Schlagwort: Stagnation

Herrschaft des Mutmaßlichen – über die Chancen in einer prekären Stagnation

Über 100 Raketen wurden in der Nacht vom 13. auf den 14. April von amerikanischen, britischen und französischen Stationen auf den souveränen Staat Syrien abgeschossen, um Syrien für einen ‚mutmaßlichen‘ Giftgaseinsatz in der Stadt Duoma zu ‚bestrafen‘. Deutsches Militär war nicht beteiligt, Deutschland unterstütze den Angriff jedoch, wie Kanzlerin Merkel vor und nach dem Bombardement ausdrücklich erklärte.[1] Desgleichen die Spitzen der Europäischen Union. Ebenso die Türkei, Israel und selbstverständlich die NATO.

Russland, Wladimir Putin protestierte, verlangte eine Krisensitzung des UN-Sicherheitsrates und rief zur Mäßigung auf. Iran nannte den Beschuss ein Verbrechen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres rief alle Konfliktparteien zur Zurückhaltung auf. Donald Trump twitterte, weitere Optionen seien noch offen. Aus dem Pentagon verlautete, mit dem nächtlichen Beschuss sei die Strafaktion vorerst abgeschlossen.

Die Welt hielt den Atem an. Von allen Seiten hörte man – und kann es immer noch hören – jetzt beginne „der Krieg“. Zweifellos ist dieser Angriff zusammen mit der Skripal-Kampagne eine irritierende und aggressive Zuspitzung der in den letzten Monaten vom Westen betriebenen anti-russischen Feindpropaganda.

Dennoch ist dieser Angriff nicht das eigentliche Problem, nicht der „Beginn des Krieges“. Der Schaden war gering. Menschen kamen nicht ums Leben. Direkte Konfrontationen mit russischen Kräften in Syrien wurden vermieden. Der Krieg, wenn der syrische gemeint ist, hat ohnehin schon lange begonnen und wird auch ungeachtet von Aussagen des „Westens“ zu dieser aktuellen „Strafaktion“ weiter ausgetragen werden.

Das ist kein Grund sich zurückzulehnen, aber es gilt zu erkennen, dass das aktuelle Bombardement eine „Botschaft“ für ein noch sehr viel tiefer liegendes Problem unserer gegenwärtigen Ordnung ist. Sichtbar wurde dieses Problem in der Art, wie Donald Trump die Welt auf diese „Aktion“  vorbereitete – oder auch nicht vorbereitete, um in seiner Diktion zu sprechen: „Never said when an attack on Syria would take place. Could be very soon or not so soon at all!“, so sein Twitter in den Tagen vor dem Bombardement. Direkt, auch vom Tenor her, hieß dieser Sprachkrüppel: „Nie gesagt, wann ein Angriff auf Syrien stattfinden würde. Könnte sehr bald sein oder ganz und gar nicht sehr bald.“ [2]

 

Trump – Destabilisator

Was war das? Was ist das? Eine Kriegserklärung? Nein, „nur“ eine „Botschaft“. Eine persönliche Botschaft Donald Trumps? Nein, für eine persönliche Botschaft fehlt das Subjekt in der Mitteilung. Auch das ist bezeichnend. War es eine Mitteilung an Freund und Feind, was die USA zu tun gedenken? Eine Strategie? Nein, eine Woche zuvor hatte Trump noch erklärt, die USA wollten sich aus Syrien zurückziehen.

Nein oder auch ja, um in Trumps Diktion zu bleiben – dieser Twitter-Spruch charakterisiert die politische Situation mehr als die Raketen, die jetzt abgefeuert wurden. Er bildet das aktuelle Konzentrat jener Botschaft, die seit 2014 in zunehmendem Maße die politische und mediale Kommunikation durchsetzt, um nicht zu sagen zersetzt, und die mit Trumps Amtseinführung sprunghaft eskalierte: die Herstellung einer Regellosigkeit als Realität, sei es bewusst oder unbewusst.

Diese ‚Botschaft‘ Trumps steht exemplarisch für den Zustand, besser gesagt für die Erosion der heutigen Völkerordnung: Wir erleben eine Zeit der Mutmaßungen, der Vertragsaufkündigungen, der Entgrenzungen, der politischen Alleingänge, der Auflösung für gültig gehaltener  Regeln. Tatsachen, Beweise, Gewissheiten verflüchtigen sich in einen Nebel, der sich in Wortschwaden wie „mutmaßlich“, „wahrscheinlich“, „höchst wahrscheinlich“, „so gut wie keine Zweifel“  und ähnlichen Wendungen über den Globus ausbreitet. Es ist eine Zeit, in der sich der Übergang aus der Nachkriegsordnung, von der seit 1991 nur noch die unipolare Welt der US-Dominanz übrig geblieben war, in eine mögliche neue multipolare Ordnung von ihrer schlechtesten Seite zeigt – eben als Regellosigkeit, als ein sich andeutendes Chaos.

Resümieren wir kurz:

  • Bruch gültiger Rechtsnormen im „Fall Skripal“ – der Kodex „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt nicht mehr.
  • Bruch des Völkerrechts und der Rückzug aus völkerrechtlichen Vereinbarungen – nationale Souveränität wird beiseite geschoben.
  • Missachtung der Vereinten Nationen – ihr Votum wird beiseite geschoben.
  • Verlust von Vertragssicherheit – heute Austritt aus internationalen Verträgen wie den Klimaschutzverträgen, den Freihandelsvereinbarungen, selbst den WTO-Vereinbarungen, morgen schon Wiedereintritt nach neuen Bedingungen.
  • Verdrängung von Diplomatie durch vollendete Tatsachen und Geheimdienstaktivitäten.
  • Opportunistische ad-hoc-Entscheidungen statt strategischer Verlässlichkeit.

Dies alles ist natürlich nicht ganz neu, wurde auch nicht nur von den USA praktiziert, bekommt jetzt aber einen herrschenden Zug im Nachtrab  der jüngsten US-Politik. Bisher gültige Regeln des zivilen und des staatlichen Zusammenlebens werden außer Kraft gesetzt, schlicht übertreten. Die Welt wird in einen chaotischen Zustand zurückversetzt, der hinter den ersten Völkerbund, ja noch hinter den ersten Weltkrieg zurückfällt, als imperiale Raubzüge um Aufteilung kolonialer  Zugriffe noch an der Tagesordnung waren.

Ist Trump also ein Anarchist, wie manche  glauben? Ist er ein vormoderner Dummkopf? Nein, er ist weder ein Anarchist noch ist er ein vormoderner Dummkopf. Er ist Geschäftsmann, der nach dem Prinzip des uneingeschränkten  Rechts des Stärkeren handelt. Anarchie heißt ja nicht Regellosigkeit, sondern Freiheit von Herrschaft auf der Basis anerkannter Regeln, die für alle gleichermaßen gelten. Die Regellosigkeit Trumps kippt dagegen in unkontrollierbare Willkür und – soweit es die Politik betrifft – in rücksichtslose Verteidigung der von Schrumpfung bedrohten US-Dominanz um. Von Anarchismus keine Spur! Regelbruch, Herstellung von Unsicherheit als  Herrschaftssicherung, solange die eigenen Kräfte noch reichen.

Ähnliche  imperiale Agonien sind aus der Geschichte zur Genüge bekannt: Rom, das mongolische Großreich, das britische Commonwealth, Napoleons kurzlebiges Kaiserreich, die Sowjetunion – um in aller Kürze nur an einige dieser Prozesse zu erinnern.

Die Frage drängt sich auf: Was kommt nach einem Liquidator wie Trump? Aber diese Frage soll hier erst einmal unbeantwortet stehen bleiben.

 

Putin – Krisenmanager

Demgegenüber steht Wladimir Putin, ausgebildeter Geheimdienstler, Etatist, das genaue Gegenteil eines Geschäftsmannes. Putin ist ein Mann, der sich in den letzten achtzehn Jahren als Stabilisator, als Krisenmanager[3], als jemand einen Namen zu Hause und in der Welt gemacht hat, der genau solcher Regellosigkeit entgegentritt, der auf Einhaltung der Regeln der Nachkriegsordnung auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion pocht, der für die Verteidigung der von der UNO repräsentierten Nationalstaatsordnung im Sinne der Achtung von Souveränitätsrechten der Völker eintritt.

Seit Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz erstmalig öffentlich gegen die Interventions- und Fraktionierungspolitik der USA auftrat, sind die Beziehungen zwischen den USA und Russland von diesem Konflikt gezeichnet. In Syrien findet dieser Konflikt zurzeit seine bisher krasseste Zuspitzung. Aber Syrien steht letztlich nur exemplarisch.

Warum agiert Russland in dieser Weise? Weil Russland neo-imperiale Absichten verfolgt? Nein, Russland agiert so zum Selbstschutz und in dieser Position als Kraft, welche die bestehende Völkerordnung gegen die von den USA ausgehenden Auflösungs- und Fraktionierungstendenzen verteidigt, sogar reformieren will, wo sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Mit dieser Politik ist Russland zum Orientierungspol für diejenigen geworden, die sich davor schützen wollen, vom Niedergang der amerikanischen Ordnung mitgerissen und erschlagen zu werden. Zugleich ist Russland zur Ermutigung für diejenigen geworden, die eine neue Ordnung anstreben, von der allerdings noch nicht klar ist, wie sie aussehen könnte.

In den Kreis dieser Kräfte gehören neben China, Indien, Iran und dem östlichen eurasischen Raum[4] auch afrikanische und südamerikanische Länder. Putin muss ihnen gegenüber seinem Namen als Stabilisator gerecht werden, das bedeutet für ihn, auf die Entbindung von Regellosigkeit nicht mit Regellosigkeit zu antworten, sondern mit dem Versuch, die bestehende Ordnung zu halten. Entsprechend klingen jetzt seine Mahnungen zur Mäßigung an die Adresse des Westens im „Fall Skripal“ und in Bezug auf Syrien.

Wohin Putin seine Verpflichtungen als Krisenmanager und Stabilisator treiben, ist zurzeit ebenso nicht zu beantworten wie die an Trump als Liquidator sich stellende Frage.

 

Ein globales Kartenhaus

In der Konfrontation der von den USA, konkret von Trump ausgehenden Destabilisierung und den Bemühungen Russlands, konkret Putins, um Stabilisierung der bestehenden Völkerordnung ist eine prekäre Stagnation entstanden, in der es nicht vor und nicht zurückgeht. Letztlich kann diese Situation, wenn auch China noch hinzutritt, nur zu einer neuen Ordnung führen, wie das schon häufig in der Geschichte geschehen ist, doch steht hier heute ein mächtiges ABER im Weg. Das ABER hat die Gestalt eines globalen Kartenhauses, in das die Karten sämtlicher heute herrschenden Kräfte verbaut sind. Die tragenden Karten, ohne hier alle zu nennen, sind:

  • die Aufrechterhaltung der Weltfinanzordnung,
  • die Aufrechterhaltung des atomaren Gleichgewichts,
  • die Eindämmung des Wachstum der Weltbevölkerung,
  • der Erhalt des Status quo der Ressourcennutzung.

Keiner will der Erste sein, der eine Karte aus diesem Gebäude herauszieht und damit das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringt.

 

Was tun?

Die prekäre Stagnation des globalen Kartenhauses ist Bedrohung und Chance zugleich. Was geschieht, wenn jemand tatsächlich eine der Karten zieht, muss nicht lange ausgemalt werden, sei es, dass Angriffe auf die Dollar-Dominanz das Spekulationsgleichgewicht fluten, sei es, dass irgendwo Entscheidungen  getroffen werden, doch Atomwaffen einzusetzen, sei es, dass ein zunehmender Migrationsdruck zum Zusammenbruch der Ordnung in den „entwickelten Ländern“ führt, sei es, dass jemand die Karte der Ressourcennutzung neu spielen will.  Das Ziehen einer einzigen Karte aus diesem Gebäude ließe das ganze Konstrukt zusammenbrechen, also muss man sich arrangieren. Tut man es nicht mehr, ist für alle das Finale angesagt.

Wichtiger als über ein solches Finale zu spekulieren, ist zu verstehen, dass – solange die Situation der prekären  Stagnation anhält – die Chance besteht, Keime zu setzen für eine andere Lebensordnung als die, die zu dieser Situation geführt hat. Das bedeutet, im Bewusstsein der Bedrohung wie auch der Möglichkeiten, die der Stand der Entwicklung heute hergibt, nicht zuletzt auch unter ökologischen Aspekten, neue gesellschaftliche Regeln zu entwickeln, die diesen sich andrängenden Umwälzungen förderlich sind.

Die Bedingungen dafür sind, einfach gefasst:

  • In der arbeitsteiligen Weltwirtschaft von heute arbeitet die Mehrheit der Menschen immer weniger nur für sich selbst, soweit es die Herstellung der Produkte betrifft, sondern in zunehmendem Maße für andere, generell gesprochen, für eine gegenseitige Versorgung, die den einzelnen Menschen trägt. Niemand müsste „überflüssig“ sein, wenn dies verstanden und gefördert würde.
  • Die weltweite Verflechtung der Wirtschaft hat die Nationalstaaten schon längst überholt. Im Zuge technischer Vernetzung ermöglicht sie zugleich neue Verbindungen mit wirtschaftlichen Kreisläufen vor Ort, wenn nationalistische Interessen nicht störend dazwischen gehen.
  • Die kulturelle Entwicklung der Welt weist, allen noch bestehenden Rückbindungen zum Trotz, auf einen Zugewinn an Freiheit für den einzelnen Menschen bei gleichzeitig wachsendem Bedürfnis nach Empathie und spiritueller Sinnfindung hin.

 

Wir schaffen schon längst tagtäglich ein gemeinsames Kapital, aus dem das Einkommen für die einzelnen Menschen nicht mehr im Stücklohnverfahren, sondern pauschal generiert werden könnte. Arbeit wird von einer individuellen Lebensvorsorge tendenziell zur Dienstleistung an der Gesellschaft und, je bewusster dies geschieht, kann sie sogar zur Liebestat für die Mitmenschen werden. Das ist natürlich nicht erst seit heute so, aber der Stand der Produktivkräfte erlaubt diese Entwicklung auf einem neuen, erhöhten Niveau. 

Eine Überwindung des natürlichen Egoismus ist unter solchen Bedingungen nicht mehr nur eine moralische Forderung, mit der die Realität der gegenseitigen Ausbeutung bisher immer wieder von ihrer Rückseite her aufrechterhalten wurde, sondern kann zum Lebensalltag werden, der aus dem realen Grad unseres heutigen Entwicklungsstandes erwächst.

Es bedarf keiner moralischen Zeigefinder, keiner ausgedachten Utopien, keiner blutigen Umstürze des Bestehenden. Es geht „nur“ darum, die Tatsache bewusst wahrzunehmen, dass alle, einzelne Menschen wie Völker, bereits in hohem Maße füreinander tätig sind, und Verhaltensweisen und Strukturen im sozialen und politischen Umgang miteinander auf den Weg zu bringen, die der bereits herangereiften Realität der sich so entstandenen Dienstleistungsgesellschaft entsprechen und ihre weitere Entwicklung  fördern, lokal wie global.

Soll keine/r sagen, dass das nicht möglich sei –  es wird ja in Teilen der Gesellschaft, wo öffentliche Dienste geleistet werden, schon lange praktiziert – allerdings bisher sozusagen zwangsweise durch den Staat, der etwa Lehrern und anderen öffentlich tätigen Menschen ein Einkommen für ihre Dienste unabhängig von ihrer Stunden- oder Stückleistung zukommen lässt. Ähnliches gilt, vom Staat unabhängig, für große übernationale Korporationen, wo der Einzelne im kooperativen Netz tätig ist. In unzähligen kleineren Unternehmen und Basis-Initiativen werden solche Lebens- und Arbeitsformen heute häufig spirituell getragen, zudem rund um den Globus in zunehmendem Maße erprobt.

„Nur“, heißt aber selbstverständlich, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, dass eine intensive, allseitige, langfristig angelegte, bildungsorientierte Aufklärung zu der Frage entwickelt werden muss, welcher Grad der Gegenseitigkeit sich unter der Schale der weltweit noch bestehenden Konkurrenz-Verhältnisse bereits herausgebildet hat, den Geist dieser Gegenseitigkeit nach Kräften zu fördern und im Alltag zur Wirkung zu bringen.  

Es besteht heute die Chance von der Konkurrenzgesellschaft auf die nächste Stufe einer Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe auf der Basis des füreinander erarbeiteten Kapitals überzugehen, wenn die prekäre Übergangszeit von der unipolaren in eine multipolare Welt dafür genutzt wird, solche Keime zu setzen.

Eine multipolare Welt, eine multikulturelle Gesellschaft kann dann ein Zukunftsentwurf werden, wenn sie sich um diese Achse des selbst bestimmten Füreinanders, statt eines Gegeneinanders dreht. Zu hoffen und daran zu arbeiten ist, dass diese Erkenntnis sich nicht als Zusammenbruch des globalen Kartenhauses, sondern als dessen vorsichtiger Umbau vollzieht.

 

Siehe dazu auch:

Kai Ehlers, Die Kraft der ‚Überflüssigen’ und die Macht der Überflüssigen, BoD, 2016, Bestellung über www.kai-ehlers.de

[1] https://www.bz-berlin.de/welt/usa-frankreich-und-grossbritannien-fliegen-luftangriffe-in-syrien

[2] https://twitter.com/realDonaldTrump?ref_src=twsrc%5Etfw&ref_url=http%3A%2F%2Fwww.russland.news%2Fdonald-trump-wir-schlagen-sehr-bald-gegen-syrien-zu-oder-auch-nicht-so-bald%2F

[3] https://test.kai-ehlers.de/2016/06/globales-zwischenhoch-putin-krisenmanager-chande-oder-irrtum/

[4] https://test.kai-ehlers.de/2017/12/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien/

Putins Wahlsieg – Signal für ein Russland nach Putin?

In Russland wurde gewählt. Was zu erwarten war, ist eingetreten: eine überwältigende Mehrheit für Wladimir Putin.

In Zahlen: 76,69 % für Putin, 11,77 % für seinen sozialistischen Herausforderer Pawel Grudinin , 5,65 % für den ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski; die restlichen Kandidaten und Kandidatinnen fielen weit unter die 5% Marke. „Korruptionsjäger“ Alexei Nawalny scheiterte mit seinem Boykottaufruf. 

Die Botschaft der Wahl ist unüberhörbar:  Stabilität, Sicherheit, keine Revolution, nicht einen Weg zurück, keine Abenteuer voran, alles wie gehabt. Ruhe ist der erste Wunsch des nachsowjetischen Menschen. Wär‘s nicht  nachweislich ein russisches – es könnte ein deutsches Wahlergebnis sein.

Und doch, wer glaubt, dass alles so weitergehen werde wie bisher, irrt sich. Der Sieger selbst versprach Veränderungen für den Fall seiner erneuten Präsidentschaft: Entbürokratisierung, Wachstum der Wirtschaft, Reformen im Sozialen. Und er versprach diese Veränderungen nicht nur; mit rigider Umbesetzung von Ämtern traf er schon im Vorfeld der Wahl  Vorsorge dafür, das Notwendige auch durchsetzen zu können, was er jetzt vornehmen muss, denn das ist klar: das Votum des Wahlsieges bekam er zwar für die von ihm verfolgte Politik der Stabilität, aber ewige, zudem noch autoritäre  Stabilität muss letztlich enden – in Stagnation.

Die drohende Stagnation ist wohl die größte Herausforderung  für  den in seinem Amt bestätigten Präsidenten, außenpolitisch wie auch innenpolitisch.

Außenpolitisch sind weitere Erfolge wie die Eingliederung der Krim, die Teilbefriedung Syriens, das Bündnis mit China zurzeit kaum vorstellbar. Die Welt hat sich im Status quo festgefahren. Russlands,  konkret Putins Rolle darin ist die des Krisenmanagers. In dieser Frage kommt zurzeit niemand an ihm vorbei, aber Entwicklungsperspektiven sind darin kaum erkennbar, außer der von Putin in seiner kürzlich gehaltenen Rede an die Nation deutlich demonstrierten Bereitschaft Russland gegen jedwede zukünftige Angriffe zu verteidigen.

Innenpolitisch stehen für Russland lange vernachlässigte Reformen an. Das beginnt mit so banalen, aber drängenden Themen wie der nationalen Müllbeseitigung, geht über das Wohnungsproblem, die  Zweiklassenmedizin, marode Infrastrukturen bis hin zu einer krass auseinander klaffenden Schere zwischen arm und reich.

Mit Blick auf die innere Entwicklung hat Putin vor der  Wahl starke Aussagen gemacht, Kräfte der Selbstorganisation stärken zu wollen. Sein Aufruf an die Kandidaten nach der Wahl, die Kräfte zu bündeln, geht in die gleiche Richtung. Solche Töne in Verbindung mit der Ankündigung sozialer Reformen könnten von der russischen Bevölkerung als Versprechen auf Liberalität und wachsenden Wohlstand verstanden werden. 

Wenn andererseits Wachstum der Motor für Reformen sein soll, bedeutet das mehr sozialen Druck auf die Bevölkerung bis hin zu Vorschlägen aus den Beraterkreisen Putins, um nur ein Problem stellvertretend zu nennen, die Renten zu kürzen, indem das Rentenalter hinaufgesetzt wird.

Kurz gesagt: Putins Programm wird ein Spagat zwischen Modernisierung und sozialen Versprechungen, der auch von einem erfahrenen Kampfsportler, wie er es ist, schwer zu halten sein wird.

Im Land wachsen  zudem die Stimmungen, dass Russland sich nicht weiterhin einfach dem Prozess der kapitalisierenden Globalisierung unterwerfen dürfe, sondern wieder auf einen eigenen Weg finden müsse. Aber unklar ist immer noch, wie dieser aussehen könnte. Alle bisherigen Versuche, einen eigenen Weg zu definieren, sind auf halber Strecke stehen geblieben: So Gorbatschows ökologischer Aufbruch; so Jelzins nationale Idee. Ist Putins Weg nach Eurasien jetzt sinnstiftender?

Nein, es wird keine Ideologie helfen. Entscheidend wird sein, ob Putin es schafft, die Basiskräfte des Landes zu aktivieren – das heißt, Initiativen auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Daran wird er gemessen werden. Daran wird sich zeigen, wohin die russische Gesellschaft geht.

Kai Ehlers, www.kai- ehlers.de

 

Siehe das Buch:

Kai Ehlers, Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

Bezug über: www.kai-ehlers.de

 

(Dieser Artikel erschien am 22.03.2018 unter anderer Überschrift und leicht verändert in „Freitag“)