Erinnern wir uns: Die Ukraine wurde von der EU im Herbst 2013 in die Alternative des Entweder-Oder getrieben: entweder mit der eurasischen oder mit der Europäischen Union. Das Ergebnis liegt offen vor aller Augen: Spaltung der Ukraine in drei Teile: Kiew, Osten und die an Russland übergegangene Krim. Ein weiterer Zerfall des Landes droht, wenn nicht endlich der Dialog zwischen den nach Autonomie strebenden östlichen Gebieten Donezk und Lugansk, sowie anderer nach mehr lokaler Selbstverwaltung verlangender Teile der ukrainischen Bevölkerung aufgenommen wird, wie in den Minsker Vereinbarungen beschlossen, wenn stattdessen die Bestrebungen nach Autonomie von Kiew mit dessen „Anti-Terror-Aktion“ beantwortet werden.

Um jedes Missverständnis auszuschließen: Hier ist nicht die Rede vom „Normandieformat“, bei dem Vertreter Russlands, Frankreichs, Deutschlands und Kiews miteinander ü b e r die Probleme in Donezk und Lugansk sprechen, nicht die Rede nicht von Gesprächen zwischen Washington und Kiew, einschließlich der inzwischen im Lande tätigen US-Militärberater, die nicht nur über den Kopf der Donezker und Lugansker, sondern auch noch über den der EU-Vertreter hinweg reden. Die Rede ist auch nicht von „Arbeitsgruppen“, in welche die Klärung von Einzelfragen des zweiten Minsker Abkommens auf untere nicht entscheidungsbefugte Ebenen abgeschoben wird.

Hier ist vom direkten Dialog zwischen Vertretern der nach Autonomie strebenden Gebiete und Vertretern der Kiewer Regierung die Rede. Dieser Dialog kann kein einmaliger Akt sein, er ist ein Weg der schrittweisen Annäherung, eingebunden in den Prozess zur Entwicklung einer Verfassungsreform. Noch einmal: Der Beschluss zu diesem Dialog ist das Kernstück der Vereinbarungen von Minsk II.

Erinnern wir uns weiter: Nicht eine „Annexion“ der Krim ging den Unruhen in der Ukraine voraus, und nicht von Russland wurde der gewählte Präsident der Ukraine gestürzt. Sein Sturz war das Ergebnis eines von den USA, der EU und speziell auch von Deutschland aktiv betriebenen Regimechanges. Er wurde mit dem Ziel betrieben, die Ukraine aus dem Einflussbereich der entstehenden Eurasischen Union zu lösen und sie endgültig in westliche „Wertesystem“ einzubinden. Die Aufnahme der Krim in die russische Föderation war nicht die Ursache, sondern die Folge dieser Ereignisse und sie geschah im Übrigen nicht etwa mit Gewalt und gegen den Willen der dort lebenden Bevölkerung, sondern auf der Grundlage eines von der Bevölkerung mehrheitlich getragenen Referendums – auch wenn die Eile des Verfahrens kritische Fragen zulässt.

Und erinnern wir uns schließlich, das nicht die nach Autonomie strebenden Gebiete der östlichen Ukraine Geschütze, Panzer oder Flugzeuge auf Kiew oder andere Städte im Westen der Ukraine richteten, sondern die Kiewer Verantwortlichen die Forderungen nach Autonomie und Perspektiven einer föderalen Ordnung des Landes mit der Bombardierung der zivilen Bevölkerung von Donezk und Lugansk beantworteten – und immer noch beantworten.

Werfen wir am Ende noch einen Blick auf die absolut desolaten Bedingungen, unter denen die Bevölkerung des Landes – im Westen, wie im Osten – jetzt lebt. Statt die ausbeuterische Willkür oligarchischer Cliquen abgeschüttelt zu haben, sehen sich die Menschen jetzt deren Legalisierung als Helfer und Nutznießer der vom Westen diktierten Austeritätsprogramme ausgesetzt.

Vor dem Hintergrund all dieser Tatsachen sind die neuesten Auftritte westlicher Akteure – des NATO-Sekretärs Jens Stoltenberg, der Russland droht, dass die NATO die Ukraine „beschützen“ werde, auch wenn sie nicht Mitglied sei, Frank-Walter Steinmeiers, der bei seinem Besuch in Kiew die „Konfliktparteien“ zu Verhandlungen und Einhaltung des Minsker Abkommens aufruft – er meint Moskau und Kiew, nicht etwa Kiew und Donezk/Lugansk, sind Petro Poroschenkos neuerliche Erklärungen, er sei bereit den Kriegszustand auszurufen, wenn Russland nicht von seinen Aggressionen Abstand nehme – blanke Provokationen.

Möglicherweise sind diese Auftritte aber auch Ausdruck ebenso blanker Ratlosigkeit seitens der gegenwärtigen Kiewer Regierenden und ihrer Schutzmächte angesichts des bevorstehenden Staatsbankrotts der Ukraine und weiterer möglicher Revolten im Lande, der auch durch neue Milliardengeschenke des IWF, der EU und Deutschlands nicht aufzuhalten ist. Für das Vorhandensein einer solchen Ratlosigkeit sprechen die inhaltlosen Verlautbarungen vom EU-Treffen in Riga zur „östlichen Partnerschaft“ vor einer Woche, in denen der Ukraine, in vollem Gegensatz zu dem martialischen Auftreten Stoltenbergs, selbst der freie Visazugang zur EU verweigert wird, ganz zu schweigen davon, dass ihr ein NATO-Beitritt in Aussicht gestellt würde.

Nicht weniger ratlos kommen die Botschaften vom G7-Finanzgipfel in Dresden daher, wo IWF-Chefin Christine Lagarde mit Blick auf Griechenland erklärt, der Fonds habe „Regeln“, an die man sich halten müsse. Das gilt aber ganz offensichtlich nicht für die Ukraine. Die Regeln sind, wie man sieht, doch dehnbar: Hier sind die Schulden nicht zu stunden, so dass man sogar mit einem „Grexit“ rechnen müsse, dort werden Milliarden in ein offenes Loch gepumpt, von denen klar ist, das sie nicht zurückkommen werden, nur um die Ukraine im westlichen Einflussbereich zu halten.
Dass diese Politik nicht zum Frieden, sondern ins Chaos führt, ist unübersehbar.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de Freitag, 29. Mai 2015