Schafft zwei, drei viele Allmenden!

 Bericht vom 32. Treffen am 16.11.2013


Europa der Regionen

Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage

 

Europa, die EU, der Euro-Raum befinden sich in der Krise. Das ist kein Geheimnis. Aus der Wertegemeinschaft, die nach zwei Weltkriegen aus dem Impuls hervorging, nie wieder Krieg, nie wieder Nationalismus, nie wieder Faschismus auf europäischen Boden zuzulassen, treten die Konturen einer Festung Europa immer deutlicher hervor, für die die Konkurrenzfähigkeit im „global play“ oberste Priorität hat. Im selben Zuge kommen Impulse aus der Bevölkerung, die sich unter der Forderung nach mehr Demokratie gegen diese Entwicklung wenden. Einer dieser Impulse ist die „Charta für ein Europa der Regionen“ [1]. Sie war Thema auf dem  zurückliegenden Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“. Die Frage lautete, was kann man, was muß man sich unter einem „Europa der Regionen“ vorstellen, das dem Anspruch der „Charta“gerecht werden will, „Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage“ zu eröffnen?

    Die Frage führt selbstverständlich sofort zum Kern: ‚Was, bitte sehr, ist eine Region?` Wie definiert, wie bildet sie sich? Worin kann der Sinn einer Regionalisierung in einer global vernetzten Welt bestehen? Ist das nicht ein Weg zurück in Kleinstaaterei, in lokale Borniertheit und Gruppenegoismus? Mit Besorgnis schaut man auf die Zerfallsprodukte der ehemaligen Sowjetunion, mit Besorgnis auch auf separatistische und gar neu aufkommende nationalistische Tendenzen in der Europäischen Union. Selbst gemäßigte Forderungen nach Selbstbestimmung in Katalonien, in der Bretagne, in Schottland, bei den Flamen und den Wallonen rufen gemischte Gefühle hervor. Andere Ansätze wie ‚Nowamerika’[2]  an der polnisch-deutschen Grenzeschweben noch im virtuellen Bereich oder wie das Rekultivierungsprojekt „Terra Nova“ des Künstlers Hermann Prigann in der ehemaligen Braunkohlenregion Cottbus führen in kultur-ökologische Entwürfe, für die die Zeit noch reifen muß.[3] 

    Dieselbe Frage führt aber auch zum Unmut in weiteren Kreisen der Bevölkerung über die zentralistischen Tendenzen in der EU, in denen die Exekutive zunehmend Priorität gewinnt, zugespitzt durch die dirigistischen Kompetenzen der Europäischen Zentralbank, die nicht nur den EURO-Raum selbst, sondern im Zuge allgemeiner Vernetzungen auch die EU insgesamt und darüber hinaus die nicht im Euro-Raum und nicht in der EU organisierten europäischen Länder in Mitleidenschaft ziehen.

    Faßt man noch mit ins Auge, was seit Juli dieses Jahres unter dem Stichwort TAFTA (Transatlantic Free Trade Area), also einer umgreifenden transatlantischen Freihandelszone in einem neuen Anlauf auf überstaatlicher Ebene verhandelt wird, nachdem vorherige Ansätze dazu gescheitert waren, was dieses mal aber mit dem Ziel angegangen wird, die Abkommen dazu in zwei Jahren unterzeichnet zu haben, dann wird vollends klar, was einem Europa der Regionen als Gegenpol gegenüber steht: eine durch demokratische Strukturen nicht mehr kontrollierbare Finanz- und Konzernherrschaft, welche die Souveränität der ihr angeschlossenen atlantischen – und auch der von ihnen  abhängigen – Staaten und Länder aufhebt. (siehe dazu den Leitartikel in „Le monde diplomatique“ vom November 2013)

    Kurz, es stellt sich die Frage, wie kann ein Europa aussehen, in dem die Bevölkerung nicht dem Diktat der Banken und Monopole unterworfen wird, aber andererseits auch nicht auf historisch zurückliegende Stufen der Kleinstaaterei, des Nationalismus und Lokalpatriotismus zurückfällt?

    Eine Antwort auf diese Frage kann nur in der Wiederbelebung lokaler und regionaler Räume durch die selbstbestimmten Aktivitäten der in und von ihnen lebenden Menschen liegen, dies aber nicht in Rückwendung zu Kleinstaaterei, nicht in Rückwendung zum Nationalismus, aber auch nicht durch das Aufgehen der EU in einem globalen Weltwirtschaftsregime der Konzerne.

    Aber wie ist diese Wiederbelebung lebendiger Regionen, besser wäre zu sagen, die Entwicklung eines über einen regressiven Regionalismus wie auch über einen totalitären Globalismus hinausgehenden neuen Verständnisses von Regionen zu verstehen?

    Man muß klar sagen: Eine Antwort auf diese Frage, die in einem Zuge einfach umzusetzen wäre, gibt es nicht. Mehr noch, solange diese Frage in der Logik der heute herrschenden Paradigmen vom Nationalstaat (ungeachtet der Frage, ob mehr oder weniger demokratisch) gestellt wird, führen Antworten nur zu „No Goes“, einfach ins Absurde oder in abwegige Fundamentalismen.

    Eine mögliche Perspektive wird nur erkennbar, wenn die Logik der zur Zeit herrschenden Verhältnisse verlassen wird, das bedeutet – unglaublich einfach, aber gerade deswegen um so schwieriger umzusetzen – wenn im Denken nicht die Profitmaximierung, sondern die allseitige Befriedigung der Lebensbedürfnisse des einzelnen Menschen im Rahmen der Pflege und des Erhalts der Lebensgrundlagen unseres Planeten als Grundkonsens des gesellschaftlichen Zusammenlebens gesetzt wird, d.h., um nicht mißverstanden zu werden, wenn ein gedanklicher Austritt aus der herrschenden verbrauchsorientierten Wachstumslogik in eine am geistigen und sozialen Wachstum des Menschen orientierte Entwicklung gewagt wird.

    Allein aus einer solchen Sicht, wird erkennbar, was in Zukunft eine Region sein könnte, die über die Hülle des Nationalstaates, der zunehmend von den internationalen Konzernen ausgehöhlt wird, aber auch über eine bloße Fragmentierung gewachsener gesellschaftlicher Zusammenhänge hinausführt: Die Region der Zukunft ist der Lebensraum einer auf Basis kooperativer Selbstbestimmung lebenden Bevölkerung, innerhalb dessen solidarische Beziehungen überschaubar miteinander praktiziert werden können – nach unten untergliedert in lokale Zusammenhänge, nach oben vernetzt in föderale Beziehungen zu anderen Regionen.

    Es macht keinen Sinn, sich hier und heute in Einzelheiten und in Zahlenspiele für Größenordnungen zukünftiger Regionen zu verstricken. Entscheidend ist das Grundprinzip zu erkennen, von dem allein eine solche Ordnung des Zusammenlebens ausgehen kann: Selbstbestimmung und Selbstermächtigung des mündigen Menschen, die auf Basis persönlicher Verantwortung als Impuls in die engere Gemeinschaft und weitere Gesellschaft  nach strengem Subsidiaritätsprinzip, also mit einer grundsätzlich garantierten Rückbindung an die Basis hineinwirken. Das heißt: Regierung, auf welcher Stufe auch immer, ist unter den so entstehenden Bedingungen ein Dienen, ein Verwalten, ist organisatorische gegenseitige Hilfe, nicht Herrschen und Bestimmen oder gar Unterdrücken.  

    Nur vor dem Horizont einer solchen Perspektive wird der zu beschreitende Weg klar. Nur von dieser Grundposition kann Kraft und Ausdauer für den Hindernislauf gewonnen werden, als der sich die Verwirklichung dieser Perspektive durch schrittweise Reformen darstellt. Der Hürden sind zahllose! Die wichtigste Hürde dürfte in der Tatsache liegen, daß Selbstbestimmung und Selbstermächtigung ohne Verantwortung für das eigene Tun nicht zu haben sind. Anders gesagt: Die Schubkraft auf diesem Weg ist ein neue Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, letztlich, um es unmißverständlich zu sagen, ein neues Verständnis vom Staat. In der Perspektive persönlicher, lokaler und regionaler Selbstermächtigung ist der Staat nicht mehr die Gewalt- und Kontroll-Instanz, die aus dem Machtmonopol eines anonymisierten Apparates heraus Anweisungen gibt, wie die Menschen zu leben haben, was ihnen zuzuteilen ist oder was nicht usw., an den, um auch das nicht zu vergessen, die Sorge für das Gemeinwohl abgegeben wird, sondern er ist Helfer, der aus der föderativen Kooperation von selbstbestimmten Gemeinschaften, Kommunen und Regionen hervorgeht. Das schließt gemeinsame Entwicklungs- und Überlebensinteressen aller Menschen und ihrer Lebenswelten natürlicherweise mit ein. Ein solcher Staat, der als Organ gegenseitiger Hilfe agiert, übernimmt die Regelung der Fragen, die vor Ort nicht sinnvoll allein geregelt werden können – basierend auf örtlicher Bindung.  – Es ist klar, daß die Herausbildung freier, zur  Übernahme von Verantwortung fähiger und bereiter Menschen, eine vom jetzigen Staatsverständnis sich emanzipierende Bildungspolitik damit in den Vordergrund aller ins Auge zu fassenden politischen, sozialen und kulturellen Aufgaben rückt. 

    Vor dem Hintergrund einer solchen Vision bekommt der Ruf nach einem Europa der Regionen seine Richtung und Kraft. Die Entwicklung der nächsten Schritte, der konkreten Formen ist eine Sache der konkreten Bedingungen und der sozialen Fantasie, deren Verbindung vielfältige Formen entstehen läßt und zuläßt. Keine muß der anderen vollkommen gleichen außer in einem: im Willen zur Selbstbestimmung, Selbstermächtigung und Selbstverantwortung im Interesse eines für alle Menschen, einschließlich der sie umgebenden Lebenswelt gedeihlichen Ganzen.

    Dies ist ein Wegweiser, versteht sich, nicht der Weg selbst.

    Und um in dem Bild zu bleiben: Nicht jeder Mensch und nicht jede Gesellschaft ist bereits an diesem Wegweiser angekommen. Manche kämpfen sich noch im unwegsamen Vorfeld ab. Wir wollen jetzt nicht in die hier mögliche Aufzählung der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus einsteigen. Das muß konkreten Debatten an konkreten Fragen vorbehalten bleiben. Vermutlich ist dieser Wegweiser auch noch nicht der letzte. Das Mindeste allerdings, was man sagen kann, ist aber wohl, daß der Weg zu mehr Demokratie ohne einen deutlichen Wegweiser in Richtung der Selbstbestimmung des mündigen Einzelnen in kooperativer Gemeinschaft nicht gefunden werden kann. Das gilt auf jeden Fall für Europa. Welche Rolle Europa damit in der Welt wahrnimmt, muß sich zeigen.

Das nächste Treffen soll die Frage: ‚Region oder Nation’ noch weiter konkretisieren. Dies soll anhand eines genaueren Blicks auf den nachsowjetischen Kaukasus geschehen. 

[3] Siehe u.a.: http://jfa.arch.metu.edu.tr/archive/0258-5316/1997/cilt17/sayi_1_2/43-52.pdf,

Ausführlich auch in „Die Kraft der ‚Überflüssigen’“, Kai Ehlers, Pahl Rugenstein, 2013