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Ukraine: Die andere Wahl

Ukraine:

Die andere Wahl

Am Sonntag, dem 2.November 2014 wurde im Osten der Ukraine gewählt, nachdem eine Woche vorher die von Kiew durchgeführte Westwahl über die Bühne gegangen ist. Viele Aspekte sind zu beleuchten, um eine Vorstellung zu gewinnen, worauf die ganze Situation hinausläuft.  Betrachten wir zunächst die Ergebnisse, bevor wir die Hintergründe  sortieren.

Obwohl weiter geschossen wurde, wurde gewählt. Das von den Veranstaltern der Wahl anvisierte Ziel wurde erreicht: Die Führungsspitzen der bisher nicht anerkannten Volksrepubliken, die Republikchefs Alexander Sachartchenko in Donezk und Igor Plotnizki in Lugansk  sowie ihre Volksräte in ihren bisher informellen, nur aus den Kämpfen hervorgegangenen Funktionen, wurden mit erkennbarem Zuspruch der Bevölkerung bestätigt. Sachartchenko mit  ca. 80%, Plotznizki mit ca. 65%. Auch die Parlamente von Donezk und Lugansk wurden legitimiert. Große Auswahl zwischen Parteien gab es nicht. Nicht alle Parteien durften teilnehmen. Zur Wahl standen keine Programme, sondern Personen. Praktisch diente die Wahl der Festigung der entstandenen Machtstrukturen in den Gebieten Donezk und Lugansk.

Es ist, darf man sagen, eine Legitimation der besonderen Art, nämlich ein Zuspruch durch jene Menschen, die trotz fortdauernder Kämpfe, trotz Bombardierungen, trotz der damit verbundenen Chaotisierung, Brutalisierung und sogar kriminellen Bedrohung des Alltags in ihren Wohnorten Donezk, Lugansk und Umgebung geblieben sind. Nicht wenige sind sogar gerade deswegen geblieben. Mit dieser Abstimmung zeigen sie, dass sie nicht bereit sind, sich dem von Kiew ausgehenden Druck zu beugen. Nicht bei wenigen nahm das am Wahltag die etwas holzschnitzartige Form eines „Widerstandes gegen die Faschisten“ an. Das zeugt nicht unbedingt von viel Differenzierung in der Wahlpropaganda und auch nicht innerhalb Bevölkerung; nichtsdestoweniger kennzeichnet es die Grundmotivation der zu dieser Wahl gehenden Menschen. Eindeutiger könnte das Signal nicht sein. Es zeigt unmissverständlich, wo die Mehrheit der Menschen in diesen beiden Wahlgebieten sich zuhause fühlt – mit Sicherheit NICHT in einer von Kiew dominierten Ukraine. Alles andere ist nicht so eindeutig: „heim nach Russland“, in die Autonomie oder in die Selbstständigkeit.

Die Regierungen von Kiew, den USA, der EU und auch die Deutschlands erklärten, die Wahl störe den  in Minsk begonnenen „Friedensprozess“. Sie lehnen eine Anerkennung des Ergebnisses ab und bestehen weiter auf der Einheit der Ukraine, für die sich Moskau einsetzen müsse. Moskau dagegen erkennt die Wahl als Faktor an, der dem Friedensprozess und der Stabilität dienen könne.

Damit wäre eigentlich schon das Wichtigste gesagt: Die generelle Konfrontation zwischen den Atlantikern und Russland wird fortgeschrieben. Einiges muss aber noch nachgezeichnet werden, wenn man verstehen will, was sich aus der Doppelwahl, jener am 25.10.2014 und dieser am 2.11. 2014 ergibt.

 

Verstoß gegen den Frieden?

Wenn von Störung des Friedensprozesses die Rede ist, der in Minsk vereinbart worden sei, dann muss zunächst festgestellt werden, dass die in Minsk vereinbarte Waffenruhe bisher von keiner der beiden Seiten eingehalten wurde. Der in Minsk vereinbarte Puffer zwischen den Fronten existiert faktisch nicht, zumal die ukrainische Seite ihre Unterschrift zu diesem konkreten Punkt wieder zurückgezogen hat.  Die Zahl der täglichen Toten ist in den letzten Tagen vor der  Wahl beständig angewachsen. Allein in der letzten Woche wurde sie von den UN mit 300 angegeben. Es ist offensichtlich, dass der Druck Kiews auf die Regionen Donezk und Lugansk in den Tagen kurz vor der Wahl am 2. November erheblich zugenommen hat.

Politisch hat die Westwahl klar gemacht, das Pjotr Poroschenkos „Friedensplan“ das Papier nicht mehr wert ist, auf dem er steht, dass Arsenij Jazenjuks antirussische und offen auf Fortsetzung des Bügerkriegs orientierte  Politik, der Poroschenko sich wird beugen müssen, keineswegs auf Dialog mit den aufständischen Regionen zielt, sondern auf gewaltsame Wiedereingliederung und Unterordnung der Aufständischen. Die Ankündigung aus dem Verteidigungsministerium in Kiew, die Teilnahme an den Wahlen im Donbas vom 2.11. strafrechtlich verfolgen zu wollen, ist nur der aktuellste Ausdruck dieser Linie. Vor diesem Hintergrund sind die Wahlen – wie sollte es anders sein – ein klare Aktion der Gegenwehr aus dem Donbas.

 

Nicht demokratisch…?

Wenn davon die Rede ist, dass die Wahl nicht demokratisch gewesen sei, dann ist dem zweifellos zuzustimmen. Es gab nur zwei Parteien,  die „Volksrepublik Donezk“ von Sachartschenko  und die „Bewegung für den Frieden“ von Plotnizki. Andere waren nicht zugelassen, auch die kommunistische Partei nicht. Zwischen Personen gab es allerdings Wahlmöglichkeiten. Die Wahlen hatten die Funktion, die in den Kämpfen des letzten halben Jahres gewachsene Ordnung zu festigen, das Chaos widerstreitender Kompetenzen einzuschränken, willkürlich handelnde Feldkommandeure zu disziplinieren usw. Einige Nachrichten aus den letzten Wochen haben ein ziemlich chaotisches Bild der Zustände entstehen lassen, die unter den Bedingungen der sich zersetzenden ukrainischen und einer noch nicht wieder legitimierten neuen Staatlichkeit entstanden sind. Etwa das über You tube verbreitete Video von einer Sitzung des „Volksgerichtshofs“, bei dem unter Missachtung menschenrechtlicher Maßstäbe Todesurteile per Akklamation des teilnehmenden Publikums bestätigt werden.

Unter solchen Bedingungen ging es bei dieser Wahl eindeutig nicht um Demokratie, schon gar nicht um formale, sondern um die Wiederherstellung von Mindestregeln einer zivilen Ordnung. Nicht als Parteien anerkannt wurden Gruppen, nicht auf die Listen gelassen wurden Personen, bei denen die Organisatoren offenbar davon ausgingen, dass sie bei der Wahl zu der gewünschten Strukturierung von zivilen Verhaltensregeln nichts hätten beitragen können.

Darin unterscheiden sich die Ost-Wahlen in ihrer Grundausrichtung diametral von den vorhergehenden  von Kiew durchgeführten, bei denen die diversen nationalistischen Parteien den berüchtigten Milizenführern und offenen Faschisten reihenweise ihre Listen geöffnet und so den Einzug von Nationalisten und Faschisten ins Parlament ermöglicht haben. Die Ost-Wahl  diente im Gegensatz dazu, eine zivilisierende Konsolidierung erst einmal wieder zu ermöglichen. Sie dient dem Versuch eine Staatenbildung zu fördern, in erklärter Abkehr vom Bürgerkriegschaos. Paradox gefasst, kann man sagen: Demokratisches Reinholen nationalistischer bis faschistischer Kräfte ins Parlament bei der Kiewer Wahl, autoritäres Ausgrenzen militaristischer, nationalistischer oder auch einfach radikalistischer Abenteurer bei der Wahl im Osten – polarer könnten die Grundimpulse dieser beiden Wahlen kaum noch sein.

Und noch ein weiteres: Hätten die Ost-Wahlen, wie in Minsk vereinbart, am 7. November auf der Grundlage ukrainischer Gesetze, konkret des von Poroschenko angekündigten Gesetzes über die Einrichtung einer Sonderzone für Donezk und Lugansk, demokratischer sein können? Ja, hätten sie, wenn es diese Sonderzone gäbe.  Aber es gibt sie nicht! Das angekündigte Gesetz wurde im Parlament noch nicht verabschiedet. Was es gibt, ist eine Zentralmacht in Kiew, die ihren Herrschaftsanspruch mit Gewalt durchsetzen will, nach der Wahl vom 25.11. mehr als zuvor. Demgegenüber ist jede lokale Ordnungsmacht, die die Interessen der Menschen vor Ort zu organisieren versucht, für diese Menschen ganz offensichtlich das kleinere Übel, selbst wenn sie wie in den gegenwärtigen Donezker und Lugansker Republiken mit ursprünglichen Grobheiten einer noch willkürlich brodelnden entstaatlichten Realität belastet ist.

 

Ideologische Verhärtungen?

Diese Tatsachen führen am Ende zu der Frage, wofür diese Volksrepubliken eigentlich langfristig stehen. Denken wir kurz an die Vorgänge dieses Jahres zurück: Volksabstimmung für eine Autonomie des Donbas im Mai dieses Jahres, nachdem die Krim sich im Protest gegen den Versuch einer gewaltsamen Ukrainisierung durch die Umsturzregierung aus der Ukraine gelöst hatte. Sehr schnell trat neben die Forderung nach Autonomie die weiter gehende nach Anlehnung an Russland und schon im Juni die nach Eigenstaatlichkeit von „Novorossija“.  Russische Nationalisten mischten sich aktiv ein.

Noch im Juli jedoch fanden Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Städten des Südens, des Ostens, sogar einzelne aus Kiew und aus dem Karpatischen Teil der Ukraine auf einer Konferenz in Jalta zusammen, wo sie nach intensiver Auseinandersetzung ein gemeinsames „Manifest“ zu ihren  Zielen verabschiedeten. Es war ausdrücklich auf die ganze Ukraine gerichtet. Darin definierten sie die Ukraine als „ein Territorium zwischen der Europäischen Union und Russland mit einer starken christlichen Tradition (vor allem orthodox), besiedelt von verschiedenen Völkern (Ukrainern, Russen, Weißrussen, Moldawiern, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Polen, Juden, Armeniern, Griechen, Tataren, Rusinen, Huzulen und anderen),  das eine Jahrhunderte alte Tradition der Selbstverwaltung des Volkes und des politischen Kampfes für seine Freiheit hat.“ Und ausdrücklich hieß es auf die selbst gestellt Frage, ob der Kampf im Südosten Separatismus sei: „Nein, das Territorium des Kampfes ist die ganze Ukraine. Die Aufständischen des Südostens (Neurussland) strecken die Hand den Brüdern und den Schwestern in allen Regionen der Ukraine mit dem Aufruf entgegen: «Steht auf gegen den gemeinsamen Feind! Wir werden die neue, freie, sozial verantwortliche Volksmacht auf dem ganzen Territorium der Ukraine und Neurussland´s schaffen.“

Gemeinsamer Grundtenor war: Protest gegen oligarchische Willkür, Forderung nach  rätedemokratischer Selbstorganisation und Widerstand gegen die von Kiew ausgehende Absicht der gewaltsamen Ukrainisierung, eine basisdemokratische Vision  ausgehend vom  Gemeinderat über autonome Regionen bis in eine Föderalisierung des Landes. Das Ziel: „Aufbau einer gerechten sozialen Volksrepublik ohne Oligarchen und ohne korrumpierte Bürokratie auf dem Territorium der Ukraine.“

Vom 10. Juli des Jahres 2014 bis zum 2. November 2014 verengte sich der Tenor der Befreiungsbewegung unter dem sich eskalierenden  Feuer des Bürgerkrieges erkennbar auf zu erreichende Kriegsziele, Kampfhandlungen und auf die Organisation des Überlebens in den umkämpfen Gebieten.

Die Ost-Wahlen vom zurückliegenden Wochenende sind der Versuch der Aktivisten der Donezker und Lugansker Bewegung sich aus dieser Verengung wieder zu befreien. Die Frage ist, welches der ursprünglichen Ziele – lokale Selbstorganisation, regionale Autonomie, Föderalisierung, Kampf den Oligarchen  – unter dem Druck der Verhältnisse auf der Strecke bleibt.

Der Druck der Verhältnisse, das muss gesagt werden, hängt nicht nur von Kiew und nicht nur von dessen westlichen Unterstützern ab, sondern auch davon, wie sich Russland verhält. Nach dem gegenwärtigen Verlauf der Dinge sieht es so aus, als ob Russland sich die Republiken  Donezk und Lugansk als „eingefrorene Konflikte“ vorstellen kann. Das ist natürlich keine Lösung auf Dauer. Aber es wäre, vorausgesetzt Kiew und besonders seine kriegswütigen Nationalisten und auch der Westen ließe das geschehen, für die Bevölkerung der Ukraine – und zwar in Ost wie in West – zur Zeit vermutlich die annehmbarste Entwicklung des Konfliktes, bei der die Menschen erst einmal dazu übergehen könnten, ihren Alltag zu reorganisieren – und dann vielleicht auch wieder miteinander  zu reden.

Die im Anfangsstadium der Autonomiebewegung angedachten radikalen Perspektiven einer rätedemokratisch organisierten autonomen Gesellschaft werden in einem solchen Klima allerdings vermutlich erstarren und eher vom Reif einer Sowjet-Nostalgie überzogen werden, denn verengt haben sich auch die Perspektiven in der Donezker und Lugansker Führung. Beispielhaft dafür sind die Vorstellungen von Boris Litwinow, ehemaliger Funktionär der Kommunistischen Partei der Ukraine, jetzt Vorsitzender des Obersten Sowjet der Donezker Volksrepublik und verantwortlich für die“ zivile Gestaltung der zukünftigen Lebens“. Er stellt sich für die Zukunft eine „kollektivistische“ Gesellschaft auf der Grundlage von Staatseigentum vor, das klingt wie ein Revival sowjetischer Strukturen – nur aufgelockert durch die Zulassung von Privateigentum, das er „selbstverständlich“ gut findet. Mit solchen Vorstellungen vom Staat, wenn sie nicht noch korrigiert werden, reduziert sich der revolutionäre Impuls der Republiken Donezk und Lugansk dann doch auf Separatismus, d.h. auf eine Kopie des Großen russischen Bruders im Kleinformat. Dieser Zustand könnte als Status quo lange Zeit konserviert werden, länger jedenfalls als die revolutionäre Unruhe des anfänglichen Maidan und Anti-Maidan. Man mag es nicht mögen, aber auf so eine „eingefrorene“ Situation  könnten sich vermutlich sogar die großen „Player“ einigen, vorausgesetzt es ginge um eine Beilegung der ukrainischen Konflikte und nicht um andere Ziele, für welche die Ukraine nur das Aufmarschgebiet ist.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

04.November 2014

 

Ukraine: Westwahl erfolgt – Problem gelöst?

Die vorgezogenen Wahlen zum Kiewer Parlament vom 26.10.2014 lassen ein interessantes Dejà vue  aufkommen. Erinnern wir uns: 1991, die Sowjetunion wurde aufgelöst. Francis Fukuyama schrieb, das Ende der Geschichte sei gekommen, Demokratie habe sich als Ordnungsmodell endgültig durchgesetzt. In ähnlicher Manier erklären die westlichen Regierenden und die regierungstreuen Medien heute, in den soeben in der Ukraine durchgeführten Wahlen habe die Ukraine und mit ihr der Westen heute die „Abkehr vom autoritären russischen Modell besiegelt“.

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Ukraine nach der Wahl: Oligarch Poroschenko – alles wie erwartet?

Gleich am Tag nach der Wahl gingen ukrainische Truppen gegen die Donezker Republik vor. Poroschenko bittet die Amerikaner um Beistand. Im Übrigen will er als Erstes mit Wladimir Putin sprechen.... Gehen wir also einem Ende der ukrainischen Unruhen entgegen? Sehr unwahrscheinlich. Es gibt da einige Aspekte, die einer Stabilisierung, wie Poroschenko sie sich wünscht, entgegenstehen. Der Reihe nach.

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Stimmabgabe oder Selbstbestimmung?

Schafft zwei, drei viele Allmenden!

                                                                                                                            Bericht vom 31. Treffen am 13.10.2013

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Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

das Thema „Stimmabgabe oder Selbstbestimmung?“ mag den einen oder die andere provozieren. Es kann natürlich nicht um ein Entweder-Oder gehen. Die polemische Polarisierung vermag aber vielleicht auf einen Blick deutlich zu machen, wo heute das Problem liegt – eben darin, daß Zusammengehöriges im realen Geschehen unserer heutigen politischen Wirklichkeit auseinandergerissen wird. Tatsache ist ja, daß die Wahlen bei uns heute zunehmend gleichbedeutend damit sind, daß wir Wähler unsere Stimme abgeben – und dann ohne weitere Einflußmöglichkeiten mit ansehen müssen, wie die „politische Klasse“ sich die Wahlergebnisse zu den gerade passenden Koalitionen zurechtschiebt. Wobei für die, ihrer Stimme nicht mehr mächtigen, Wählerinnen und Wähler nicht einmal mehr deutlich wird, nach welchen Kriterien hinter verschlossenen Türen was von wem mit wem verhandelt wird. Was davon an die Öffentlichkeit dringt, ist Filterware pur!

    Mit Selbstbestimmung eines mündigen Bürgers hat dieser Vorgang jedenfalls nicht mehr viel  gemein. Selbstbestimmung, Entwicklung eigener Initiative, Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse in einem für den einzelnen Menschen überschaubaren Raum, liegt offenbar auf einem anderen Feld und den Zusammenhang zur herrschenden repräsentativen Demokratie herzustellen, ist schwierig.

    Aber genau darum geht es. Wir wollen das Kind, das nach so viel Mühen zur Welt gekommen ist, also die heute praktizierten Regularien der repräsentativen Demokratie, auf unserem Weg zur Selbstbestimmung ja nicht mit dem Bade ausschütten. Dafür sind zu viele Menschen für das Wahlrecht gestorben. Und dafür ist allzu deutlich, daß viele Menschen auf unserem Globus, aller Modernität und aller Vernetzung zum Trotz, immer noch nicht das Recht haben, sich ihre VertreterInnen frei zu wählen. Oder sie haben zwar das Recht, aber nicht die materiellen Voraussetzungen ihr Recht praktisch wirklich wahrzunehmen. Was nützen schließlich formale Rechte, um es krass zu formulieren, wenn man z.B. die Wege zum Wahllokal nicht bezahlen kann.

    Also kurz, es geht nicht darum, repräsentative Demokratie gegen Formen direkter Demokratie oder unmittelbarer Selbstbestimmung auszuspielen. Es geht darum, in welchen Formen Selbstbestimmung  als Weiterentwicklung des demokratischen Gedankens gestärkt werden kann, und zwar nicht Selbstbestimmung in individueller Isolation, sondern in kooperativer Gemeinschaft.

Schaut man so in die Fragestellung, dann wird sehr schnell deutlich, worum es im Kern geht, und zwar sowohl in den Formen repräsentativer wie auch direkter Demokratie bis hin zur unmittelbaren Selbstbestimmung des Einzelnen: Es geht um die Motivation, genauer, die Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Diese Tatsache ist so banal, daß sie immer wieder als selbstverständlich vorausgesetzt oder gar vergessen wird.

   Ebenso banal ist jedoch auch die Tatsache, daß die aktivste Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen wie auch ganzer Gemeinschaften nichts fruchtet, wenn der stille, soll heißen, der unhinterfragte gesellschaftliche Konsens darin besteht, daß die Verantwortung für die öffentlichen Belange bis hin zur persönlichen Wohlfahrt der Bürger und Bürgerinnen allein bei „dem Staat“ gesehen wird. Demokratie wächst von unten, heißt das, aber damit sie sich frei entwickeln kann, braucht es einen zwischen den Individuen und gesellschaftlichen Gruppen ausgehandelten Konsens über Wert, Gültigkeit und Funktionsweise einer strikten Subsidiarität, d.h., einer politisch-rechtlichen Struktur, sei sie wie immer im Detail gegliedert, in der die oberen Organe im Interesse der Verwirklichung der Menschenrechte Diener der unteren sind. Motto, zugespitzt formuliert: Willensbildung und konkrete Gestaltung geschieht an der unmittelbaren Lebensbasis entlang tatsächlichen Bedarfs. Nach „oben“ wandern nur die Aufträge, die vor Ort nicht umgesetzt werden können. Exekutivkompetenzen nehmen ab, je weiter die jeweiligen Organe von der Basis entfernt sind und verwandeln sich in demselben Maße in Maßnahmen der Unterstützung und Beratung.

Aber wo gibt es heute einen solchen Konsens? Nicht in Deutschland, nicht in der Europäischen Union.  Nicht in den USA und auch sonst nirgends in der Welt. Ein solcher Konsens ist heute immer noch Utopie. Mehr noch, es sieht zur Zeit sogar so aus, als ob das bereits erreichte Niveau der demokratischen Kultur im Zuge der globalen Krise rückläufig sei – auch  in der Europäischen Union, auch in Deutschland. Die weltweite Migration führt zudem dazu, daß bestehende demokratische Strukturen unter starken Veränderungsdruck kommen. Um so unabweisbarer wächst die Herausforderung sich nicht nur für den Erhalt demokratischer Strukturen, sondern für deren Weiterentwicklung von der Basis her einzusetzen.

Für das nächste Mal haben wir deshalb noch einmal die „Charta für ein Europa der Regionen. Wege der Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage“ auf die Tagesordnung gesetzt, die wir schon einmal im Zuge ihrer Erarbeitung 2012 kurz besprochen haben. Inzwischen liegt die Charta öffentlich vor, nachzulesen auf der Website der „Initiative Demokratiekonferenzen“ unter  http://www.demokratiekonferenz.org/charta. Zu empfehlen ist rückgreifend auch der Bericht zum 18. Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“ vom 10.06.2012 unter der Überschrift „Europa der Regionen“ (einzusehen unter: www.kai-ehlers.de / Forum integrierte Gesellschaft).

    In der „Charta“ wird der Versuch unternommen, den Entwurf einer subsidiären Gesellschaft der Selbstbestimmung in kooperativer Gemeinschaft zu entwerfen. Für die Zeit vom 14. – 16.02.2014 lädt die „Initiative Demokratiekonferenzen“ unter dem Thema „Europa der Regionen“ VertreterInnen von Initiativen, Gruppen und auch Parteien, die auf dem Feld der Demokratisierung aktiv sind, zu Beratungen über mögliche gemeinsame Alternativen im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament und darüber hinaus ein.

Termin für das kommende Treffen:

Sonnabend, d. 16.11.2013 um 16.00 Uhr in der Jurte,

(Anmeldung)

 Im Namen des „Forums integrierte Gesellschaft“,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner 


Rußland: Zwischentöne zur Wahl

Rußland hat gewählt. Eine neue Duma wird zusammentreten. In ihr wird die „Partei der Macht“, Einheitliches Rußland, die Partei Medwedews und Putins mit 238 von 450 Sitzen zwar noch die absolute Mehrheit haben. Ein Weiter-So auf einem von einem willigen Parlament abgestützten Tandem, auf dem Medwedew und Putin nach Belieben die Plätze tauschen, wird es dennoch nicht geben.

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Themenheft 15/16: Wofür steht Russland? Wohin geht es?

THEMENHEFT 15/16:
Wofür steht Russland? Wohin geht es?

(zweite, korrigierte Auflage)

Reform oder Kriegserklärung gegen das eigene Volk? Anatomie der neo-liberalen Modernisierung am Beispiel Russlands

Modelle einer anderen Modernisierung; Ansätze für Alternativen in Russland und Deutschland

Erweitertes Tagebuch einer Bestandsaufnahme:  Sommer 2004

Aus dem Inhalt:

– Eindrücke nach der Wahl.
– Putins Sozialpolitik: Exemplarische Angriffe auf den Fürsorgestaat.
– Prinzipielles im Vergleich: Funktionswandel des Staates – Vom Sozialstaat zum präventiven Sicherheitsstaat?
– Kritiken, Proteste, neuer Untergrund? Rechte und linke Anti-Globalisierer.
– Von der Not zur Tugend? – Selbstversorgung, Selbstverwaltung, Kooperativen.
– Impulsgeber Russland: Entwicklungsland neuen Typs.
– An der Wolga – alles anders? Globale Dimension der Modernisierung.
– Generelle Alternativen für eine andere Modernisierung über Russland hinaus: Ziele, Forderungen, neue Formen des Widerstands.

Anhang:

– Bücher von Kai Ehlers zu Russland
– Über den Autor