Schlagwort: Sanktionen

Europa ohne Russland? Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem zeitgemäßen Problem.

Kann es Europa ohne Russland geben? Die politischen Ereignisse der letzten Zeit, in der sich Europa und Russland immer weiter voneinander zu entfernen scheinen, lassen solche Fragen, die nach der „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ durch Michail Gorbatschow ganz unvorstellbar schienen, inzwischen immer drängender in den Raum treten. Aber so sehr die Frage sich inzwischen aufdrängt, so wenig ist sie mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten – nicht heute und bei genauem Hinsehen auch früher nicht.

Die europäische Politik hat Russland, wie schon mehrmals zuvor in der Geschichte, wieder zum Feindbild aufgebaut.  Putin wird als neuer Hitler, Russland insgesamt als unberechenbar hingestellt. Europa müsse vor russischen Aggressionen geschützt werden. Zugleich erklären europäische Politiker die Zusammenarbeit mit Russland für unerlässlich, schon aus ökonomischen Gründen, heißt es, aber selbstverständlich zu „unseren Bedingungen“. Mit Sanktionen und dem Aufbau militärischer Stärke möchte man Russland gefügig machen.    

Antworten, die man aus alltäglichen Gesprächen erhalten kann, sind ebenso widersprüchlich: „Europa ohne Russland? – das wäre doch wie Kopf  ohne Herz!“, sagen die einen, andere fühlen sich von Russland bedroht: 44% der Deutschen sind nach aktuellen Umfragen für restriktive Maßnahmen gegen Russland, 67% vertrauen Putins Russland nicht mehr. Die gleichen Befragten wünschen sich ein normales, friedliches Verhältnis zu Russland.

Kurz, die Beziehung Europas, speziell auch Deutschlands zu Russland sind durch und durch ambivalent. Gerade in der Ambivalenz liegt jedoch die Aufforderung  genauer hinzuschauen, ob Europa und Russland zu trennen sind oder ob nicht und welche Bedeutung ihre Beziehung zueinander für den Lauf der globalen Dinge heute hat.

 

Wovon reden wir?

 Zunächst ist zu klären: Was ist Europa? Was ist Russland? In welchem Umfeld steht ihre Beziehung zueinander oder gegeneinander heute?

Schauen wir als Erstes auf die Landkarte; da sehen wir, allem voran, die Botschaft, welche die Erde selbst gibt: Hier Europas Klein- und Vielgliedrigkeit als Appendix Eurasiens, dort Russlands schier unbegrenzt erscheinende kompakte Weite der eurasischen Landmasse.

Sodann: Wenn wir von Europa sprechen, sprechen wir natürlich nicht nur von der Europäischen Union.  Europa ist mehr als die Europäische Union. Europa, in seiner Gewordenheit und in seinem Werden umfasst auch Länder auf dem europäischen Kontinent, die nicht der Europäischen Union angehören, sehr wohl aber dem europäischen Kulturraum. Das betrifft Sprachen, Lebensart, Kunst, Religion und Geschichte. Das sind Länder auf dem Balkan, auf dem Kaukasus und eben auch Russland, zumindest Teile Russlands bis zum Ural.  

Offen ist auch, wie lange die Europäische Union in der heutigen Konstellation zusammen bleiben wird, ob, wie und wann sie sich möglicherweise in Kern- und Randbereiche neu gliedert, welche Rolle Mitteleuropa, konkret Deutschland in einem zukünftigen Europa zukommt.

Russland andererseits ist nicht einfach ein Teil Europas. Russland ist zwar geografisch – auch ökonomisch – nicht von Europa zu trennen, lässt sich jedoch seinerseits in seiner Gewordenheit und seinem Werden nicht auf Europa, auch wenn man es nur bis zum Ural betrachten wollte, schon gar nicht auf die Europäische Union reduzieren. Russland ist nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sogar ethnisch Teil Asiens, genau genommen ist Russland das Gebiet, die Kultur, die Realität zwischen Europa und Asien. Bildlich gesprochen: Russland kann man als Zwischenraum, Europa als Rand definieren.

Zusammen bilden Europa und Russland aber nicht nur einen untrennbaren geografischen Zusammenhang; sie sind auch nicht nur ökonomisch eng miteinander verbunden, im Kürzel gesagt: russisches Öl gegen europäisches Know how, sie bilden darüber hinaus miteinander auch den geopolitischen Raum, von dem aus die heutige Welt über eine Zeitspanne von 2000 Jahren christianisiert, kultiviert, zivilisiert und schließlich kolonisiert  wurde – arbeitsteilig, um es salopp, gleichberechtigt, um es provokativ zu formulieren: Europa als der ‚Nabel der Welt‘, Russland als das ‚Herzland‘ Eurasiens.

 

Koloniale Arbeitsteilung…

In dieser historischen Arbeitsteilung gibt es jedoch einen entscheidenden Punkt zu beachten, der Europa und Russland auf widersprüchliche Art trennt und zugleich verbindet: Heimat vieler Völker sind beide Räume, Russland als umfassender Vielvölkerorganismus in den Weiten Eurasiens, Europa als Pluralität von Staaten auf engstem Raum, aber:

  • Von Europa aus wurde die ganze Welt kolonisiert – bis auf Russland, das sich als einziges Gebiet der Erde der von Europa ausgehenden Kolonisierung bis heute immer wieder entziehen konnte.
  • Russland andererseits machte durch seine, zwar oft unterbrochene, aber unaufhaltsame Expansion im Eurasischen Raum bis hin zur Sowjetunion jegliche Kolonisierung des eurasischen Massivs durch Europa unmöglich.

Diese Konstellation schloss wechselseitige Übergriffe von Westen nach Osten und von Osten nach Westen selbstverständlich nicht aus, bedingte sie in nicht geringem Maße sogar.

Das sind von Westen nach Osten:

  • die deutsche Ostkolonisation um 1000 n. Chr.,
  • die Gründung des Deutschen Ritterordens in Livland im selben Zeitraum,
  • das Ausgreifen Polen-Litauens nach Süden nach dem Tod Iwan IV. 1584 ff,
  • die aufeinander folgenden Versuche Gustav Adolfs, danach Napoleons, Hitlers, der deutschen Wehrmacht Russland zu unterwerfen,
  • die Förderung der Oktober-Revolution durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und seine Gruppe im plombierten Wagen nach Russland einschleuste,
  • Und neuerdings die US-geführten Versuche des NATO-Westens, Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion klein zu halten – siehe Ukraine.

Von Osten nach Westen sind es:

  • die Zerschlagung Nowgorods, das als Mitglied der norddeutschen Hanse westorientiert, tendenziell sogar offen für die Reformation war, durch Iwan III./IV.,
  • die Vertreibung des Deutschen Ritterordens aus Livland durch Iwan IV.,
  • die politischen Übergriffe nach Westeuropa durch Alexander I. , der sich nach der Niederlage Napoleons als „Retter des christlichen Abendlandes“ verstand
  • und schließlich die Besetzung Ost-Europas und Ostdeutschlands durch die Sowjetunion.

In dieser Dichotomie zweier unaufhaltsam expandierender dominanter Kräfte gingen Europa und Russland als miteinander zu einem unlösbaren Konflikt verwachsene und zugleich zu unausweichlicher Kooperation verurteilte Zwillingsbrüder durch die Geschichte.

 

…bei diametral entgegensetzten Paradigmen

In der Art, WIE die Expansion vor sich ging, unterschieden sich Europa und Russland jedoch in diametraler Weise voneinander:

  • Europa expandierte in einem Prozess des Differenzierens, des Pluralisierens, des beständig um die Vormacht auf kleinstem Raum miteinander Kämpfens, der Konkurrenz, letztlich in einem sich steigernden Prozess der Individualisierung, der individuellen Emanzipation, im Kern eines tiefen, wenn auch produktiven Egoismus. Europa trug diesen Prozess als ununterbrochenen Krieg in die ganze Welt hinaus, vielsprachig, in ständiger Veränderung, ohne dauerndes Zentrum.
  • Russland expandierte nach dem Prinzip des Sammelns, des Zusammenführens, des Integrierens und Kollektivierens, der Vielfalt unter dem Dach einer Sprache, der Bildung von Gemeinschaftstraditionen unter einem autoritären Zentrum, Moskau. Das heißt nicht, dass die russische Expansion im Gegensatz zur europäischen gewaltlos vor sich gegangen wäre; es haben sich in der Geschichte nur zwei ganz unterschiedliche Prinzipien der Kolonisierung verwirklicht, deren Wirkung bis heute anhält: Integration im russischen Raum – Desintegration in Europa und von dort ausgehend in der Welt.

 

Geschichtliche Spurensuche

Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung? Paradox gefragt: Wo liegen die Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Entwicklung, die entgegengesetzter nicht verlaufen konnte? Welche Dynamik liegt heute noch darin?

Mit Hinweisen auf tagespolitische Ereignisse sind kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen zu gewinnen – Merkel, Macron, Putin, Poroschenko, Trump sind eher Getriebene als Treiber. Zu zeitgebunden sind die aktuellen politischen Manöver,  zu verschleiert die Motive der aktuellen Feind- oder Freunderklärungen, zu verwirrend die wechselnden Täuschungsmanöver im gegenwärtigen Des-Informationskrieg.

Auch aus der Ökonomie, die heute unter Schlagworten wie ‚Wachstum‘, ‚Fortschritt‘, ‚Konsumgesellschaft‘ etc. als der große zivilisatorische Gleichmacher rund um den Globus in den Vordergrund gerückt ist, der gewachsene kulturelle, religiöse und geistige  Unterschiede zunehmend nivelliert  und durch die Gemeinschaft williger Konsumenten ersetzt, lassen sich kaum Erkenntnisse zu diesen Fragen gewinnen,

Der Blick muss tiefer, tief in die Geschichte gehen, um erkennen zu können, wie aus einem ursprünglich gemeinsamen Kulturstromstrom – indogermanisch-griechisch-römisch-christlich – die systemgeteilte Welt des 20. Jahrhunderts und nach deren vorübergehendem Übergang in die US-dominierte Globalisierung die sich heute andeutende erneute Ost-West-Teilung hervorgehen konnte und wo die Möglichkeiten der Überwindung dieser Dualität liegen.  

 

Mesopotamien – Wiege Europas

Beginnen wir ganz klassisch mit der Entführung Europas durch Zeus von den Stränden Phöniziens, erzählt aus griechischer Sicht zum ersten Mal von Homer ca. 800 vor unserer Zeitrechnung: Europa wurde die Mutter einer neuen, noch unentdeckten Welt.

Von Europas Landung an der kretischen Küste führt der Weg geradewegs durch die griechische Geschichte, ab 146 v. Chr. in die römische, von da durch die Zeitenwende, die von Christi Geburt, von der Geburt des Christentums in Palästina markiert wird, weiter über die Jahrhunderte der Christenverfolgung in Rom, bis das Christentum im Jahr 380 n. Chr. zur römischen Staatskirche ausgerufen wurde.

Über die ganze, sich über mehr als 500 Jahre  erstreckende Zeit dieser griechisch-römischen Geschichte zieht noch ein einheitlicher kultureller Strom ins frühe Europa.

 

Teilung der römischen Welt

Mit der Teilung Roms in Ostrom – Westrom im Jahr 395 n. Chr. setzt die unterschiedliche Entwicklung des europäischen Siedlungsraumes in ein östliches und ein westliches Europa ein. Ost-Rom, unter dem Namen Byzanz, später Konstantinopel wird zur Feste Europas, West-Rom zerfällt unter dem Ansturm germanischer Stämme  und hunnischer Reiterheere aus dem Inneren Asiens –  man erinnert sich an die Daten der Völkerwanderung: 410 n. Chr. Alarich vor Rom, 450 n. Chr. Attila vor Byzanz und vor Rom. Der Zerfall Roms setzt getrennte Reichsbildungsprozesse im Osten und im Westen Europas in Gang.

Als drittes Element neben den beiden christlichen Strömungen kommen die Wikingischen Handelskrieger hinzu, die im Osten entlang der Flüsse nach Süden bis Byzanz ziehen, im Westen vom Meer aus in die Küstengebiete eindringen. Die Gründung der Kiewer Rus durch den Wikinger Rurik 882 n. Chr., die Reichsbildungskriege der Karolinger im achten und neunten Jahrhundert, die ganz eigene Entwicklung der angelsächsisch-dänischen Besiedlung des heutigen England fallen in diese Zeit erster Differenzierungen des ursprünglichen mesopotamischen Kulturstroms.

Mit der Übernahme des orthodoxen Christentums durch den Fürsten Wladimir von Kiew im Jahr 988 n. Chr. bindet die Kiewer RUS sich an Byzanz. Mit diesem Schritt nimmt das Auseinanderdriften der religiösen Sphäre in Ost- und Westeuropa an Deutlichkeit zu. England geht zudem seinen eigenen Weg. Kiew bleibt aber zu der Zeit noch Handelsdurchgang von Osten nach Westen, unterhält auch noch höfische Beziehungen zu den französischen und anderen westlichen Fürstenhäusern.

 

Das Schisma:

Differenzierung im Westen…

Mit dem Schisma, der großen Kirchenspaltung von 1064 n. Chr., wird das Auseinanderdriften Europas auf einen oströmischen und einen weströmischen Entwicklungsweg manifest. Die Patriarchen von Byzanz und Rom exkommunizieren sich gegenseitig. Byzanz versteht sich als Hüter der Einheit von Staat und Kirche, betrachtet Rom als abtrünnig vom wahren Glauben. Roms Entwicklung führt dagegen sehr schnell auf einen dreigeteilten gesellschaftlichen Weg, der die differenzierte Zukunft des westlich Europa vorzeichnet, den politischen Bereich der Reiche und Staaten, den religiösen Bereich und eine unabhängige Philosophie und Wissenschaft.

 Ausgesuchte prägnante Daten mögen das verdeutlichen:

  • Nahezu zeitgleich zur Spaltung von Ost- und Westkirche setzen die von Rom ausgehenden Kreuzzüge ein – erster Kreuzzug 1095 n.Chr. Die Züge wenden sich, was heute kaum erinnert wird, auch gegen die Ostkirche. Die Ritter des 4. Kreuzzuges erobern sogar Byzanz. Als die Türken 1443 Byzanz belagern, kommt den Byzantinern aus dem Westen Europas keine Hilfe zu. Dieses Ereignis  treibt die Spaltung zwischen den Kirchen tief ins Unterbewusstsein der orthodoxen Bevölkerung, die sich vom Westen verraten fühlt.
  • Der Gang König Heinrich IV. nach Canossa 1076 n.Chr., mit dem er Papst Gregor VII. zwingt, die Bannbulle gegen ihn aufzuheben, besiegelt die Spaltung von Staat und römischer Kirche.
  • Dem großen Ost-West-Schisma folgt das kleine Schisma zwischen Rom und Avignon von 1378 bis 1417; in der Mitte des 15. Jahrhunderts erhebt sich noch ein weiterer Gegenpapst, dazu diverse Gegenbischöfe.
  • In den Klöstern entwickelt sich mit der scholastischen Philosophie das Bestreben, Religion rational zu begründen.
  • Nicht unerwähnt bleiben darf die Gegenbewegung der Inquisition, die Spaltungen und Abweichungen in Angelegenheiten des Glaubens als Häresien mit Folter und Tod einzudämmen versucht.  

Nur kursorisch benannt seien die bekanntesten Stationen der weiteren Differenzierung der westlichen Entwicklung:

  • die ‚Entdeckung Amerikas‘ durch Kolumbus 1492, die diesen Kontinent an Europa heranzieht,
  • die Renaissance im 15. Und 16. Jahrhundert,
  • die Konfessionalisierung der Westkirche durch Luther, Zwingli und Calvin,
  • der Dreißigjährige Krieg 1618 – 1648,
  • die Aufklärung ab 1700,
  • die Französische Revolution 1789 – 1799,
  • die Entstehung europäischer Nationalstaaten in der Folge der Revolution, durch Napoleon forciert.

Von der Neuzeit soll später gesprochen werden.

 

Ganz anders im Osten:

Das „Sammeln der russischen Erde“

Byzanz verschloss sich einer Entwicklung, wie sie von Rom ausging.  Im byzantinischen Raum, wie er sich im Kiew Wladimirs fortsetzte, entwickelten sich keine unabhängige Wissenschaft, keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung – und keine bürgerliche Revolution. Die Zerstörung Kiews durch die Mongolen im Jahr 1241 war ein weiterer entscheidender Impuls für die Entfernung Ost- und West-Europas voneinander.

Die Mongolen vernichteten Kiew, machten den südlichen und mittleren Osten abhängig; den Westen, obwohl sie dessen Heere bei Liegnitz vernichtend schlugen, verschonten sie, wandten sich stattdessen weiter nach Süden, wo sie das muslimische Kalifat Bagdad vernichteten. Im Schatten dieser Schonung konnte sich der Westen Europas anders als der Osten unabhängig von mongolischem Druck entwickeln. Die Zerschlagung Kiews löste dagegen eine Fluchtbewegung der Bevölkerung der RUS  nach Norden aus, wo die fürstliche Oberschicht als  Dienstadel, die Bauern als Siedler im Fürstentum Moskowien Zuflucht fanden, das von den Mongolen nicht besetzt und ihnen nur tributpflichtig war.

Mit diesen Ereignissen kommt zu der religiösen Spaltung zwischen Ost- und Westkirche die unterschiedliche Ausrichtung des zuvor noch offenen politischen Raumes hinzu. Ausgehend von Moskowien, noch unter der mongolischen Tributhoheit, beginnt mit dem  Moskowiter Fürsten Kalita (1325 – 1340), intensiviert durch Iwan III (1530 – 1584), dann Iwan IV. (1456 – 71) der Prozess des „Sammelns russischer Erde“, wie es in der russischen Geschichtsschreibung genannt wird. Nach dem Fall Konstantinopels erklärt Iwan IV. Moskau zum III. Rom. Dabei übernimmt er das Staatskirchentum des byzantinischen Modells, übernimmt auch den Titel Kaiser, also Zar des russischen Reiches. Mit der Unterwerfung Nowgorods und der Verdrängung des deutschen Ritterordens aus Livland schließt er die Grenzen nach Westen; zugleich forciert er die Kolonisation nach Osten auf der Spur des zerfallenden mongolischen Großreiches bis nach Sibirien.

Die Politik Iwans IV. zementiert die Trennung zwischen dem orthodoxen Osten und einem reformatorischen, protestantischen, aufklärerischen Westen bis in die Zeit Peter I. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ost und West, Russland und Europa sind für mehr als 200 Jahre getrennte Welten. In dieser Zeit festigt die christliche Orthodoxie ihr Verständnis von sich als Bewahrer des wahren christlichen Glaubens – ohne einschneidende Abspaltungen, ohne Protestantismus, ohne Religionskriege, ohne Aufklärung in despotischer Einheit von Staat und Kirche – bis auf die minoritäre Bewegung der „Altgläubigen“, die eine formale Kirchenreform im 17. Jahrhundert nicht mitmachen wollten.

 

Neue West-Ost-Begegnung,

Westlich orientierte Modernisierungsschübe Russlands

Vermischung, gegenseitige Übergriffigkeiten

Mit Peter I. 1682 bis 1725,  genannt der Große, beginnt eine neue Phase der Ost-West-Beziehungen. Den Beinamen ‚der Große‘, erhielt er dafür, das er das „Fenster nach Europa“ öffnete. Konkret hieß das: Er  unterwarf Russland einer Modernisierung und Industrialisierung nach westlichen Standards. Seine Modernisierung  war ein Gewaltakt, der die in ihrer traditionellen Orthodoxie lebende mehrheitlich bäuerliche russische Gesellschaft zutiefst erschütterte. Er ließ den Bauern Kaftane und Bärte gewaltsam beschneiden, um sie aus ihren orthodox-gläubigen Sitten herauszuholen. Er war sich nicht zu schade, eigenhändig die politische Opposition zu köpfen. Er ließ St. Petersburg in einem Gewaltakt aus den Newa-Sümpfen stampfen. Gleichzeitig führte er Expansionskriege nach Norden und nach Süden. Die sog. petrinischen Reformen hinterließen ein zwischen Orthodoxie und westlicher Modernisierung zerrissenes russisches Volk unter der Knute einer autoritären Zwangsmodernisierung. Im Westen wurde Peter I. natürlich gefeiert.

Zu beachten ist: Zeitgleich zu den petrinischen Reformen entwickelt sich im Westen die Aufklärung. Zeitgleich ziehen die antidynastischen Wolken der französischen Revolution auf, deren Ideologen ihre Impulse aus der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und der Bill of  Rights von 1797 beziehen, die das Recht auf Selbstbestimmung und Revolution verfassungsmäßig festschreiben. Europa und Russland sind, trotz Modernisierung Peters I., auf unterschiedlichen Wegen: Europa öffnet sich in Richtung Amerika, Russland expandiert, wenn man das Gebiet zu der Zeit noch so nennen kann, im ost- und süd-europäischen Raum.

Ein halbes Jahrhundert später, 1762  – 1796, intensiviert Katharina II., die ‚Deutsche auf dem Zarenthron‘, ebenfalls die Große genannt, die Beziehungen Russlands zum Westen. Sie pflegt intensivsten Umgang mit den französischen Aufklärern, insbesondere Voltaire. Sie fördert europäische Wissenschaft und Kunst. Der Enzyklopädist Diderot ist über längere Zeit Gast des Zarenhofes. Gleichzeitig setzt sie das Sammeln russischer Erde nach Süden, ebenso wie den autoritären Regierungsstil fort. Die Politik  Katharinas vertieft die  Durchmischung von Orthodoxie und westlicher Aufklärung erheblich.

 

Übergang in die Moderne:

Durchmischung, imperiale Konfrontationen, gegenseitige Zerstörung

 Auf die Westöffnung Peters I. und Katharinas II. folgt wie ein Donnerschlag der Feldzug Napoleons gegen Russland. Deutlicher als mit diesem Feldzug, der im russischen Winter von 1812 steckenblieb, konnte der Welt nicht mehr vorgeführt werden, dass Russland mehr war als nur Europa und wie weit sich Russland und der Westen inzwischen voneinander entfernt hatten. Napoleons Rückzug war nicht nur ein Rückzug Frankreichs, es war ein Rückzug Europas. Nur eins dazu: Mehr als die Hälfte des 500.000 Mann starken napoleonischen Heeres waren Mannschaften aus den von Napoleon besetzten Gebieten Europas.

Der Niederlage Napoleons folgte auf dem Fuße ein Vorstoß Russlands nach Westen. Auf dem Wiener Kongress von 1814, bei dem es um eine Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons gehen sollte, genauer, um die Wiederherstellung der von Napoleon zerstörten dynastischen Ordnung, war der russische Zar Alexander I. neben dem Vertreter Habsburgs, Fürst Metternich, die führende Stimme der Restauration. Sein im Zuge der „Heiligen Allianz“ unternommener Versuch die Auswirkungen der französischen Revolution zurück zu kämpfen warf den Schatten einer tiefen orthodoxen der Reaktion auf Europa.  

Der Schlagabtausch, der mit Napoleons endgültiger Niederlage  bei Waterloo 1816 endete, war das Vorspiel für die Konfrontationen des darauf folgenden Jahrhunderts, in denen die von Europa ausgehende Expansion über See und die von Moskau ausgehende territoriale Expansion an den Rändern Eurasiens, zum Beispiel in Afghanistan aufeinanderprallten, ergänzt durch Konfrontationen im süd-europäischen Raum, in dem Russlands panslawistische Ambitionen auf westeuropäische Grenzen stießen. Es entstand das, was uns bis heute unter dem Stichwort des ‚great game‘ begleitet und was sich in dem Jahrhundert der zwei Weltkriege entlud, die sich 1914 – bis 1918 und noch einmal 1939 bis 1945 im Kern um Verschiebungen der ins Globale gewachsenen Konkurrenz zwischen den von Europa und Russland ausgehenden Einflusszonen drehten.  

Einige Aspekte dieser konfrontativen Zeit, die Beziehung Europas zu Russland betreffend, fallen von heute aus besonders ins Auge:

Das ist vor allem die schon erwähnte Unterstützung der Oktoberrevolution durch den Westen im Zuge des 1. Weltkriegs, konkret durch die deutsche Wehrmacht, die Lenin und eine Gruppe russischer Revolutionäre in plombierten Waggons nach Russland einschleuste,  mit dem klaren Ziel den Zarismus zu stürzen und Russland damit zur Kapitulation zu zwingen. Anschließend bekämpfte der Westen die Ergebnisse der Revolution, um eine sowjetische Staatenbildung zu verhindern. Heute würden wir diesen Vorgang glatterdings einen ‚Regime change‘ nennen.

Aber wenn der Sturz des Zarismus, die Konfrontation mit westlichem revolutionären Gedankengut, nicht zuletzt mit dem Atheismus der Revolution Russlands Identität auch ins Herz traf, zerstörte Europa sich in diesem  Krieg doch andererseits selbst, während die von Russland, der entstehenden Sowjetunion sich ausbreitende kommunistische Internationale sich in der Gegenbewegung zu dem von Europa ausgegangenen Zersetzungsversuch praktisch über die gesamte westliche Welt verbreitete. Man ist versucht von einem paradoxen Vorzeichenwechsel zu sprechen: Russland übernahm den westeuropäischen Zivilisationsstrom der Desintegration in Gestalt einer modernen Einheitspartei, in den Westen floss in einer unaufhaltsamen Gegenbewegung der Strom des russischen Integrierens und Kollektivierens in Form einer Vielzahl kommunistischer Parteien hinein. Die Folge war, einfach gesagt, ein die Fronten übergreifendes Identitätschaos – in dem Atheismus und Orthodoxie sich zu monströsen Dogmatismen überkreuzten.

Im zweiten Weltkrieg versuchen die westlichen Alliierten – Hitler benutzend – den aus der Oktoberrevolution erwachsenen Einfluss der Sowjetunion/Russland wieder zurückzuschlagen. Hitler hatte sich einbilden können, England werde seinem Vorgehen gegen Russland stillschweigend zusehen. Aber anders als geplant, ging nicht Russland, sondern Europa in diesem Krieg zugrunde: Europa wird geteilt, West-Europa, Westdeutschland werden Satelliten der USA. Russland, die Sowjetunion dringt bis nach Mitteleuropa vor. Die Welt ist geteilt – bis die Sowjetunion 1991 implodiert und die USA als „einzige Weltmacht“ übrigbleiben, vorläufig jedenfalls, solange ihr keine neuen Rivalen erwachsen. 

 

Ergebnis im Rückblick:

Aus dem ursprünglich gemeinsamen Strom der beiden Kolonialmächte Europa und Russland wurde die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts:

  • Europas Expansion der Vielfalt explodierte:

Nach seiner Selbstzerstörung in dem zurückliegenden Weltkrieg des 20. Jahrhunderts (1. – und 2. Weltkrieg) braucht und sucht Europa heute eine neue nachkoloniale und nachnationale Identität und Form.  Die gegenwärtige Europäische Union ist eine Übergangserscheinung, bei der die Frage entsteht: was ist der Mitteleuropäische Raum in diesem ganzen Konzert.

  • Russlands Expansion des Sammelns implodierte:

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion braucht/sucht Russland heute eine post-expansive Identität als Entwicklungsland neuen Typs, in dem westliche Standards und durch den Sowjetismus gebrochene Tradition eine neue Verbindung suchen. Russlands gegenwärtige autokratische Form ist eine Übergangserscheinung.

  • Die USA übernahmen das Ruder der Weltentwicklung:

Sie haben ein erklärtes Interesse daran, die Verbindung eines erneuerten Russland mit einem erneuerten Europa, insonderheit Deutschlands als tragender Mitte Europas, zu verhindern.  

Aktuell tritt jetzt noch China als neue Größe vom Osten her in diese Konstellation mit ein.  Weitere Mächte melden ihre Ansprüche zur Teilhabe an. Es entsteht etwas, das als multipolare Weltordnung bezeichnet wird, bei dem aber vollkommen unklar ist, was die geistige Substanz dieser Weltordnung ist. Ohne verbindende Sinngebung droht diese Entwicklung in eine erneute Ost-West-Spaltung zu führen, jetzt lediglich ins Globale erweitert. Um es klar, und vielleicht auch ein bisschen provokativ zusammenzufassen: So wie Russland und Europa die Welt arbeitsteilig kolonisiert haben, so ist jetzt  die Zeit gekommen, sie ebenso arbeitsteilig unter Einbeziehung der inzwischen gewachsenen Außenflanken, China, und die USA zu transformieren.

 

Aber wie?

Wie kann es gelingen, die verschütteten Impulse der europäisch-russischen Beziehungen wieder freizulegen, sie miteinander in Austausch zu bringen, statt sie unerkannt, ins Lähmende oder ins Globale eskaliert, weiter gegeneinander wirken oder gar wüten zu lassen, nachdem die Versuche einer neuen Völkerordnung nach 1918 ebenso wie die russische Revolution damit in der Vergangenheit gescheitert sind und auch gegenwärtige Annäherungen jetzt wieder zu scheitern drohen?  

Ein interessanter Ansatz dazu lässt sich in einem Vortrag von Rudolf Steiner finden, dem Begründer der anthroposophischen Gesellschaft, den er zum Jahreswechsel 1918/1919 hielt, also noch unter dem unmittelbaren Eindruck des 1. Weltkrieges. Er spricht von drei Kulturströmungen, die sich aus den Tiefen des vorchristlichen Altertums entwickelt hätten. Deren Wirken müsse offen gelegt, verstanden und in neue Beziehung zueinander gebracht werden, so Steiner, wenn man das heutige Chaos und die heutige Entwicklungsdynamik verstehen wolle. Als die drei Strömungen benannte er:

  • Den aus dem Orient über Mesopotamien kommenden griechischen, christlichen Strom, der sich am Ende im russisch-slawischen Raum in besonderer Weise entwickelt und bewahrt habe.
  • Den aus Ägypten über Rom kommenden rechtlichen, politischen Strom, der sich über den ursprünglichen orientalischen gelegt und sich wesentlich in Mitteleuropa in der Herausbildung der Emanzipation des Einzelnen und rechtsstaatlicher Vorstellungen ausgeprägt habe.
  • Den später aus dem Norden kommenden pragmatisch, wirtschaftlichen Strom, der sich in der englisch-amerikanischen Welt entwickelt habe, der aber als jüngster Strom noch nicht voll ausgebildet sei.

Diese Grundströmungen, seien heute nicht mehr in Klarheit erkennbar, so Steiner weiter, sie  hätten sich auf dem  Weg durch die Geschichte zu einem chaotischen Knäuel einer geistlosen Zivilisation verwickelt, verfälscht und zum Teil pervertiert. Sie unter ihren Verformungen in ihrer jeweiligen Wertigkeit zu erkennen und im Zuge einer Entzerrung des heutigen sozialen Lebens nach geistigen, politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten, Steiner spricht von einer Dreigliederung des sozialen Lebens, so miteinander in Beziehungen zu bringen, dass die konfliktstiftende Dominanz des Ökonomischen überwunden werden könne, sei das Gebot der Zeit. Das habe der Krieg, der aus eben dieser Dominanz des Ökonomischen entstanden sei – um es mit Worten von heute zu sagen – der Menschheit nachhaltig vor Augen geführt.

Man muss kein Anthroposoph sein, um die Wahrheit dieser Aussagen zu erkennen und um weiter zu erkennen, dass wir seit dem ersten Weltkrieg ein weiteres Jahrhundert der „Verknäuelung“ und Nivellierung erlebt haben und im Zuge der Globalisierungskrise heute weiter erleben. Klar ist auch, wie sehr Europa und Russland – nämlich zentral, gewissermaßen als Kern, um die das Knäuel aufspult ist – in dieses Knäuel verwickelt sind:

  • Die Gemeinschaftskräfte Russlands kommen mit den vom Westen ausgehenden Modernisierungen unter existenziellem Druck. Er führt einerseits zu einer von Russland ausgehenden Hyperindividualisierung, lässt aber zugleich starke Tendenzen der Abschottung entstehen. In der Politik führt das dazu, dass Russlands europäische Nachbarn Russland als unberechenbar fürchten.
  • Die emanzipatorischen Impulse Europas verkehren sich zusehends in soziale Isolation, während sie zugleich einen aggressiven Export menschenrechtlicher Ideologie hervorbringen; der wird von Russland angesichts der realen Politik der Europäischen Union als hohl und übergriffig erlebt.
  • Die globalisierte Ökonomie bringt statt einer am Menschen orientierten Wohlfahrt, was ihre Aufgabe und Möglichkeit wäre, zunehmende Konfliktpotentiale und soziale Gewalt hervor.

Was könnte eine Besinnung auf die von Steiner genannten Kulturströmungen in der heutigen Situation für Europas Beziehung zu Russland also bedeuten?

  • Ganz sicherlich keine fraglose Unterordnung unter die Dominanz einer bloß ökonomisch orientierten Globalordnung nach amerikanischem Muster – auch dann nicht, wenn diese Ordnung in Zukunft unter anderen Namen, etwa dem chinesischen auftreten sollte. 
  • Ganz sicher keinen romantischen Rückfall auf den Traum von einem ungeteilten christliches Europa nach Art der deutschen Romantik oder gar auf eine von Europa und Russland gemeinsam gebildete eurasische Achse, die versucht ihre durch die Teilung verlorene abendländische Dominanz wiederherzustellen.    
  • Ganz sicher aber auch nicht den isolierten Rückzug auf eine „russische Idee“ oder eine „europäische Idee“, die sich voneinander abgrenzen oder gar bekämpfen. Das liefe nur auf eine Beschleunigung der nationalistischen Tendenzen hinaus, die sich gegenwärtig in der Welt des „Amerika first“ abzeichnen.

Eine Notwendigkeit der heutigen Zeit ist aber sicher, und das mehr und dringender als noch vor hundert Jahren, die russische und die europäische Idee, wie jede andere nationale Idee, die zurzeit lebt oder noch neu entsteht, einschließlich der amerikanischen, vorurteilslos daraufhin zu untersuchen, wie sich die genannten kulturellen Grundströmungen in der heutigen globalen gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellen und wie eine von nationalen Beschränkungen befreite  Wechselwirkung von geistigem Leben, Politik und Ökonomie so gefördert werden kann, dass die Dominanz der Ökonomie relativiert, tendenziell überwunden werden kann, bevor die Notwendigkeit dazu durch eine weitere Weltkatastrophe bewiesen wird.

Europa und Russland könnten dazu, wenn sie sich auf ihre historischen Wurzeln besännen, in ihrem gegensätzlichen Aufeinander-Bezogen-Sein von individueller Emanzipation und gemeinschaftlicher Tradition einen entscheidenden Beitrag leisten, in dem ‚Herz‘ und ‚Kopf‘ miteinander und nicht gegeneinander wirken – allerdings ohne dabei, das ist zu betonen, die Ökonomie zu vergessen, ohne dabei aber auch zu erneuter Expansion oder Dominanz aufsteigen zu wollen. Anders gesagt, die Ökonomie, konkret auch der „american way of life“, einschließlich seiner chinesischen Variante,  muss nicht bekämpft, sondern in diese Entwicklung integriert werden, wenn sich ein lebendiger Austausch zwischen den Kulturen entwickeln soll, der an der Förderung des Wohles, der Selbstständigkeit und Freiheit des einzelnen Menschen orientiert ist.   

In diese Richtung nach vorn zu schauen, um zu sehen, wie russische und europäische Art sich gegenseitig anregen können, ist wohl die optimale heutige Variante.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Merkels Minsker Märchenstunde

Parallel zu den NATO- Übungen in Polen, begleitet durch die neue Zielvorgabe von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Militärausgaben über das von der NATO geforderte Maß auf das der  Vereinigten Staaten heben zu wollen,  sollen nach dem Willen der EU, allen voran der deutschen Kanzlerin Merkel nun auch die Sanktionen, welche die EU im Sommer 2014 gegen Russland beschlossen hat, um ein weiteres halbes Jahr bis Ende Januar 2017 verlängert werden. Dies beschlossen die Botschafter der 28 EU-Staaten bei ihrem  letzten Treffen Anfang Juni einstimmig. Ihr Beschluss wurde soeben von Brüssel bestätigt.

Als Begründung für die Notwendigkeit der Verlängerung der Sanktionen wurde von der Botschafterversammlung angegeben, dass es mit der  Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die im Februar 2014 zwischen Angela Merkel, François Hollande , Wladimir Putin und Petro Poroschenko als „Reaktion auf Russlands Unterstützung der Separatisten“ beschlossen wurden, noch ‚gewaltig hapere‘, so der Tenor im Mitteilungsblatt der Regierung, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22.06.2016, dem ein ausführlicher Bericht zu dem Treffen zu entnehmen war. In dem Bericht heißt es:

„Nicht nur wird der damals  zugesagte Waffenstillstand immer wieder gebrochen. Noch längst wurden zudem offenbar nicht alle schweren Waffen  aus der Pufferzone abgezogen. Und nach wie vor  stehen die in Minsk  vereinbarten Kommunalwahlen  in der Ostukraine aus.“ Weitere Begründungen werden nicht gegeben.“

Stimmt. An der Grenze zwischen den Donbas-Republiken und der Kiewer Ukraine wird nach wie vor geschossen. Nicht mitgeteilt wird jedoch, wer schießt, obwohl die Frage eindeutig zu beantworten wäre: beide Seiten schießen. Die Klage darüber konnte man in den letzten Monaten in wachsendem Maße den Berichten der OSZE entnehmen und sogar aus Munde des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeiers hören. (siehe dazu diverse Berichte in russland.ru, jetzt russland.news), wenn er seine Eindrücke über die Erfolge der Demokratisierung in der Ukraine immer unzufriedener kommentierte.

Dass die  Kommunalwahlen der Ostukraine ausgeblieben seien, stimmt allerding s nur noch halb. Tatsache ist, es fanden Wahlen in der Ostukraine statt, allerdings nicht nach den in Minsk  vereinbarten, sondern nach eigenen örtlichen Bedingungen, weil die in den Minsker Beschlüssen vereinbarten Voraussetzungen von Kiew trotz diverser Gesprächsangebote aus dem Ostteil des Landes nicht hergestellt wurden. Eine Erinnerung an diese Vereinbarungen und ein Bestehen auf ihrer Einlösung sucht man in den  Begründungen für die aktuelle Sanktionsverlängerung jedoch vergebens.

Dabei könnte alles so einfach sein, wenn diese Vereinbarungen des Minsker Protokolls, die den Kern des Konfliktes zwischen Kiew und den Ostgebieten betreffen,  genannt, anerkannt und erfüllt würden. Sie lauten: Die Kiewer Regierung führt eine Verfassungsänderung durch, als deren wesentliches Ergebnis sie den Gebieten Donezk und Lugansk eine begrenzte Autonomie zugesteht, auf deren Grundlage dann Wahlen für die gesamte Ukraine durchgeführt werden können. (Siehe die Fakten zu den Vereinbarungen im 2. Teil dieses Artikels)

Tatsache ist, dass die Verfassungsreform bis heute nicht durchgeführt wurde, dass keine direkten Gespräche zwischen Kiew und den Donbas-Vertretern zur Vorbereitung und Einleitung einer solchen Reform zustande kamen – sei es, weil Poroschenko und seine Umgebung es selbst nicht wollen, sei es weil sie durch das nationalistisch dominierte Parlament daran gehindert werden. Mit Terroristen verhandeln wir nicht, hieß die bisher dabei von Kiewer Seite insgesamt verfolgte Linie.

Von  all dem – den ursprünglichen Vereinbarungen, wie deren Missachtung durch Kiew – ist,  wie gesagt, in den Begründungen für die Verlängerung der Sanktionen nicht mehr die Rede. Zwar werden von deutscher Seite, Steinmeier, großzügig „schrittweise Lockerungen“ der Sanktionen angeboten,  allerdings nur, wenn  „substanzielle Fortschritte“ bei der Umsetzung der Verträge erkennbar würden – substanziell von russischer Seite, versteht sich, wobei im Nebel bleibt, worum es hierbei gehen soll, da Russland eh schon seine Unterstützung auf die Aufrechterhaltung der rudimentären Infrastrukturen der Gebiete reduziert hat, die OSZE-Kontrollen in  mitträgt, den beschlossenen Fahrplan, wie oben  benannt, immer wieder zusammen mit den Donbas-Vertretern einklagt.

Dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wäre, wie er öffentlich erklärte, als „Signal aus Moskau“ sogar schon mit einem „Wahlgesetz für die Ostukraine“ Genüge getan. Aber selbst dafür, höhnt die „Frankfurter“, habe es in Minsk nicht gereicht.

Ähnliche  Töne wie die Steinmeiers und Gabriels sind auch von den Franzosen und Italienern,  waren in St. Petersburg vor einer Woche auch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu hören. Ungarn und Griechen schwanken. Gänzlich unnachgiebig sind die Balten und die Polen.

Kurz, es gibt durchaus widersprüchliche Positionen innerhalb der EU zu der Frage  und es fragt sich, wie lange die nach außen demonstrierte Einigkeit aufrechterhalten werden kann.  Nach dem Austritt Englands aus der EU stellt sich diese Frage noch einmal aktueller. In der Beschlussfassung zu den Sanktionen stellten jedoch weder Steinmeier, noch die Franzosen, noch die Italiener, noch sonst irgendjemand die Einstimmigkeit in Frage.

Die Beendigung der Minsker Märchenstunde lag  dann bei der deutschen Kanzlerin, die „klarstellt(e)“, wie die „Frankfurter Allgemeine“ es kernig formulierte, dass sie  eine Lockerung  der Sanktionen für „verfrüht“ halte. Die Zeitung weiß zu diesem Vorgang im Übrigen noch die folgende nette Anekdote zu berichten:

„Ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen war in der vergangenen Woche  mit zwei ranghohen Diplomaten  des Auswärtigen Amtes  nach Minsk gereist.  Nach der Reise  konnte Merkel sowohl Skeptikern in der EU als auch ihrem Koalitionspartner ausrichten: Seht her, wir haben es versucht. Aber es reicht noch nicht. Steinmeier und Gabriel mussten dies akzeptieren.“ So einfach ist das.

Was immer Kanzlerin Merkels Emissäre dort in „Minsk“ und bei wem  gefunden haben mögen – die tatsächlichen Vereinbarungen vom Februar 2015 fanden sie dort offenbar nicht. Angesichts eines solchen kollektiven Misserfolges bei der Suche nach Originalquellen oder auch einfach bedauerlichen Gedächtnisverlustes scheint es sinnvoll noch einmal an daran zu erinnern, was in den ursprünglichen Vereinbarungen zu finden wäre, was auch nicht mit neuen Reisen nach Minsk gesucht werden müsste, wenn man es denn finden wollte:

Dies kann jetzt und hier an Hand eines Textes von mir geschehen, der sich vor nahezu einem Jahr, am 1. Mai 2015, schon einmal die Aufgabe stellte, daran zu erinnern, was in Minsk tatsächlich beschlossen und schon seinerzeit beiseitegeschoben worden ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

***

 

Es folgt jetzt der Originaltext vom 1. Mai 2015, veröffentlicht u.a. in Russland.ru/russland.news

 

Wie alles sein könnte –

Ein Versuch über den Rand des Minsker Tellers zu schauen

 

Eigentlich ist alles ganz einfach: Die ukrainische Führung akzeptiert die Vereinbarungen des zweiten Minsker Treffens vom 12. Februar 2015, das heißt, sie geht mit den politischen Vertretungen der inzwischen selbst verwalteten Gebiete Donezk und Lugansk in direkte Verhandlungen über den autonomen Sonderstatus, den diese Gebiete ausgehend vom jetzigen Status quo in einer demokratisch und dezentral organisierten Ukraine erhalten sollen. Die Bereitschaft zu diesen Gesprächen geht von der Einsicht aus, dass eine militärische Lösung der Verfassungsprobleme der Ukraine nicht möglich ist.

Die Gespräche um Ausmaß und Form des autonomen Sonderstatus – Föderalisierung, Autonomie, lokale Sonderrechte oder einfache verwaltungstechnische Dezentralisierung – sind zugleich Bestandteil einer Verfassungsreform, als deren Ergebnis die autoritäre zentralstaatliche Organisation der Ukraine in eine dezentrale Demokratie umgewandelt werden soll.

Soweit, so klar, ein solches Vorgehen entspräche voll und ganz den Vereinbarungen, die in Minsk II getroffen wurden. Zur Erinnerung hier die entsprechenden Passagen der Minsker Vereinbarungen, die das Prozedere für die oben beschriebene Entwicklung unmissverständlich benennen (zitiert nach der „Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Ukrainekrise“, die dort am 19. Februar 2015 in Übernahme der Minsker Vereinbarungen beschlossen wurden):

 

Aufnahme eines Dialogs

Punkt 1 des Minsker Maßnahmenpaketes:

„Aufnahme eines Dialogs am ersten Tag des Abzugs (der schweren Waffen – ke) über die Modalitäten  von lokalen Wahlen  in Übereinstimmung mit ukrainischem Recht und dem Gesetz der Ukraine über  das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk  sowie über die künftigen Regelungen  für diese Regionen auf der Grundlage dieses Gesetzes. Unverzügliche Verabschiedung eines Beschlusses des Parlaments der Ukraine spätestens 30 Tage nach der Unterzeichnung dieses Dokuments, in dem das Gebiet, das einen Sonderstatus genießt, nach dem Gesetz der Ukraine über das Interimsverfahren  für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk festgelegt wird, und zwar auf der Grundlage der Linie des Minsker Memorandums vom 19. September 2014.„[i]

Kompliziert formuliert – aber doch klar: Nach Rückzug der schweren Waffen soll der direkte Dialog zwischen der Kiewer Führung und den selbstverwalteten  Gebieten Donezk und Lugansk aufgenommen werden, um den Status dieser Gebiete, auch den territorialen, im Verbund des ukrainischen Staates zu klären. Es werden keine Vorgaben über die Form und den Charakter dieses Status gemacht.

Noch deutlicher wird die Forderung nach einem Dialog in den Punkten 9 und 11 des Abkommens; diese Punkte sollen hier, wiewohl auch etwas mühsam zu lesen, ebenfalls zitiert werden, um Einseitigkeiten, Missverständnissen oder sei es auch nur einer allgemeinen Amnesie entgegenzuwirken:

 

Absprache und Einvernehmen

Punkt  9 und 11 des Maßnahmenpakets:

 „Wiederherstellung der vollen Kontrolle über die Staatsgrenze durch die ukrainische Regierung im gesamten Konfliktgebiet, die am ersten Tag  nach den lokalen Wahlen und nach der umfassenden politischen Regelung (lokale Wahlen in den gesonderten Regionen und Verwaltungsgebieten Donezk und Lugansk auf der Grundlage des Gesetzes der Ukraine und einer Verfassungsreform) endet; diese Regelung soll bis Ende 2015 finalisiert werden, vorausgesetzt, dass Absatz 11 in Absprache und im Einvernehmen mit Vertretern der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe umgesetzt wird.“

 

Punkt 11 lautet, um das gleich anzuschließen:

„Durchführung einer Verfassungsreform  in der Ukraine, wobei die neue Verfassung  bis Ende 2015 in Kraft treten soll und die Dezentralisierung  als Schlüsselelement vorsieht (einschließlich einer Bezugnahme auf die Besonderheiten  in den gesonderten Regionen Donezk und Lugansk, und  zwar in Absprache mit den Vertretern dieser Regionen), und Verabschiedung dauerhafter Rechtsvorschriften über den Sonderstatus der gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  bis Ende 2015 in Übereinstimmung mit den in der Fußnote dargelegten Maßnahmen. (Anmerkung)“

Ist schon mit diesen Punkten klar, dass NICHTS gehen kann, ohne die Aufnahme eines direkten Gespräches zwischen Kiew und den „gesonderten Regionen“, so beseitigen die Fußnoten („Anmerkung“) jeden Zweifel, was der Geist von Minsk II, der so oft beschworen wird, eigentlich ist – oder sein könnte.

 

Möglichkeit zu Initiativen

„Anmerkung: Nach dem Gesetz über das Sonderverfahren für die lokale Selbstverwaltung  in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk  handelt es sich um folgende Maßnahmen:

– Verzicht auf Bestrafung, strafrechtliche Verfolgung und Diskriminierung von Personen, die in die Ereignisse verwickelt waren, die in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk stattgefunden haben;

– Recht auf sprachliche Selbstbestimmung;

– Beteiligung von Organen der lokalen Selbstverwaltung an der Ernennung der Leiter  der Staatsanwaltschaften und Gerichte in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete  Donezk und Lugansk;

– Möglichkeit für zentrale Regierungsstellen, Vereinbarungen mit Organen der lokalen  Selbstverwaltung betreffend die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der gesonderten  Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk zu initiieren;

– Staatliche Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den gesonderten Regionen  der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk mit Regionen der Russischen Föderation  durch zentrale Regierungsstellen;

– Schaffung von Volkspolizeieinheiten durch Beschlüsse der lokalen Räte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den gesonderten Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk;

– Die Befugnisse der in vorgezogenen Wahlen  und von der Werchowna Rada der Ukraine nach diesem Gesetz ernannten Abgeordneten von lokalen Räten und Amtsträgern können nicht vorzeitig beendet werden.“

 

Im Mittelpunkt der direkte Dialog

Auch wenn hier wieder kompliziert  formuliert wird und ohne an dieser Stelle auf  Einzelheiten eingehen zu können, geht doch auch aus den Anmerkungen eins klar hervor: Im Mittelpunkt der Absprachen steht die Einleitung eines direkten Dialoges zwischen den Konfliktparteien – und in diesem Zuge selbstverständlich auch mit anderen Regionen der Ukraine – um die Frage, welche Form eine Dezentralisierung der Ukraine annehmen kann. Über die konkrete Ausgestaltung soll miteinander gesprochen werden.

Merke: eine bestimmte Form wird in der Vereinbarung nicht vorweggenommen. Zu verhandeln wäre also über unterschiedliche Vorstellungen von der Föderalisierung, über Autonomie, lokale Sonderrechte bis hin zu einfacher Dezentralisierung von Verwaltungsbefugnissen. Die ganze Bandbreite steht zur Debatte.

Als Gesprächspartner werden die „Vertreter dieser Regionen“ zum einen und „zentrale Regierungsstellen“ zum anderen benannt. Den zentralen Regierungsstellen wird in den Anmerkungen (Satz vier) die „Möglichkeit“ eingeräumt, Vereinbarungen mit Organen der lokalen Selbstverwaltung zu „initiieren“, wohlgemerkt, nicht etwa zu verordnen oder zu befehlen, sondern ausdrücklich als Möglichkeit zu initiieren. Auch hier wieder keine Vorgabe einer bestimmten oder gar nur einer Lösung.

 

Politische Grundfrage lösen

Die Erfüllung weiterer Punkte des Minsker Abkommens – wie: Rückzug schwerer Waffen,  Amnestie, Gefangenenaustausch, humanitäre Hilfe, Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Landesteilen der Ukraine, „Entwaffnung illegaler Gruppen“, Rückzug aller „ausländischen bewaffneten Formationen“ wird dann möglich, kann dann einen Sinn machen und dann entspannende und aufbauende Folgen haben, wenn dieser Dialog um die grundsätzlichen politischen Fragen der Beziehung zwischen dem Kiewer Zentrum und als Statthalter des Staates und seiner einzelnen Subjekten effektiv im direkten Gespräch der Konfliktparteien aufgenommen wird.[ii]

Der Bevölkerung der Ukraine täte es zweifellos mehr als gut, wenn diese Gespräche endlich begonnen würden. Das gilt für die westliche Ukraine ebenso wie für die östlichen Teile, insbesondere natürlich für die „gesonderten Gebiete“ von Donezk und Lugansk, deren soziale und technische Infrastruktur durch den inzwischen einjährigen Krieg soweit zerstört ist, dass ein Leben dort auf ein Vegetieren unter dem Existenzminimum heruntergekommen ist.

Gut wäre die Aufnahme des Dialoges zweifellos auch für die Völker Russlands und die der Europäischen Union, denen die, in immer neue Milliarden gehenden, Lasten für den sinnlosen Sanktionskrieg des Westens gegen Russland und für die Kriegswirtschaft der Ukraine aufgebürdet werden.

Kommt noch das Aufatmen dazu, das durch die Welt ginge, wenn nicht Säbelrasseln, sondern Dialog, Verständigung und Kooperation die internationale Agenda bestimmte.

 

Falsches Spiel

Tatsächlich hat die erste Sitzung der ukrainischen Verfassungskommission, die eine Dezentralisierung der Ukraine einleiten soll, inzwischen stattgefunden –  allerdings gerade n i c h t  im Geiste der Minsker Vereinbarungen, sondern in dessen glatter Verkehrung: Föderalisierung sei eine „biologische Waffe“, die man der Ukraine „von außen aufzwingen“ wolle, „um unsere Einheit zu zerstören“, erklärte Präsident Poroschenko gleich zu Beginn der ersten Sitzung der Kommission. Damit schloss er eine offene Aussprache um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Dezentralisierung von vornherein aus. „Die Ukraine ist und bleibt ein Einheitsstaat“, postulierte er.

Zwar setzte Poroschenko, an die Kommission gewendet, noch hinzu: „Für diejenigen, die über Föderalisierung sprechen, schlage ich ein Instrument namens ‚Referendum‘ vor. Ich bin bereit für ein solches Referendum, wenn Sie das für notwendig halten.“ Den eigentlichen Punkt aber setzte Ministerpräsident Jazenjuk mit dem Statement: „Eine neue Verfassung müsse die Interessen des gesamten Landes berücksichtigen – von West nach Ost. Der Dialog mit dem Osten kann erst dann stattfinden, wenn es dort rechtmäßig gewählte Abgeordnete  gibt.  Wir verhandeln nicht mit russischen Kriminellen oder Terroristen.“[iii]

Der ukrainische Parlamentsvorsitzende Wolodymyr Hroisman erklärte im TV-Sender ‚Inter“, die Zentralregierung werde nach Abhaltung freier Lokalwahlen mit den Gewinnern  einen politischen Dialog führen. Anführer von Banditengruppen und Kämpfern  der sog.  „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ an künftigen Wahlen schieden jedoch aus. Und wörtlich: „Es können keine Mörder, keine Bandenführer und alle anderen gewählt werden. Das sind Verbrecher, die bestraft werden müssen.“[iv]

 

Autonomie von Kiews Gnaden

Voraufgegangen war diesen Auftritten die Verabschiedung eines „Gesetzes über die Autonomie in den Separatistengebieten“ in der Werchowna Rada Kiews. Nach diesem Gesetz soll über einen Autonomiestatus der Gebiete Donezk und Lugansk erst nach den gesonderten Kommunalwahlen vom 25. Oktober 2015  entschieden werden. Außerdem legt das Gesetz eine Liste von Ortschaften fest, für die künftig eine Autonomie gelten soll. Diese Territorien werden in dem Gesetz zu „vorübergehend  besetztem Gebiet“ erklärt.

Alle diese Änderungen wurden ohne Beteiligung der Vertreter von Donezk und Lugansk getroffen. Vorschläge, für den Verfassungsprozess, darunter auch solche zu den Kommunalwahlen, die die Vertreter von Donezk und Lugansk nach Kiew geschickt hatten, wurden von dort nicht beantwortet.[v]

Mit dem Gesetz über die Autonomie in den Separatistengebieten und den darauf folgenden Weichenstellungen des Verfassungskongresses ist das Minsker Abkommen faktisch vom Tisch. Die Konsequenz des Gesetzes wäre vielmehr, wenn es umgesetzt  werden könnte, dass die „gesonderten Gebiete“ ihren blutig erkämpften Sonderstatus erst aufgeben müssten, um ihn sich von Kiew dann wieder gewähren zu lassen. Es ist klar, dass die politischen Körperschaften, die durch die Referenden und die unabhängig von Kiew durchgeführten lokale Wahlen n Donezk und Lugansk im Lauf des Jahres 2014 legitimiert worden sind, sich darauf nicht einlassen können. Was jetzt kommt, wenn keine Korrektur erfolgt, kann unter diesen Umständen nur auf eine Fortsetzung der bisherigen „Anti-Terror-Aktion“ hinauslaufen, die sich wahlweise  als Verfassungsreform, Dezentralisierung oder Demokratisierung tarnt. Dass die so ins Visier genommenen „Terroristen“, dies nicht widerstandslos hinnehmen werden, ist ebenso klar. Offen ist allein, wie weit sich die hinter den Konfliktparteien stehenden Schutzmächte in die neue Runde der Konflikte aktiv mit einmischen oder mit in sie hinein ziehen lassen wollen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                             Freitag, 1. Mai 2015

Bücher zum Thema:

Peter Strutynski (Hg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, Papyrossa

 

Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.), Ukraine m Visier, Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, Selbrund Vlg.

 

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte

 

 

 

[i] Wortlaut von Minsk 1: http://www.bpb.de/internationales/europa/ukraine/192488/dokumentation-das-minsker-memorandum-vom-19-september

[ii] Vollständiger Wortlaut der UN-Resolution: http://www.russland.ru/resolution-des-un-sicherheitsrates-zur-ukrainekrise/

[iii] http://de.euronews.com/2015/04/06/poroschenko-ja-zur-dezentralisierung-nein-zum-foederalismus/

 

[iv] http://www.ukrinform.ua/deu/news/hroisman_von_einer_fderalisierung_der_ukraine_kann_keine_rede_sein_14829

[v] http://www.dw.de/keine-chance-auf-frieden-f%C3%BCr-ostukraine/a-18323459

Globales Zwischenhoch: Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum?

Die Augen müsse man sich reiben, alles werde auf den Kopf gestellt, konnte man dieser Tage in dem führenden Blatt der deutschen Konservativen, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.06.2016 lesen.

Empörung breitete sich auf den Bonner und Brüsseler Etagen aus. Einen „ungeheuerlichen Vorwurf“  erkannte der  Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Eckpfeiler der deutschen, der europäischen Außenpolitik, gar der NATO-Strategie sah man bedroht. Man wolle doch nur die Sicherheit an Russlands Grenzen sichern; ein anderes Interesse als Friedenserhaltung verfolge die NATO nicht, schob Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag darauf nach.

 

Putins Angebot: Weg mit den Sanktionen

Was war geschehen? Auf dem 20. Petersburger Wirtschaftsforum vom 17.06.2016, zu dem rund 500  Vertreter und Vertreterinnen von ausländischen Unternehmen aus 60 Ländern, vornehmlich aus dem Nahen Osten und Asien, aber auch aus den USA und der EU angereist waren, unter ihnen auch der Präsident der Europäischen Kommission der EU, Jean-Claude Juncker, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Gäste aus der EU mit dem Angebot überrascht, die von Russland als Reaktion auf die vom Westen nach den Krim-Ereignissen gegenüber Russland verhängten Sanktionen von Russlands Seite her aufzuheben. Gemeinsam könne  man an den Aufbau einer eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft  gehen  – wenn Russland sich darauf verlassen könne, anschließend nicht (man konnte das feine ‚wieder‘ mit heraushören) betrogen zu werden.

Und nicht nur das: Nicht nur lobte UN-Präsident Ban Ki-Moon Gastgeber Putin für seinen mutigen Schritt und dankte für sein Engagement in Syrien, nicht nur kniff sich Juncker eine Zustimmung zu dieser Perspektive ab, vorausgesetzt, dass  Russland sich weiter kooperativ zeige, nein, allen voran nutzte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Gut-Wetter-Lücke zwischen dem Treffen in St. Petersburg und der für den 8. und 9. Juli bevorstehenden NATO-Tagung,  mit Hinweis auf das zur Zeit in Polen durchgeführte  Nato-Groß-Manöver „Anaconda“ in der „Bild am Sonntag“ öffentlich zu mahnen: „Was wir jetzt nicht tun sollten, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeschrei  die Lage weiter anzuheizen.“

 

Aber war denn nicht alles ganz anders …

Aber die  so Ermahnten können es einfach nicht glauben. War denn nicht alles ganz anders? Werden damit nicht alle Tatsachen auf den Kopf gestellt? War es nicht so, wie man es in der FAZ vom 20.Juli lesen konnte ? „Ursache für die Eiszeit  ist der Verstoß Russlands gegen Prinzipien,  die jahrzehntelang für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt hatten. Es war nicht die Nato, sondern der Kreml, der die Krim okkupierte und der in der Ostukraine einen (Sitz-)Krieg führt. Es ist nicht die Nato, sondern Moskau,  vor dem sich  die baltischen Republiken und Polen fürchten,  weswegen sie aus freien Stücken der atlantischen Allianz beitraten. Bis zur Annexion der Krim spielte die Nato militärisch in diesen Ländern keine Rolle. Auch die vier Bataillone, die dort stationiert werden sollen,  stellen keine Bedrohung für Russland dar, das auf seiner Seite der Grenze Divisionen stehen hat.  Steinmeier spricht zu Recht  von ‚symbolischen Panzerparaden‘. Die Nato-Verbände haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, das der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe.  Und dass die NATO einen Angriff  auf eines ihrer Mitglieder  als Angriff auf alle betrachten würde.“

Bemerkenswert! Wirklich bemerkenswert diese Sicht! Man kann die Welt doch von sehr verschiedenen Seiten betrachten. Aber man muss sich hier nicht bei den gröbsten Verdrehungen aufhalten, wie etwa der, Russland habe die Krim „besetzt“, man  muss auch nicht den Versuchen Steinmeiers und seiner Parteigänger erliegen, das Schwanken zwischen Verlängerung der Sanktionen gegen Russland und zögernder Anerkennung für dessen Einsatz in Syrien für eine „neue Entspannungspolitik“ auszugeben, es gar noch „im Geiste Brandts“ verstehen. Zu offensichtlich ist die Hilflosigkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit dieser Politik, wenn man wahrnehmen muss, wie in strategischen Hinterstuben zugleich Pläne für die nächste Phase geplanter Aggression geschmiedet werden:

  • Die Forderung von 51 US-Diplomaten aus dem Mittelbau des außenpolitischen Establishments, die in einem offenen Brief verlangen, die Politik des „Regimechange“ in Syrien durch Bombardierung von Assads Truppen wieder aufzunehmen. Dies würde den Krieg mit Russland zumindest in Kauf nehmen.
  • Das Offenhalten des Ukraine-Konfliktes, indem die ukrainische Regierung sich – trotz verbaler Kritiken seitens der EU, Steinmeiers, und selbst seitens der USA von ihnen dennoch geduldet – weigert, den Donbas-Republiken ihren im Minsker Vertrag vereinbarten Autonomiestatus zuzuerkennen – die Schuld dafür aber der andauernden „Aggressivität“ der Russen zuschiebt.
  • Die nochmalige Verlängerung der Sanktionen seitens der USA und der EU gegen Russland, sogar Forderungen nach weiterer Verschärfung, so dass es Millionen wirklich wehtue, weil nur so an einen Sturz Putins gedacht werden könne.

 

An einem Wendepunkt angekommen

 Man muss auch Russland nicht in Schutz nehmen als wäre es ein Neugeborenes, das den  Härten der US-, EU-, Nato-Welt und überhaupt den imperialen globalen Realitäten, den Verleumdungen Russlands als Reich des Bösen mit einer Widergeburt Hitlers als Präsidenten noch nicht gewachsenen sei, dem also schon einmal Fehler unterlaufen könnten, ohne dass man es dafür kritisieren müsste. Aus der zweiten und dritten Reihe werden auch in Russland durchaus dumpfe Töne laut.

Nein, man muss jetzt vor allem erst einmal die Tatsache erkennen, dass Russland 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder in die Weltpolitik eingetreten, dass sein Präsident Putin ungeachtet aller Anwürfe als Wiedergänger Hitlers zum anerkannten globalen Krisenmanager aufgerückt ist. Und man muss dies nicht nur konstatieren, um sich dann darauf auszuruhen, es ist auch wichtig zu erkennen, wie es dahin kam, welche Elemente in diesem Krisenmanagement wirksam sind und wo seine Grenzen liegen, um zu verstehen in welcher Etappe der Neuordnung wir uns 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der systemgeteilten Welt, die den Kriegen des vorigen Jahrhunderts folgte, heute befinden.

Denn ungelöst sind die aus dem letzten Jahrhundert herüber gewachsenen Grundfragen, die über ein vorübergehendes Krisenmanagement durch eine charismatische Figur wie den gegenwärtigen russischen Präsidenten weit hinausführen.

Wer diesen Blick auf die zurückliegenden 25 Jahre richtet, erkennt, dass die globale Konstellation mit Putins neuerlichem Angebot an die Europäische Union an einem Wendepunkt angekommen ist.

 

Drei Etappen des  russischen Aufstiegs

Drei Etappen lassen sich bei dem Aufstieg Russlands in seine gegenwärtige Rolle des globalen Krisenmanagers benennen:

Das ist zunächst das  Wegbrechen jeglicher Staatlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und dem Kniefall vor dem Westen unter Boris Jelzin in den Jahren 1985 bis 1998.

Das ist darauf folgend die Wiederherstellung rudimentärer Staatlichkeit und einer mühsamen inneren Stabilisierung unter Putin  im Inneren des Landes seit 1998 bis heute (allerdings schon begonnen unter Primakow 1998, was in der Regel unterschlagen wird).

Das ist, aus dem inneren Krisenmanagement erwachsen, der Übergang in ein Wiedereintreten des Landes in seine Rolle als Integrationsknoten Eurasiens, der für die Newcomer aus den ehemaligen Kolonien zum wichtigsten Partner in ihrem Streben nach einer Ablösung der von den USA allein und militärisch dominierten Weltordnung wurde.

Aber nicht Diktat und Repression, wie westliche Propaganda es immer wieder nahelegt,  hat diesen Weg des inneren und danach äußeren Krisenmanagements getragen, nicht imperiale Stärke,  sondern im Gegenteil eine von Putin aus dem geschwächten eurasischen Zentrum heraus entwickelte Politik des Konsenses.

Aus dem Konsens heraus ist Russlands Wiederherstellung seiner Staatlichkeit im Inneren erfolgt, zweifellos „vertikal“, nicht demokratisch, aber gestützt auf die Struktur realer Vielfalt im Lande. Aus dem inneren Konsens heraus hat Russland seine Rolle als Motor einer internationalen Gegenbewegung der BRIC-Staaten, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion Union entwickelt – letztere immer mit Blick auf Kooperation, nicht zuletzt mit der EU, statt auf Konfrontation.

Die Angebote Putins, Medwedews und anderer russischer Politiker zur Kooperation in einer „Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok“ waren die immer wiederkehrende Essenz dieser Politik, bis Russland sich angesichts der zügellosen Ost-Erweiterung von EU, NATO und dem frechen Vordringen der USA auf den eurasischen Kontinent, ihrem schrittweisen, systematischen Einkreisen der russischen Grenzen seit der Auflösung des Warschauer Paktes, gezwungen sah,  aus der Duldung dieser Einkreisung  in die Verteidigung seiner Grenzen zugehen.

 

Übergang zur offensiven Verteidigung

Das geschah erstmalig mit der deutlichen Antwort auf die georgischen Provokationen von 2004, die Russland militärisch zurückwies.

Das wiederholte sich gegenüber den Versuchen, die Ukraine 2008, dann endgültig seit dem Maidan 2013/14 ins westliche Bündnis zu ziehen, indem Russland den Austrittswillen der Krim in einem schnellen Referendum aufgriff und den Osten in seinen Autonomiebestrebungen personell und sachlich unterstützte.

Das steigerte sich schließlich in dem Einsatz von Kampffliegern in Syrien, nachdem alle Versuche, eine friedliche Beilegung des von der US-Allianz betriebenen gewaltsamen „Regimechanges“ auf dem Verhandlungswege mit der US-geführten „westlichen Allianz“ zu erreichen, auch im fünften Jahr dieses unerklärten Krieges noch am Widerstand der USA gescheitert waren. Erst  der Einsatz der russischen Bomber erzwang jetzt den – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.

Ähnliches gilt für die Ukraine, deren „eingefrorener Konflikt“ nur deshalb nicht heiß weiter läuft, weil Russland nach wie vor als Garantiemacht hinter den selbsterklärten Republiken des Donbas steht.

Dies alles sind bekannte Tatsachen, die hier nicht zum hundertsten Male neu im Detail ausgebreitet werden müssen. Dadurch werden sie für die, die sie leugnen, nicht wahrer. Diese Menschen sehen die Dinge schlicht von der anderen Seite. Es dürfte wichtig sein, ihre Motive und Aktivitäten nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen.

 

Erkennbare Grenzen

Aber hier werden selbstverständlich auch schon die Grenzen des russischen Krisenmanagements sichtbar, das nach der Ausdehnung seiner Sicherheitspolitik  in den globalen Raum nunmehr wieder in verstärktem Maße mit der  Sicherung seiner inneren, hauptsächlich der sozialen und „nationalen“ Fragen, d.h., der Entwicklung seiner Republiken konfrontiert ist. Darüber hinaus stellt sich für Russland auf längere Sicht die Frage, ob und wie es unter diesem Druck die Kraft hat, dem Kulturimpuls als „Entwicklungsland neuen Typs“ gerecht zu werden, der in der Überwindung von sowjetischem Sozialismus und heutigem Turbo-Kapitalismus neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen könnte, die sich auf die tausendjährige (zweifellos auch sehr widersprüchliche)  Gemeinschaftskultur Russlands stützen  könnten – ohne dass daran nach dem Niedergang des Zarismus, danach dem des sowjetischen Imperiums, nunmehr auch der als zentralisierte Föderation übriggebliebene  Vielvölkerorganismus des neuen Russland zerbricht.

Dies alles muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass die grundlegenden Konflikte der sich heute entwickelnden globalen Übergangsordnung in keiner Weise gelöst, ja, zum Teil noch nicht einmal richtig erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, dann leichtfertig oder sogar wissentlich – ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen der globalen Bevölkerung – beiseitegeschoben werden.

Es sind dies Fragen, die das ganze globale Feld heute betreffen, aber eben auch Russland in seiner Dynamik als aus der Asche des Sozialismus auftauchendem potentiellen Protagonisten einer möglichen Neuordnung, dem die widersprüchliche Aufgabe zufällt, sich als „Hybrid“ neu zu erfinden, der sich in die „Moderne“ einfügen muss, der sich aber in seiner undefinierten, in Bewegung befindlichen Mischung aus gemeinschaftsorientierten und neo-kapitalistisch orientierten Lebensweisen nicht in die „normalen“, sprich zerstörerischen Krisenzyklen der kapitalistischen Welt einfügen kann – und es auch nicht will.

Die Grundfragen, deren Lösung ansteht, sind nicht zu umgehen – so oder so nicht. Fassen wir sie zusammen, dann lauten sie so:

  • Wie wollen wir leben, wenn nicht sozialistisch nach Art der Sowjetunion, aber auch nicht im nach-sozialistischen Turbo-Kapitalismus? Wie wird die soziale Frage der „Überflüssigen“ gelöst, die aus der ungebremsten Automatisierung bei gleichzeitiger rasanter Vermehrung der Weltbevölkerung erwächst?
  • Wie wird die „Nationale Frage“ in einer Welt gelöst, auf der unter dem Prinzip „Teile und Herrsche“ bei gleichzeitigen globalen Zentralisierungstendenzen immer mehr „eingefrorene Konflikte“ als Minenfelder für zukünftige Politik zurückbleiben?
  • Wie sind die zerstörerischen Folgen des immer noch wachstumsorientierten Expansionismus ohne Krieg zu bewältigen?

Wie lange und wie weit Russland zur friedlichen, kooperativen Lösung dieser Fragen beitragen kann, ist eine der entscheidenden, wenn nicht die entscheidende Frage der nächsten Etappe.

 

Kai Ehlers, 21.06.2016

www.kai-ehlers.de

 

 

 

Sommergespräch über Russland in Tarussa: Rückblick und Ausblick

Hallo allerseits! Ich bin wieder einmal in Russland unterwegs.

Im Folgenden können Sie sich in ein Gespräch einklinken, das der Herausgeber der Internetzeitung russland.ru und ich in seinem Wohnort in Tarussa geführt haben. Das Gespräch beginnt mit einer Rückschau auf touristische Annäherungen an Russland noch vor Perestroika und endet bei der Frage, warum die Sanktionspolitik desWestens Russland nicht wird in die Knie zwingen können. Nachfolgend das mit mir geführte Sommergespräch in Tarussa als Video:

Dazu die beiden erwähnten Bücher:

  • Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer – bestellen
  • Kai Ehlers, Jenseits von Moskau, 186 und eine Geschichte von der inneren Kolonisierungn- bestellen

Wladimir Putins Botschaft an den Westen: Ein Zeitfenster für Alternativen (so aktuell wie nie)

Wladimir Putins Rede auf dem Waldai-Forum in Sotchi am 24. Oktober 2014 war wohl der bisherige Höhepunkt verbalen Kräftemessens im Angesicht der gegenwärtigen globalen Krise. (1) Es war ein beachtlicher Auftritt mit dem Anspruch, eine globale Waldai Forum Putin RedeAlternative zu präsentieren.

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Sanktionen und Russlands Autarkie – hintergründige Betrachtungen statt vordergründiger Polemik

Sanktionen und Russlands Autarkie –

hintergründige Betrachtungen statt vordergründiger Polemik

Was geschieht, was bedeutet es, wenn Russland sich nicht mehr dafür entschuldigt, die seit der Auflösung der Sowjetunion bestehende Weltordnung verändern zu wollen, sondern demonstrativ Veränderungen fordert  und bewirkt – und dafür Anklagen, Kritik, propagandistische Anfeindungen, und nicht nur das, sondern auch Versuche des Westens erntet, Russland zu isolieren und im Sanktionskrieg zu schwächen?

 

Konkret: Hat Russland die Kraft diesen Konflikt zu bestehen? Worin könnte diese Kraft liegen? Nacheinander sind dazu drei Elemente zu betrachten:

  1. Die Rolle der Vielvölkerrealität Russlands?
  2. Die Rolle der traditionellen Selbstversorgungskultur Russlands.
  3. Russlands Reichtum an Ressourcen.

Die Überlegungen zu diesen Fragen sind als Annäherungen gedacht, die zur Diskussion stehen. Zustimmende oder auch gereizte Reaktionen sind erwünscht.

 

Vielvölkerrealität:

Die Vielvölkerrealität ist Russlands Reichtum Nummer Eins. Anders als die aus der Geschichte übriggebliebenen großen Vielvölkerreiche der Neuzeit, die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich, überstand der russische Vielvölkerorganismus nicht nur den ersten und den zweiten Weltkrieg, sondern ging in Gestalt der Sowjetunion gestärkt und sogar noch erweitert daraus hervor. Während das Habsburger Vielvölkergebilde wie auch das Osmanische Reich im Zuge dieser Entwicklung in eine Vielzahl von Nationalstaaten  zerfiel, die sich untereinander bekämpften und in ethnischen Säuberungen zerfleischten, ging das Zarenreich in eine föderale Ordnung von Unionsrepubliken, autonomen Regionen und Bezirken über. Das  mag man gut oder schlecht finden, man mag die später von Stalin betriebene „Sowjetisierung“, konkret Deportation ganzer Völker nach Sibirien dagegen halten, es war aber vom Ansatz her, wie ihn Lenin, selbst Stalin in der Gründungsphase der Union verfolgte, ein Schritt, der die traditionelle autokratische Herrschaftsstruktur in die Moderne einer föderal organisierten Pluralität von Völkern verwandelte, wenn auch unter Führung Moskaus.

Mit dem Zerfall der Union hat sich diese Struktur, soweit es die Sowjetunion betraf, in unabhängige Gebiete aufgelöst, die unter dem Druck einer nachholenden Nationenbildung ihre Identität suchen. Zu welchen Konflikten das geführt hat, konnte man die letzten zwanzig Jahre über an den Rändern der ehemaligen Sowjetunion beobachten. Aktuell sind wir immer noch Zeugen dieses Vorgangs, diesmal in der Ukraine und hier auf Grund der besonderen Bedingungen der Ukraine als traditionellem Durchgangsraum besonders heftig.

Für Russland konnte Wladimir Putins Politik der autoritären Konsensbildung einen auch auf den Kernbestand Russlands übergreifenden Zerfall aufhalten, mit dem Ansatz zur Entwicklung einer Eurasischen Union sogar eine Gegenbewegung einleiten. Oder anders, einmal von der katastrophischen Seite aus betrachtet: Wenn es der russischen Regierung nach dem anarchischen Auseinanderdriften der russischen Regionen und Völker unter Jelzin nicht gelungen wäre, dem von Jelzin 1991 ausgegebenen Motto: „Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ eine Restauration der Zentralmacht entgegenzusetzen, dann – sagen wir es so – wäre es nicht bei den tschetschenischen Absetzbewegungen geblieben. Eurasien wäre in eine lange Phase nationalistischer, separatistischer Kämpfe und ethnischer „Säuberungen“ eingetaucht.  Umgekehrt geht aus dem Erhalt der föderativen Gliederung der Vielvölkerrealität eine starke Kraft für Russland und auch für die Stabilität Eurasiens hervor  – wenn sie gefördert wird. Diese Kraft wirkt nicht nur in Russland selbst, sondern wirkt zugleich als Impuls für die von Russland, konkret jetzt Putin vertretenen Perspektiven einer multipolaren Weltordnung.

Westliche Beobachter sollten begreifen, dass diese russische Ordnung nach anderen Gesetzen als denen des aus dem Westen bekannten nationalen Einheitsstaates lebt. Im russischen „Patriotismus“ ist lokaler Stolz und Zugehörigkeit zum russländischen Ganzen in einer Weise verflochten, die sich einfachen „nationalistischen“ Deutungsmustern entzieht. Ein Mensch Russlands, der oder die sich als „Patriot“ bezeichnet, ist noch lange kein „Nationalist“. „Patriotismus“ ist in Russland etwa mit Heimatverbundenheit zu übersetzen, einschließlich deren, wenn nötig auch bewaffneter Verteidigung, „Nationalismus“ definiert sich dagegen als eine Haltung, die anderen aggressiv die eigene Identität überstülpen will.

Ausgesprochen fad wird es, wenn der Chef der Moskauer Böllstiftung Jens Siegert („Russlandanalysen“, Heft 251, 8.2.2013)) ausgerechnet die Vielvölkerrealität Russlands zu dem erklärt, wovon heute die besondere Aggressivität Russlands ausgehe, da man nicht wisse, wo sie ende und diese Gefahr nur überwunden werden könne, wenn auch Russland seine nachholende Nationenbildung erfolgreich durchführe. Wie blind muss man sein, um nicht zu erkennen, dass eine solche Nationenbildung ein tiefer historischer Rückfall hinter die föderalen Strukturen Russlands wäre und nur in einer Atomisierung Russlands und einer Chaotisierung Eurasiens enden könnte? Eine andere Sache wäre es, den föderalen Aufbau in Richtung einer Kooperation autonomer Regionen zu stärken.

 

Traditionelle Selbstversorgungsstruktur Russlands

Wer es aus der Geschichte noch nicht wusste, auch aus der aktuelleren, der oder die erlebt es jetzt unter den Bedingungen des vom Westen gegen Russland entfesselten Sanktionskrieges. Die Sanktionen sollen die russische Wirtschaft nicht nur schwächen, sie schwächen sie auch tatsächlich: der Rubel entwertet, die Preise steigen, der Ölpreis sinkt, Fabriken fahren ihre Produktion wegen nicht gelieferter Zwischenbauteile runter usw. usf., aber gleichzeitig scharen sich Olga und Iwan, aber auch die Tschuwaschen Aidar und Elfi und Mitglieder anderer russländischer Ethnien um Wladimir Putin und die von ihm zur Zeit repräsentierte Politik der Verteidigung Russlands gegen die als vollkommen ungerechtfertigt erlebten Angriffe von außen. Gleichzeitig mobilisieren die Sanktionen die traditionellen Fähigkeiten der Selbstversorgung im kollektiven und im individuellen Maßstab: Jetzt werden Pläne für die Re-kultivierung lange brachliegender Felder, für die zeitweilig halb stillgelegten in Russland so genannten familiären Zusatzproduktionen auf den Datschen und Hofgärten in Angriff genommen, der Konsum leichter Industrieware wird auf eigene russische Produkte  umgelenkt und die  Produktion effektiv umgestellt usw. usf.

Das alles verhindert nicht, dass die russische Wirtschaft kurzfristig in den Keller geht – längerfristig ruft es die Entwicklungskräfte wach, die unter der Decke des bequemen West-Konsums in den letzten Jahren geschlafen haben. Die russische Wirtschaft besitzt eine traditionelle Doppelstruktur, in der sich industrielle Produktion auf Basis von Privateigentum (bzw. Staatseigentum) an Produktionsmitteln  und Lohnarbeit und andererseits kollektive Produktion auf Basis selbstversorgerischer Nutzungsstrukturen zu einer hybriden Ökonomie verbinden, die Marx seinerzeit asiatische Produktionsweise nannte. Hintergrund ist die aus der russischen Geschichte in die Neuzeit herüberwachsende Gemeinschaftstradition der sog. Óbtschschina, der Bauern-, Produktions- und Lebensgemeinschaft. Der heutige russische Wirtschaftswissenschaftler  Theodor Schanin hat dafür den Begriff der „expolaren Wirtschaft“  gefunden, einer Wirtschaft, die sich nicht in die theoretisch sauberen Kategorien von „kapitalistischer“ oder „sozialistischer“ Wirtschaft einordnen lässt.  Aus einer ganz anderen Sicht, nämlich aus jener der US- Ökonomin Elenor Ostrom, Nobelpreisträgerin für die von ihr über Jahrzehnte betriebene Commons-Forschung, könnte man von einer besonderen „sozialökonomischen Potenz“ sprechen, die in der russischen Bevölkerung bis in die konkreten Lebensstrukturen und die Topographie des Landes hinein veranlagt ist.

Zweifellos hat die Politik der russischen Reformer – von Michail Gorbatschow über Jelzin einschließlich Putins – in den letzten Jahren einen harten Kampf der „Kapitalisierung“, der „Monetarisierung“, also der „Modernisierung“ gegen diese für uneffizient und dem gewünschten „Wachstum“ hinderlichen Strukturen der russischen Volkswirtschaft geführt,  nichtsdestoweniger hat die russische Regierung sich in allen zurückliegenden Krisen der letzten Zeit auf eben diese Strukturen gestützt. Ohne diese Basis der traditionellen kollektiven und individuellen Selbstversorgungsstrukturen hätte die russische Bevölkerung weder die „Schocktherapie“ Ende der 80er und in der ersten Hälfte der 90er ohne Hungerkatastrophen überlebt, noch den „Default“ von 1998, als die kurze russische Scheinblüte der Privatisierungsgewinne zusammenbrach, noch die schwere internationale Krise von 2008/2009.

Immer sind es die sozio-ökonomischen Kompetenzen der informellen „expolaren“ Wirtschaft, die die Krise auffangen, während die Krise zugleich dazu führt die eigenen Aufbaukräfte  gegenüber den importierten zu stärken. Dieser sozio-ökonomische Reflex ist umso stärker, je mehr die Krise durch Angriffe von außen  verursacht ist. Das ist eine russische Wahrheit, fast eine Banalität. Man muss aber wohl doch darauf hinweisen, weil manche Menschen dazu neigen, historischen Tatsachen wie die zu verdrängen, dass weder Napoleon, noch Hitler in der Lage waren, dieses Land in die Knie zu zwingen.

 

Ressourcen

Zu den Ressourcen halten wir uns kurz. Öl, Gas, Kohle, Metalle, Wald, Flüsse und riesige Flächen kultivierbaren Landes sind ein ungeheurer Vorrat an materiellem Gut, der natürlich doppelten Charakter trägt – zum einen als Grundlage eines großen Reichtums, zum anderen als Ursache für das, was die „holländische Krankheit“ genannt wird, also dafür, die wirtschaftliche Aktivität zu lähmen, „weil wir ja alles im Überfluss haben.“ Das dies variable Faktoren sind, das heißt, Bedingungen, die unterschiedliche Wirkung auf  die Arbeitsmoral der Bevölkerung haben, je nachdem in welcher Lage sie sich findet, liegt  auf der Hand. Gearbeitet wird auch in Russland,  versteht sich – aber nur in dem Maße, in dem es sich als wirklich notwendig erweist. Das macht die russische Bevölkerung für viele Ausländer so unverständlich, aber sympathisch – von denen abgesehen, die genau dies verurteilen.

Das Gespräch mündet hier in die Frage, wie wir wirklich leben wollen. Von dort kehrt  es notwendigerweise zu der Frage zurück, wie wir wirklich leben – und von dort ganz hart an den brennenden Fragen der Gegenwart – wie wir  n i c h t  leben wollen. Vermutlich macht es mehr Sinn, über solche Dinge miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen, als uns gegenseitig mit Sanktionen zu traktieren.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                               20. November 2014

 

Hierzu zwei Buchempfehlungen:

. Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer, Horlemann, 2010

. Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

Sanktionen aus russischer Sicht: „Äpfel und Kartoffeln haben wir immer.“

„Endlich ein entschlossener Schritt“ -  das war der Kommentar meiner gegenwärtigen Gastgeber tief im Herzen Russlands, an der Wolga, abends um 21.00 Uhr vor dem Fernseher, auf dem im zweiten Programm die Abendnachrichten laufen.

Man ist schon müde von den sich seit Wochen wiederholenden Nachrichten über Sanktionen, die beschlossen wurden, neuen Listen, die in Vorbereitung sind, verschärften Maßnahmen, die angedroht werden. Wofür? fragt sich der russische TV-Zuschauer. Was haben wir getan? Wo liegt der Sinn?

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