Schlagwort: Theorie

Revolution oder Revolte (jetzt auf deutsch)

Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie Du mit Deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semi-kapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie Du ihn nennen würdest bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die ‚Verdammten dieser Erde‘ heute eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland in dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?

Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht Deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun. Dieser Mangel ergibt sich aus objektiven Bedingungen, nicht aus unseren politischen Überzeugungen. Gleichgültig, was wir oder Leute wie wir in den 1980er-Jahren dachten: Sozialismus oder Revolution hatten damals keine Chance. Als wir glaubten, dass eine theoretisch hergeleitete Alternative wesentlich sei, hatten wir Unrecht. Alternativen haben in der Vergangenheit niemals Revolutionen hervorgebracht und werden das auch in der Zukunft niemals tun. Im Gegenteil: Nur andauernde Revolutionen bringen reale (nicht falsche, utopische oder imaginierte) Alternativen hervor.
Es ist seltsam, dass Du Russland »semi-kapitalistisch« nennst. Was ist falsch am russischen Kapitalismus? Warum soll ein russischer Oligarch ganz anders sein als ein amerikanischer, deutscher oder peruanischer? Das Weltsystem integriert alle Länder, und es gibt spezifische Nischen für die deutsche verarbeitende Industrie wie für russische, lateinamerikanische oder saudische Ökonomien, die den globalen Kapitalismus mit Rohstoffen und anderen Ressourcen versorgen. Dies macht die Kapitalismen jeweils besonders. Aber dieses Modell der Arbeitsteilung, das im Neoliberalismus entstand, ist nun in einer Krise, die uns über Kriege und Revolutionen in eine andere, sich radikal von der gegenwärtigen unterscheidenden Gesellschaft führen wird.
Der ökonomische Zerfall ist die Ursache der Krisen, die wir rund um uns herum erleben, einschließlich des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der wenig zu tun hat mit Demokratie oder Nationalismus. Trump, Brexit, Nawalny, der Krieg im Donbas und die Kapitulation von Syriza in Griechenland, die unerwarteten Erfolge von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind nur einige weitere Symptome dafür. Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten? Sowohl als auch. Viel hängt davon ab, wie wir entstehende Möglichkeiten nutzen und die Gefahren meistern, die auf uns zukommen.

Kai Ehlers: Zweifellos stehen wir am Beginn einer globalen Krise des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Form. Ich meine auch, dass Russland Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft ist – allerdings auf eine spezifische Weise, die Du als »peripher« bezeichnest, die ich als »hybrid« beschreibe. Wir sind uns auch einig, dass Erscheinungen wie Trump, Brexit, sogar Syrien etc. Symptome einer Entwicklung sind, die uns zu einer völlig anderen Gesellschaft führen wird.
Aber was meinst Du damit, wenn Du sagst, dass viel von unserem Handeln abhängt? Also was nun: Hängt ein Prozess, der objektiv abläuft, dennoch vom subjektiven Eingreifen ab? Wenn Revolutionen nicht von erdachten Alternativen erzeugt werden, sondern von objektiven Prozessen, mehr noch: wenn Alternativen erst von diesen Prozessen erzeugt werden – dann müssen wir klären, wie dies geschieht, was unsere Rolle dabei ist, wer überhaupt dieses »Wir« ist.
Auch was Deine Einschätzung über Krieg und Revolution anbelangt, liegen wir vielleicht nicht auf einer Linie. Muss die globale Erhebung, die wir erwarten, notwendig mit einem globalen Krieg einhergehen? Sie ist sicherlich nicht mit der Französischen, Russischen oder irgendeiner früheren Revolution vergleichbar, die sich von einem Land aus in der Welt ausgebreitet haben. Und ein globaler Krieg ist heute nicht wie der Erste oder Zweite Weltkrieg als Nebeneffekt radikalen sozialen Wandels oder zu dessen Verhinderung führbar. Er würde beide Seiten – Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus etc. ebenso wie Ansätze sozialer Befreiung – in einem einzigen dreckigen Aufwasch zerstören.
Natürlich haben wir heute eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt: lokale Proteste und Revolten, verschiedene Arten des Terrorismus, die von den Härten der Endphase des Kapitalismus hervorgebracht werden. Das ist der aktuelle Prozess, von dem Du sprichst. Aber bisher führt er nicht zu dem einen großen Knall, der einen globalen Revolution oder dem einen globalen Krieg, sondern radikalisiert sich Stufe um Stufe. Und solange dies so ist, kann es nicht unsere Rolle sein, mit aller Kraft Revolten anzuheizen, wie es gerade ein paar vereinzelte Militante, aus deren Sicht Gewalt eine ausreichende Botschaft darstellt, beim G20 in Hamburg versucht haben. Wir müssen Wege und Bilder zeigen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können und wie diese aussehen könnte.
Und daher ist es wichtig, die Widersprüche und Unterschiede zwischen den kapitalistischen Staaten zu sehen, zwischen entwickeltem und peripherem Kapitalismus, zwischen Kulturen, bis hin zu verschiedenen Formen von Widerstand oder möglichen Alternativen für unterschiedliche Völker mit unterschiedlichen sozialen und historischen Hintergründen. Das gilt auch für die gegenwärtige russische Gesellschaft, die von der besonderen sowjetischen Geschichte und Strukturen der Dorfgemeinschaft geprägt ist, auch wenn diese heute vom Kapitalismus überlagert sind.
Ich bin mit Dir einer Meinung, dass Alternativen immer konkret sind. Doch brauchen sie eine Leitidee; keine geschlossene Ideologie, aber Gedanken und Visionen, wie das Leben sein könnte. Um dies auf unser Thema zu beziehen: Die Revolution der heute Ausgestoßenen wird nicht über Revolten oder schlimmstenfalls faschistische Tendenzen hinauskommen, wenn sie sich nicht statt auf bloßen Aufruhr auf Ideen einer humanen Zukunft stützt, die auf überlieferten Werten beruht.

Boris Kagarlitzki: Anscheinend sind wir immer noch auf eine Vorstellung von Revolution fixiert, wie sie der stalinistische »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)« präsentiert. Als wären die Bolschewiki, sagen wir 1916, bereits eine verankerte Kraft gewesen! Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung aber existierten sie tatsächlich nicht. Alternativen, die naheliegend schienen, hatten wenig mit dem zu tun, was dann tatsächlich geschah. Wenige Wochen, bevor Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ihre Kampagnen begannen, gab es sie politisch nicht. Und genau darin war ihr Erfolg begründet. Gegenwärtig haben nur Bewegungen, Anführer, Ideen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, Aussicht auf Erfolg. Alles, was da ist und sichtbar, ist entweder bereits oder wird schnell diskreditiert. Und das hat keine ideologischen Gründe, sondern liegt daran, dass nichts von dem, was innerhalb des Bestehenden unternommen wird, funktionieren kann. Das ist ein objektiver Vorgang. Für mich ist nicht relevant, ob die Leute den Neoliberalismus mögen oder nicht. Tatsächlich mochten sie ihn nie. Aber Privatisierung und Deregulierung kamen, weil sie funktionierten. Nicht für die Mehrheit, aber für die Eliten. Nun aber führt die neoliberale Hegemonie ins Nichts, weil das System seine Potentiale erschöpft hat. Es kann sich einfach nicht mehr reproduzieren, seine Erträge können nicht einmal mehr die herrschenden Klassen zufriedenstellen – und das ist es, was Leute wie Trump oder Nawalny hervorbringt.
Die Ironie heute liegt darin, dass uns nicht die Möglichkeiten fehlen, sondern die Ziele. Die Linke ist zu einer Gemeinschaft liberaler Intellektueller geschrumpft, die sich für Tierrechte, Schwule und Feminismus interessieren (aber nicht für die real existierenden Tiere, homosexuellen Paare oder Frauen aus der Arbeiterklasse). Die Linke hat sich vollständig von der Klassenpolitik entfernt; auch wenn sie sich der Klassenrhetorik bedient, so bleibt diese inhaltsleer. Ironischerweise sind es heute im Westen einige Teile der radikalen Rechten, die der Arbeiterklasse zuhören und – wenn auch verworren und inadäquat – versuchen, deren Alltagsinteressen zu vertreten.
In Russland ist im Moment die radikale Rechte sehr schwach. Das macht die Sache für die Linke einfacher. Unsere Aufgabe ist: eine neue Linke zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht eher wie die originale alte sein wird. Zurück zu den Vor-60ern, zu den 1920ern. Das klingt etwas nach der hegelianisch-marxistischen Negation der Negation. Aber überlassen wir das den Philosophen, wir müssen praktisch sein.
Wer sind »wir« heute? Als eine politische Kraft existieren wir noch nicht. Wir müssen uns selbst erschaffen. Mit sehr einfachen Gedanken – Gemeinwirtschaft, Regulierung, Wohlfahrtsstaat, demokratische Partizipation. Können wir auf das Erbe der Sowjetunion zurückgreifen? Ja, warum nicht! Nur sollten wir nicht versuchen, die Sowjetunion zurückzubringen. Das wäre unmöglich.
In dem großen Fundus von Ideen und Methoden, den die Linke lange Zeit besessen hat, können wir finden, was wir brauchen. Die aktuelle Ausgestaltung wird von der Situation und den aktuellen Bedürfnissen abhängen. Versuchen wir aber gar nicht erst, etwas Neues zu erfinden. Das hat keinen Sinn. Wir brauchen keine neuen Ideen. Wir haben ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die meisten haben sich als falsch oder nicht praktikabel erwiesen. Wir brauchen Politik. Das heißt nicht, eine Organisation aufzubauen, sondern Leute zu schulen, die in der Lage sind, bei Bedarf sehr schnell Strukturen aus dem Boden zu stampfen. Diese Arbeit wird schon heute und nicht ohne Erfolg geleistet. Die Politik wird kommen, wenn es eine Gelegenheit gibt. In einem Jahr, einem Monat, in einigen Wochen. Oder niemals.

Kai Ehlers: Nichts Neues erfinden: Ja! Schulung: Ja! Aber der Teufel steckt im Detail: was, wie und wann! Zuallererst müssen wir uns vor Augen führen, dass der Glaube an bloße Effizienz und wirtschaftliches Wachstum auf Basis von Konkurrenz die Menschheit in eine Krise geführt hat. Diese kann nur durch Kooperation in selbstgewählten Gemeinschaften überwunden werden, die sich, statt am alltäglichen Krieg aller gegen alle, an der kulturellen Entwicklung jedes menschlichen Wesens und jedes Volkes orientieren. Stichworte: Liebe, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sonst werden künftige Erhebungen nur das wiederholen, was wir heute haben – und zwar in einem schlimmeren Grad. Und was die Frage der sozialen Ertüchtigung anbelangt: lokal wie global, in der Organisation der Arbeit wie des Alltagslebens. Wir müssen Wege suchen, wie wir uns selbst, wie der wachsenden Zahl von Außenseitern körperlich, wie geistig helfen, uns und sich selbst als Individuen zu finden, »ich« sagen zu lernen, und ebenso als Kollektivmacht zu entfalten, die sich selbst in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen organisiert. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach dem Wann: Jetzt natürlich, immer jetzt, weil jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt. ‚Morgen‘ würde niemals bedeuten. Und jede Betätigung in diese Richtung ist, denke ich, eine Art von Vorbereitung. Jeder Revolution ging eine solche Vorbereitung voraus, bei der Bevölkerung, den Minderheiten, mit sozialer Fantasie und der Hoffnung auf etwas Besseres, die dazu beitrugen, die unvermeidliche Gewalt einzugrenzen. Und ich hoffe, dass es dies auch heute gibt.

Boris Kagarlitzki: Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Werte zu verkünden, während die andere Seite Politik gemacht hat. Wir müssen sehr konkret werden. Jeremy Corbyns Kampagne ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr Erfolg beruhte auf praktischen Vorschlägen. So moderat die meisten davon auch sind, wirken sie nach 30 Jahren Neoliberalismus doch radikal oder sogar revolutionär. Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen, den Öffentlichen Dienst wieder in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen, oder staatliche Investitionen, um Wachstum zu erzielen, wenn Marktanreize erschöpft sind: Das ist alles sehr einfach.
In Russland liegen die Dinge noch mehr auf der Hand. Eine große Mehrheit möchte Öl- und Gaskonzerne und andere Firmen, die die Oligarchen der Bevölkerung gestohlen haben, wieder verstaatlichen. Trotzdem kämpft keine politische Kraft für diese populären Forderungen. Warum? Weil das Volk selbst nicht für seine eigenen Interessen und Rechte eintritt. Das Problem liegt nicht bei der Linken – es liegt bei den Massen. Solange sie passiv bleiben, spielt es keine Rolle, welche Werte wir verbreiten. Die Frage ist, ob sie sich bewegen. Wenn nein, verdienen wir alle eine düstere Zukunft. Aber mir scheint ein Wendepunkt sehr nahe zu sein. In diesem Moment müssen wir die praktische Bedeutung unserer Ideen beweisen. Wenn sie hier und jetzt in ein konkretes Programm eingehen und in Handlungen, die zu einer Transformation führen, dann werden sie funktionieren, und unsere Existenz hat einen Sinn.

(Dieser Text erschien zuerst in „Melodie und Rhythmus“, Heft 4/2018)

(Eine ungekürzte englische Version auf der Website: www.kai-ehlers.de unter „Revolution or Revolt“

Siehe dazu auch: Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzky, Band I und II, laika diskurs 2013/14

 

Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sahen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen und erwarten von Medwedew die Fortsetzung dieses Kurses, nur in leicht liberalerer Variante. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten angesichts der globalen Krise wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat.

Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen  über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik  des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor Perestroika zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Saustausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleich sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender  Kolonialismus“ und schließlich noch der  „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.[1]

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten „Aufbau des Sozialismus“; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt.

Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 909er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren  Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe. Putin hat – gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt – diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte, Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nichts geändert.   Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen, bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, und so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell – und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern  bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.[2]

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins, Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion wie duie ganze neue herrschende Schicht Russlands bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür.[3] Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der sog. „Nationalen Projekte“, die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gaseinnahmen resultierenden Einahmen ergänzend zur Moedernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits- , des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft, sowie spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwjedew übernahm diese Staffette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“ Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, den er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten, ebenso wie kommunaler Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen – gewissermaßen exemplarisch.

Kai Ehlers

Unter www.kai-ehlers.de


[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Herausforderung Russland, Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung , dort das Kapitel: „Das Missverständnis vom kapitalismus – Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation“, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997

[2]Siehe dazu: Kai Ehlers,  „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung  aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

[3] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“,  April 2005 im Verlag Pforte/ Entwürfe

veröffentlicht in: Streifzüge