Schriftliche Fassung eines Vortrags
auf der „Friedenskonferenz“ vom 08.11.2015 in Hamburg

Die Frage ist zweifellos aktuell. Allein schon deshalb, weil sie auch von Barack Obama gestellt wird. Aber was ist regional, was imperial? Wonach wird gefragt? Regional gleich begrenzt oder schwach, imperial dagegen aggressiv, expansiv oder global?

Nehmen wir Deutschland – ist Deutschland eine regionale Macht oder eine imperiale? Oder China. Ist China regional oder imperial? Die Kriterien sind unscharf. Was einmal klar definiert schien – Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus – verschwimmt heute in hybriden Formen der Globalisierung.

Erst recht geben die alten Kriterien keine Klärung für Russland. Wie kann man ein Land, das gut ein Sechstel der Erde umfasst, das sich über elf Zeitzonen erstreckt, das das Zentrum Eurasiens bildet, eine Region nennen? Und was das Imperiale betrifft: Russland ist auch nicht expansiv. Es schrumpft immer noch, genauer, es ist immer noch dabei den Prozess der Schrumpfung aufzuhalten, der mit Auflösung der Sowjetunion 1990/91 eingesetzt hat.

 

Die Geschichte befragen

Eine Antwort auf die oben gestellte Frage, ob Russland eine regionale oder eine imperiale Macht sei, ist nicht aus einer Momentaufnahme heraus möglich. Sie ist nur mit Blick auf historische Entwicklungsschritte und unter Wahrnehmung der Besonderheiten dieses Landes zu finden. Nehmen wir also drei Phasen: Zarismus, Sowjetunion, heute.

Das Reich der Zaren war zweifellos ein Imperium, allerdings nicht im Sinne des höchsten Stadiums von Kapitalismus, sondern im Sinne von Herrschaft über andere Völker, die von Moskau kolonisiert und ins russische Reich integriert wurden. Das gilt seit Peter I., genannt der Große und besonders seit Katharina II., ebenfalls die Große genannt. Für die Zeit davor und auch für die Zeit nach der Oktoberrevolution müssen andere Begriffe gefunden werden.

Ein Imperium war zweifellos auch die Sowjetunion – sogar mehr noch als der Zarismus. Ihr Herrschaftsgebiet erstreckte sich von Zentralasien bis Mitteleuropa – dies alles eine Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Gigantisch. Man könnte sagen, die UdSSR bildete das größte Imperium der Geschichte. Sie schickte sich sogar an über Afghanistan noch bis zum indischen Ozean vorzudringen. Im Anspruch des sozialistischen Internationalismus griff sie über den ganzen Globus hinaus. Allerdings ist auch der sowjetische Imperialismus nicht umstandslos unter die Definition vom höchsten Stadium von Kapitalismus zu stellen.

 

Zwei Typen der Kolonisierung

Vielmehr gilt es hier zu differenzieren: Zwar kann man sagen, dass auch Russland und später die Sowjetunion Kolonien hatten. Aber diese dienten nicht der ursprünglichen Akkumulation von Kapital, nicht der Ressourcenbeschaffung, auf deren Basis sich die kapitalistische Produktion entwickeln konnte, wie im europäischen Kolonialismus. Solche Raubzüge hatte Russland mit seinen:gewaltigen eigenen Naturreichtümern nicht nötig. Für Russland stand, paradox aber wahr, eher die Frage, wie nutzen – wie effektiv oder ob überhaupt nutzen, wenn doch alles im Überfluss da ist. Noch heute kann man von Russen, wenn es um das Problem begrenzter Ressourcen geht, die erstaunte Frage hören: ‚Kakaja problema? U nas wsjo jest!‘ Wo ist das Problem? Wir haben doch alles! Der natürliche Reichtum in der großen Weite des Landes dürfte sogar eine Ursache für die russische Variante des laissé faire oder manjàna sein.

Russischer Kolonialismus diente einem anderen Zweck als dem der ursprünglichen Akkumulation von Kapital. Er diente vornehmlich der Sicherung der Außengrenzen eines durch keine natürlichen Grenzen geschützten Raumes. Russische Kolonien wurden nicht geplündert, sie wurden vom Zentrum aus entwickelt, alphabetisiert, industrialisiert, in die Moderne geschickt – mit einem Wort subventioniert und integriert. Sie wurden als Bollwerk gegen Bedrohungen von außen, gewissermaßen als cordon sanitaire ausgebaut. Im Kampf um Einfluss in der systemgeteilten Welt weitete die Sowjetunion diese Politik auf Unterstützung und generelle Subventionierung der Länder der Befreiungsbewegungen aus.

Nicht zuletzt diese Politik der Subventionierung der Außenbezirke, der Republiken und der Befreiungsbewegungen, einschließlich des aus dem sozialistischen Anspruch resultierenden hochgefahrenen Sozial-Apparats, das sei hier kurz angemerkt, dürfte ein Grund dafür sein, warum die Sowjetunion kollabiert ist und die Nachfolgestaaten ins Nichts stürzten.

Nehmen wir als ein kleines Beispiel den Absturz der Mongolei: Als sozialistischer Satellitenstaat der Sowjetunion vom großen Bruder mit großzügigen Subventionen gefördert, konnte die Mongolei sich innerhalb von zwei Generationen aus einem unterentwickelten Katastrophengebiet in eine sozial gesicherte Gesellschaft verwandeln, konnte ein Netz von Brunnen in der Steppe anlegen, Bezirkszentren mit allseitigen Dienstleistungen für die nomadisch darum herum tätige Bevölkerung entwickeln usw. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also mit dem Ausbleiben der Subventionen brach die gesamte Infrastruktur buchstäblich von einem Tag auf den anderen zusammen.

 

Heute

Russland ist heute immer noch der größte Flächenstaat der Erde. Aber Russland ist mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Selbsterhaltung geschrumpft. Das gilt übrigens, allen westlichen Behauptungen zum Trotz, bis hin zu den Vorgängen um die Ukraine heute.
Man erinnere sich: Die Ablösung der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich war erklärtes Ziel der USA/EU seit 1990/91, von Zbigniew Brzezinski und anderen immer wieder formuliert – um Russland daran zu hindern, wieder ein Imperium zu werden und auf den Stand eines Ressourcenlieferanten zu reduzieren. Durch Michail Gorbatschows Öffnung, ohne Widerstand dann unter Boris Jelzin schien eine solche Politik möglich.

Im Gegensatz zu solchen Erwartungen hat sich Russland unter Wladimir Putin Schritt für Schritt auf den Weg der Selbsterhaltung, der Wiedererlangung seiner Souveränität bewegt.

Die wichtigsten Schritte waren und sind:

• Die Reorganisation des Staates, der mit der Privatisierung unter Jelzin im Chaos des Kampfes um die besten Anteile am Volksvermögen versunken war. Putin trat mit der Ansage an, er wolle eine Diktatur des Gesetzes schaffen. Er veranlasste die Oligarchen, ihren Krieg um die Filetstücke des Volksvermögens einzustellen, wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, sich ihrer sozialen Verantwortung zu stellen. Er kündigte die Politik der Kreditnahme gegenüber Weltbank und IWF, er sorgte für die Rückzahlung der aus der Sowjetzeit überständigen Altschulden, er legte die Hand des Staates wieder auf die Ressourcen des Landes.

• Die Zurückweisung der Ost-Kolonisation durch die NATO- und EU-Erweiterungen. Die wichtigsten Stationen dieser Zurückweisung waren 2008 der sog. Georgische Krieg, in dem Russland deutlich machte, dass es eine Ausweitung der NATO auf Georgien und die Ukraine nicht hinzunehmen bereit sei. Aktuell eskaliert diese Konfrontation mit NATO und EU in dem Krieg um die Ukraine. Der Ausgang dieser Konfrontation ist offen und soll hier nicht weiter kommentiert werden. Nur so viel: Entgegen allen anderen Darstellungen ist Russland nicht der Angreifer, sondern ringt um seinen Bestand.

• Die Wiedereinbindung ins Netz der eurasischen Staaten im Rahmen der Projektierung der Eurasischen Union seit 2008, die Entwicklung neuer Bündnisbeziehungen im Rahmen der zentralasiatischen Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) – dieses Mal jedoch ohne Subventionen, sondern auf Augenhöhe gleichberechtigter Staaten.

• Und schließlich jetzt Russlands Eingreifen in Syrien, wo es von russischer Seite nicht um Eroberung, nicht um „Regime change“ geht, um Herstellung von Stabilität und in deren Rahmen um den Schutz vitaler russischer Interessen.

Kurz, seit der Antrittsrede Putins im Deutschen Bundestag 2001, bei der er die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur in den Mittelpunkt stellte, orientiert Russland auf Selbstentwicklung und Wiederherstellung seiner Souveränität im Rahmen einer globalen Friedensordnung. Putin, auch Medwedew hat das Angebot zur Schaffung eines globalen Sicherheitssystems seit 1990/91 beständig wiederholt. Aggressive Eroberungs- oder Interventionspolitik, wie sie die USA betreiben, widerspricht Russlands Selbsterhaltungsinteresse und wurde – speziell von Putin – zu wiederholten Malen in öffentlichen Foren (u.a. auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, bei UN-Vollversammlungen, auf dem russischen Waldai-Forum) scharf kritisiert – ohne dass dies die US-Politik und auch die der Europäischen Union zu ändern vermocht hätte, die nach wie vor versuchen, Russland unter Kontrolle zu nehmen.

 

Warum die Angst vor Russland?

Das Unverständnis des Westens gegenüber dem Sicherheitsbedürfnis Russlands gibt Anlass zu einer zusammenfassenden Schlussbetrachtung, welche die Ursachen für die westliche Grundhaltung gegenüber Russland beleuchten kann: Russlands Geschichte und Gegenwart ruht auf einer dreifach gestaffelten Möglichkeit zur Autarkie; deren drei Elemente sind:

• Die materiellen Ressourcen des Raumes (Öl, Gas, Kohle, die Weite des Territoriums usw.)

• Eine sozio-ökonomisch, mental und sogar topographisch ins Land eingeschriebene Tradition gemeinschaftlicher Selbstversorgung. Als „familiäre Zusatzwirtschaft“, wie es im Russischen heißt, ist die Fähigkeit der russländischen Bevölkerung zur Selbstversorgung, konkret als Bewirtschaftung von Hofgarten oder Datscha, oder auch einer Dorfeinheit wichtiger Bestandteil des Bruttosozialproduktes des Landes. In Krisenzeiten ist sie ein Puffer, der geeignet ist die größte Not abzufedern.

• Die Völkervielfalt. Sie verbindet staatlichen Zentralismus mit hohen Graden politischer und kultureller Autonomie zu einem flexiblen Organismus.

Diese Struktur, auch wenn sie heute kapitalisiert und privatisiert wird, gibt dem Land ein hohes Maß an Unabhängigkeit, das resistent gegen Eroberungsversuche des Westens war und ist. Die daraus resultierende Unkontrollierbarkeit macht Russland immer wieder zum Angstgegner des Westens – die materiellen und menschlichen Ressourcen zugleich zum Objekt der Begierde. Hier liegen die Ursachen für eine widersprüchliche und gefährliche Politik des Westens gegenüber Russland, die immer wieder neue Ansätze macht Russland zu erobern, zu kolonisieren – und immer wieder scheitert.

Demgegenüber steht heute ein Russland, das im Interesse der Stärkung der eigenen Souveränität die Kooperation mit Nachbarn und weiter entfernten Ländern sucht, nicht deren Einverleibung und Unterwerfung. Russland ist unter diesen Bedingungen heute der stabilisierende Faktor, die impulsierende Kraft einer im Entstehen begriffenen pluralen Welt. Die ist nicht mit einer sozialistischen Utopie zu verwechseln, aber es zielt auf eine globale Kooperation von Regionalmächten, statt einer hegemonialen Ordnung oder gar Diktatur. Wenn Russland sich nicht provozieren lässt, könnte ein solches Ziel Realität werden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Für die, die Russland besser verstehen wollen:
Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009 (über den Autor)