(Terminlich aktualisierte Fassung eines Textes vom 10.12.2014)

Am 13.12.2014 gab es in verschiedenen deutschen Städten Demonstrationen für die Erhaltung des Friedens und die Rückkehr, bzw. den Aufbruch zu einem neuen Dialog mit Russland.

Passend zu diesem Anlass erschien wenige Tagen vor den Demonstrationen ein Aufruf von 64 Prominenten „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, der zur Entwicklung einer neuen Entspannungspolitik gegenüber Russland aufruft. Kern dürfte der Satz sein, in dem eine „für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung  der Zusammenarbeit  mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin“ als Fehler konstatiert wird. Dieser Aufruf  ist, ungeachtet möglicher Vorbehalte zu einzelnen Passagen, in vollem Umfange zu begrüßen. Endlich haben die Widersprüche des sinnlosen Sanktionskrieges gegen Russland auch die politischen Etagen der etablierten Politik erreicht.

Selbstverständlich hat dieser Aufruf, initiiert und getragen von Kräften der etablierten Politik, auch die Funktion – wenn nicht bewusst, so doch faktisch – den wachsenden Unmut an der Basis der Bevölkerung zu integrieren, die sich nicht weiter in eine gefährlich eskalierende Konfrontation mit Russland hineinmanövrieren lassen will. Weniger freundlich ausgedrückt, der Aufruf hat auch die Funktion, der Kritik das Wasser abzugraben und sie auf seichteres Fahrwasser umzulenken, indem die Schuld für die Eskalation gleichermaßen auf den „Westen“, der sich zu sehr nach Osten ausgedehnt habe wie auch auf „Moskau“, das die Krim völkerrechtswidrig annektiert habe, verteilt wird.

Die „wütenden Reaktionen“[1] auf den Aufruf in den deutschen Leitmedien wie auch aus den verschiedenen politischen Etagen, insbesondere aus den grünen, in denen von „Schande“, „Russlandkitsch“, „politisch-intellektueller Zumutung“ und dergleichen die Rede ist, zeigen indes, wie weit das politische Klima bei uns bereits vergiftet ist, wie  weit die Vertreter/innen der zur Zeit in Deutschland und in der EU von der deutschen Regierung betriebenen Politik bereits in das neue Feinddenken versunken sind, anders gesagt, wie zurückliegende Ereignisse und historische Tatsachen bereits durch Mythen ersetzt werden, wenn selbst eine solche abgewogene Kritik nur noch wüste Beschimpfungen auf sich zieht.

 

Abläufe und Tatsachen

Der Aufruf der 64 kann daher ein guter Anlass sein, in konstruktiver Kritik auf einige Abläufe und Tatsachen hinzuweisen, die nicht vergessen werden sollten.

Erstens: Die NATO- und EU-Erweiterung nach Osten war kein Fehler, sondern gewollt und strategisch geplant. Versuche des ehemaligen „Die Zeit“-Herausgebers Theo Sommer, in seinem ansonsten durchaus um Entspannung bemühten Artikel[2] ausgerechnet Sbigniew Brzezinski als Zeugen dafür anzuführen, dass die Eskalation um die Ukraine nicht gewollt war, ist ein besonders krasses Beispiel für historische Vergesslichkeit, wenn man Theo Sommer nicht bewusste Verdrehung unterstellen will. Ist es doch gerade Brzezinksi, der seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion als strategischer Guru wechselnder US-Regierungen permanent und systematisch über zwanzig Jahre und durch mindestens drei Bücher darauf dringt, die Ukraine aus dem Zusammenhang mit Russland herauszubrechen.[3] Hinzu kommen seine jüngeren Ratschläge, ukrainische Truppen für den Häuserkampf auszurüsten.[4]

Zweitens: Nicht die Ereignisse um die Krim waren der Auslöser der Ukraine-Krise, konkret der Maidan-Revolte, sondern die über die „erweiterte Nachbarschaftspolitik“ der Assoziierungsabkommen ausufernde Eskalation der Ost-Erweiterung der Europäischen Union, die nicht bereit war, auf die im Osten seit 2008 entstehende Eurasische Union kooperativ und mit Verhandlungen über eine Abwägung gegenseitiger Interessen einzugehen. Bekannt und selbst in EU-Kreisen nicht mehr bestritten sind die Positionen des EU-Kommissions-Präsidenten Jose Manuel Barroso, der Viktor Janukowitsch in den Verhandlungen um den Assoziationsvertrag vor die Alternative Europäische Union ODER Eurasische Union stellte.[5] Nach den voraufgegangenen Zick-Zack-Kursen der Ukraine zwischen Pro-NATO/EU und Anti-NATO/EU musste jedem Politiker, der einigermaßen bei Verstand war, klar sein, dass eine solche Alternative die Ukraine zerreißen würde. Im Übrigen war es Brzezinski, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2014 eben diese Strategie konkretisieren half.

Drittens: Es waren auch nicht die Ereignisse um die Krim, sondern der von Maidan-Militanten, allen voran den Aktivisten des „Rechten Sektors“ erzwungene, die bestehende Verfassung der Ukraine brechende Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Viktor Janukowytsch, die zur Eskalation des Bürgerkrieges führten. Janukowytsch wurde gestürzt, nachdem er sich in Verhandlungen mit einer europäischen Delegation unter Führung von Frank-Walter Steinmeier zum Rücktritt, zur Einrichtung einer Übergangsregierung und zu vorgezogenen Wahlen bereit erklärt hatte. Die Sezession auf der Krim wie auch die Ausweitung der Maidan-Unruhen zu den Besetzungen und der Anti-Maidan-Bewegung im Osten waren keine Inszenierungen Russlands, sondern setzten gleich nach dem Umsturz sein. Sie waren eine Reaktion auf die von der provisorischen Regierung gefassten ultranationalistischen Beschlüsse zur Abschaffung des Rechts auf Sprachautonomie sowie auf die erklärte Absicht faschistischer Kräfte in der provisorischen Regierung, das Land rücksichtslos ukrainisieren zu wollen.

Viertens: Die Krim wurde nicht annektiert, sofern dem geltenden Sprachgebrauch folgend, unter Annexion eine gewaltsame Einverleibung eines Gebietes gegen den Willen der dort lebenden Bevölkerung verstanden wird. Die Loslösung der Krim von der Ukraine vollzog sich über ein Referendum, in dem die übergroße Mehrheit der Bevölkerung der Krim sich in freier Abstimmung unter friedlichen Bedingungen für einen Anschluss an Russland entschied und einen entsprechenden Antrag an die russische Föderation übermittelte. Die lokalen Behörden der Krim riefen in einer Situation zu diesem Referendum auf, in der sie durch den Umsturz in Kiew a) durch die Nationalisierungspropaganda aus den Reihen der provisorischen Regierung ihre Autonomie bedroht sahen, b) die Verfassung durch den Umsturz außer Kraft gesetzt war, und c) das ukrainische Militär auf der Krim ohne einheitliche Führung war. Es war nicht klar, wie sich einzelne Einheiten des Militärs dem Referendum gegenüber verhalten würden. In dieser Situation übernahmen die in Sewastopol stationierten russischen Truppen, unterstützt durch zivil agierende russische Verbände den Schutz des Referendums. Fakt ist, dass Russland die Durchführung des Referendums, wie auch den Antrag zur Aufnahme der Krim in die Föderation gefördert und mit zusätzlichen zivil auftretenden Ordnungskräften abgesichert hat; das kann man kritisch sehen. Zu bedenken ist allerdings die Befindlichkeit der mehrheitlich russisch-stämmigen Bevölkerung der Krim, die sich von den Umsturz-Ereignissen in Kiew bedroht sah, ebenso wie die unverhüllten Absichtserklärungen der Rechten in der provisorischen Regierung, Russland aus dem Hafen Sewastopol vertreiben zu wollen. Diese beiden Aspekte haben Russland zur Förderung des Referendums veranlasst. Unzutreffend ist dagegen, dass dieser Anschluss gewaltsam erzwungen wurde.

Fünftens: Einer besonderen Betrachtung bedarf die Ansicht, Russland habe das Völkerrecht gebrochen. Tatsache ist, dass das Völkerrecht aus seiner Entstehungsgeschichte heraus ursprünglich nur die Rechte von Staaten untereinander regelte. Im Einvernehmen miteinander entschieden sie, welche Völker jeweils zu welchem Staat gehören. Die Völker wurden dazu nicht gefragt. Seit Vorlage der 14 Punkte von  Woodrow Wilson nach dem ersten Weltkrieg wurde dieses einseitig am Interesse der Staaten ausgerichtete Völkerrecht durch das sog. Selbstbestimmungsrecht der Völker ergänzt. Es war dies eine Reaktion auf die beginnende Entkolonialisierung, durch welche die ehemaligen Kolonien in Nationalstaaten überführt wurden. In Wikipedia kann man dazu als gängiges heutiges Verständnis lesen: Bei dem Selbst bestimmungsrecht der Völker gehe es „um einen völkerrechtlichen Rechtssatz, dem zufolge jede Nation das Recht hat, frei, also unabhängig von ausländischen Einflüssen, über ihren politischen Status, ihre Staats- und Regierungsform und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden.“ Seit der Ergänzung des ursprünglichen Völkerrechtes durch das von Wilson eingebrachte Selbstbestimmungsrecht ist das Völkerrecht ein Zwitter, das einmal zur  Legitimation staatlicher Ansprüche auf „ihre“ Völker, in anderen Situationen zur Legitimation von Sezessionen aus Staaten ausgelegt wurde und wird. Die Bevölkerung der Krim hat für sich die Seite der Selbstbestimmung in Anspruch genommen, Russland hat die Wahl der Krim akzeptiert – aber ohne Gewalt auf Grundlage einer freien Entscheidung der Mehrheit der Bevölkerung der Krim.

Sechstens: Die nach der Eingliederung der Krim in der russischen Föderation einsetzende Sezessions-Dynamik im Osten des Landes ist nicht von Russland in Gang gesetzt worden. Sie war eine spontane Folge der widersprüchlichen Entwicklung in der Ukraine selbst, der entstehenden Ängste, wie auch des Wunsches nach Autonomie, der dem Umsturz folgte. Die Dynamik hatte zudem mehrere aufeinander folgende, ganz unterschiedliche Etappen: Am Anfang stand ein Referendum für einen autonomen Status. Dem Referendum folgten sehr schnell unterschiedliche, zum Teil auch uneinheitliche Forderungen nach Sezession, nach Übernahme durch Russland, danach nach Bildung eines selbstständigen „Noworossia“. Zeitweilig bestanden diese Vorstellungen auch nebeneinander. Diese Dynamik hätte im Keim gestoppt, bzw. befriedet werden können, wenn der Forderung nach Autonomie in einer föderal organisierten Ukraine Raum gegeben worden wäre. Stattdessen wurde die Möglichkeit einer Föderalisierung von Anfang an illegalisiert, bis sie schließlich als „russisches Projekt“ offen mit militärischen Mitteln bekämpft wurde. Dieser Prozess hat zu einer Polarisierung und Radikalisierung geführt, in der die anfänglichen moderaten Forderungen nach Autonomie unter dem Einfluss aus Russland einreisender Nationalisten radikalen nationalistischen Vorstellungen wichen. Russland hat diesen Prozess anfangs geduldet, eine Zeitlang gefördert, dann wieder gebremst. Auf jeden Fall war und ist Russland in dieser Entwicklung engagiert. Da gibt es nichts zu leugnen. Aktuell ist die Ost-Ukraine für Russland jedoch eher eine Last als ein Gewinn. Zu dieser Einschätzung kommt selbst die aktuellste NATO-Studie, in der konstatiert wird, dass Russland inzwischen eher Interesse an einem föderalisierten Osten habe als an dessen „Annexion“ weil es so Einfluss auf das ukrainische Kernland nehmen könne.

Siebtens: Objektiv, wenn man so sprechen will, könnte der Krieg in der Ukraine sofort in einen politischen Dialog überführt werden, wenn die hinter den konkreten Kämpfen stehenden strategischen Kräfte es zuließen. Wem nützt die Fortsetzung des Konfliktes? Russland? Nein, eindeutig nicht. Russland ist durch die Eingliederung der Krim, durch die notwendigen humanitären und finanziellen Unterstützungsleistungen für den Osten der Ukraine, durch die fortdauernden Kämpfe, durch um die 400.000 Flüchtlinge aus den Kampfgebieten des ukrainischen Ostens, die in der Föderation versorgt werden müssen, durch die Zerstörung der Wirtschaftsbeziehungen zum ehemaligen Schwerindustriezentrum im Osten der Ukraine – und nicht zuletzt durch die revolutionäre Unruhe des Bürgerkriegsgebietes an seiner offenen südlichen Grenze  schwer belastet. Russland möchte, da ist dem neuesten Befund der NATO durchaus zuzustimmen, lieber heute als morgen den Osten als autonomes Gebiet an oder in der Ukraine saniert sehen. Nicht zuletzt, ist noch zu ergänzen, um auch den Sanktionskrieg zu beenden. Wer könnte also sonst an der Fortsetzung der Unruhen interessiert sein? Die Europäische Union? Ebenfalls nein. Auch die Europäische Union ist mehr als belastet durch den Sanktionskrieg, ebenso wie durch die Milliarden, die jetzt schon im Schwarzen Loch Ukraine verschwinden. Weitere Belastungen sind absehbar. Bleiben am Ende die USA, die mit einem Fortdauern der Unruhen auf kleiner Flamme gleich zwei Rivalen auf einmal schwächen, deren möglichen Zusammenschluss stören und möglicherweise verhindern können. Auch diese strategische Option kann man bei Brzezinski wortwörtlich nachlesen.

Für Deutschland kann eine realistische Politik nur darin bestehen, sofort in Verhandlungen  um die Wiederherstellung eines gemeinsamen Raumes mit Russland zu gehen, wirtschaftlich, politisch und kulturell. Da ist dem Aufruf der 64 voll zuzustimmen. Aufgabe einer Friedensbewegung dürfte darüber hinaus darin bestehen, die Ursachen der Kriegstreiberei kompromisslos offenzulegen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                               Dienstag, 9. Dezember 2014



[1]german foreign politics, 9.12.)

[2] Die Zeit, 9.Dez. 2014

[3] Siehe Brzezinskis Bücher: Die Einzige Weltmacht, 1996 (deutsch);  Second Chance, 2006 (engl.); „Strategic Vision, 2012/3 (engl)

[4] http://www.politico.com/magazine/story/2014/05/what-obama-should-tell-americans-about-ukraine-106277.html#.VIdQLcnc2kZ