mehr Klavier spielen; mit 14 beginnt die von Freunden und Lehrern Unverstandene in den Schriften Sartres und Camus’ zu suchen. Nihilismus gemischt mit Depression, Flucht in Musik und Natur, Existenzialismus und Surrealismus – Was klingt wie die Blaupause für einen rabenschwarzen Song von The Cure brachte Frederike an den Rand des seelisch Ertragbaren. An manchen Tagen, wie dem ihrer verhassten Konfirmation, überlässt sie sich völlig den Tränen.

Dann erkrankt ihre Patentante, eine überzeugte Anthroposophin. In ihrer Freizeit fährt Frederike wiederholt in das Steiner-Mekka Dornach, um sie zu pflegen. Bereits mit vier war sie dort erstmals im berühmten Goetheanum gewesen und hatte eine Eurythmieaufführung gesehen; die Darsteller vermittelten ihr damals den Eindruck von „tanzenden Engeln auf Erden“ – eine Offenbarung für das kleine Mädchen, das seitdem immer wieder nach Gelegenheiten giert, eine solche Aufführung zu sehen. Nun, mit 16, findet sie unter bei den Dornacher Anthroposophen heraus, dass es tatsächlich Menschen gibt, die danach streben Kunst und Natur zu verbinden! Frederike ist sich sicher, ihren Weg gefunden zu haben; sie verschlingt Steiner-Literatur und beginnt intensiv zu meditieren. Dies hilft ihr zunächst einmal über die allgemeine „Verzweiflung und Lieblosigkeit“ in Schule und Familie hinweg und sie versteht, dass sie als „absoluter Fremdling“ in dieser Welt nicht gezwungen ist, sich anzupassen. Anhand eines weiteren Buchs nimmt sie einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der offiziellen Geschichtsschreibung – doch die bewusstseinserweiternden Informationen führen letztlich nur zu weiterer Dissonanz mit dem Geschichtslehrer. „Groll und Zorn und eine unglaubliche Wut“ über das System erfassen sie. „Hätte ich nicht die Anthroposophie kennengelernt, wäre ich auch auf die Barrikaden gegangen“ meint sie heute mit Blick auf Kai. So aber habe sich ihre Revolution im Innern abgespielt.

Als Kai 1967 nach Westberlin kommt, gibt es dort zwar noch keine Barrikaden, wie ein Jahr später in Paris. Aber offenbar passiert in der Mauerenklave etwas völlig Neues und dieser Kulturbruch lockt ihn gewaltig. Er weiß, dass er zunächst etwas erleben muss, bevor er als Literat etwas Substanzielles schreiben kann. In den Trümmerhäusern der Stadt teilen die Hippies in spontanen und offenen Gemeinschaften ihr weniges Hab und Gut. Kai ist dabei, doch Jahre später erst wird er verstehen, was ihn an den 68er-Geschehnissen und an der später in der UdSSR miterlebten Übergangsphase so reizte: „Ich selber bin ein lebender Kulturbruch. In meiner Person bricht sich die mitteleuropäische Kultur sowohl sozial als auch kulturell-politisch. Schon als vater- und heimatloses Kind habe ich mich gefragt, ob ich der Sohn Goethes oder der Sohn Hitlers bin. Mein Grundproblem, mit dem sich auch alle meine Bücher beschäftigen,  war und ist deshalb dies: Wie kann ich Heimat und Beziehung immer wieder neu herstellen?”

In Berlin und später in Hamburg erlebt Kai nun seine Revolutionszeit, die Zeit der Entstehung seiner Person, wie er es ausdrückt. Seine Erzählungen lassen darauf schließen, dass er innerhalb der 68er-Szene offenbar eine Art Grenzgänger war zwischen den Lagern der hyper-politischen Studenten und der Lebenskünstler-Hippies, die nicht nur die Gesellschaft, sondern auch sich selbst transformieren wollen. 1970 zieht er nach Hamburg, wo er mit Freunden in einer alten Villa die „Ablassgesellschaft“ ins Leben ruft – eine berüchtigte revolutionäre Künstlerkommune mit anarchistischen Ansätzen, die bald noch weitere Ableger in der Stadt unterhält. Etwas vage umschreibt er die dortigen Aktivitäten so: „Wir waren der Kunstterror schlechthin. High life! Dort haben wir alles gemacht, was man den 68ern so nachsagt …“

Nach anderthalb Jahren verlässt Kai das Projekt und landet schließlich mit einem Salto-mortale in einer der größeren und undogmatischeren der zahlreichen Post-68er-K-Gruppen, dem „Kommunistischen Bund“. Diese Gruppierung streitet nicht zuletzt mit ihrer Zeitung „Arbeiterkampf“ (heute: „Analyse & Kritik“) gegen Krieg und neo-faschistische Tendenzen und für eine menschliche Gesellschaft. Als langjähriger Redakteur des Blattes ist es Kai ein besonderes Anliegen, die Gruppe für konkrete gesellschaftliche Utopien – das heißt für die Frage nach echter kultureller Erneuerung – zu öffnen. Da er nebenher Yoga macht und sich nicht scheut, etwa auch die Baghwan-Anhänger als Teil der Alternativbewegung mitzudenken, gilt er parteiintern als „bunte Kuh“.

Mitte der 80er Jahre beginnt Kai schließlich die Veränderungen, die er eigentlich für die eigene Gruppe und die eigene Gesellschaft erhofft, in der Sowjetunion zu spüren. Wie schon ’68 zieht ihn der dort sich ankündigende Kulturbruch wie ein Magnet an. Zwei, drei Mal reist er noch vor der Wende als  Tourist und später als Touristenführer nach Russland – und bei einer dieser Fahrten begegnet ihm auf der Fähre nach Helsinki eine schüchterne Frau …

Frederike hatte sich schließlich für die Eurhythmie-Ausbildung entschieden und tourte nun bereits seit einigen Jahren mit einem Ensemble durch ganz Europa. Doch anders als das Gros ihrer Kollegen ist sie dabei getrieben von einer starken politischen Motivation: „Kriegen wir auch das, was dahintersteht, auf die Bühne?“ fragt sie sich, „Können wir beispielsweise die Menschen, die im Kohlenwerk rackern und mit dieser gesellschaftlichen Grundlagenarbeit unsere Arbeit erst ermöglichen, gedanklich einbeziehen? Wie kann ich diesen Menschen mit meiner Arbeit etwas zurückgeben?“ Viel stärker möchte sie gesellschaftlich wirken durch ihr Tun und endlich die normalen Menschen kennenlernen. Und sie will endlich den Mann treffen, der ihr bei ihrer Mission behilflich sein kann – ja sie weiß sogar, wie er aussieht. Schon als sie Kai auf der Hinfahrt über die Ostsee sieht, spürt sie sofort, dass er der Richtige ist und sie nun eigentlich handeln müsste. Gut, dass sie beide zufällig auch für die Rückfahrt dieselbe Fähre benutzten und er sich – seinerseits von der Fremden angezogen – in ihre Nähe setzt, während sie noch immer überlegt, wie sie über ihren eigenen Schatten springen und ihn ansprechen soll. Das nun folgende Gespräch dauert bis Nachts um vier, wobei Kai sich erinnert, dass es eher die Form eines Intensiv-Interviews annahm, das sie mit ihm führt Einfach alles will sie von ihm wissen und zeigt sich fasziniert von den Möglichkeiten des politischen Wirkens.

Nach dieser ersten Begegnung der Künstlerin und des Kulturbruchforschers dauert es noch eine Weile, bis aus den beiden unterschiedlichen Menschen ein Paar wird. Immer wieder, sagt Kai, müsse er sich seither entscheiden, mit dieser fremden Geschichte in Beziehung zu sein. An Frederike habe er jedoch gelernt, das Andere zu schätzen und es bewusst anzustreben, das Fremde kennenzulernen, weil es eine Bereicherung ist, wenn Gegensätze zusammen einen neuen Körper formen. Dies sei der Erfolg seiner Suche nach neuer Heimat.

1989 verlässt Kai nach 15 Jahren Mitgliedschaft den Kommunistischen Bund, da er merkt, dass es ihm nicht gelingen würde, diesen für neue Horizonte zu öffnen; am Erscheinungstag der letzten AK-Ausgabe unter seiner Beteiligung schenkt ihm Frederike einen Sohn. Wieder löst neue Heimat die alte ab.

Die Wende im Osten bringt dem Paar schließlich auch Gelegenheit, ihre unterschiedlichen künstlerischen und politischen Herangehensweisen sinnvoll zu verbinden. Als Teilnehmer eines russischen Kongresses von 400 denkoffenen Psychotherapeuten ermuntert Kai Frederike – die nie zuvor öffentlich gesprochen hat – vor dem Auditorium über „anthroposophische Psychotherapie“ zu referieren; im Foyer des Saales hat er selbst ein kretisches Labyrinth nachgebaut und gibt darin „Transformationsübungen“ für die Anwesenden. Das später noch oft wiederholte Seminar will anhand der Figur des Labyrinths den Wandlungsprozess „sinnlich erfassbar, methodisch erkennbar und auf die persönliche Befindlichkeit und Lebenssituation beziehbar machen.“ Die gelungene „Anschauungshilfe in Soziokultur“ im Verbund mit Frederikes Wirken gibt der Veranstaltung einen starken Impuls – eine Sternstunde für das Paar.

Noch weiter im Osten, in der Mongolei, knüpft Kai über viele Jahre hinweg Kontakte zur nomadischen Bevölkerung. Die transformatorischen Veränderungen, denen auch diese noch nicht industrialisierten Gesellschaften unterworfen sind, wird er später in einem Buch über die „Zukunft der Jurte“ beschreiben. Andere seiner zahlreichen Publikationen behandeln die für den Westen zunehmend lehrreichen Ansätze zur Selbstorganisation in der postsowjetischen Gesellschaft („Die Erotik des Informellen“; siehe KK 150) und im gesamten asiatischen Raum („ Asiens Sprung in die Gegenwart“).

Prägend auf sie beide wirkt die Begegnung mit dem Pionier der Neuen Arbeit, Frithjof Bergmann (siehe KK 148?). Frederike, die Eurhythmie seit der Geburt ihres zweiten Kindes nun schwerpunktmäßig therapeutisch einsetzt, hat sich seither darangemacht, gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiter die Vision eines „Eurhythmie-Werks“ zu realisieren, das nach Bergmann’schen Ideen die herrschende Arbeits- und Konsumlogik auf den Kopf stellen soll: „Für Wellness und Heilung ein Vermögen zu bezahlen, das stimmt für mich nicht. Mit Eurhythmie produzieren wir kostbare Energie – Wärme, Licht, gute Luft im geistigen Sinn. In unserem Werk sollen alle Leute mitarbeiten können: Hier geht man zu einem Eurhythmiekurs, arbeitet dort den ganzen Tag und nimmt anschließend noch hundert Euro mit nach Hause. – Das ist völlig anders als beim herkömmlichen Wellness-Konsum, wo man sich selbst aufbaut, nur um anschließend wieder vom System fertiggemacht zu werden.“  In der neuen Gesellschaft gehe es um die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Mittels der Eurhythmie könnten die Menschen an die Quelle der Sprache gelangen und endlich ihr eigenes Kreativitätspotential entdecken. – Wenn Frederike davon erzählt, wie sich ihre Hamburger Eurhythmiegruppe auf diese Weise allmählich zu einer politischen Kraft entwickelt, klingt diese Idee gar nicht so abwegig.

Kai begleitet Frederikes Projekte mit wohlwollendem Abstand: Er stehe der Gruppe als Gesprächspartner zur Verfügung, selber Tanzen möchte er aber nicht.

Es gibt andere Stricke, an denen sie besser gemeinsam ziehen können. Nach Erscheinen von Kais Buch über die Idee des „ Grundeinkommens für alle“ als einem „Sprungbrett in die integrierte Gesellschaft“ (siehe KursKontakte 150) gründen sie Anfang 2006 ein Forum, auf dem die Thesen des Buchs diskutiert werden und wo vor allem darüber nachgedacht wird, was zu tun ist, damit die gesamtkulturellen Veränderungen stattfinden können, die Kai zufolge Voraussetzungen dafür sind, dass die Einführung eines garantierten Grundeinkommens tatsächlich die erhofften positiven Effekte zeigen kann – Denn was hilft dieses Instrument in einer Gesellschaft,  deren Mitglieder nie gelernt haben, selbstbestimmt  zu arbeiten oder auch nur sinnvoll mit ihrer Freizeit umzugehen? Ein fundamental anderes Verständnis von Arbeit scheint nötig, und Kai setzt in dieser Hinsicht insbesondere auf den Vorbildcharakter der bestehenden Gemeinschaften sowie auf die transformatorische Kraft des Dreigliederungsgedankens Rudolf Steiners (siehe KursKontakte Nr. 129). ­– Hat sich Kai, der seine Bücher mittlerweile bei einem anthroposophischen Verlag veröffentlicht, zu einem „Anthro”  gewandelt? „Mein Anliegen ist das, was ich integrierte Gesellschaft nenne: das In-Beziehung-Setzten der verschiedenen isolierten Ein-Punkt-Bewegungen. Hier ist es meine Rolle, denkerische Prozesse anzustoßen. Ich bin aber kein Nachbeter; ich habe über die Neue Arbeit geschrieben, bevor ich Bergmann kennengelernt hatte; ich war in Russland, bevor Gorbi an die Macht kam. Ich schaue mit meinen Augen und das trifft sich dann oft mit dem was andere sehen: auch zum Beispiel mit Steiner, obwohl ich kein Steinerist bin. Und wenn ich unabhängig zu ähnlichen Schlüssen komme wie andere, so erkenne ich daran die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit meiner Wahrnehmung.“

Die Beschäftigung mit den russischen und westeuropäischen Gemeinschaften neuen Typs lässt nun jedoch immer hartnäckiger die Frage nach dem eigenen Lebensentwurf in den Vordergrund treten: Die Kleinfamilie mit zwei Kindern, Häuschen, Hühnern, Hund und Katze, das ist eigentlich nicht das, was Kai sich einmal so vorgestellt hat, selbst wenn – zur großen Empörung der Nachbarn – eine original mongolische Jurte im Garten steht.

So steht also einmal mehr die Suche nach neuer Heimat an. Gemeinsam machen sie sich daran, aktiv neue Beziehungen aufzubauen – Späteres Finden von Gemeinschaft und einer neuen Kultur nicht ausgeschlossen … •

Veröfffentlicht in KursKontakte, Nr. 152

Gespräch mit Kai Ehlers zum Thema: Lebensformen und sozio-politische Organisation; Transformationsprozesse und neue Alternativen am Beispiel des Engagements Deutschland/Mongolei. Bewegungen zwischen Theorie und Praxis mit Annette Stock

Anlässlich des 5. Mongolei-Festivals in Schlangenbad-Bärstadt

Gespräch mit Anette Stock

Ist eine Kombination aus Kapitalismus, Kommunismus und Sozialismus in der Praxis z. B. in der Mongolei, möglich? Nein, keine Kombination auch keine Synthese sondern eine Weiterentwicklung von dem, was Gesellschaft, bzw. soziales Leben, eigentlich sein kann. Das bedeutet, Man muß auf der einen Seite begreifen, dass der Sowjetismus als Krise zeigt, dass dieser Weg so nicht weiter beschritten werden kann, andererseits, das Reparaturkonzept Kapitalismus, was jetzt in die Sowjetunion bzw. Rußland hineintransportiert wird auch nicht funktioniert. Also Rußland wird nicht einfach kapitalistisch. Diese Art von Dualismus, da Sowjetismus, Sozialismus, hier Kapitalismus das war einmal, da haben wir eine neue Situation. Aber es wird nicht einfach eine Kombination geben. Die sowjetische Krise ist gewissermaßen exemplarisch für die Krise unserer heutigen industriellen Gesellschaft, des heutigen Entwicklungsmodells von industrieller Gesellschaft, als planbare Gesellschaft die wissenschaftlich technische Gesellschft als planbare Gesellschaft, das ist da in die Krise geraten. Und das nicht nur in der Sowjetunion sondern letztenendes setzt sich dies in unserer Gesellschaft fort. D.h.wenn wir unsere, die sogenannte westliche Gesellschaft anschauen sehen wir, dass wir eigentlich genau dieselben Probleme haben. Nämlich das dieser Entwurf der industriellen Gesellschaft, als Fortschritt, der immer weiter geradlinig fortgeschriebenen werden kann, so nicht funktionieren kann. Es muß also was anderes her, es müßen also andere Prinzipien her, wie man miteinander leben kann, wie man mit dem Kapital umgehen kann, das wir uns als Menschheit über die Jahrhunderte erarbeitet haben. Diese ganzen Fragen stehen einfach neu nachdem der Entwurf den die Sowjetunion gemacht hatte nicht funktioniert und der Kapitalismus nicht einfach da eingeführt werden kann Und warum kann der Kapitalismus dort nicht einfach so eingeführt werden? Weil es nicht funktioniert, es ist nicht die Antwort. Es ist so, man kann das sehen, dass die Menschen von dem Konsum der ihnen angeboten wird, geblendet sind. Das ist klar, sie wollen erst mal alle so schön leben wie wir, d. h. in Anführungsstrichen schön, und dann merken sie, entweder wenn sie hier her kommen als Gäste, oder wenn sie auch dann dort sind , mit dem Konsum, mit dem sie ständig überschüttet werden, dass das auf die Dauer nicht funktioniert, weil die Freiheiten, die man ihnen vorgaukelt nicht durch die Realität getragen werden, d. h. sie haben zwar jetzt die Freiheit alles zu kaufen, aber kein Geld. Also da stoppt es dann. Da stoppt der Kreislauf, es funktioniert nicht, es funktioniert nur für eine kleine Oberschicht, die eine sehr un-egalitäre Gesellschaft herstellen, und die einfachen normalen Menschen die das erleben, die merken so kann man nicht leben, das kann nicht die Zukunft sein. Die Prinzipien des Kapitalismus, bereichere dich selber auf Kosten anderer, und das möglichst schnell, wie sie jetzt in Rußland propagiert worden sind, werden eben nicht von allen Menschen akzeptiert. Sie haben eine andere Art zu leben. Hat das vielleicht etwas mit ihren Traditionen zu tun? Ja, das hat etwas ganz entschieden damit zu tun, dass ihre Traditionen sehr viel stärker sind als diese 70 Jahre Sowjetismus. Die Traditionen stammen aus der sehr wechselvollen rusischen Geschichte zwischen Asien und Europa, der Vielvölkerkultur, die kein einliniges Denken erlaubt und auch einlinige Wirklichkeiten nicht erlaubt usw, und wo große ethnische Zusammenhänge geblieben sind in einem großen Zusammenhang aber eben kleine ethnische Zusammenhänge in diesem Sinn. Und damit zusammen hängt wiederum ein kollektives Gemeinschaftsdenken, also das sich in dieser russischen Bevölkerung entwickelt hat. Man produziert, man lebt gemeinsam. Das war schon vor dem Sowjetismus in der Dorfgemeinschaft usw. so. Sind das dort Klangruppen? Nein, das sind keine Klangruppen, das sind ganz klassisch gesehen die russischen Dorfgemeinschaften, das sind Produktions-Arbeitsgemeinschaften von mehreren Leuten im Rahmen von einem oder drei bis vier Dörfern, wo man sich unter idieologischen Gesichtspunkten zusammenschliesst um dieses Gebiet gemeinschaftlich zu bewirtschaften. Also in der Landwirtschaft das war ganz klassisch so, dass man die Dörfer hatte mit Ländertausch.und über Jahrzehnte hin hatte eine Familie einen Hof, und alle 15 bis 20 Jahre wurde das Land neu umverteilt, so traditionell, je nachdem wieviele Esser dazu gekommen waren, wurde neu verteilt. Das geschah auf dem Marktplatz, das wurde ausdiskutiert manchmal auch mit Fäusten, das ging nicht immer ganz friedlich vor sich, aber es wurde ausdiskutiert, es war also Ur-Demokratie, und unsere alten Sozialisten, also Marx und Engels usw sind ihrerseits gefragt worden, kann das ein direkter Weg zum Kommunismus sein? Daraufhin haben sie 10 Jahre lang geschwiegen, um dann zu sagen, also wenn in Westeuropa eine proletarische Revolution stattfände, und sie also eine neue stattlich gesellschaftliche Wirklichkeit aufbauen könnte, dann könnte das in Russland vielleicht eine Möglichkeit sein, das Stadium des Kapitalismus in Zusammenhang mit dem Westen zu überwinden/überspringen. So haben sie geantwortet, könnte, könnte, könnte, wenn… Also sie gaben eine richtige Sphinx-Antwort. Aber es zeigt natürlich, dass auch die beiden begriffen haben, das diese Gemeinschaftstradition ihre besondere Qualität hat, also diese Russische, vor dem Sowjetismus wohlgemerkt. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.. Was halten Sie von den Behauptungen einiger Leute, die sagen, der Kommunismus sei ein von gewissen Leuten initiiertes politisches Experiment auf russischem Gebiet gewesen? Ich verstehe die Frage, ich denke mir, es ist das unmittelbare authentische Interesse, des Kapitals, gewesen und auch heute, überall alles zur Ware zu machen, was man zu Ware machen kann. Da muß kein Oberlenker stehen, das ist ein anarchischer Prozeß, der findet statt. Ein selbst induzierter Prozeß, das ist ja eben das Merkmal des Kapitalismus, dass er eben anarchisch ist in seiner Grundstruktur. Dass Konkurrent gegen Konkurrent steht und Kapitalist gegen Kapitalist, und da wo der eine Kapitalist gewinnt, tritt er eben den Anderen und der tritt dann weiter nach unten,usw. usw. usw., also das ist ein anarchischer Prozeß. Und da..hm.. Andererseits ist es so, dass die Russen manchmal so reden, „mit uns hat man ein Experiment gemacht“…die da, also die haben hier ausprobiert“, usw., aber das ist eher auf einer mythischen Ebene. Wenn man es richtig als Soziologe analysiert, ist es ganz deutlich ein wirtschaftlicher anarchischer Prozeß, so wie Sie das eben gesagt haben. Und wenn man jetzt die heutige Situation anschaut, ist das ja auch wieder sehr interessant, dass sagen wir mal als die Sowjetunion in die Krise kam, so Ende der 1980er, Ende 81, 82, 83, und so ruch- bar wurde, das die Alte, die Autochthonie, die Alten-Herrschaft nicht mehr funktionierte. Als Breschnew dann starb, und dann ein Sekretär den nächsten ablöste, also irgendwie merkte man das geht nicht mehr so weiter, da hat der Westen gelauert, hat drauf gelauert, dass die Krise endlich ausbricht und hat nachgeholfen in Afghanistan, der US-amerikanische Alt-Stratege Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter z. B. spricht von der Afghanistan -Falle in die man die Sowjetunion hineingelockt habe, im Wissen, dass sie sich nach 70 Jahren ihrer Entwicklung in einer kritischen Situation befindet. Und die alten Parteisekretäre waren so verknöchert, dass sie auf diese Provokation hereingefallen sind, und haben sich nach Afghanistan, in diesen Krieg hineinziehen lassen. Und es war klar, dass sie ihn nicht gewinnen können, da hat der Brzezinski damals zu seinem Carter gesagt, „das wird Ihr Vietnam, wir haben was aus Vietnam gelernt“, damals hatten sie noch was gelernt, „… und das wird Ihr Vietnam…“. Und da sollten sie rein, und so wars dann auch, Afghanistan wurde die Falle, an der die Sowjetunion dann auch tatsächlich auseinandergebrochen ist. Das heisst, natürlich macht man in dem Rahmen Politik, trotzdem ist selbst diese Politik noch ein anarchischer Prozess, da ist kein großer Strippenzieher über der Politik, würde ich sagen letztenendes. Wie verhält sich das nochmal mit den Gruppierungen im Land? Sie sagten, dass die Leute sich historisch innerhalb von Dorfgemeinschaften organisierten. Schaun Sie, die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, weil, da gibt es natürlich Sprünge. In der Vor-Sowjetischen Geschichte, haben die Zaren im 19 ten Jahrhundert mehrmals versucht diese Gemeinschaftsstrukturen zu zerschlagen, Obscina heisst das, d. h. das Land befand sich im Kollektivbesitz (obscina) der Dorfgemeinde (mir), und auch der Kolchos fußte auf der obscina. Also eben diese Gemeinschaftsstrukturen wurden zu zerschlagen versucht, weil auch Rußland in den Prozess der Industrialisierung kam, am Ende des vor-vorigen Jahrhunderts. Und das war ein sehr rasanter Prozess, und sie meinten, dass diese Gemeinschaftsstrukturen, in denen ein sehr selbstgenügsames Leben geführt wurde, wo nur gearbeitet wurde wenn es nötig war, mehr nicht, dass die der Industriealisierung im Wege stünden, und standen sie auch. Dies geschah noch vor der Planwirtschaft und vor jeder Revolution. Diese Art von dörflicher Subsistenzwirtschaft und Dorfgemeinschaft, die war nicht dazu angetan, die nun gerade herannahende Industriealisierung zu befördern. Und diese Bauern, die damals dort so gelebt haben dachten, was soll uns das denn eigentlich alles. Es war nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft, der diese Industriealisierung sehr stark gefördert hat. Insofern haben schon die letzten Zaren, also Nikolai um 19 Hundert versucht die Obscina, also diese Gemeinschaftsstrukturen, zu liquidieren , und ihr habt vielleicht mal von dem Stolipin gehört, Minister unter dem letzten Zaren, der hat versucht als Ministerpräsident dann diese ganze traditionelle Gemeinschaftsstruktur der Gesellschaft per Gewalt aufzulösen. Aus diesem Grund spricht man bis heute auch immer noch von dem Stolipin`schen Kragen. Das ist der Strick, an dem Tausende von Bauern gehangen haben, die nicht aus den Gemeinschaftsstrukturen rauswollten, die nicht Privatbauern werden wollten, und die nicht in die Industrie wollten. Der Gedanke war bei Stolipin, also unter dem letzten Zaren, wir lösen diese Gemeinschaften auf, der eine Teil wird Privatbauern, und der Rest geht in die Industrie als Massenarbeiter. Das war der Grundgedanke. Vor der Sowjetischen Revolution, und das war ein Grund für die Revolution, weil die Bauern gemerkt haben, es ging ihnen an den Hals, man würde ihnen ihr Land wegnehmen. Und deshalb konnte Lenin später sagen, jeder Bauer ein Stück Land. Das war eine Parole. Frieden und Land. Das hat etwas damit zu tun was ich eben erzählt habe. Und die Sowjetische Revolution bestand dann unter anderem darin, dass eben den Bauern die Gemeinschaftstrukturen wiederhergestellt wurden. In diesem Fall also unter sowjetischer Führung, also in der Sowjet-Form, und jeder Bauer sein Land bekam, in der Form der Gemeinschafts-produktion, und da drin sein kleines Häuschen. Das war also grob die Situation, und in dieser Form der Staatsgemeinschaft, aber auch der selbstgebildeten Kollektivgemeinschaft, Sovchose und Kolchose, hat sich das dann über 70 Jahre entwickelt. So ungefähr. Es ist sehr schwer dies so einfach zu beantworten Wie hat sich das jetzt bis heute verändert? Das sind die Strukturen, so wie sie entstanden sind. Das sind die Bedingungen, unter denen sich die Sowjetunion während der letzten 70 Jahre entwickeln konnte. Dazu muss man sagen, dass diese gemeinschaftlichen Grundstrukturen auch auf die Industrie übertragen wurden, dann in der Sowjetunion, d.h. auch die Betriebe sind eben als Kollektive organisiert worden, und die ganze Arbeit ist um die Betriebe herum organsisiert worden. Das ganze Leben, es ist ein betriebs-zentriertes soziales Geschehen, wo der Betrieb X erstens die Arbeit kollektiv organisiert, aber zweitens auch das ganze private soziale Leben, alles, die ganze Infrastruktur, Strasse, Kindergärten, bis hin zum Begräbnis usw usw alles um diesen einen Betrieb. Also ländlich zum einen die Kolchose oder Sovchose, oder sei es städtisch, irgendein Industriebetrieb, der also für seine 20 Tausend, dann Wohnungen und Datschen und Pensionen gestellt hat, das ging alles über den Betriebsfond. Hatten die Menschen dort Mit-spracherechte? Die Leute hatten darin Mit-spracherechte. Es gab darin Betriebsräte, die waren natürlich parteiorientiert, d. h., also Mitsprache schon, im Rahmen der bestehenden Verhältnisse eben. Das ist aber eine sehr sehr schwierige Diskussion. OK… Und heute ist das so, das ist alles so gewesen, als die Perestroika begann. Bzw., dann als 1990/91 Jelzin mit seinem Privatisierungsprogramm kam, da hat es folgende Konfrontation gegeben, Jelzin und seine in Harvard ausgebildeten Leute, also Gaidard, erster Ministerpräsident Russlands usw.die haben ein Programm vorgelegt, dass fast 100-prozentig vom IWF (Internationaler Währungs Fond)abgeschrieben worden ist. Einer IWF-Untersuchung die in den Jahren 88/89 über die sowjetische Wirtschaft gemacht worden ist. Und in diesem IWF-Buch bzw. diesem IWF-Schinken hiess es, ungefähr also, die Sowjetunion ist überqualifiziert, sie ist überorganisiert, dass muss alles runtergefahren werden. Man muss mit ungefähr 20% Arbeitslosen rechnen…usw. usw., und dergleichen Dinge mehr. Unglaubliche Dinge haben sie da also von sich gegeben, aber der entscheidende Punkt war, diese kollektive Organisation des Lebens ist eine Fortschrittsbremse. Warum, weil die Menschen sich in diesem Kollektiv auf einem bestimmten Niveau gehalten haben, und mehr wollten sie nicht. Sie hatten was sie brauchten. Und es war nicht um andere Leute reich zu machen. Ja. Warum mehr arbeiten? Man arbeitet in Russland soviel wie man braucht und dann ist Sense. Deswegen gelten die Russen bei uns als faul, sie sind aber gar nicht faul, sie arbeiten nur periodisch da wo es nötig ist. Und das heisst, da gab es also die Konfrontation dass dann Jelzin und Gaidard so argumentiert haben.. sie haben also die Analyse des IWF übernommen, und sie haben dann gesagt, dass wichtigste in der Privatisierung, die wir jetzt vorhaben, ist, dass die Betriebe ent-kollektiviert werden. Ent-kollektiviert hieß in dem Programm, dass sie dann aufgeschrieben haben, dass die Betriebe in private Besitzverhältnisse, also Aktien-verhältnisse usw. überführt werden, und da muss dafür gesorgt sein, dass Anteile von Betriebsangehörigen und Direktor nicht mehr als 49 % erreichen. D. h. das Fremdkapital muss die Mehrheit haben. Das war geplant. Passiert ist etwas ganz anderes, passiert ist, dass einige grosse Betriebe unter kriminellen Umständen für nichts verschleudert worden sind. Das sind die sog. Oligarchen, die entstanden sind, Kolokowski und Beresowski und wie sie alle heissen, diese ganzen Leute und auf der anderen Seite, die weniger lukrativen Betriebe und vor allem kommunale Betriebe sind bei den Kollektiven geblieben. Warum? Weil die keiner haben wollte. Diese Betriebe hat man den Leuten überlassen, die darin arbeiteten, auf das sie sich selbst ernähren und dass sie den Betrieb selbst erhalten, weil sonst wären diese Betriebe kaputt gegangen. Und die haben sich dann zusammen geschlossen und dann hatten sie wieder ihren Betireb. Es ist aber dann auf einem Niveau gelaufen, dass sie zum Teil über Jahre marode Betriebe auf ihre eigenen Kosten halten mussten. Das ist ein irrer Vorgang. Und heute hast du so eine Situation, dass Putin, nachdem das nun 10 Jahre lang so gelaufen ist, einen Kurs eingeschlagen hat, dass er gesagt hat, also das geht so nicht, wir wollen zwar eine starke modernisierte Industrie haben, aber diese Industrie soll in vernünftigen Strukturen laufen, also auch in Strukturen, die dem Staat nützen. Deswegen hat er einen Chodorkowski z. B. verhaftet. Also das ist eindeutig politischer Prozess, also den Ölmagnaten Michail Chodorkowski, hat ihn also in seine Schranken weisen lassen. Darüber über Rechtsstaatlichkeit zu diskutieren halte ich für völlig albern, hier geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es darum dass Chodorkowski den Griff auf die gesamten Ölressourcen Russlands hatte, und drauf und dran war an US-amerikanische Konzerne zu verkaufen, und das hätte bedeutet, dass Russlands Grundressourcen in den Händen der Amerikaner wären. Und da gab es nur eins, ihn stoppen, also aus der Staatraison heraus. Ob das nun moralisch richtig ist, das ist eine ganz andere Frage, darüber rede ich im Moment nicht. So einer, und auch Beresowski, und wie sie alle heissen wurden also gestoppt, und sie haben sich im Prinzip auf diesem Niveau eingeordnet. Auf der anderen Seite ist es so, dass viele kleine Betriebe in den Händen ihrer Arbeiter/Produzenten sind. …Es ist ein sehr gemischter Prozess, wenn sie zusammen mit dem Direktor 51 oder 52 % haben. Also die Direktoren sind auch nicht immer die Feinsten. Dann sind zwar alle die, die im Betrieb mitarbeiten in Besitz der Mehrheit der Aktien, aber häufig hast du Arschlöcher…der Direktor hat dann das Sagen und die anderen haben noch ein paar Anteile… Welche Strategien wenden dort die Leute an? Können sie ihre eigene Postition von außen betrachten? Ja, es gibt also auch in diesem Bereich diese Strukturen wo also der Direktor privatisiert hat, wo er also 51% als Direktor hält und der Rest ist auf die Belegschaft aufgeteilt. Und da gibt es sehr unterschiedliche Situationen. Ich kenne da ein Beispiel, in NovoSibirsk , da ist eine ehemalige Sovchose, es sind also neun Dörfer, da hat der Direktor 51% , jetzt durch die Privatisierung, die er hält, wie er dazu gekommen ist, weiß keiner so recht aber so ist es halt jetzt eben, und die restlichen 49 % sind auf die Belegschaft verteilt, die nennen sich geschlossene Aktiengesellschaft, da geht kein Fremdkapital rein, nur eigenes. Und das ist eine Konstruktion, die ist von der Form her eindeutig, autoritär ist nicht richtig, aber Autoritäts bezogen. Also auf diesen Patriarchen bezogen. Guter Direktor=Guter Betrieb. Wenn der Direktor aber ein Arschloch ist, oder sein Sohn z. B. dann vielleicht in die Rolle käme, dann wäre dieselbe Konstruktion schlecht. Da er aber ein guter Direktor ist, bedeutet dass, diese Konstruktion, dass er zu mir sagt, ich bin nämlich dagewesen, ich habe ihn gefragt usw., dass er also zu mir sagt, ich werde doch nicht etwas tun das mir selber oder meinem Betrieb schadet, so etwas mache ich nicht. Ich tue alles Beste für meinen Betrieb und für meine Leute und so leben wir zusammen. Also die leben bestens und alle sind total zufrieden, und sie haben Mitbestimmungsrechte, da gibt es einen Sowjet, also einen Betriebsrat, und den Anteilseigner, die gemeinsam entscheiden. Er trifft keine Entscheidung alleine, er berät das alles mit den anderen, aber es läuft über den Weg der Aktienbeteiligung. Aber die anderen, die da woanders arbeiten, die haben diese Struktur vor Augen und sagen, solange das so läuft, sind sie zufrieden. So läuft das, es gibt da keine Mitbeteiligungs-modelle im Sinne von Demokratie oder sowas, das ist da alles nicht so, das läuft da ganz anders. Das ist ein positives Modell sozusagen, da gibt es aber noch andere Modelle die sind noch gewissermassen positiver. Wo also der Direktor keine 51% hat sondern wo man gemeinsam gleiche Anteile hat, auch geschlossene Aktiengesellschaften. Solange geschlossene Aktiengesellschaften bestehen, hat man eine Chance, den Einfluss des Kapitals von aussen rauszuhalten, solange hat man die Chance einigermassen selbst zu bestimmen. Es sei denn, der Direktor bestimmt. Es sei den der Direktor bestimmt, aber das ist nur eine Voraussetzung, die Realität ist häufig sehr viel härter, weil dann versucht wird von aussen einzukaufen, Bedingungen zu setzen usw usw es ist ein richtig schwerere Kampf. Gewaltsame Übernahmen, Übernahme-Kämpfe usw usw….Finanz-Gewalt oder auch bürokratische Gewalt. Es kann also auch sein, dass eine Gemeinschaft, die so funktioniert, dann auf bürokratische Probleme stösst , die ihnen von der Umgebung, also von der Provinz-administration in Verbindung mit .., die also in dem Gebiet da tätig sind, Hindernisse in den Weg gelegt werden. Und die sind auch nicht von Pappe, d. h. also es ist eine richtig schwere Auseinandersetzung, die gegenwärtig in Russland geführt wird um die Frage, wohin geht es eigentlich. Und arbeiten Sie selbst in Ihrer Initiative gemeinsam mit politischen Analysten an Prognosen und der entsprechenden Entwicklung von Strategien? Schwierige Frage..es gibt ganz viele Leute, die Russland-Soziologie betreiben, die meisten, die ich im Laufe der 20 Jahre jetzt an mir habe vorbeiziehen lassen…müssen, sind solche Leute, die diesen Privatisierungskurs nachhaltig und ohne Einschränkung unterstützt haben, und das alles toll fanden. Und die der Meinung sind, das diese alten Strukturen, diese alten Selbstorganisation- bzw. Selbstversorgungsstrukturen, also überhaupt diese Gemeinschaftstrukturen, alle beseitigt gehören, also genau in dem Sinne von Gaidard argumentiert haben. Seit Gaidard aufgetreten ist eine ganze Phalanx von deutschen, europäischen Soziologen, die also nur diesen ganzen Mist immer geschrieben haben. Waren sie vielleicht zu stark von den Institutionen beinflusst? Nö, das ist einfach eine Kopffrage, das ist die Denke hierzulande. Hierzulande besteht die Überzeugung, dass wir das beste aller Systeme haben. Es gibt aber auch andere Stimmen, wie z. B. Pierre Bourdieu. Ja sicher, die gibt es. Gibt es aus ihrer Sicht auf die spezielle Situation in die Mongolei Parallelen zu anderen Global-Villages auf der Welt? Das was jetzt in der Mongolei passiert, das ist zuvor in Südamerika passiert. Das Kapital geht jetzt in der Mongolei genauso vor, wie vorher in Südamerika oder in Afrika. Es ist interessant zu sehen, es sind immer dieselben Strukturen und Vorgänge, aber das ist nicht einer der am Draht zieht, es ist ein authentischer Prozess der Verwahrung der Welt, der Ranschaffung von Ressourcen und dann die Fertigwaren zurücktransportieren. In etwa so wie es Weber`s Theorie beschreibt? Der Mensch in seinem systemischen Eingebunden-Sein in Sachzwänge, ohne die grosse Möglichkeit einer individuellen Einflussnahme? Ja, der einzelne Mensch glaubt Entscheidungen treffen zu können, und befindet sich aber in einem ganzen Konzert von Entscheidungen, die sich hinter seinem Rücken, so hat es auch Marx formuliert, die sich hinter seinem Rücken verwirklichen. Bewegen Sie sich nicht in einer Art der priviligierten Schlüsselposition, an einer Schnittstelle, die es Ihnen erlaubt mit gewissen theoretischen Ansätzen auch praktisch zu operieren…? Das ist richtig, denkerisch bin ich an dieser Stelle, praktisch habe ich keinen Einfluss, das muss man auch ganz klar sehen, d. h. wir mit unserer kleinen Initiative hier, wir sind ein Pfiff im Wind. Es ist so, und es gibt viele solcher Initiativen, die so im Wind stehen, und versuchen irgendwas zu tun, und da kann man nochmal eine andere Ebene einschlagen. Und sagen aha, ja ok, daraus ergibt sich vielleicht etwas. Aber der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist aus meiner Sicht, nachdem ich mich lange mit diesen Fragen herumgeschlagen habe, eindeutig das Denken, das richtige Denken an dieser Stelle. Das heisst, indem ich also diese Fragen, die Sie mir jetzt stellen durchdringe, und wir dies hier gemeinsam machen, das ist das Entscheidende, was als Impuls in die jetzige Situation eingehen muss. Weil gegenüber der Macht des Kapitals und vor allem des militärisch gestützten Kapitals, noch dazu, also US-Situation, sind wir konkret erstmal machtlos. Die einzige Chance die wir haben ist an Bewusstsein zu arbeiten, und für den Tag, wann immer der sein mag, an dem sich eine Chance bietet, hier, dort oder auch insgesamt, wirklich parat zu sein, d. h. daran arbeiten wir eigentlich. Das ist meine Arbeitsauffassung. Also in dieser vorausschauenden Art Situationen für Menschen zu ermöglichen sich ihre Authentizität zu erhalten und zu bewahren und dann zu handeln, in der richtigen Situation. Also auch Ideelle und praktische Räume erschaffen? Wie bewerten Sie darin den Faktor der Dynamik. Also wenn wir davon ausgehen, dass es sich hier um enorm rasche Prozesse handelt, in denen Energie sich materialisiert und wieder zerfällt? Wie würden Sie sich, physikalisch gesehen darin wahrnehmen? Ja, das ist ein permanenter Prozess in dem wir drin stehen, physikalisch gesehen sind wir das kleine Flämmchen, dass dazu führt, dass die Luft ein bisschen heisser wird. Oder, wir sind das Salz in der Suppe, oder weiss der Geier. Wie immer, der Impuls kommt aus der Minderheit. Das ist ganz eindeutig, die Mehrheit, der grosse Fluss ist heute eine privatisierende, und profitisierende Kapitalisierung, Globalisierung. Das ist der Gesamtfluss, der heute stattfindet, wir sind noch mittendrin, es hat erst angefangen. Sehen Sie sich selber darin als neutral? Ihr Dazwischen-Sein? Sie sind doch eigentlich hier der Transformator/Katalysator, der beide Seiten verstehen und einschätzen kann, oder? Ja natürlich, das bin ich, ich bin als solcher tätig, und nicht nur das, ich kann das noch mal konkret machen. Ich habe eine lange linke Geschichte. Bis 1982-83 war ich Redakteur auch in einer linken Zeitung hier bei uns aktiv, und auch in der AKW-Bewegung, und weiss der Geier alles was da gelaufen ist bei uns. Und dann bin ich von da aus in die Sowjetunion rüber, seit 20 Jahren bin ich da also untersuchend tätig und habe erstmal dieses Deutschland hinter mir gelassen. Hab mich hier gar nicht mehr eingemischt, hab meine Bücher gemacht, hab recherchiert, also ich hatte sehr viel zu tun ich konnte mich hier nicht gleichzeitig einmischen. So, jetzt komme ich aber durch die ganzen Geschichten die wir hier jetzt besprechen nach 20 Jahren an den Punkt an, dass ich sage, Donnerwetter, das ist ein Prozess, und was sich da sehe, das gilt auch hier, und ich komme mit der Einsicht in diesen Transformationsprozess, komme ich nun nach 20 Jahren zurück und mische mich jetzt auch hier wieder ein. Aber anders wahrscheinlich? Aber anders, logischerweise, das erste was ich in Russland in der Sowjetunion lernen musste war, es gibt kein links und kein rechts, es gibt nur ein mittendrin. 2 Teil Thema Finanzgewalt Buchempfehlung: Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, von Kai Ehlers im Pforte Verlag erschienen. Wenn man die Strukturen auf der einen Seite kennenlernt und die Strukturen in der eigenen Gesellschaft gut kennt, wird es dann möglich dadurch eine sinnvolle kommunikatie Situation für beide Seiten zu gestalten? Ich sehe in der Sowjetunion gewisse Gemeinschaftstrukturen, da sehe ich dieses Element der Selbstversorgung als grundlegendes Element, nicht als ausweglos, sondern da ist viel dran, worüber man nachdenken kann, und das in die Zukunft weist, das auch über den jetzigen Zusammenbruch hinausgeht. Und umgekehrt, bei uns ist es so, dass ich mich natürlich frage, also wie ist das eigentlich mit dem Kapitalismus, hat unsere Gesellschaft tatsächlich die Prinzipien der Französischen Revolution verwirklicht, also Freiheit, Gleicheit, Solidarität, oder nicht, oder werden diese Prinzipien heute vielleicht ins Gegenteil verkehrt? Wenn man z B. die Freiheit im Irak auf den Bajonetten und auf den Panzern dahin bringen möchte, dann ist das ja nicht mehr dasselbe, wie die sogenannten Europäischen Werte, die werden da ja praktisch ins Gegenteil verkehrt, da muss man also genau sortieren. Und indem ich die beiden Seiten nun sehe, und sehe auch wie sie interagieren miteinander, wie also unsere Leute jetzt auftreten, und meinen sie haben die Wahrheit gepachtet und müssten das alles nach dahin transportieren und die anderen wehren sich dagegen und sagen nein, so nicht. Also in diesem ganzen Prozess bin ich ja aufgefordert eine Position aufgrund meiner Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich jetzt gewonnen habe, zu beziehen, und das tue ich. Wo lokalisieren Sie Ihre eigene Positionierung hinsichtlich Ihres strategischen Vorgehens? Sehen Sie sich als Europäer oder Deutscher? Einerseits ist mir das ziemlich egal, andererseits muss man ja einen Ort angeben wo man sich befindet, und das mache ich immer. Wenn ich Bücher schreibe, wenn ich Veranstaltungen mache, dann sage ich immer, ich argumentiere von diesem Ort aus: d. h. ich bin als Deutscher unterwegs in Russland, und ich bin auch als Europäer, als Deutscher, der sich in der EU befindet unterwegs. Und das gibt dann ja nochmal eine andere Ebene. Genau. Und nun nochmal ganz konkret zu dieser Frage, bis zum Kosovo-Einsatz hin bin ich von meinen russischen Freunden immer gelobt worden, da haben sie gesagt “Du bist aber ein Deutscher“, und „du transportierst hier das neue Deutschland, das ist ja schon beinahe Kommunismus bei euch“, usw. „das ist ja alles Freiheit, Gleichheit , Brüderlichkeit und Solidarität, wie das bei euch so stattfindet“, also diese Illusion von diesem Deutschland, und ich wurde als Botschafter dieser Illusion begrüsst, oder auch dieser Werte, und nach dem Kosovo-Einsatz, ganz klar, „Wie konntest du das zulassen?“, haben sie zu mir gesagt, „wie konntest du sowas zulassen, dass die den Amerikanern helfen Jugoslawien zu zerstören?“ Woran glauben Sie liegt es, dass Sie dort als so starker Pol wahrgenommen wurden? Weil ich selbst so aufgetreten bin. Ich bin mit dem Impuls des Nachkriegsdeutschland unterwegs gewesen. Also erst mal politisch hier in unserem eigenen Land, nie mehr Krieg, nie mehr Faschismus, das war meine politische Tätigkeit lange Jahre. Und mit diesem Impuls bin ich auch da rüber gegangen, nie wieder Krieg nie wieder Faschismus, und dieses Bild von Deutschland, also diese deutsche Botschaft. Und auch die deutsche Situation in der sich das ökologische Denken sich am schnellsten und am weitesten entwickelt, auch das alles, das habe ich mitgenommen, und da war ich für sie einfach der Botschafter dieses hoffnungsvollen neuen Deutschland, also in den Gesprächen die ich dort geführt habe. In diesen Gesprächen, indem sie diese Art der Inhalte dort verbalisiert haben? Ja, ich habe das da reingetragen, habe gesagt, was macht ihr hier, aha, ihr Tschuwaschen, z. B eine an der Wolga lebende ethnische Einheit, ihr wollt nationale Wiedergeburt, das ist in Ordnung, und warum ist das in Ordnung, diese Gespräche haben wir da geführt, und wo ist die Grenze, wo bin ich nicht einverstanden, wo wird aus Nationaler Wiedergeburt Nationalismus, hab ich auch ganz klar gesagt, bin ich nicht einverstanden, und ich bin auch nicht einverstanden, dass ihr einen neuen Zaren kriegt, ich finde das also so und so richtig, also wir haben diese Gespräche geführt, so war ich unterwegs, ich war nicht einfach als Soziologe unterwegs, sondern ich bin als Person unterwegs gewesen, so hat sich das ergeben. Was sagen Sie zu den spezifischen sozio-politischen anarchischen Regulationsmustern, gibt es da Parallellen zu z. B. Ethnien im subsaharansichen Raum, die in relativ kleinen akäphalen (Führungslos; ohne Kopf) Verbänden über das Gebiet verteilt leben, die aber im Falle dass Gefahr oder Bedrohung von Aussen droht, dazu fähig sind, sich jederzeit sofort zusammenzuschliessen um einen Widerstand zu bilden und sich konkret zur Wehr zu setzen. Würden Sie sagen, dass Sie nun selbst durch ihre intellektuelle Arbeit und Ihr theoretisches Wissen wenn Sie in der Mongolei in aktuelle Situationen gehen, sich in bestimmten Gruppen eine Weile lang positionieren, und dadurch dass Sie Strategien diskutieren oder zum Thema machen vielleicht kurzfristig so eine Art funktionalen „Kopf“ bilden, und dann wieder gehen? Also das ist wahrscheinlich so, ich liebe das nicht sehr, aber es ist wahrscheinlich so, es ergibt sich eben einfach durch die Tätigkeit. Aber ich kann auch das wieder konkret beantworten, ich habe dieses Buch da gemacht, in der Weise, mit den Gedanken, die wir hier eben besprochen haben, dann hat sich um mich herum, im Prozess während dieses auch Buch entstand eine Gruppe gebildet, das Forum für eine integrierte Gesellschaft. Und in diesem Forum diskutieren wir jetzt ein Symposion, planen wir für Anfang nächsten Jahres, wo wir aus den verschiedensten Gebieten der Gesellschaft ganz unterschiedliche Menschen zusammenrufen wollen, also einmal GemeinschaftsvertreterInnen, aus aktiven Gemeinschaften, die einen neuen Lebensentwurf versuchen, aber auch konzeptionelle Denker, Frau Abendroth, z. B. als Matriarchatsforscherin, oder diese oder diesen oder jene, also verschiedene Leute, also eine Mischung zwischen Leuten, die praktisch Alternativen leben und auch denken, und solchen die konzeptionell so etwas entwickeln, und wir wollen das miteinander, das ist meine Vorstelleung, wir wollen das miteinander versuchen, ob wir was zustande kriegen und zwar aus den verschiedensten Lagern, bis hin, also das Thema lautet: Gemeinschaften zwischen Grundeinkommen und Regionalpolitik. An der Stelle nochmal zum Punkt der Dynamik. Frage: Das sind ja Prozesse der Theorie und Praxis darin wird ständig vor und zurück agiert. Nehmen wir nun einmal die Jurte als einen mobilen Lebensort, was im Rahmen des Semi-Nomadentums impliziert, dass hier eine andere Situation von Räumlichkeit gegeben ist. Die Nomaden wandern, also es gibt für sie keine Grenzen. Und hier bei uns sind wir es gewohnt die Situation der Immobilität, Statik, dadurch aber dann auch sozio-ökonomisches Eingebunden-Sein in die gesellschaftlichen Bedingungen. Wenn Sie also von Transformations-Prozessen sprechen, und Sie erwähnten Ihr Projekt mit den Holzhütten..Wo sehen Sie sich innerhalb dieses Spektrums? Wenn wir also auf der einen Seite den Pol: Jurte, Mobilität, und auf der anderen Seite den Pol: Backsteinhaus, Immobilität, haben. Stehen dann irgendwo als ein Dazwischen die Holzhütten? Ich denke nicht, dass man das so sagen kann. Wie ist Ihre Sicht auf die Mobilität bzw. Sesshaftigkeit in Bezug auf den Raum? Ein Übergang hin zur zentralisierten Organisation der Bevölkerung, so wie in den Städten? Ich sehe es so, dass Nomadentum und Sesshaftigkeit, wie Ying und Yang nur zwei Pole sind , bzw. zwei Seiten sind, und so wie in Ying ein Pünktchen Yang ist, so verhält es sich auch umgekehrt, es sind keine polaren Gegensätze, die sich gegenseitig ausschliessen, sondern es sind Übergänge. Und da hat man, wenn man jetzt in die sesshafte Kultur hineinsieht, auch viele nomadische Elemente. Es lohnt sich darüber nachzudenken, was in der sesshaften Kultur alles nomadisch ist. Im Russischen ist es konkret so, dass diese Holzhütten eigentlich fast etwas nomadisches hatten, also es wurde heute hier urbar gemacht, also Brandrodung und morgen, bzw. nach der ersten oder zweiten Generation, zog man dann schon weiter. Aber das ist schon erweitertes Nomadentum bzw. eingegrenztes Nomadentum, je nachdem wie man es sieht. Es ist eine Form der Zwischen-Städte? Aber die Holzhäuser selbst, sind natürlich für den Zeitraum für den sie gebaut werden stationär. Da muss man auch nicht darüber hinwegsehen. Und umgekehrt ist es so, als ich in der Mongolei war, ich war ja bisher viermal dort, und habe auch mit den Leuten gelebt, auch in der Stadt, nicht nur auf dem Land. Es gibt glaube ich keine Kultur, die so streng geregelt ist, wie die Nomadische Kultur. Was heisst hier Mobilität, nix da… Ja, ich hatte das auch auf den grösseren Zusammenhang bezogen. Genau. Konkret ist eine Jurte genauestens festgelegt. Frauenseite, Männerseite, das, das, dies, das gehört dahin, wann sie wo zu stehen hat, wo sie offen zu sein hat usw. usw. bis hin in die sozialen Strukturen. Also eine Ritualistik, die so scharf ist, dass ich so nicht leben möchte, ganz klar, dass sage ich meinen Freunden auch. Auf der anderen Seite ist es im grossen Zusammenhang so, sie ziehen den Herden hinterher, und die Mobilität ist ganz anderer Art, als diese etwas unbedarften West-Europäer sich dies hier häufig vorstellen. Richtig, denn sie sind ja oft auch von den Tieren abhängig. Ja. Das ist gar keine Mobilität, das ist Abhängigkeit. Die Mobilität liegt auf einer ganz anderen Ebene. Und ist es nicht unheimlich spannend, das zusammnzufügen, dazwischen zu stehen, und sowohl die eine, als auch die andere Dimension gleichzeitg mitzuerleben? In der Tat ist das sehr spannend. Man entdeckt in sich selber diese Elemente, also das sesshafte in mir und das nomadische in mir, und wie das miteinander wechselwirkt, und dann ist man in Bewegung. Schlagwörter: Modernisierung, Mongolei, Tradition, Transformation Weder Kommentare noch Trackbacks sind für diesen Artikel freigeschaltet. Diesen Artikel im Backend bearbeiten…. Kommentare sind für diesen Artikel deaktiviert. Suche: Aktuelle Bücher: Russland – Herzschlag einer Weltmacht Russland Rolle im globalen Kulturwandel. Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft Alternativen in der gegenwärtigen Kulturkrise Asiens Sprung in die Gegenwart Die Entwicklung eines Kulturraums \\\“Inneres Asien\\\“. 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Impulse von Tschingis Chan?

Ein Gespräch mit Prof. Bira in Ulaanbaatar über die Bedeutung des asiatischen Universalismus für die Globalisierung.

Das Gespräch führte Kai Ehlers

Prof. Bira ist leitender Sekretär der „Internationalen Assoziation für mongolische Studien“ (IAMS) in Ulaanbaatar (Ulanbator). Die IAMS zentralisiert historische und aktuelle Studien zur Geschichte, zur Lage und zur Rolle der Mongolei in der Welt, die Institution arbeitet eng zusammen mit dem „Institut für Zivilisation und Nomadentum“ (ICN), das seit 1999 mit Unterstützung der UN ebenfalls in Ulaanbaatar tätig ist. Seit 1962 treffen sich Mongolisten, Altaiisten und Nomadismusforscher der ganzen Welt alle fünf Jahre zu einem internationalen Kongress in Ulaanbaatar unter Leitung der IAMS. Zum letzten Kongress, der im Sommer 2002 stattfand, legte Prof. Bira einen Beitrag unter dem Titel „Die Mongolische Theorie des Tengerismus“ vor, in dem er darauf aufmerksam machte, dass die mongolische Expansion im 13. und 14. Jahrhundert unter den kosmologischen Vorstellungen von der Welt als Einheit stattfand. Daraus seien interessante Lehren für die heutige Globalisierung zu ziehen. Kai Ehlers, Teilnehmer der beiden letzten internationalen Kongresse der Mongolisten in Ulaanbaatar (1997 und 2002), nahm die Thesen Prof. Biras zum Anlass, ihn nach der Rolle der Mongolei und der Bedeutung Chinas im Prozess der heutigen Globalisierung zu befragen.

KAI EHLERS: Prof. Bira, in Ihrem Artikel, beschreiben sie den mongolischen Tengerismus als eine universalistische Weltsicht, die auch Bedeutung für die heutige Globalisierung haben könnte. Ich habe im Zusammenhang mit dem Problem der Globalisierung viel über chinesischen Universalismus als Impuls einer möglichen Zukunft nachgedacht. Es will mir so scheinen, als sei die Idee in Beidem fast die gleiche.

PROF. BIRA: Nun, Tengerismus – ich gebrauche diesen Begriff zum ersten Mal in der Wissenschaft. Bekannt ist, dass die Mongolen im Zusammenhang mit dem Schamanismus Tengri als die Verkörperung der großen kosmischen Einheit verehrten; der Kult Tengris war die hauptsächliche Konzeption des Schamanismus, die älteste Volksreligion der mongolischen und der turkischen Völker.

In der Tat ist Tengerismus auch so etwas Ähnliches wie Universalismus. Die chinesische Lehre des Tien min, des einen Himmels ist dem mongolischen sehr ähnlich, deshalb meinen einige Wissenschaftler, dass die Mongolen und auch die Turkvölker die Lehre von Tengri oder die des Himmels von der alten chinesischen Philosophie und politischen Lehre übernommen hätten.

Einen gewissen Einfluss von chinesischer Seite auf den mongolischen Tengerismus hat es sicher gegeben, vor allem zur Zeit der mongolischen Khane in China. Sie imitierten die Lehren von Tien Min. Von dort her mögen die Mongolen eine weitere Stärkung ihrer Lehren von Tengri bekommen haben.

Wir sollten aber nicht vergessen, dass der Schamanismus unter den nomadischen Völkern schon vor der Berührung mit dem chinesischen Universalismus existierte; und eines der wichtigsten Elemente des Schamanismus ist eben die Verehrung von Tengri als der alles umfassenden Einheit. Darüber hinaus gibt noch einen großen Unterschied zwischen dem mongolischen Tengerismus und dem chinesischen Universalismus, den wir auch nicht vergessen sollten: Der chinesische Universalismus ging niemals über die nationalen Grenzen Chinas hinaus. Die Chinesen versuchten niemals, ihren Universalismus irgendwo einzuführen (Prof. Bira benutzt das englische Verb „to implement“), seine weltweite Verbreitung zu praktizieren. Es waren die Mongolen, die als Erste versuchten, diese Lehre in die Praxis umzusetzen. Wenn Sie die weltweite Expansion des mongolischen Reiches im 14.Jahrhundert und danach betrachten, dann werden Sie sehen, dass es die mongolischen Khane waren, die versuchten diese Lehre in die Praxis umzusetzen. Deshalb ziehe ich es vor zu sagen, dass die Mongolen nicht nur die ersten Theoretiker, sondern vor allem die ersten Praktiker des Universalismus oder Tengerismus waren und deshalb entschied ich mich, ein Papier zu diesem Thema für diesen Kongress zu schreiben, weil ich die Aufmerksamkeit unserer Wissenschaftler auf dieses sehr wichtige Thema lenken möchte.

KAI EHLERS: Ja, bisher war es wohl so, dass die Chinesen sich nie über die hohen Gebirgsketten, die ihr Land umgrenzen, ausgebreitet haben; ihr Universalismus war immer ein chinesischer …

PROF. BIRA: Ja, genau, ganz und gar, der chinesische Himmel…

KAI EHLERS: …und wer sich in China aufhält, wird auch heute stark damit konfrontiert: Die Chinesen leben in China! China, China, China! Und sie beziehen die Welt auf China. Doch gibt es ein starkes ABER zu diesem bisher gültigen Bild: Die heutige wirtschaftliche Entwicklung Chinas, das geradezu in die Welt hinein explodiert! Halten Sie es für möglich, dass sich der chinesische Universalismus aus diesem Druck heraus erstmals über die ganze Welt verbreitet?

PROF. BIRA: Ich stimme ihnen zu, dass es zum ersten Mal so aussieht; es gibt Anzeichen für eine solche Entwicklung, aber ich glaube noch nicht, dass chinesischer Einfluss sich wirtschaftlich über die ganze Welt ausbreitet. Es ist zu früh, das zu sagen. Klar ist dagegen nach wie vor, dass die Chinesen, obwohl sie die älteste Tradition, die älteste Zivilisation haben, im Gegensatz zu anderen großen Zivilisationen, die inzwischen untergegangen sind, keinerlei historische Erfahrung mit der Verbreitung eines universellen Anspruchs haben. Die chinesische Geschichte kennt solche Erfahrungen nicht, eben weil die Chinesen es niemals versucht haben, ihre eigene Kultur in weltweitem Maßstabe zu verankern. Die Chinesen waren immer Siedler, keine Tierhalter. Die Chinesen konnten niemals weit unterwegs sein, sie hatten im Unterschied zu den nomadischen Völkern keine Transportmittel. Die nomadischen Völker waren die mobilsten und die offensten Völker. Ich sage immer, die nomadischen Völker haben niemals eine geschlossene Gesellschaft gebildet. Sie waren immer offen für andere Einflüsse, für andere Zivilisationen. Die nomadischen Völker kamen sehr leicht in Kontakt mit anderen Völkern und Nationen. Deshalb ist die Mentalität von nomadischen und siedelnden Völkern ziemlich verschieden.

KAI EHLERS: Welche Lehren sind Ihrer Ansicht nach aus dem traditionellen Tengerismus für die heutige Situation der Mongolei zu ziehen?

PROF. BIRA: Ich würde ich sagen, die Mongolen haben eine sehr reiche Erfahrung in Sachen Globalisierung. Wir hatten unsere eigenen reichen Erfahrungen. Das ist der Grund, warum ich jetzt über den Tengerismus spreche. Die Menschheit sollte Erfahrungen aus der mongolischen Geschichte des 13. und des 14. Jahrhunderts ziehen: Es gab einen realen Tengerismus, es gab so etwas wie eine Prozess der weltweiten „Verhimmlichung“ der Welt, denn die mongolische Botschaft war, alle Völker und Nationen der Welt sollten unter einer politischen Macht vereint sein, alle Völker, die es unter dem Himmel gibt. Das war die Hauptphilosophie der Mongolen.

Diese Vorstellungen wurden natürlich gewaltsam implementiert, mit militärischer Gewalt, hauptsächlich, aber nach der Vereinigung vieler Nationen gab es Interaktionen mit Europa, gab es Beziehungen zwischen verschiedenen Völkern Asiens und der Mongolei, es gab eine freie Bewegung zwischen den Völkern und freien Handel, das dem mongolischen „urtko“-System, dem mit Pferdestationen verbundenen Kommunikationssystem des mongolischen Reiches zu verdanken war. Und hinter dem Tengerismus standen natürlich wirtschaftliche Faktoren, wirtschaftliche Interessen. Die herrschende mongolische Klasse wollte reich werden, und wollte den Zugang zum Reichtum anderer Länder haben. Aber das Interessanteste an all dem ist, dass Tschingis Chan und seine Nachfolger ihre wirtschaftlichen Interessen weitgehend durch die Philosophie begründen, legitimieren, stützen konnten, durch eine intellektuell sehr hoch entwickelte Lehre des Tengerismus.

Und wie ist es heute? Was ist Globalisierung? Da gibt es ebenfalls wirtschaftliche Interessen. Transnationale Korporationen, wie Sie es nennen, nationale Korporationen sind sehr interessiert. Das ist die Tatsache. Die weltweiten Beziehungen, die Globalisierung bringt den Völkern viel Gutes, viele Werte, besonders den unterentwickelten Völker, Internet, Technologie usw., Auch das stimmt. Aber Seite an Seite mit den positiven Effekten gibt es auch sehr viele negative. Das ist der Grund, warum die Menschheit von dieser Entwicklung sehr betroffen ist. Das ist auch der Grund, warum die Doktrin der Globalisierung heute verbessert werden muss in gewisser Weise, in Hinsicht auf Moral, auf kulturelle Werte, spirituelle Werte usw. Die Globalisierung wird keine großen Ergebnisse haben, wenn sie nicht mit spirituellen Werten, mit moralischen werten in Übereinstimmung gebracht werden kann (er sagt: „harmonized“), wenn wir nicht den Unterschied von Religion und Zivilisation anerkennen. Eine der wichtigsten Dinge ist: Globalisierung darf nicht mit Gewalt, Brutalität oder auf ähnlichen Wegen durchgesetzt werden.

KAI EHLERS: Ja, die alten Wege sind nicht mehr gangbar. Darin stimme ich mit Ihnen überein. Welche Rolle könnte die Mongolei also heute in diesem Prozess spielen?

PROF. BIRA: Nun, zuallererst sollte die Mongolei mit anderen unterentwickelten Nationen kooperieren, um ihre einzigartige Kultur zu erhalten, die nomadische Lebensweise, die Werte der nomadischen Kultur und die Werte der Religion und Moralität. Reisende aller Jahrhunderte waren immer sehr inspiriert von der Moral, die sie hier bei den nomadischen Menschen gefunden haben, auch die frühen Christen, die hier das Christentum hier einzuführen versuchten, nachdem sie hier Menschen wie ihre eigenen vorgefunden hatten. Bevor sie hierher kamen, hatten sie keine Vorstellung von Asien; wenn sie an Asien dachten, dann stellten sie sich Herden von Tieren und Wesen mit Hundeköpfen und menschlichen Körpern vor usw. Erst nach dem Kontakt mit den Mongolen bekamen die Europäer ein realistisches Verständnis von asiatischen Menschen, einschließlich der Mongolen. Das ist der positive Effekt des mongolischen Imperiums, obwohl es auch durch Gewalt geschaffen wurde. Die Philosophie der Mongolen war aber eine sehr kosmische; sie wollten die soziale Harmonie. Das ist, was man auch die PAX MONGOLICA nennt.

KAI EHLERS: Wenn wir diese historischen Erfahrungen auf heute beziehen, dann stellt sich mir die Frage: Kann die Mongolei, die jetzt

zwischen China und Russland, zwischen Europa und Amerika, also zwischen allen Interessen und Kulturen liegt, heute eine ähnliche Kraft entwickeln? Diesmal allerdings nicht militärisch, sondern durch ihre andersartige nomadische Kultur, die einen Transformationsraum einer anderen, modisch gesprochen einer nachhaltigen Art von Modernisierung bildet, diesmal als neutraler Katalysator, der einen ruhenden Pol in einer Welt bildet, die sich heute regional und global neu organisiert?

PROF. BIRA: 169 Dies ist eine sehr wichtige Frage. Ich denke ebenfalls über diese Frage nach. Ich denke; Ja, die Mongolei könnte mit der Hilfe der Vereinten Nationen eine Rolle als neutralisierender Faktor spielen. Und eine Rolle, um die negativen Konsequenzen der Globalisierung zu minimieren. Ich denke, es geht dabei nicht nur um die Mongolei, die als kleine Nation so eine Rolle spielen kann. Das gilt auch für andere kleine Nationen…

KAI EHLERS: Rund um die Mongolei…

PROF. BIRA: Ja, rund um die Mongolei. Und es gilt auch für die weiter entfernten Nationen. Die Mongolei sollte eine führende Rolle dabei übernehmen, andere kleine Nationen zusammenzuführen, um deren einzigartigen Kulturen und Zivilisationen zu schützen. Das ist sehr wichtig. Wenn es diese kleinen Nationen nicht gibt, die sich zusammentun, dann werden wir die soziale und moralische Balance verlieren. Ich wundere mich manchmal darüber, wie sehr Leute sich grämen, wenn eine der bedrohten Pflanzen untergeht; dann heißt es, wir verlieren die ökologische Balance; aber wenn kleine Nationen verschwinden, dann kümmert das kaum irgend jemanden. Das ist sehr befremdlich! Aber es geschieht. Die Völker werden einfach assimiliert, verschwinden. Wenn Globalisierung jedoch in die richtige Richtung gehen soll, dann muss sie alle Menschen, einschließlich die der kleinen Völker, respektieren.

Den Namen Tanger oder Tenger in der Bedeutung der obersten, ursprünglichen Gottheit und alles umfassenden Kraft findet sich übrigens nicht nur im Erbe jener tatarisch-mongolischen Völkerschaften Zentralasiens, des Kaukasus und Mittelrusslands, die mit den Mongolen nach Westen zogen und dann dort siedelten, sondern auch bei den Tschuwaschen an der Wolga, die schon 700 Jahre vorher mit Attila auf dem selben Weg unterwegs waren.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

“Wir arbeiten wie die Spione” Oleg Panfilow, Moskau, über die Gründung eines „Zentrums für Journalisten in extremen Situationen.“

Kasten
Oleg Panfilow lebte bis zur Auflösung der Sowjetunion in Tadschikistan, wo er sich als Lehrer, Journalist und Kulturmanager einen Namen machte. Seit 1991 hält er sich als tadschikischer Staatsbürger in Moskau auf, wo er als Korrespondent an verschiedenen Zeitungen arbeitete. Von 1994 an leitete die Dokumentations- und Monitoring-Abteilung  der 1992 von Alexej Simonow gegründeten Moskauer „Stiftung zum Schutze von Glasnost“. Nebenbei war er für „Radio freies Europa“, Prag und für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften in Moskau und in Tadschikistan tätig, von 1994 bis 1997 außerdem als Experte der OSZE für Menschenrechte in Tadschikistan. Anfang des Jahres 2000 schied Oleg Panfilow mit einigen Mitarbeitern aus der „Stiftung zum Schutz von Glasnost“ aus und gründete unter den Namen „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ eine eigene Organisation.

Herr Panfilow, Sie haben ein „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ gegründet. Was ist die Idee dabei?

OLEG PANFILOW: Der Gründungsgedanke besteht darin, Journalisten zu helfen, die unter extremen Bedingungen arbeiten, also im Krieg und in den Ländern der GUS, wo unstabile Verhältnisse herrschen, wo Journalisten unter Bedingungen arbeiten müssen, in denen es keine Freiheit der Presse gibt. Wir führen Monitoring über die Verletzung der Rechte von Journalisten auf dem Gebiet der GUS durch. Wir arbeiten zu fünft hier im Moskauer Büro, ein Jurist, der Koordinator des Programms, der Büromanager, ein Übersetzer und ich; außerdem arbeiten noch acht Korrespondenten in Ländern der GUS; das ist Moldawien, Georgien, Armenien, Azerbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan und zwei Korrespondenten in Tadschikistan.

Warum haben Sie die „Stiftung Glasnost“ verlassen?

OLEG PANFILOW: Es gab private Gründe, die entscheidenden aber waren die beruflichen. Sie liegen vor allem darin, dass die Stiftung sehr wenig Aufmerksamkeit auf die Detailarbeit des Monitoring verwandte. In Russland, überhaupt in der GUS kommen jedes Jahr fünfzehn bis zwanzig Journalisten um. Die Stiftung gab Erklärung ab, wenn wieder einer umgebracht wurde, aber es gab keinerlei Untersuchungen.     Darüber hinaus ist die „Stiftung Glasnost“ einfach zu gigantisch geworden; eine Organisation von solchen Ausmaßen kann nicht mehr sinnvoll arbeiten, dafür braucht man eine kleine Organisation mit einer sehr engen Ausrichtung. Wir haben nun eine solche Ausrichtung  gewählt, das ist das Monitoring. Wir beabsichtigen Bücher und Ratgeber herauszugeben. Wahrscheinlich werde ich ein drittes Buch   schreiben, wie Journalisten während des zweiten Tschetschenischen Krieges arbeiten. Es wird auch ein Buch über Andrej Babizki geben, außerdem Bücher über Journalisten, die lange in Kriegsgebieten der Sowjetunion tätig waren. Alle diese Bücher sollen zeigen, wie man als Journalist im Krieg richtig arbeitet. Journalisten wissen schlecht darüber bescheid, wie man erste Hilfe leistet; sie kennen die Waffen nicht, die im Krieg benutzt werden, sie wissen wenig darüber, wie man vermeidet auf Minen zu treten, sie wissen nicht, wann man einem Offizier eine Flasche Wodka geben muss, oder den Soldaten Feuerzeuge, dafür, dass sie einen Journalisten durchlassen. Wir wollen wir Lehrseminare geben, in denen man den Journalisten beibringen muss, sicher zu arbeiten. Das Wichtigste, worüber man reden muss, ist der Hang russischer Journalisten, Gesetze nicht zu beachten. Ich denke, ein gut Teil, vielleicht ein viertel der Probleme von russsischen Journalisten, aber auch von Journalisten aus anderen Ländern der GUS, lassen sich vermeiden, wenn sie lernen, Gesetze zu beachten und richtig zu nutzen.

Sie haben mit der Arbeit bereits begonnen?

OLEG PANFILOW: Ja, aber man muss sagen, im Unterschied zur „Stiftung Glasnost“, die sich in letzter auf Prozesse gegen Journalisten konzentriert hat, befassen uns nur mit ernsthaften Vorfällen, also Mord, Überfälle auf Journalisten, Drohungen, Zensur. Wir verbreiten unsere Informationen wöchentlich ONLINE. Praktisch geben wir die Informationen schon in dem Moment weiter, wenn wir sie erhalten. Über 500 Menschen bekommen unsere Informationen. Das sind Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Radio in vielen Ländern der Welt, nicht nur in Russland und nicht nur in der GUS. Pressekonferenzen habe ich auch schon durchgeführt, mit Andrej Babizki und zu verschiedenen anderen Anlässen. Seit Mitte April haben sich in unserem Archiv ungefähr anderthalbtausend Vermerke zu Übergriffen auf Journalisten in der GUS angesammelt. Man kennt uns schon ziemlich gut und man bezieht sich viel auf unser Material oder schreibt Artikel über uns und zwar sowohl in der russischen als auch in der westlichen Presse. Seit Anfang Oktober läuft auch ein  neues Programm bei „Radio liberty“ unter dem Titel: „Macht contra Presse.“ Diese Sendung basiert auf unserem Material.

Wie kommen Ihre Untersuchungen zustande?

OLEG PANFILOW: Unsere Korrespondenten sind Leute, die niemand außer uns kennt. Sie arbeiten nicht legal. Sie befinden sich in dauernder Gefahr, weil…

…. sie fast wie Spione arbeiten? (beide lachen)

OLEG PANFILOW: Jaja, wenn man uns nach unserer Arbeit fragt, dann antworten wir: „Wir sind eine normale Spionageorganisation!“ Wir sammeln ja wirklich wie geheime Informationen, wir arbeiten sie auf, ja, wir arbeiten wie Spione…

Und veröffentlichen sie unter Pseudonymen?

OLEG PANFILOW: Nein, unsere Korrespondenten arbeiten weder unter Pseudonym, noch unter ihrem Namen. Wenn wir die Informationen verbreiten, die wir von ihnen erhalten, schreiben wir darunter, dass uns der Name der Korrespondenten bekannt ist, wir ihn aber aus Sicherheitgründen nicht nennen können.

Wie sieht das Bild aus, das Sie auf diese Weise gewinnen?

OLEG PANFILOW: Der erste Indikator ist Russland.
Ich glaube, dass die Lage in Russland sich zur Zeit grundlegend verändert. Ich meine in bezug auf das Verhältnis von Macht und Presse. Die Verhältnisse, die unter Gorbatschow geschaffen wurden, als das erste Pressegesetz verabschiedet wurde, wurden unter Jelzin erhalten, aber nicht verbessert. Jelzin war im Vergleich zu Putin ein stärkerer Demokrat, wenn man so sagen kann, jedenfalls hat Jelzin öffentlich nie die Presse gerügt. Putin ist ein ganz und gar anderer Mensch: er ist ein Mensch der Spezialdienste, ein Mensch, der im Geist der Gewalt aufgezogen wurde und nicht dem der Klugheit. So waren das Erste, was er neben einer gewissen der Reform wirtschaftlichen Machtverhältnisse tat, Schritte zur Einschränkung der Presse. Dabei ist es ohnehin in Russland  schon beängstigend  geworden, als Journalist zu arbeiten, vor allem auf zwei Gebieten, dem der politischen Kommentare und dem der journalistischen Untersuchungen. Das Genre der Untersuchungen verschwindet in Russland schon fast, denn erstens ist es sehr gefährlich und zweitens haben Beamte an höchsten Stellen, zum Beispiel die Assistentin des Vorsitzenden der Staatsduma, Sliska  Ljubow, öffentlich erklärt, dass man Journalisten untersagen müsse, Untersuchungen zu machen. Der Minister für das Pressewesen, Michail Lessin, erklärte, dass man das Pressegesetz ändern müsse. Untersuchungen sollen nur noch nach Gerichtsbeschluß möglich sein und Quellen nur Forschern eröffnet werden dürfen. Das würde auf der Stelle zehntausende von Anklagen gegen Journalisten nach sich ziehen. Man könnte jeden Journalisten zwingen zu erklären, woher er die Informationen hat.
Die Lage ist sehr ernst, besonders nachdem der Sicherheitsrat eine neue Sicherheitsdoktrin vorgelegt hat. Das ist eine absolut sowjetisches Dokument. Dort gibt es diese schwammigen Floskeln wie „Informationskrieg“, „Waffen der Information“, man müsse „dem Einfluss ausländischer Medien Widerstand leisten“. Mit Letzterem sind offensichtlich Radiostationen gemeint wie „Deutsche Welle“, „BBC“, „Stimme Amerikas“, „Radio liberty“. Es ist klar, dass die Macht davon träumt, die Sender mundtot zu machen, denn wenn sie wieder Staatspropaganda betreibt, werden die Leute wieder in der Küche sitzen und westliche Sender hören.

Putin hat kürzlich Journalisten zu einem Gespräch eingeladen. Was wurde dort beschlossen?

OLEG PANFILOW: Es wurde nichts beschlossen. Die Informationen über dieses Treffen waren äußerst dürftig. Offenbar hat Putin die Versammlung gebeten, öffentlich nicht verlauten zu lassen, worüber man dort gesprochen hat. Aber dieses Treffen war natürlich ein sehr bezeichnender Vorgang.

Welchen Einfluß hat Putin in Sachen Medien auf die GUS?

OLEG PANFILOW:  Er ist ein Mensch mit imperialen Sichtweisen und selbstverständlich will er den Einfluß Russlands auf die GUS erneuern. Das gelingt ihm jedoch ebenso schlecht wie vielen anderen russischen Politikern vorher. Mir scheint, dass die GUS ohnehin stirbt. Aber leider ist es nicht Putin, der sich mit der Politik gegenüber der GUS beschäftigt, es sind nicht einmal die Ministerien des Landes, sondern die Militärs. Darin liegt das Problem. Die Länder, in denen es keine russischen Militärbasen gibt, sind ziemlich schnell von Russland weggekommen, aber da, wo es Militärbasen gibt, werden die Länder noch einige Zeit unter dem Einfluss Russlands stehen.

Und welches Bild bieten die Länder der GUS?

In Russland wird es schlechter, aber dort wird es noch schlechter. Die Lage in Zentralasien wird schwieriger und schwieriger. In Kirgisien, das man die Insel der Demokratie in Zentralasien nannte, haben die Journalisten heut sehr viele Probleme. Es gibt nur zwei Länder in der GUS, wo es weniger Probleme gibt, Armenien und Maldowien. Nur in diesen beiden Ländern, wo die Präsentenwahl einen demokratischen Wechsel des Präsidenten gebracht hat, kann man ansatzweise von Freiheit des Wortes reden. Alle anderen Länder durchleben zur Zeit eine sehr starke Krise im Verhältnis von Macht und Presse.

Wenn man nicht nur abstrakt reden will, womit können Sie helfen?

OLEG PANFILOW: Nun, praktisch, also dorthin Computer zu schaffen oder Möbel, das ist Unsinn. Man muss den Leuten einfache Dinge erzählen: Wenn ich Seminare in Kirgisien oder Kasachstan durchführe, dann sehe ich, was Journalisten brauchen. Das ist Erstens: Kenntnis von Gesetzen. Zweitens, in Ländern wie Kirgisien oder Kasachstan, wo man Meetings oder picketing-lines durchführen kann, wird die Situation nicht genutzt, weil die Journalisten nicht wissen, wie man das anstellt. Ich habe im letzten Jahr den Journalisten von Kasachstan beigebracht, wie man eine Demonstration, wie man eine richtige picketing-line  durchführt. Dazu kommt rein professioneller Unterricht:. Viele Journalisten wissen ja nicht, was Management ist, was modernes Design usw.

Das klingt nach einem Aktivisten für Menschenrechte. Ich könnte mir denken, dass staatliche Stellen das nicht besonders schätzen.

OLEG PANFILOW: Das ist wahr. Ich habe mich in dieser Sache praktisch nicht ein einziges Mal mit staatlichen Vertretern getroffen. Ich bin mit einigen Präsidenten von Ländern  der GUS bekannt, aber ich traf sie nur, als ich Experte der OSZE für Menschenrechte war. Damals habe ich mich mit Präsidenten Turkmeniens, Kirgisiens, Kasachstans, Tadschikistans getroffen. Aber jetzt, wo ich mich mit Fragen der Medienfreiheit befasse, gehen mir alle diese offiziellen Leute aus dem Wege. Sie schicken ihre Assistenten vor, Pressesekretäre usw., die Dinners organisieren, und sich dann bemühen, mich während des Dinners davon zu überzeugen, dass es da nichts zu schützen gebe, dass die Journalisten Idioten seien usw. usf. – Wenn es ein gutes Essen war, sage ich Danke. (lacht) Das war´s dann aber auch.

Ihre Organisation befindet sich hier in Moskau, bearbeitet aber den GUS-Raum. Wie verbindet sich das?

OLEG PANFILOW: Im Grunde ist die Lage der Journalisten in Russland, in Kasachstan,  der Ukraine oder in Armenien die gleiche. Wir kommen ja alle aus der früheren Sowjetunion. Die Probleme sind rundherum absolut identisch. Was wir für die Journalisten Kasachstans tun, ist also genauso nützlich für die Journalisten Moldawiens. Natürlich gibt es Details. In Moldawien entwickelt sich sehr schnell eine Presse in rumänischer Sprache, also in der Sprache des Landes. Auch in Usbekistan schreibt man jetzt mehr in Usbekischer Sprache als in russischer. In Kasachstan und in Kirgisien ist es genau umgekehrt. Dort kehrt die Presse zur russischen Sprache zurück. Dort fühlt sich die Presse in kirgisischer oder kasachischer Sprache sehr schlecht. Dann gibt es noch finanzielle Varianten: Wenn es in Kirgisien zwei Zeitungen gibt, die sich durch Verkauf selbst tragen, so gibt es solche Zeitungen in Kasachstan nicht. In Moldawien ist das Geschäft mit der Presse sehr gut entwickelt, in Azerbeidschan dagegen wieder nicht. Da sind die unabhängigen Zeitungen äußerst arm. In Azerbeidschan gibt es überhaupt nur die Aufteilung in staatliche und oppositionelle Presse, unabhängige gibt es kaum.

Befassen Sie sich nur mit Zeitungen?

OLEG PANFILOW: Nein, mit allen Medien. Ich denke, dass wir uns demnächst auch noch mit dem Internet beschäftigen werden, denn es ist zu erwarten, dass der russische Geheimdienst demnächst die Provider kontrollieren will und die elektronische Post.

Welche Pläne haben Sie für die nächste Zeit?

OLEG PANFILOW: Sagen wir: Geld zu bekommen, um gut arbeiten zu können. Unser aktuelles Monitoring-Programm wird von der Stiftung SOROS finanziert, dem „Institut für eine offene Gesellschaft“ aus Budapest. Für die Zukunft hoffen wir auf deutsche Stiftungen. In Moskau ist eine sehr anormale Situation entstanden, in der viele Organisationen vor allem aus amerikanischen Fonds finanziert werden., einige immer aus denselben Quellen. Für Neue ist der Zugang da sehr schwer. Das ist schon fast eine Mafia. Deshalb bemühen wir uns um Finanzierung aus anderen Ländern.

Die „Stiftung zum Schutze von Glasnost“ hat zwei Bücher zum ersten Krieg in Tschetschenien herausgegeben, die große Beachtung in den russischen, auch in internationalen Medien fanden.

Russland: Auf dem Weg zum „Nationalen Kommunismus“? Gespräch mit Gennnadij Schuganow, Vorsitzender des ZK der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ und Leiter ihrer Fraktion in der staatlichen Duma.

Die Bomben von Grosny haben deutlich gemacht, dass Boris Jelzin nicht mehr allein Herr der Lage ist. Zeit also, sich mit der Opposition genauer zu befassen. Einen Schlüssel zum Verständnis dessen, was als „patriotische“ Alternative zu Boris Jelzin möglich ist, liefert Gennadij Schuganow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation.
Mit Schuganow stritt sich Kai Ehlers.

Kasten:
Gennadij Schuganow wurde im Februar 1993 zum ersten Vorsitzenden des Zentralkomitees der nach Aufhebung des KP-Verbotes neugegründeten „Kommunistischen Partei der Russischen Föderation“ gewählt. Dem ZK der neuen Partei gehören unter anderen Nikolaj Ryschkow, sowjetischer Premierminister unter Michail Gorbatschow, und Jegor Ligatschow an, der im Westen als orthodoxer Gegenspieler Gorbatschows galt. Bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember `93 wurde die Partei mit 12,4 Prozent der Stimmen und 65 Parlamentsitzen drittstärkste Kraft.
Schuganow war in sowjetischen Zeiten, so seine Selbsteinschätzung, wissenschaftlicher Parteiarbeiter und Universitätsdozent für Philosophie, Theorie und Ideologie. Beim Ende der KPdSU saß er bereits im ZK.
Seinen eigenen Angaben zufolge wurde die Partei in allen russischen Republiken, Verwaltungsbezirken und Regionen wiederaufgebaut und hat mittlerweile 550 000 Mitglieder. Nach einer ganzen reihe von Parteiversammlungen und wissenschaftlichen Konferenzen formulierte sie im April 93 ein Minimalprogramm. Darin setzt sie sich auf ökonomischer Ebene für vielfältige Formen des Eigentums ein. Priorität soll aber Gemeineigentum haben. Sie strebt eine breite „Union aller staatstragenden patriotischen Kräfte“ an, die Boris Jelzin ablösen soll. Sie soll sich für Gerechtigkeit, Humanität und „Duchownost“ einsetzen. Dieser Begriff hat seine Wurzeln in der Geschichte der russischen Staatskirche. Heute wird er im Sinne von höherer Geistigkeit benutzt, wobei die religiöse Bedeutung deutlich mitschwingt. Es geht, sagt Schuganow, um „Ideale, die charakteristisch sind für Russland, und zwar nicht nur für die letzten siebzig Jahre, sondern für die ganze russische Geschichte und Kultur.“

K. Ehlers: Es heißt, Sie seien unbestrittener Chef der Partei,
ähnlich wie Schirinowski.

G.Schuganow: Nein, nein! Schirinowski hat einer „Führerpartei“. (deutsch) Er trifft Entscheidungen, die sind verbindlich. Bei uns gibt es nichts dergleichen: Bei uns wirkt ein Präsidium. Darin sitzen äußerst seriöse Leute, Leute mit hoher wissenschaftlicher Ausbildung, Leute die in hohen Strukturen der Verwaltung gearbeitet haben. Das sind alles Akademiker, wissenschaftliche Korrespondenten, Direktoren großer Unternehmen, Universitätsdozenten, Abgeordnete staatlichen Wirkens…

K. Ehlers: Der Vergleich mit Schirinowskis Partei wird aber von vielen im Lande gezogen…

G.Schuganow: Das scheint mir ein ungesundes Interesse. Wenn Sie diese Frage interessiert, wenden Sie sich an Schirinowski. Ich halte es nicht für nötig, meine Zeit mit der Erörterung dieses Themas zu verschwenden. Ihm wird viel zu viel Aufmerksamkeit auch von Ihrer Seite gewidmet – weitere Ausdehnung des Landes, die Vernichtung der nationalen Kultur, die „Lumpenisierung“ der Bevölkerung, das legt einen Grund für politischen Extremismus. Eine solche Politik ist nicht nur für uns tödlich, sondern für ganz Europa.

K. Ehlers: Also, zu anderen Fragen, Privatisierung: Im Volksmund heißt sie schon lange „Prichwatisazija“, Raub. Jetzt hat Ihr verehrter Präsident einen Ukas herausgegeben, demzufolge nun eine zweite Phase der Privatisierung beginnen soll. Was bedeutet das?

G. Schuganow: Was in Russland Reform genannt wurde, erschien zunächst als Dezentralisation der Verwaltung, als Privatisierung, als Liberalisierung der Preise und als Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Praktisch hat sich das alles genau ins Gegenteil verkehrt. Eine Demokratisierung gibt es nicht, stattdessen Alleinherrschaft des Präsidenten und der ihn umgebenden Kreise, die niemand gewählt hat und die unkontrolliert und unverantwortlich das Vermögen des Landes vergeuden. Die Privatisierung verkehrte sich in massiven Raub, vor allem durch die staatlichen Beamten. Da gibt es reichlich Beispiele. Tschubais prahlte erst kürzlich damit, dass er aus der Privatisierung ein Einkommen von gut 27 oder ich weiß nicht wie viel Milliarden erzielt habe. Entschuldigung, aber das sind 30 Millionen Dollar! Das heißt, er hat das Land um ein Kapital gebracht, das ungefähr dem einer mittleren Firma entspricht. Da kann man sich vorstellen, wohin das übrige Geld verschwunden ist und auf welche Weise und wer den Nutzen davon hat. Außerdem ist die Privatisierung in einer solchen Weise durchgeführt worden, dass sie sich heute scheuen, vor Vertretern der Volksvertretung offenzulegen, wie diese erste Etappe, die sogenannte „Voucher“-Privatisierung („Volksaktien“) abgelaufen ist und wo diese Mittel abgeblieben sind. Für mich ist das Wesen dieser ganzen Operation vollkommen klar: Wenn man die internationalen Statistiken anschaut, dann wurde in unserem Lande über viele Generationen hinweg ein Vermögen von 150 000 Dollar pro Kopf gebildet. Statt dieses nun in der Weise zusammenzutragen, dass das Kapital in die Hände der Arbeitskollektive kommt und damit dem gemeinsamen Aufbau dient, wurde alles getan, dass es genau anders lief: ein winziger Teil wurde als Aktien ausgegeben und für ein paar Dollar aufgekauft, das waren damals 10.000, gut 1.000 Dollar) den Rest von 149.000 Dollar verteilten sie unter sich.
Die zweite Etappe der Privatisierung beinhaltet, bei bereits paralysierter Produktion, durch massive Bankrotte, mit den Mitteln verschiedener Aufkauffonds einzelner Clans von Ganoven und der Mafia und unterstützt von ausländischem Kapital, das Vermögen zusammenzuziehen, das es inzwischen im Lande gibt. Das ist schon keine Privatisierung mehr, sondern De-Nationalisierung, Zerstörung des Staates, seiner elementaren Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, eine noch nie gesehene Versklavung und Demontage der industriellen Entwicklung des Staates und Wiederkehr der alten Ausbeuterstrukturen.
Es gibt jedoch ein großes „Aber“: Ein solches System, wo einer den anderen beraubt, während er vorgibt, ihm zu helfen, hat noch nirgendwo funktioniert, angefangen in Rom: Es gibt keine Ethik, Gesetze gelten nicht, sogar die, die sie schreiben, zerstören sie am nächsten Tag. Aber jetzt hat man sich zum Ziel gesetzt, dass Eigentum in der Hand von drei, maximal fünf Prozent zu konzentrieren und alle anderen auszurauben. Dabei hat man die Restlichen aber schon bis ins Unerträgliche ausgeraubt. Man hat sie schon zu Arbeitslosen gemacht. Jeder Zweite im Lande erhält schon keinen Lohn mehr. Die Rede ist nicht von irgendwelchen Zuschlägen, sondern von Lohn! Zwanzig Millionen sind heute schon ohne Arbeit. Alle tragenden sozialen Garantien, angefangen bei der Bildung bis zur medizinischen Versorgung sind zerstört. Den Menschen wird es bald reichen. Dann werden sie fragen: Wo ist meine Arbeit?

K. Ehlers: Ich verstehe die die neu angekündigte Phase der Privatisierung so, dass jetzt der Kampf um die Vorherrschaft beginnt.

G. Schuganow: Ja, der Kampf zwischen den Clans, die ihr Gründungskapital zusammengetragen haben, hat schon begonnen. Die Kapitale sind aber vor allem im Finanz-System zusammengetragen worden. Der Kampf findet also zwischen Bank-Kapital und Industrie statt. Die, welche große Mittel zusammengekauft haben, wollen das jetzt in Waren materialisieren, in Nahrungsmitteln, in Immobilien.

K. Ehlers: In den letzten Monaten sind Moskau, St. Petersburg und andere größere Städte sichtbar aufgeblüht. Die Läden sind voll. Wer Geld hat, kann kaufen – und die Leute kaufen. Das gilt sogar für kleinere Orte in der Provinz. Im Land aber sieht man, dass die Produktion steht, dass die Landwirtschaft vor sich hinkrankt. Ich erlebe die Blüte als künstlich, als Scheinblüte.

G. Schuganow: Ich stimme dem zu, aber sie ist nicht nur einfach künstlich, sondern künstlich herbeigeführt. Der Anschein der äußeren Verbesserung besteht nur an einzelnen, herausgehobenen Punkten, in Moskau zum Beispiel, St. Peterburg. Zwischen den größeren Zentren auf der einen und der Provinz auf der anderen Seite, vor allem dem Lande bildet sich inzwischen ein Verhältnis heraus wie zwischen erster und dritter Welt, verstehen Sie? Durch Moskau zum Beispiel werden heute ungefähr 70% der finanziellen Ressourcen Russlands geschleust. der Rest ist bloß noch fetter Schaum, der sich auf die restliche Bevölkerung verteilt, die weiter verarmt. Eine Seelenlosigkeit ohne Gleichen breitet sich aus, der Konsum wächst ins Unermessliche; auf der anderen Seite ist der Unterschied zwischen den Ärmeren und den Reicheren schon um das Dreiundzwanzigfache gewachsen, in Fragen der sozialen Sicherheit um das Zehnfache. Gleichzeitig sind die Preise für Industrie-Produkte gewachsen, die für Textilien zum Beispiel, für landwirtschaftliche Ausrüstung. Eine Erneuerung der Ausrüstung ist nicht möglich. Das ist praktisch in allen Verwaltungsbezirken und Regionen so. Wenn sie in die Provinz gehen, sehen sie sterbende Dörfer, stillstehende Produktion, eine „lumpenisierende“ Bevölkerung, wachsende Hilflosigkeit. Womit das endet, kann man voraussagen.

K. Ehlers: Die Regierung erklärt, die Situation habe sich stabilisiert. Es gibt auch Gerüchte über eine bevorstehende Geldreform.

G. Schuganow: Die Stabilität ist ziemlich niedrig. Es findet eine Atomisierung der Gesellschaft statt, eine Betonung des privaten Interesses. Das ist wirtschaftliche Alchimie, obwohl auch die, die zuerst heiße Aktien erhielten, schon erste große Schocks erlitten haben. Das ganze dauert bis zum 1. Oktober. Danach wird man sehen, dass die landwirtschaftlichen Betriebe nicht zurechtkommen, dass keine Heizungsmöglichkeiten bestehen, dass sich die Energieversorgung unzureichend ist. Das umschließt die Möglichkeit von Kälte-Aufständen, die sich über ganz Russland ausbreiten. Dazu gibt es keinerlei Lebensmittelvorräte für diesen Winter. Deshalb werden da noch völlig neue Schwierigkeiten auf die Regierung zukommen. Das ist ganz offensichtlich.

K. Ehlers: Mein Eindruck ist, dass die Leute bescheid wissen, aber an Aufstand denken sie nicht. Vor Unruhen haben alle Angst.

G. Schuganow: Das ist richtig. Das ist bei uns schon ein genetisches Gedächtnis: In Russland gab es in den letzten hundert Jahren vier große Kriege, schwerste Repression. Sie hat 100 Millionen Menschen vernichtet. Deshalb verstehe ich meine Landsleute vortrefflich. Sie sind für friedliche, ruhige Entscheidungen der Widersprüche. Sie sind nicht auch bereit für sofortige Neuwahlen des Präsidenten. Deshalb bereiten wir gegenwärtig nicht eine Unterschriftenliste für vorgezogene Präsidentenwahlen vor, sondern dafür, dass ihr Termin durch eine zentrale Versammlung festgelegt wird.

K. Ehlers: Auch von Klassenkampf wollen die Menschen nichts wissen.

G. Schuganow: (lächelt nachsichtig) Ungeachtet dessen findet aber eine Proletarisierung der Masse der Bevölkerung statt, das bedeutet die die Entstehung von Klassenbewusstsein.

K. Ehlers: Die polit-ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die Marx für den westlichen Kapitalismus beschrieben hat, scheinen hierzulande aber zurzeit offenbar nicht zu greifen…

G. Schuganow: (lacht) Bei uns greifen zurzeit überhaupt keine Gesetze, nicht einmal die Ukase des Präsidenten.

K. Ehlers: Die soziale Differenzierung wird aufgefangen durch patriarchale Fürsorgestrukturen. Das „Wir“ steht über der Differenzierung.

G. Schuganow: (lacht) Das ist einfach unsere Mentalität, die kollektivistische, der komplizierte Charakter einer traditionellen Gesellschaft. Wir haben keine bürgerliche Gesellschaft vom Typ Deutschlands. Deutschland ging seinerzeit vom religiösen Typ einer Gesellschaft zur bürgerlichen über. Bei dieser Prozedur hat es damals fast die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Das War auch äußerst krank und schwierig. Wir haben dagegen eine korporativistische und kollektivistische Art zu Denken und die korporative Art, die Regierung zu organisieren, liegt uns näher. Also ist uns Japan näher oder China, um uns bei Entscheidungen zu helfen, als Amerika, das uns mit Gewalt Leute aufdrängt, die selbst zu Haus die Praxis nicht kennen.

K. Ehlers: Wenn ich die aktuelle Blüte in den Städten beobachte, dann drängt sich mir die Frage auf: Woher kommt das Geld?

G. Schuganow: Das ist schnell erklärt: Das Land ist reich. Man verschleudert Straßen, ganze Städte, Häuser, Stadtviertel. Man verkauft die eigenen Wohnungen zu wahnsinnigen Preisen, man handelt mit strategischen Materialien, Metallen. Es wird verkauft, was das Zeug hält. Estland ist auf den ersten Platz im Verkauf von Edelmetallen gerückt. Geld in der Produktion anzulegen, ist nicht profitabel. Wenn Du investierst, verheizt Du es: Steuern, achtzig bis fünfundachtzig Prozent, die Kreditbedingungen. Profitabel ist, mit Geld oder mit Waren zu handeln, die du vermittelst, schnell umschlägst, in die du aufs Neue investierst. Da kriegst du solides Fett.

K. Ehlers: Und wie lange, glauben Sie, kann das so weitergehen?

G. Schuganow: Ich denke, im Herbst oder Winter dieses Jahres wird das zusammenbrechen. Die Frage ist allein, in welcher Form das geschieht. Wir sind dafür, die Macht auf friedlichem Wege an die national-staatsbejahenden Kräfte zu überführen: Gründung einer Union der volksverbundenen und patriotischen Kräfte – Kommunisten, Sozialisten, Agrarier, national orientiertes Industriekapital, Veteranenorganisationen, Frauen …

K. Ehlers: Eine Art Volksfront?

G. Schuganow: Eine Volksbewegung. Wir nennen es „Union der staatbejahenden patriotischen Kräfte. In vielen Regionen ist bereits Realität. Dort sind bereits normale, sachkundige Leute miteinander tätig.

K. Ehlers: Normale, sachkundige Leute? Was heißt das in der gegebenen Situation?

G. Schuganow: Einfach Leute, die regieren können, die die Gegebenheiten ihres Landes kennen, die das Schicksal ihres Landes kennen, seine Besonderheiten, die Psychologie seines Volkes, Menschen, die wirklich reflektierten, was geschieht und die nicht in dieser oder jener abseitigen Ideologie engagiert sind, der sie folgen müssen.

K. Ehlers: Schirinowskis Leute und andere Patrioten nennen Russland heute ein „Land der Okkupanten.“ Früher wurden die Deutschen bei Ihnen so genannt. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?

G. Schuganow: (lacht verhalten) Es liegt eine gewisse Wahrheit darin. Ich habe seinerzeit alle Dokumente gelesen, die mit der deutschen Besetzung zusammenhängen. Da gab es Empfehlungen der Art, besonderes gute Verbindungen mit Leuten herzustellen, die öffentlichen Einfluss haben, Schriftsteller, Leute mit Autorität usw. Es gab sogar Empfehlungen, die kollektiven Strukturen der Sowchosen und Kolchosen nicht vollkommen zu zerstören, weil eine hungrige Bevölkerung andernfalls unruhig werden könnte. Jetzt reißt man dagegen alles auseinander. In unseren Dörfern kann man heute nichts kaufen und nichts produzieren, keinen Traktor, keinen Mähdrescher, nichts. Unsere heutige Elite, Schriftsteller, Künstler, Spezialisten haben angesichts ihrer gebrochenen Existenz (lacht unfreiwillig sarkastisch) sehr schnell begriffen, dass ihr Leben durch die Ankunft der Okkupanten nicht besser geworden ist, sondern schlechter. Ich selbst benutze den begriff nicht. Ich denke, der Hauptwiderspruch in unserem Lande verläuft zur Zeit zwischen national-staatlichen Kräften und der kompradorischen Ausverkäufern, die nicht nach links und nicht nach rechts schauen, wenn sie nur verkaufen und sich dabei bereichern können.

K. Ehlers: In welchem, Verhältnis steht die von Ihnen beabsichtigte Bewegung staatsbejahender patriotischer Kräfte zu nationalen Bewegungen in den Republiken?

G. Schuganow: In einen Vielvölkerland ist es sehr wichtig eine Politik zu betreiben, die maximal die eigene Traditionen, Sprache, Gewohnheiten, Kultur schützt und für deren weitere Entwicklung eintritt. Aber verbunden damit muss man auch für den Schutz der Spezifika eintreten, die für die Gründung der russischen Staats-Union, der UdSSR galten. Einer der Gründer dieser Union war eben das russische Volk. Deshalb ist es notwendig, sich dem Schutz der russischen Sprache zu widmen als der Sprache der zwischen-nationalen Beziehungen. Wenn Sie jetzt ein paar Schritte weiter auf die Twerskaja (eine der großen Straßen Moskaus), da erleben Sie, dass dort fast nur noch Englisch gesprochen wird.

K. Ehlers: In einem ähnlichen Gespräch wie diesem hat mir Alexander Prochanow letztes Jahr wörtlich erklärt, er sei Faschist. Auf die Frage, was das bedeute, sagte er: „Ich bin ein traditioneller Imperialist (Schuganow lächelt) in dem Sinne, dass ich allen ihren eigenen kulturellen Weg zubillige, vorausgesetzt, dass sie unsere Vorherrschaft akzeptieren. Wir Russen sind die wichtigsten, die kultiviertesten, die stärksten.“ Sie kooperieren doch mit Prochanow. Wie stehen Sie zu solchen Äußerungen?

G. Schuganow: Nun, ich denke, Prochanow hat nicht gesagt, dass er Faschist sei. Das ist nicht wahrscheinlich. Er ist ein Mensch, der national-staatliche Interessen verfolgt und das mit seinen Mitteln macht. Er ist ein befähigter, talentierter Schriftsteller, Literat und Publizist, dem zuzuhören mir angenehm ist. Aber da sind die Fakten, da ist die Geschichte der Entwicklung des russischen Staates: Wer war der Sammler der Erde? Das Moskauer Zarentum, die Kiewer Rus, die russische Herrschaft. Was war die UdSSR- die geopolitische Form des russischen Imperiums? In jedem beliebigen Staat gibt es ein Volk, welche den Aufbau des Staates trägt. Die Russen stellen in der jetzigen Föderation 84% der Bevölkerung. Man muss die Traditionen, Gewohnheiten, Kulturen genau ansehen, muss sehen, wer in die Republiken gegangen ist, nach Mittelasien, Kaukasien, dort technische Hilfe für die Produktion hingebracht, dort entsprechende Institute entwickelt hat, wer zum Beispiel dort die schwierigeren Teile der Produktion leistet. Jetzt nimmt man die Russen auf, die von dort kommen, Massen, die ihre Häuser zurücklassen, Wohnungen, ganze Fabriken. In Kirgisien ist die Schwerindustrie praktisch zum Stillstand gekommen – aus eigenen Kräften schaffen sie es dort nicht. Das ist die bekannte historische Mission und es verbietet sich, das in der gegebenen Situation nicht anzuerkennen. Wer hat das geopolitische Gleichgewicht hier aufrechterhalten, das russische Imperium, die Sowjetunion im Laufe von drei Epochen? Jetzt ist diese Balance der Kräfte zerstört worden. Jetzt werden neue geopolitische Räume gebildet und es ist nicht ausgeschlossen, dass uns alle äußerst unangenehme Entwicklungen erwarten. Deshalb müssen die besonderen Wege verschiedenster Völker und Staaten unbedingt als Lehre für die weitere Entwicklung genommen werden.

Ich weiß, wie sich beispielsweise Deutschland herausgebildet hat: ein Reich, das zweite, das dritte. Da ist eine besondere Seite der Geschichte. Aber ich kann in Ihrer Literatur nicht sehen, dass man sich jeden Tag gegenseitig dafür beschimpft, dass Hitler an die Macht kommen konnte und dass man sich bis auf die Haut deswegen zerfleischt.  Bei uns dagegen zieht man die Untersuchungen über die Vergangenheit ins Endlose und beschäftigt sich in keinster Weise mit der Gegenwart. Man hat die Generationen auseinandergerissen, die ältere gegen die jüngere gehetzt, die jüngere dabei verloren, unklar wofür und für wen. Jetzt plündern sie die Geschichte, einfach erniedrigend, völlig ohne Perspektive.

K. Ehlers: Was Hitler betrifft, irren Sie. Bei uns gibt es eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte.

G. Schuganow: Ich habe drei Jahre in Deutschland gedient. Ich kenne Ihre Gegebenheiten ganz gut. Man hat Literatur darüber, das Thema wird erörtert, aber ohne Selbsterniedrigung. Man untersucht, versucht zu ergründen, aber ohne von jedem zu fordern, dass er ständig seine Geschichte ausbreitet.

K. Ehlers: Ich möchte noch einmal zu Prochanow zurückkehren. Er sagte mir, sei Faschist in dem Sinne…

G. Schuganow: (unterbricht grob) Ich bitte Sie, diesen Terminus nicht zu gebrauchen. Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Ich habe davon nie etwas gehört…

K. Ehlers: Ich kann ihnen sagen, was er mir direkt ins Mikrofon diktiert hat: Er wolle den Korporativismus Mussolinischen Typs und den russischen Anarchismus vereinen, das werde möglicherweise Faschismus – aber ohne rassistische Aspekte. Halten Sie das für eine vertretbare Position?

G. Schuganow: Nun, wenn Sie auf dem Thema weiter herumreiten, dann sage ich Ihnen geradeheraus: Was kann ein Mensch denken, dessen Vater, dessen sämtliche Verwandte an der Front umkamen, um ihr Vaterland zu schützen und der sich jetzt persönlich dafür einsetzt, die Gerechtigkeit in seinem Lande zu verteidigen? Faschismus unterscheidet in ideologischer Hinsicht durch zwei Qualitäten davon: das ist der nationale Antrieb und die nationale Ausschließlichkeit. Beides ist Russland, aber auch dem russischen Menschen absolut fremd. Und zum zweiten hat der Faschismus, als er an die Macht kam, als allererstes die Kommunisten an die Wand gestellt. Nichts dergleichen hat es in Russland gegeben und gibt es auch jetzt nicht, wenn ich es nicht an Gaidar und Co festmachen will. Die fordern nämlich zur Zeit ein Verfahren gegen alle führenden Kräfte, die Mitglieder der KPdSU waren, fordern die Aberkennung von Titel, die in der KPDSU erworben wurden bei mehr als der Hälfte der Schriftsteller, die dort waren. Das Herumreiten auf der Vorstellung eines Faschismus in Russland erweist sich damit als künstlich.
Überhaupt: „Rot-braun“ ist nicht mehr als ein gut ausgedachter psychologischer Begriff, um die Roten zu erniedrigen, die doch die Braunen in Europa aufgehalten haben, die dem deutschen Volk damit geholfen haben und die dafür nicht nur mit zwanzig Millionen Menschen bezahlt haben, sondern mit weitaus mehr. Bei der Volkszählung in Russland am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten 194 Millionen Menschen in Russland. Das Wachstum der Bevölkerung betrug fast vier Millionen. 1945 hätten es 200 oder 215 Millionen Menschen sein müssen. Geblieben sind uns 167 Millionen. Wir verloren also fast 50 Millionen. Deshalb sind alle Versuche, faschistische Philosophie auf russischem Boden zu installieren, insbesondere unter meinen Bekannten in der Partei, moralisch völlig unannehmbar. Da wird nur versucht, Unvereinbares miteinander zusammenzukleistern: Was ist denn „rot“ in der russischen Sprache? Schöner Platz, schönes junges Mädchen, schöner Ort, schönes altes Bauernhaus. Nein, nein, das ist ein Versuch, die ganze nationale Kultur und Sprache, die sich in tausenden von Jahren geformt hat, zu vernichten. Nein, das ist ein psychologischer Trick derer, die Russland erniedrigen, es verachten, zerstückeln, sich die größte Mühe geben, das nationale Bewusstsein und die nationale Kultur zu zerstören. Ich halte das für eine scheußliche Angelegenheit. Bedauerlichewerweise beschäftigen sich damit viele unserer Journalisten, die die Spaltung sähen, also die alte von der jungen Generation trennen. Sie bemühen sich um die „Neuen Russen“, für die sogar gewaltsame Auflösung des Parlaments (Schuganow benutzt das für diesen Fall auch im Volksmund gebräuchliche Wort „rastrel“, Erschießung für Auflösung) ein Schauspiel ist, aber keine nationale Tragödie, für einige von ihnen.

K. Ehlers: In den „Moskowski Nowosti“ ist soeben ein Artikel unter der Fragestellung „Nationaler Kommunismus?“ über ihre Partei erschienen. Trifft das Ihre Linie?

G. Schuganow: (lacht verächtlich) Was diesen sachunkundigen, talentlosen Artikel betrifft, so entspricht sein Inhalt mit Sicherheit nicht der der realen Meinung unserer Partei. Was das Wort „Kommunismus, Kommune“ angeht, so ist ja das nur die Übersetzung des russischen Begriffes von gemeinschaftlich (Schuganow sagt, „obschteschstwenni“, das leitet sich von „obschtschina“ her, Bauerngemeinde). Da geht es einfach um das Primat gemeinschaftlicher Interessen vor privaten. Durch die ganze Geschichte zieht sich der Kampf dieser zwei Tendenzen: Aber das kann ich voraussagen: Wenn diese privatistische Tendenz siegt, dann wird in zwanzig Jahren von unserem Planeten nichts übrig bleiben. Man wird alles ausplündern und zugrunde richten. Schon lange sind die individuelle, gemeinschaftlichen Bedürfnisse und die privaten in schweren Widerspruch mit der Natur geraten. Auch Deutschland wird nicht blühen, wenn diese Probleme nicht gelöst werden.
So haben wir auch jetzt den Kampf dieser Tendenzen und er wird sich entscheiden. Die Annäherungen an eine Lösung sind verschieden. Zum Beispiel Deutschlands Verwirklichung der Marktwirtschaft, das ist ja Ergebnis einer Geschichte, die Sie auch nicht besonders erfreut. Wenn man also jetzt beginnt, mein Land mittels verschiedner historischer Tatsachen runterzumachen, der Art, dass es da den Oktoberumsturz gegeben habe um., dann frage ich nur: Und die Massenaufstände Iwan Obolotnikows, Stepan Rasins, Emiliano Pugatschows – von wem wurden die unterdrückt. Was war mit ihnen? Waren sie Bolschewiken? Waren sie Kommunisten? Der Aufstand der Dekabristen, der Offiziere und viele andere Ereignisse? Nein, wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie, kollektivistisch, ökumenisch (Schuganow benutzt den religiösen Terminus „sobornost“, heilige Versammlung), korporativistisch. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.

K. Ehlers: Das wäre Ihr Weg für Russland?

G. Schuganow: Nun, jeder hat seinen Weg. Da sind die japanischen Besonderheiten, da ist Ehrhards Weg. Gaidar macht alles genau umgekehrt: Ehrhardt hat die Liberalisierung der Preise ganz an den Schluss gesetzt, das war der letzte Akt seiner Reform, er wusste sehr gut, warum. Es gibt das chinesische Modell, die chinesischen Besonderheiten. Es gibt einen nationalen Charakter des Menschen. Das kann man nicht übergehen. Kann man halb Russe und halb Estländer sein? Man kann. Kann man zur Hälfte Russe sein und zur Hälfte Ukrainer? Man kann. Aber man kann nicht zur Hälfte katholisch und zur Hälfte prawoslawisch (russisch-orthodox christlich) sein. Das muss man begreifen. Es gibt nationales Kolorit und nationale Besonderheiten. Ich zum Beispiel habe in Deutschland mit Vergnügen „Ordnung ist Ordnung“ gehört. In Russland gibt andere Traditionen…

K. Ehlers: Welche Bündnispartner kommen für Sie in Frage, welche nicht? Wie ist es etwa mit Schirinowski, wie mit Barkaschow?

G. Schuganow: (lacht aggressiv) Man hat mir gesagt, sie seien ein seriöser Mensch. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie solche banalen Fragen stellen, hätte ich mich auf das Gespräch gar nicht eingelassen. Das ist sinnlos. Wenn Sie sich mit diesem Thema beschäftigen wollen, bitte, das ist nichts für mich. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, die keinen Krieg in Russland wollen, keine territorialen Aufspaltungen, mit allen im Hause, die damit übereinstimmen. Schirinowski ist Delegierter der Staatsduma. Er ist Mitglied des Rates genau wie Gaidar, Jawlinksi. Er sitzt nebenan und redet mit. Das ist die Realität, die ich anerkenne, die ich anerkennen muss. Hinter Schirinowski steht zudem nicht die ganze Partei, nicht einmal die gesamte Fraktion. Da gibt es verschiedene Leute und Leute mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen. Deshalb arbeiten wir mit allen zusammen, die nicht wollen, dass Russland in der Tragödie eines massiven Umsturzes untergeht.

K. Ehlers: Das Ganze läuft doch auf eine Erneuerung der im Herbst 93 aufgelösten „Front der nationalen Rettung“ hinaus?

G. Schuganow: Ja, die Schaffung einer Union der staatsbejahenden patriotischen Kräfte ist der Schlüssel für die Lösung der Krise. Bei uns sind alle Systeme zerstört: Der Staat existiert nicht mehr. Das Eigentum ist in räuberischer Weise verteilt. Die Sicherheit geht gegen Null. Unsere Armee wird zur Gefahr, statt dass sie gegen Gefahr schützt. Die Hälfte ihrer Vertreter blieb ohne Wohnungen in diesem kalten Winter. Mit einem Menschen, der die Automatische in der Hand hat, darf man so nicht umgehen. Die kulturellen Traditionen sind zerstört. Die Mediensysteme geben nicht das Bild, Man drängt dem Land fremde Religionen auf. Das ist nicht mehr nur einfach gefährlich, das ist schon eine Situation, die mit gewöhnlichen Mitteln fast nicht mehr zu heilen ist. Mit jedem Tag verstärkt sich diese Situation und Ihr guter Freund (er meint Schirinowski), der bereits Regisseur eines Orchesters wurde, hat kaum die Rezepte zur Heilung.

K. Ehlers: Eine abschließende Frage: In der deutschen, aber auch in der russischen Politik beginnt man neuerdings wieder von einer „deutsch-russischen Achse“ zu sprechen. Was halten Sie davon?

G. Schuganow: Ich schätze, dass die geopolitischen Interessen Deutschlands und Russlands einander nicht widersprechen. Beide Länder können auf sämtlichen Gebieten zusammenarbeiten, auf wirtschaftlichen, auf kulturellem, in der Sicherheit, bei in geopolitischen Verbindungen, beliebig. Objektiv sind Deutschland und Russland an der Entwicklung einer Beziehung interessiert.

K. Ehlers: (697) Meinen Sie, dass da eine privilegierte Beziehung entsteht?

G. Schuganow: Es ist auf jeden Fall einer der Prioritäten russischer Politik.

K. Ehlers: Sie wissen, dass die Nachbarstaaten Angst davor haben?

G. Schuganow: Nun, Große und Starke fürchtet man immer.

*

Soeben erschien von Kai Ehlers:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 300 Seiten.

Über den „gespaltenen Zentralismus“ Gespräch mit Valentin Falin im „Institut für Friedensforschung“

Valentin Falin war von 1971 bis 1978 Botschafter der UdSSR in Bonn. „Sieben Jahre, vier Monate, drei Tage“, sagt er. Seit dem 14.1.92 hält er sich in Hamburg auf, wo er im „Institut für Friedenforschung“ ein wissenschaftliches Projekt über Verlauf und Ergebnisse der Perestroika verfolgt. Mit Valentin Falin sprach Kai Ehlers.

I: Herr Falin, sie leben jetzt in Deutschland. Kamen Sie freiwillig oder als Emigrant?

F: Freiwillig wäre überzogen gesagt. Es ist vor allem die Notwendigkeit, einen Ersatz zu schaffen für meine verlorenen Voraussetzungen, zuhause wissenschaftlich zu arbeiten. Ich habe in Russland meine wissenschaftliche Bibliothek verloren, die Notizen, die aus den letzten dreißig Jahren stammen. Sie waren in meinem Büro im ZK. Ich habe sie nicht herausbekommen. Hier sind die Bedingungen für eine normale analytische Arbeit viel besser. Deswegen haben meine Frau und ich das Angebot des „Instituts für Friedensforschung“ angenommen.

I: Sie sind bekannt als jemand, der auch während der Zeit der etwas gespannteren Beziehungen zwischen Ost und West immer für einen Dialog eingetreten ist. Wie kommt es, dass in einer Situation, in der der Ost-West-Dialog im Mittelpunkt steht, gerade Sie in solche Schwierigkeiten kommen?

F: Es ist nur ausgewählten Personen bekannt, was ich zu verschiedenen Zeiten zu tun versuchte, um die Partei umzuordnen, unsere Gesellschaft, unsere Innen- und Außenpolitik. Das ist ziemlich lange her. Ich hatte Möglichkeiten, mit ersten Personen des Staates und der Partei einen ganz direkten Kontakt zu pflegen. Ich begann meine Arbeit in einer Analysezentrale, die für Stalin Papiere verfertigte. Später, Anfang der sechziger Jahre, hatte ich das Privileg und (lächelt verhalten) die Strafe jede Woche seinen Nachfolger Chruschtschow zu sprechen und ihn zu hören…

I: Wieso Strafe?

F: Weil seine Monologe nicht immer so überaus interessant war. Am Ende war es auch ein bisschen traurig, zu beobachten, wie ein Mann zugrunde ging, indem er über sich selbst stolperte.

I: Wie stehen Sie zu dem sogenannten Putsch?

F: Das ist ein merkwürdiger Putsch in jeder Beziehung. Ich würde ganz definitiv sagen: Wenn dieser Versuch im Geheimen vorbereitet war, so vor allem geheim gegenüber der Partei. Ich selbst war zu der Zeit der Auslösung des Putsches im Urlaub. Ich kam erst nach Moskau, als die Krisensitzung, die ich als Präsident leiten sollte, schon beendet war und konnte nur, sozusagen am Rande, meine Fragen stellen. Da bekam ich von dem geschäftsführenden Mann, Schenin, die Antwort: Stellen auch Sie keine Fragen, auf die Sie keine Antworten kriegen! Mein hartnäckiges Bohren provozierte eine weitere Replik von ihm: Das sei vor allem eine Frage des Staates und nicht der Partei! Am nächsten Tage habe ich, wie auch die anderen, erfahren, der gleiche Schenin habe im Namen des Sekretariats ein Telegramm an die Parteiorganisation des Ortes verbreitet, in dem es hieß, dass man namens der Organisation das Komitee unterstütze. Es wurde in dem Telegramm aber auch gefragt, wie weit die Maßnahmen der Verfassung entsprächen. Heute wird der zweite Teil des Telegramms weggelassen, der sich auf die Verfassung bezieht. Es wird nur der erste zitiert, also, die Maßnahmen des Komitees zu unterstützen. Das wird als Beweis angeführt, dass die Führung der Partei in die Vorbereitungen und Ausführung des Putsches involviert war. Das war nicht der Fall!

I: Abgesehen von dem, was sich da im Hintergrund alles abgespielt hat, hätten Sie sich mit den Zielen des „Notstandskomitees“ identifizieren können?

F: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil die Putschisten formell die Respektierung des Volkswillens aus dem Referendum vom 17. März 91 zum Ausdruck gebracht und für die Einhaltung der Verfassung plädiert hatten. Soweit die Verfassung existiert, soweit die Gesetze in Kraft sind, egal, ob gut oder schlecht, sollen sie respektiert werden, wenn sie durch andere, durch bessere nicht ersetzt werden. Das ist das Prinzip aller Staaten, egal welchen  Systems. Aber, was die Methoden angeht, die Gewalt und vor allem die Pläne des „Komitees“, ihre Opponenten in Konzentrationslager zu verbannen und alle regelmäßigen Treffen außer Kraft zu setzen, das würde ich strikt ablehnen. Das haben wir in unserem Lande schon erlebt. Für mich war es vollkommen undiskutabel, so etwas zu wiederholen.

I: Wenn ich mir heute anschaue, wie Jelzin regiert, dann ist das doch genau das Notstandsregime, für das vorher die Putschisten eingetreten sind.

F: Ich kann bedingt der These zustimmen, dass Jelzin nicht gerade weich regiert und außerordentlichen Methoden nicht vollkommen fremd ist. Das ist auch Gegenstand der Kritik an ihm im Kongress der Volksdeputierten. Es ist auch eine besondere Frage, die eine Analyse braucht, wie drei Personen alle Verträge und alle verfassungsmäßige Entscheidungen aus dem Jahre zweiundzwanzig und später außer Kraft setzen konnten und der Existenz der Sowjetunion ein Ende bereiteten. Das schafft viele ungesetzliche Situationen. In dem Sinne ist unser Land noch weiter von einem Rechtsstaat entfernt als je zuvor.

I: Es gibt Stimmen bei Ihnen im Land, die die Sache so sehen, dass im Grunde ein Zustand erreicht worden sei, wie vor der Perestroika – nur unter anderer Form.

F: Es gibt verschiedene Meinungen zu diesem Thema. In außerordentlichen Situationen ist es unmöglich, mit ordentlichen, weißen Handschuhen  zu regieren. Es ist nur eine Frage des Maßes und des rechtlichen, wenn Sie gestatten, Taktes. Ich selbst würde vorziehen, dass keine Rückschläge in der Frage der Rechtspflege entstünden. Kontinuität beim Aufbau einer Gesellschaft, in der das Recht regiert und nicht Personen, wäre mir lieber. Dafür bin ich immer eingetreten, längst vor Perestroika. Ich habe zum Beispiel versucht, Chruschtschow zu überzeugen, dass eine Regierung der Sachverständigen viel vorteilhafter wäre als die Regierung der Parteifunktionäre. Aber ich würde eine andere Frage in den Vordergrund stellen, nämlich: Welches Programm der Präsident ausführen soll und entsprechend dem Programm würde ich seine Vollmachten bestimmen, nicht umgekehrt.

I: Wie beurteilen Sie das, was unter den Stichworten der Privatisierung und der Marktwirtschaft bei Ihnen im Lande passiert? Mir scheint, da entsteht nicht Marktwirtschaft, sondern Chaos.F: Ich stimme Ihnen zu. Dieses Chaos ist von der Tatsache abzuleiten, dass die Leute, die über Marktwirtschaft, über Privatisierung sprechen, im Grunde nicht verstehen, worüber sie sprechen. Was ist ein Markt? Man sagt bei uns, das sei die Frage des Eigentums. Aber Markt ist vor allem die Frage des Wettbewerbs. Ob ein Staatsmonopol oder ein privates Monopol existiert, dem Markt ist das gleichermaßen schädlich, ebenso für den Konsumenten. Wenn wir einen Markt erreichen wollen, müssen wir vor allem dafür Sorge tragen, dass von diesem Markt die verschwinden, die imstande sind, den anderen Dank ihrer Monopolstellung ihren Willen aufzuzwingen, ihre Preise, ihre Quantität, ihre Qualität und vieles andere mehr. Ich habe versucht, das dem Generalsekretär zu erklären, später dem Präsidenten Gorbatschow, den Kollegen im obersten Sowjet, in der Führung der Partei. Man darf das nicht verwechseln. Man muss erst mit der Demonopolisierung der Wirtschaft beginnen.

I: Schließt das die nationale Selbstständigkeit mit ein?

I: Welchen Weg würden Sie beschreiten wollen?

F: Einen demokratischen.

I: Eine Förderation?

F: Es kann auch eine Konföderation sein. Eine Föderation würde den internationalen Trend mehr entsprechen, aber keine aufgezwungene, sondern eine freiwillige, erkannt aus ökonomischen, ökologischen und anderen Imperativen, die uns bei Gründung des Staates dahin bewegten, nicht auseinander, sondern zusammen zu gehen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Auf diesem riesigen Territorium, das früher Sowjetunion hieß, gab es in der Geschichte kein einziges Jahr, in dem es überall zugleich eine gute Ernte gab. Das heißt, bei den vielfältigen klimatischen Bedingungen, die in dem Lande existieren, sind oder waren verschiedene Teile des Volkes und des Landes aneinander gebunden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die russische Dorfgemeinde bis Anfang dieses Jahrhunderts existierte. Nur gemeinsam, als eine Gemeinde im Dorfe, als eine gemeinsame Institution der oder anderer Art war es möglich, mit diesen Herausforderungen der Natur fertig zu werden. Wie jetzt? Wie wird es jetzt sein? Das ist eine Frage, auf die man keine Antwort gibt und die Frage, die man gerne vermeidet.

I: Die KPdSU, als zentraler Mechanismus, hat die alten gemeinschaftlichen Strukturen ja praktisch, nun sagen wir, vom Anspruch her ersetzt. Jetzt ist sie zerfallen. Was kann an ihre Stelle treten?

F: Nun, es wird so sein: Anstelle einer Staatsideologie wird eine andere eingepflanzt, die als demokratische oder als demokratischere bezeichnet wird. Aber wie ein Monopol in der Wirtschaft, so führt auch das Monopol in der Ideologie, in der Kultur in der Politik in die Sackgasse. Das ist mit unserer kommunistischen Partei geschehen. Das wird auch mit anderen geschehen, die versuchen, eine Ideologie zu erfinden und sie zu pflegen, egal wie sie heißt. Vom Wettbewerb der Ideen – das konnte in einer Partei schon geschehen. vom Wettbewerb von verschiedenen Schulen der Philosophie, der Kultur, der Kunst usw. kann man sich etwas versprechen. Gerade in diesem Punkt hat Stalin – und seine Nachfolger auch – den Marxismus der Seele beraubt. Was Stalin aufbaute, war Antisozialismus. Stalins Modell hatte mit Sozialismus nichts zu tun. Und wenn man heute über den Niedergang des Stalinsozialismus spricht, dann, korrekter gesehen, trägt man den Antisozialismus stalinschen Schlages zu Grabe.

I: Ich sehe darin schon eine Entwicklungsform des Sozialismus. Man darf sich nicht um die historische Kritik drücken.

F: Es ist nicht die heutige Erkenntnis, dass Stalin etwas dem Sozialismus Entgegengesetzes aufgebaut hat. Das ist zum ersten Male im August 1932 formuliert worden, und zwar von Rüting. Stalin tötet unter dem Motto „Leninismus!“, unter dem Motto „Proletarische Diktatur“. Das war damals schon Leuten klar. Später war es bequem aus verschiedenen Gründen, auch aus materiellen, diese Lehren zu vergessen. Und dieser langwierige Abschied vom Stalinismus: sechsundfünfzig mit Chruschtschow eingesetzt und bis zum Ende der Perestroika nicht zu Ende geführt!  Wie anders konnte die Partei von den Methoden dieser grausamen Zeit Abstand nehmen, als dass sie letztenendes ein eigenes Todesurteil unterschrieb! Ich habe das ganz offen gesagt, 1957, mehrmals später ’68 aus Anlass des Prager Frühlings, dann ’80 aus Anlass der Geschehnisse in Polen, ’86 aus Anlass der Gestaltung des ideologischen Programms der Perestroika. Aber es gab die Weiseren, die imstande waren, der Führung etwas anderes nahezulegen.

I: Halten Sie eine politische Sammlungsbewegung unter Gedanken des konservativen Kommunismus in der ehemaligen SU für möglich?

F: Das hängt davon ab, wohin das Land weiter steuert. Wie der Weg, der heute beschritten wird, die Bevölkerung herausfordert, auf die Straße zu gehen. Wenn, was ich befürchte, dieser Sommer eine katastrophale Missernte bringt, weil auf dem Lande alles fällt, dann – Ende! Dann ist nichts ausgeschlossen! Dann wird es den Ruf nach einer „harten Hand“, einer Art von Stalin, Neo-Stalin oder ich weiß nicht wie geben. Das wird leider nicht so verstanden. Es wäre das für lange Zeit das Ende des Versuches, eine unblutige Veränderung zustande zu bringen. Bei allem, was Gorbatschow gut oder schlecht gemacht hat, bei all dem, was wir heute mit dem sogenannten Putsch in Zusammenhang bringen – man vermied Blut, Meere von Blut! Das schien mir eine ganz neue Qualität in der Entwicklung nicht nur unserer Ordnung zu sein, sondern in der Entwicklung der internationalen Politik überhaupt, weil es bis dahin kaum jemanden gelang, den Sprung aus einer sozialen und politischen Qualität in die andere ohne Opfer zu unternehmen.

I: Betrachten wir in diesem Zusammenhang die Politik des neuen Deutschland. Nützt sie einer solchen friedlichen Transformation?

F: Nun, die Bundesrepublik vertritt ihre eigenen Interessen. Das ist legitim und verständlich. Die Regierung will beweisen, dass das, was erreicht wurde, Wiedervereinigung Deutschlands, Abschaffung einer militärischen Gefahr, Ergebnis einer langfristigen Ostpolitik war, an der die CDU, zum Teil die FDP aktiv teilgenommen, die sie zum Teil mitgestaltet habe. Nach diesen Vorstellungen ist alles, was im Osten passierte, ein Sieg des Staates, ein Sieg der Regierung, ein Sieg der Ordnung, die hier in der Bundesrepublik existiert. Man versucht sogar den Gedanken zu entwickeln, die Ostpolitik am Anfang der 70er Jahre (also, die der SPD – K.E.) sei eine falsche Politik gewesen. Hätte man sie nicht betrieben, wäre der Zusammenbruch der UdSSR und der DDR schon früher eingetreten! Das heißt, man unterstellt, dass die Politik der Gewalt eine produktive gewesen sei. Sie soll fortgesetzt werden in der oder einen anderen Form. Die Zeit für solche Politik ist nicht abgelaufen. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Neben den Vorteilen, die aus der Entwicklung entstanden sind, erkennt man auch klare Nachteile: Es gab eine stabile Situation im Osten, solange die Sowjetunion existierte. Es gab eine überschaubare Politik des Landes, soweit es überhaupt möglich ist. Es hatte sich auch eine Praxis herausgebildet, die eine Kontrolle über die Rüstungen ermöglichte etc. Praktisch sind wir heute alle in einer Null-Situation. Wir müssen vieles aufs Neue beginnen. Es ist zwar merkwürdig, aber doch eine Tatsache, dass der Abrüstungsprozess sich irgendwie im Stillstand befindet. Man braucht neue Konzepte, braucht neue Mechanismen, braucht vieles weiteres Neues. Aber wie dieses Neue aussehen wird, weiß niemand im Moment.

I: Ist die deutsche Vereinigung ein Ergebnis erfolgreicher deutscher Politik oder des Zusammenbruchs, bzw. einer klugen Politik von Seiten der Sowjetunion?

F: Beides gehört zusammen. Es gibt keine einheitliche und nicht nur eine einzige Antwort auf eine solche Frage. Ich würde Folgendes sagen wollen: Die Frage, wann die Spaltung überwunden werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Aber es ab verschiedene Modelle der Entwicklung. Es gab auch verschiedene Zeitvorstellungen für eine solche Wiedervereinigung und die damit zusammenhängende Überwindung der Spaltung Europas, Überwindung der Spaltung in der Welt. Wenn es anders verlief, so ist das zum Teil Ergebnis der von der sowjetischen Führung herbeigeführten Politik, von Manövern in dieser Politik, die bis heute nicht erklärt sind. Zum Teil ist es auch Ergebnis der sehr dogmatischen Position der damaligen DDR-Führung. Und letztenendes war es auch eine Entwicklung der ganzen Situation im Warschauer Pakt-Bereich.

I: Wenn Sie das Ergebnis betrachten, das dabei herausgekommen ist, dieses neue Deutschland: War es das wert?

F: Dieses neue Deutschland wird in den nächsten Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die heutige Entwicklung ist viel teurer als die, die möglich gewesen wäre, wenn man Alternativen berücksichtigt hätte. Sie ist vor allem für die einfachen Menschen teurer, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist. Letztenendes wird das technologische Niveau in den neuen Bundesländern höher sein als in den alten Bundesländern, zum Teil höher als in anderen europäischen und möglicherweise auch in nicht-europäischen Ländern. Man setzt neueste Produktionen ein wie nach einem Kriege. Neueste Technologien, die nicht im Kompromiss mit alten in Angriff genommen werden, sind den alten immer einige Jahre voraus. Kein Land inklusive Japan ist imstande so etwas zuhause zu leisten. Das ist einfach zu teuer. Ich gehe davon aus, dass die Deutschen es schaffen, obwohl das, ich wiederhole, ungeheuer viel materielle, moralische und menschliche Kosten verursacht. Aber letztendendes bin ich sicher, soweit alles normal in der Welt verläuft, ist das erreichbar für dieses dynamische Volk und für diesen dynamischen Staat. Dies haben die Deutschen nicht nur einmal in der Geschichte bewiesen.

I: Kann dieses Deutschland, das Sie so beschrieben haben, Modell sein für die ehemalige Sowjetunion?

F: Ja, wenn Deutschland seine Potenzen in einer konstruktiven, friedlichen Politik zu verwirklichen sucht und nicht in einer Politik der Gewalt, direkt oder indirekt, wenn Deutschland versteht, das es ein Teil Europas und der Welt ist, und nicht ein Zentrum und, dann ja. Ich möchte aber auch unangenehme Aspekte nennen, die leider auf Grund der Analyse nicht auszuschließen sind: Ein äußerer Zwang, so zu sein, ist auch für Deutschland verschwunden. Die Existenz der DDR bewegte Bundesdeutschland, stärkeres Gehör zu entwickeln gegenüber Forderungen von Mittelschichten, Bauern, Rentnern, als unter anderen Umständen politische Führungen bereit sind zu zeigen.

I: Es gibt bei uns viele Leute, die sich einem neuen starken Deutschland fürchten.

F: Solche Gefahren sind immer latent. Es hängt davon ab, ob die Atmosphäre, die materiellen und die anderen Voraussetzungen existieren, die aus dieser latenten Gefahr eine akute machen. Die jüngsten Wahlen in Baden-Würthemberg und Schleswig-Holstein haben gezeigt, dass dies als ernste Herausforderung zu verstehen ist. Ich möchte nicht zu denen gehören, die solche Gefahren überschätzen. Unterschätzen und überschätzen ist gleichermaßen falsch. Man muss genau wissen, woher der Wind weht und welche Methoden es gibt, um die Entwicklung nicht nur zu überwachen, sondern nach Möglichkeit zu beeinflussen. Das ist die Kunst der Politik, die Kunst, die uns zu eigen zu machen wir verurteilt sind, wenn wir uns über die Zukunft der nächsten Generation Gedanken machen wollen.

I: Viele beklagen ja auch die gegenwärtige Weltunordnung und sehen sich zum früheren Status quo zurück. Was halten Sie davon?

F. Die Bi-polare Welt beugte manchen Amokläufen der einzelnen Nationen vor. Andererseits ist die heutige Entwicklung kein Schlusspunkt. Die andere Ordnung wird sich etablieren, die den modernen Herausforderungen adäquater ist als die, die es gegeben hat.

I: Welche neue Ordnung, gar welche neue Utopie könnte sich Ihrer Ansicht nach aus dem Zusammenbruch entwickeln?

F: Erst einmal war das keine Utopie. Das war ein praktischer Versuch, eine praktikable Ordnung zu gründen, ein Versuch, der im Laufe der Entwicklung entartete, auf Grund des Kampfes auf Leben und Tod mit dem anderen System, also praktisch Sozialismus in einem Lande und nach dem Kriege in mehreren Ländern. Dieser Versuch hat keine friedliche Stunde erfahren. Das war ein permanenter, zermürbender Kampf. Auch in diesem Kampf hätte eine Ordnung, die sich als sozialistische bezeichnet, allerdings nicht zugrunde gehen müssen, wenn die Führer dieser Ordnung eine korrekte Politik durchgeführt hätten. Das war aber auch nicht der Fall.Trotz allem hat die sozialistische Idee in diesem Jahrhundert ganz tiefe Spuren hinterlassen. Wenn Sie den Kapitalismus von heute mit dem Kapitalismus aus dem Jahre ’17 vergleichen, dann sind auch das zwei verschiedene Ideologien. Das ist nicht von ungefähr vom Himmel gefallen, Das ist ein Ergebnis der Anpassung des Kapitalismus an die neue Welt, die dank dieses Versuches, Sozialismus aufzubauen, entstanden ist. Wenn schon der Versuch solche Folgen gehabt hat, dann können wir uns vorstellen, welche produktiven Potenzen in der Idee der sozialen, der nationalen und der menschlichen Gerechtigkeit liegen. Das ist nicht die Frage des Marxismus etc. Der Sozialismus ist viel älter als der Marxismus. Die Idee ist wenigstens zweitausend Jahre alt. Deswegen die Idee zu Grabe zu tragen, weil die marxistische Variante dieser Idee sich nicht so gerechtfertigt hat wie gewünscht, ist weder fair noch praktikabel.

I: Welche Schlussfolgerungen haben Sozialisten Ihrer Meinung nach aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen?

F: Sozialisten sollen einmal irgendwann versuchen, nicht nur sozialistisch zu plaudern, sondern sozialistisch zu denken und vor allem zu handeln. Sozialistisch, das heißt, die Moral in den Vordergrund zu stellen, das Wort der Tat gleich zu machen. Es heißt, keine leichten Versprechungen zu verstreuen, um Stimmen zu gewinnen, und dafür Sorge zu tragen, dass nicht die Gewalt die Welt regiert, sondern Recht und nicht einzelne Personen die Schicksale der Zivilisation und des Individuums gestaltet.

Gespräche, Interviews, Untersuchungsfragen

Gespräche sind die Grundlage meiner Arbeit. Mehr als 1000 „Takes“ haben haben sich in über zwanzig Jahren bei mir angesammelt. Russland, Mongolei, China, Situationsaufnahmen, allgemeine Fragen der globalen Peretsroika. Die meisten in russischer Sprache, einiges auch in Englischer oder deutscher. Vieles davon ist in meine Bücher eingegangen. Aber manches  Gespräch hat seinen eigenen Reiz. Einige dieser Gespräche finden Sie hier schriftlich dokumentiert.

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Darüber hinaus gibt es ein seit Mitte der 80er geführtes Audio-Archiv abrufbarer Tonaufnahmen. Wenn Sie Interesse an authentischen Stimmen zum Verlauf der Perestroika und ihren Folgen haben, sind Sie willkommen.

P.S. Das Audio-Archiv ist zweifellos eine Fundgrube für Historiker. Ich lade Sie ein.

Tscheboksary 92
Hören, was die Menschen sagen

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            • Gespräche, die ich geführt habe
            • Gespräche, die mit mir geführt wurden