Schlagwort: Revolution

Revolution oder Revolte (jetzt auf deutsch)

Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie Du mit Deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semi-kapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie Du ihn nennen würdest bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die ‚Verdammten dieser Erde‘ heute eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland in dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?

Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht Deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun. Dieser Mangel ergibt sich aus objektiven Bedingungen, nicht aus unseren politischen Überzeugungen. Gleichgültig, was wir oder Leute wie wir in den 1980er-Jahren dachten: Sozialismus oder Revolution hatten damals keine Chance. Als wir glaubten, dass eine theoretisch hergeleitete Alternative wesentlich sei, hatten wir Unrecht. Alternativen haben in der Vergangenheit niemals Revolutionen hervorgebracht und werden das auch in der Zukunft niemals tun. Im Gegenteil: Nur andauernde Revolutionen bringen reale (nicht falsche, utopische oder imaginierte) Alternativen hervor.
Es ist seltsam, dass Du Russland »semi-kapitalistisch« nennst. Was ist falsch am russischen Kapitalismus? Warum soll ein russischer Oligarch ganz anders sein als ein amerikanischer, deutscher oder peruanischer? Das Weltsystem integriert alle Länder, und es gibt spezifische Nischen für die deutsche verarbeitende Industrie wie für russische, lateinamerikanische oder saudische Ökonomien, die den globalen Kapitalismus mit Rohstoffen und anderen Ressourcen versorgen. Dies macht die Kapitalismen jeweils besonders. Aber dieses Modell der Arbeitsteilung, das im Neoliberalismus entstand, ist nun in einer Krise, die uns über Kriege und Revolutionen in eine andere, sich radikal von der gegenwärtigen unterscheidenden Gesellschaft führen wird.
Der ökonomische Zerfall ist die Ursache der Krisen, die wir rund um uns herum erleben, einschließlich des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der wenig zu tun hat mit Demokratie oder Nationalismus. Trump, Brexit, Nawalny, der Krieg im Donbas und die Kapitulation von Syriza in Griechenland, die unerwarteten Erfolge von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind nur einige weitere Symptome dafür. Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten? Sowohl als auch. Viel hängt davon ab, wie wir entstehende Möglichkeiten nutzen und die Gefahren meistern, die auf uns zukommen.

Kai Ehlers: Zweifellos stehen wir am Beginn einer globalen Krise des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Form. Ich meine auch, dass Russland Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft ist – allerdings auf eine spezifische Weise, die Du als »peripher« bezeichnest, die ich als »hybrid« beschreibe. Wir sind uns auch einig, dass Erscheinungen wie Trump, Brexit, sogar Syrien etc. Symptome einer Entwicklung sind, die uns zu einer völlig anderen Gesellschaft führen wird.
Aber was meinst Du damit, wenn Du sagst, dass viel von unserem Handeln abhängt? Also was nun: Hängt ein Prozess, der objektiv abläuft, dennoch vom subjektiven Eingreifen ab? Wenn Revolutionen nicht von erdachten Alternativen erzeugt werden, sondern von objektiven Prozessen, mehr noch: wenn Alternativen erst von diesen Prozessen erzeugt werden – dann müssen wir klären, wie dies geschieht, was unsere Rolle dabei ist, wer überhaupt dieses »Wir« ist.
Auch was Deine Einschätzung über Krieg und Revolution anbelangt, liegen wir vielleicht nicht auf einer Linie. Muss die globale Erhebung, die wir erwarten, notwendig mit einem globalen Krieg einhergehen? Sie ist sicherlich nicht mit der Französischen, Russischen oder irgendeiner früheren Revolution vergleichbar, die sich von einem Land aus in der Welt ausgebreitet haben. Und ein globaler Krieg ist heute nicht wie der Erste oder Zweite Weltkrieg als Nebeneffekt radikalen sozialen Wandels oder zu dessen Verhinderung führbar. Er würde beide Seiten – Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus etc. ebenso wie Ansätze sozialer Befreiung – in einem einzigen dreckigen Aufwasch zerstören.
Natürlich haben wir heute eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt: lokale Proteste und Revolten, verschiedene Arten des Terrorismus, die von den Härten der Endphase des Kapitalismus hervorgebracht werden. Das ist der aktuelle Prozess, von dem Du sprichst. Aber bisher führt er nicht zu dem einen großen Knall, der einen globalen Revolution oder dem einen globalen Krieg, sondern radikalisiert sich Stufe um Stufe. Und solange dies so ist, kann es nicht unsere Rolle sein, mit aller Kraft Revolten anzuheizen, wie es gerade ein paar vereinzelte Militante, aus deren Sicht Gewalt eine ausreichende Botschaft darstellt, beim G20 in Hamburg versucht haben. Wir müssen Wege und Bilder zeigen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können und wie diese aussehen könnte.
Und daher ist es wichtig, die Widersprüche und Unterschiede zwischen den kapitalistischen Staaten zu sehen, zwischen entwickeltem und peripherem Kapitalismus, zwischen Kulturen, bis hin zu verschiedenen Formen von Widerstand oder möglichen Alternativen für unterschiedliche Völker mit unterschiedlichen sozialen und historischen Hintergründen. Das gilt auch für die gegenwärtige russische Gesellschaft, die von der besonderen sowjetischen Geschichte und Strukturen der Dorfgemeinschaft geprägt ist, auch wenn diese heute vom Kapitalismus überlagert sind.
Ich bin mit Dir einer Meinung, dass Alternativen immer konkret sind. Doch brauchen sie eine Leitidee; keine geschlossene Ideologie, aber Gedanken und Visionen, wie das Leben sein könnte. Um dies auf unser Thema zu beziehen: Die Revolution der heute Ausgestoßenen wird nicht über Revolten oder schlimmstenfalls faschistische Tendenzen hinauskommen, wenn sie sich nicht statt auf bloßen Aufruhr auf Ideen einer humanen Zukunft stützt, die auf überlieferten Werten beruht.

Boris Kagarlitzki: Anscheinend sind wir immer noch auf eine Vorstellung von Revolution fixiert, wie sie der stalinistische »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)« präsentiert. Als wären die Bolschewiki, sagen wir 1916, bereits eine verankerte Kraft gewesen! Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung aber existierten sie tatsächlich nicht. Alternativen, die naheliegend schienen, hatten wenig mit dem zu tun, was dann tatsächlich geschah. Wenige Wochen, bevor Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ihre Kampagnen begannen, gab es sie politisch nicht. Und genau darin war ihr Erfolg begründet. Gegenwärtig haben nur Bewegungen, Anführer, Ideen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, Aussicht auf Erfolg. Alles, was da ist und sichtbar, ist entweder bereits oder wird schnell diskreditiert. Und das hat keine ideologischen Gründe, sondern liegt daran, dass nichts von dem, was innerhalb des Bestehenden unternommen wird, funktionieren kann. Das ist ein objektiver Vorgang. Für mich ist nicht relevant, ob die Leute den Neoliberalismus mögen oder nicht. Tatsächlich mochten sie ihn nie. Aber Privatisierung und Deregulierung kamen, weil sie funktionierten. Nicht für die Mehrheit, aber für die Eliten. Nun aber führt die neoliberale Hegemonie ins Nichts, weil das System seine Potentiale erschöpft hat. Es kann sich einfach nicht mehr reproduzieren, seine Erträge können nicht einmal mehr die herrschenden Klassen zufriedenstellen – und das ist es, was Leute wie Trump oder Nawalny hervorbringt.
Die Ironie heute liegt darin, dass uns nicht die Möglichkeiten fehlen, sondern die Ziele. Die Linke ist zu einer Gemeinschaft liberaler Intellektueller geschrumpft, die sich für Tierrechte, Schwule und Feminismus interessieren (aber nicht für die real existierenden Tiere, homosexuellen Paare oder Frauen aus der Arbeiterklasse). Die Linke hat sich vollständig von der Klassenpolitik entfernt; auch wenn sie sich der Klassenrhetorik bedient, so bleibt diese inhaltsleer. Ironischerweise sind es heute im Westen einige Teile der radikalen Rechten, die der Arbeiterklasse zuhören und – wenn auch verworren und inadäquat – versuchen, deren Alltagsinteressen zu vertreten.
In Russland ist im Moment die radikale Rechte sehr schwach. Das macht die Sache für die Linke einfacher. Unsere Aufgabe ist: eine neue Linke zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht eher wie die originale alte sein wird. Zurück zu den Vor-60ern, zu den 1920ern. Das klingt etwas nach der hegelianisch-marxistischen Negation der Negation. Aber überlassen wir das den Philosophen, wir müssen praktisch sein.
Wer sind »wir« heute? Als eine politische Kraft existieren wir noch nicht. Wir müssen uns selbst erschaffen. Mit sehr einfachen Gedanken – Gemeinwirtschaft, Regulierung, Wohlfahrtsstaat, demokratische Partizipation. Können wir auf das Erbe der Sowjetunion zurückgreifen? Ja, warum nicht! Nur sollten wir nicht versuchen, die Sowjetunion zurückzubringen. Das wäre unmöglich.
In dem großen Fundus von Ideen und Methoden, den die Linke lange Zeit besessen hat, können wir finden, was wir brauchen. Die aktuelle Ausgestaltung wird von der Situation und den aktuellen Bedürfnissen abhängen. Versuchen wir aber gar nicht erst, etwas Neues zu erfinden. Das hat keinen Sinn. Wir brauchen keine neuen Ideen. Wir haben ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die meisten haben sich als falsch oder nicht praktikabel erwiesen. Wir brauchen Politik. Das heißt nicht, eine Organisation aufzubauen, sondern Leute zu schulen, die in der Lage sind, bei Bedarf sehr schnell Strukturen aus dem Boden zu stampfen. Diese Arbeit wird schon heute und nicht ohne Erfolg geleistet. Die Politik wird kommen, wenn es eine Gelegenheit gibt. In einem Jahr, einem Monat, in einigen Wochen. Oder niemals.

Kai Ehlers: Nichts Neues erfinden: Ja! Schulung: Ja! Aber der Teufel steckt im Detail: was, wie und wann! Zuallererst müssen wir uns vor Augen führen, dass der Glaube an bloße Effizienz und wirtschaftliches Wachstum auf Basis von Konkurrenz die Menschheit in eine Krise geführt hat. Diese kann nur durch Kooperation in selbstgewählten Gemeinschaften überwunden werden, die sich, statt am alltäglichen Krieg aller gegen alle, an der kulturellen Entwicklung jedes menschlichen Wesens und jedes Volkes orientieren. Stichworte: Liebe, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sonst werden künftige Erhebungen nur das wiederholen, was wir heute haben – und zwar in einem schlimmeren Grad. Und was die Frage der sozialen Ertüchtigung anbelangt: lokal wie global, in der Organisation der Arbeit wie des Alltagslebens. Wir müssen Wege suchen, wie wir uns selbst, wie der wachsenden Zahl von Außenseitern körperlich, wie geistig helfen, uns und sich selbst als Individuen zu finden, »ich« sagen zu lernen, und ebenso als Kollektivmacht zu entfalten, die sich selbst in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen organisiert. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach dem Wann: Jetzt natürlich, immer jetzt, weil jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt. ‚Morgen‘ würde niemals bedeuten. Und jede Betätigung in diese Richtung ist, denke ich, eine Art von Vorbereitung. Jeder Revolution ging eine solche Vorbereitung voraus, bei der Bevölkerung, den Minderheiten, mit sozialer Fantasie und der Hoffnung auf etwas Besseres, die dazu beitrugen, die unvermeidliche Gewalt einzugrenzen. Und ich hoffe, dass es dies auch heute gibt.

Boris Kagarlitzki: Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Werte zu verkünden, während die andere Seite Politik gemacht hat. Wir müssen sehr konkret werden. Jeremy Corbyns Kampagne ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr Erfolg beruhte auf praktischen Vorschlägen. So moderat die meisten davon auch sind, wirken sie nach 30 Jahren Neoliberalismus doch radikal oder sogar revolutionär. Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen, den Öffentlichen Dienst wieder in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen, oder staatliche Investitionen, um Wachstum zu erzielen, wenn Marktanreize erschöpft sind: Das ist alles sehr einfach.
In Russland liegen die Dinge noch mehr auf der Hand. Eine große Mehrheit möchte Öl- und Gaskonzerne und andere Firmen, die die Oligarchen der Bevölkerung gestohlen haben, wieder verstaatlichen. Trotzdem kämpft keine politische Kraft für diese populären Forderungen. Warum? Weil das Volk selbst nicht für seine eigenen Interessen und Rechte eintritt. Das Problem liegt nicht bei der Linken – es liegt bei den Massen. Solange sie passiv bleiben, spielt es keine Rolle, welche Werte wir verbreiten. Die Frage ist, ob sie sich bewegen. Wenn nein, verdienen wir alle eine düstere Zukunft. Aber mir scheint ein Wendepunkt sehr nahe zu sein. In diesem Moment müssen wir die praktische Bedeutung unserer Ideen beweisen. Wenn sie hier und jetzt in ein konkretes Programm eingehen und in Handlungen, die zu einer Transformation führen, dann werden sie funktionieren, und unsere Existenz hat einen Sinn.

(Dieser Text erschien zuerst in „Melodie und Rhythmus“, Heft 4/2018)

(Eine ungekürzte englische Version auf der Website: www.kai-ehlers.de unter „Revolution or Revolt“

Siehe dazu auch: Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzky, Band I und II, laika diskurs 2013/14

 

Revolution or Revolt – Ein Dialog zwischen Boris Kagarlitzki und Kai Ehlers

Dear Boris, now we know each other for roughly 30 years. We got to know each other, when M. Gorbatschow tried to reform Soviet socialism – and when we thought to build up a socialistic Alternative in Germany. You have tried hard to cause with friends a socialist turn of the perestroika. Our common book „25 years of talks with Kagarlitzki“[i] files of it a well-spoken report. We have tried ours here in the FRG. Today we know that there did not come a reform of socialism in Soviet Union, but a semi-capitalistic Russia and some Americanization of the so called social state in Germany and Europe, a neoliberal globalization all over the world. A revolution in Russia is hardly conceivable at the moment. People are fed up with Revolution. At best another neo-liberal pseudo revolution à la A. Nawalny against the ’system Putin could be imagined ‚,against it´s ‘peripheral capitalism’, as you call it, it´s ‘hybrid structures’, as I call it,. And Germany is far from any revolutionary movement. The world is moving towards a final crisis of capitalism in many respects, but revolutionary forces which would be comparable to the forces from the beginning of the previous century are not to be seen in in the centers of capitalism. There is no determined movement beyond capitalism, no alternative floating to revolution. The center of change has moved from greater Europe, let´s say from the ‘West’ into global dimensions. I think, the possible subject of future change is lying in the global Millions of  the worldwide increasing number of ‘Marginalisierten’, of  ’superfluous‘ in earlier 3. Aand 4. world, like I call them, although, of course, the process of precarisation is not restricted to the new world. However, do they have more perspective today than a restless, aimless and permanent revolt? Which could be the role of Europe and Russia in this oncoming worldwide evolution into a post-capitalistic future?

***

Dear Kai, there are all sorts of reasons to be upset about the past failures of the left and many more reasons to worry about the future. However I don’t agree with the way you see current situation in Russia or in Europe. The lack of formulated alternative has nothing to do with the question about possibility or impossibility of a revolution. It is produced by an objective process and conditions not by our political convictions. In 1980s there were no chances for socialism or revolution no matter what you or me or other people like us used to think. We were simply wrong thinking that having an ideologically conceived alternative was essential. Alternatives never produced revolutions in the past and never will produce them in the future. On the contrary, only ONGOING revolutions produce real (not false, utopian or imaginable) alternatives. And now the revolution is becoming a real or maybe even inevitable perspective, even if nobody on the left believes in it.

On the other hand, it is very strange that you call Russia “semi-capitalist”. What is wrong with Russian capitalism? Why do you think that Russian oligarch is so different compared to American, German or Peruvian one? The world-system is quite integrated and there are different niches in it for German economy of manufacturing and Russian, Latin American or Saudi extractionist economies providing global capitalism with raw materials and other resources. This makes these capitalisms quite specific. But this very model of division of labour which was created under neoliberalism is in crisis. And there is no way it can overcome this crisis unless we have wars and revolutions that will somehow lead us to a different society. To which extent this society will be socialist or will bring us close to socialism is another matter. But it will be radically different from the current one.

This economic disintegration is the deep cause of major event we see around us, including the crisis between Russia and the West which has very little to do with issues like democracy or nationalism. Crimea is no more important that the Austrian prince unfortunately assassinated in Sarajevo in 1914. Was First World War about it. Of course not! It was about the crisis of then existing model of imperialism.

Trump, BREXIT, Naval’ny, war in Donbass and the surrender of Siriza in Greece, unexpected successes of Jeremy Corbyn or Bernie Sanders are nothing more than just a few of the INITIAL symptoms of a massive upheaval, which is in its very beginning. Is it good news or bad news? A bit of both. But much will depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers.

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Dear Boris, let’s first get clear in what we seem to agree. There is no doubt, that, as You call it, a massive upheaval against the current economic system and life order is in its very beginning. And I should add, that we are talking about a global dimension, of course, following out of the fundamental crisis of capitalism in its present neoliberal form. And of course revolutions result out of objective processes. And I agree, that today’s Russia is part of this world wide process, although in a specific way, which you call peripher, which I call semi-capitalistic or hybrid. This is a topic of it´s own, of course. I agree, too, that current political topics like Trump, Brexit, Nawalny, Donbass, even Syria etc. pp. are symptoms  of this upcoming development, and there can be no doubt, that this development, as you say, will lead us to a “somehow different society, but in any case radically different from the current type of society”. Definitely, yes!

But questions, which may be controversial, rise, when you are stating – virtually just by the way –, that this can happen by war or revolution and questions rise further on, when You finish Your statements with the sentence, that much would depend on how we act and what we do to use the emerging opportunities and resist the coming dangers. So what? Is the objective process, nevertheless, depending on subjective interfering?

These, I think, are just those questions, which should be set clear: If revolution is not roused by alternatives, but by objective processes, moreover, if alternatives are produced by the ongoing process, so how is this proceeding, what is our part in this process, and who are “we”?

Is revolution and war a necessary, provoking asked, a ‘как бы‘ (somehow) natural connection? Couldn’t it be, that revolution under today’s conditions of a strongly linked up world does not necessary mean war, more exactly said, that the global upheaval, which is to be expected, is not necessarily bound to a global war?

It seems to me, that this is the main question, if we won’t understand history and social processes as mere, quasi natural outbreak of spontaneous power, but ask for the historical subject on the historical level of evolution.

I think the outstanding global upraise is not comparable to French or Russian or any other earlier revolution, which spread out of one country into the world in each case. And I think, a global war is not leadable in the kind of the first and second world war today as side effect or maybe even prevention of radical social changes, without destroying both, capitalism, imperialism, neo-liberalism etc. and social freeing impulses in one big dirty washing-up.

Of course we have a growing readiness for violence today, local protest, local revolts, different sorts of terrorism, produced by the cruelty of the final crisis of capitalism. This is the ongoing process, about which You are talking. But as far as this process is not bursting out in one big bang, neither the one global revolution nor the one global war, but amplifying step by step, our part can’t be just heating up revolts by force or too provoke upraises, like tried by some lonely militants just now in Hamburg, to whom violence as violence was already a sufficient message. We have to look for, to find and to show ways and images, how another world could look like – if the power shall not only „blow up“.

And in this sense – to come back to this question here – I think it important, to see the contradictions and differences between the capitalistic states, between  developed and peripheral capitalism, between cultures, as far as different forms of opposition or possible alternatives with different people with a different social and historic background arising from them. This is valid also to the Russian society of today, which I called a hybrid capitalism, as it implies special Russian-Soviet history and structures of communitarism (общинность), even if at the moment in capitalistic covered form. You remember, we have been talking about this often as a specific Russian-Soviet heritage, wondering in what way it will change.

I agree with you again completely – alternatives are always concrete, but they need a leading idea; that does not mean a closed ideology, but ideas, images like life could be. To sharpen it on the title of our dialogue revolt or revolution: the possible revolution of today’s outcasts will stuck in revolts, or even in fascistic tendencies, if it does not rise from the bare clamour to the image of a more human future, based on the esteem of traditional values.

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Dear Kai! It seems that we are still obsessed by the vision of revolution presented in Stalinist Краткий курс истории партии. (Kurze Geschichte der Partei) As if Bolsheviks were from an already existing popular force, say, in 1916. In fact, from the point of view of public opinion they didn’t exist. And alternatives that were actually visible “on the table” had very little to do with what actually happened. Jeremy Corbyn or Bernie Sanders politically didn’t exist a few weeks before they launched their campaign. And that was exactly the secret of their progress. In the current situation only a movement, a leader, an idea, coming from almost “nowhere” is going to have a chance. Everything that is present and visible is either discredited or going to be discredited. And not because of ideological reasons, but because nothing, that can and will be tried within current system would work. This is an objective process. I don’t care whether people like neoliberalism or not. In fact they never did. And no matter how much people subjectively disliked privatization or de-regulation, it happened because it was working – not for the majority but for the elites. Now it is the other way round. Even if they managed to establish neoliberal hegemony in many ways, that leads nowhere because the system exhausted its potential, it simply can’t reproduce itself, it can’t (in its practical results) satisfy even the ruling classes – and that’s where people like Trump or Naval’ny are coming from.

So what should we do, and who are “we”?

Political success depends on understanding the objective situation, opportunities, provided by it and on adequately using these opportunities to reach your goals. The irony is that we do not lack opportunities, but the left lack goals. The left became no more than a community of liberal intellectuals interested in animal rights, gays and feminism (but not interested in actually existing animals, single-sex couples or working class women). It completely abandoned class politics even if it reproduces class rhetoric without thinking of its content. Ironically, it is now some sectors of the Far Right in the West we really listen to what working class people say and try to represent their daily interests. However their represent these interests in confused and inadequate form.

It is interesting that at this moment Russian Far Right is very weak, so in many ways the task for the left is easier. What do we have to do: we have to create yet another new left. Which will be in many ways more like the original old one. Back to the pre-60th. Back to the 1920th. Seems a bit like Hegelian-Marxist Negation of Negation (Отрицание отрицания – I don’t know the original German term). Anyhow, let philosophers conceptualize this, we have to be very practical.

Who are “WE” now? We don’t exist yet – as a political force. We have to create ourselves politically. With very simple ideas – public sector, regulation, welfare state, democratic participation. Can we use Soviet heritage? Yes, why not. What we should do – we shouldn‘ try to bring back the Soviet Union. For the same reason, for which we can’t sustain a current system. It’s not because we like or dislike it. Simply because it is impossible.

There is a huge store of ideas and methods the left possessed for a long time. We should find there what is necessary. Actual configuration will depend on the situation and public needs.

Don’t even try to invent something new. It makes no sense. We don’t need new ideas. We spent half a century on ideas, most of which proved to be either wrong or dysfunctional. As an intellectual I’m fe up with discussing ideas or abstract alternatives. We need politics. Not just building an organization but rather educating people who will be able to build it very fast when there is an opportunity. This work is being done right now and not without success. Because the generation, that will bring about new politics, is already here. Politics will come when there is an opportunity. In a year, in a month, in a few weeks. Or never.  

***

Dear Boris! Very short, because place is finishing: Not to invent something. Yes! Education. Yes! But here the devil is lying in detail: what, how and when! I think, at first there is to show, as far as to talk about objective facts, that the one very objective fact, which has to be understood today, is this: The credo in mere efficiency and economic growth, based on priority of competition as principle is leading into an evolutionary crisis of mankind, which can only be overcome by a lifeserving (lebensdienlich) way aiming towards cooperation based on self-chosen communities orientated on cultural growth of any human being and any people., instead of every day war. Keyword: love, mutual help and solidarity. This, of course, is a very principle orientation, but this must be understood first of all, otherwise future upraises will be a repetition of what we have now, only on more extreme level. And as to the question how, we ought to find answers in, let’s say, social exercises – local and global, which means, in organization of work and everyday life, by searching and finding ways, how to help oneself and the growing number of outcasts to find themselves, physically and mentally, how to find oneself and themselves as individual person, who knows to say: I, and to find as a collective power, organizing itself in conflict with the existing conditions. No power with claim to future without individual consciousness! And here, dear Boris, I find the answer to the question ‘when’, too: Of course, now – always now, as any journey begins with the first step. Tomorrow would mean, never. Any exercise of this kind is sort of preparation, I think. Any revolution had some preparation of that kind in the people itself, in minorities, in some social fantasy and hope for the better, which helped channeling the inevitable violence – and so today, I hope. And with this extremely short summery I surrender the last round to You.  

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Dear Kai! Of course we have to insist on the importance of love and solidarity, but we spent too much time on discussing and promoting values while the other side was practicing politics. We have to be very concrete. I think of Jeremy Corbyn’s campaign as an example of success not because he brought about a lot of enthusiasm and achieved a real progress electorally, but first of all because he did so on the basis of very concrete proposals.

In fact, most of these proposals are quite moderate but after 30 years of neoliberalism they seem radical or even revolutionary. Bring back railways into public ownership, relaunch public sector to provide necessary services to people and generate public investment to achieve economic growth in the situation when market incentives are exhausted. This is all very simple. Speaking about Russia, things are even more clear. There is a great majority demanding nationalization of oil, gas and other corporations that were stolen from the people by the oligarchs. At the same time there is no political force fighting for these demands no matter how popular they are. Why? Because the people themselves are passive and they are not fighting for their own interests and rights. The problem is not with the left. It is with the people. As long as masses are passive it doesn’t matter which values and ideas we spread. It all makes no sense except for a tiny group of activists and intellectuals which has to be sustained and reproduced. But he question is whether people will say passive forever? If so, we all deserve the kind of future, which is anything but bright. However I think that there will be a turning point, which seems to be very close. At this moment we must show that our ideas are relevant – not in abstract but in practical terms. Can they be transformed into a practical political program and transformative action HERE AND NOW? Then they will work and our existence makes sense…   

[i] Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, laika diskurs 2013/2014

 

Flüchtlinge: … an die Wurzel gehen

Inzwischen mag man es kaum noch aussprechen: Den Ursachen, warum Menschen zu Zehntausenden und in zunehmender Zahl ihre Heimat verlassen ist nicht mit Aufforderungen an die Türkei, die Grenzen zu schließen, ist nicht mit schnellerer „Abfertigung“ an den Grenzübergängen, selbst nicht mit Reduzierung der deutschen „Willkommenskultur“ durch Leistungskürzungen für die Flüchtlinge u.ä. beizukommen, sondern …ja, wo hört man, wo liest man etwas über dieses „Sondern“ ?

Selbstverständlich muss den Menschen, wenn sie einmal hier sind, geholfen werden. Man lässt ein Kind ja schließlich nicht im Bade ertrinken, wenn es einmal hineingefallen ist. Darüber kann es „eigentlich“ keine zwei Meinungen geben. Man kann es sich auch ersparen, den Abgründen nachzugehen, die sich hinter dem Wörtchen „eigentlich“ auftun. Es findet sich bei gutem Willen und warmem Herzen immer ein Plätzchen, um das Kind in Sicherheit zu bringen. Es finden sich, anders gesagt, allen Unkenrufen über die selbstsüchtige Jugend und die selbstzufriedenen Alten in Deutschland zum Trotz immer noch Tausende Menschen, die bereit sind, den nach Hoffnung auf ein ruhigeres Leben lechzenden Flüchtenden zu helfen. Hier liegt, auch wenn das Geschrei über die angebliche Überforderung Deutschlands zurzeit sehr schrill klingt, nicht das Problem. Zu anderen Zeiten hat man noch ganz andere Opfer gebracht und Deutschland hat es überlebt.

Das Problem liegt in der schamlosen Unverfrorenheit, mit der die Regierenden der Bevölkerung das Auffangen der Flüchtenden aufbürden – während sie zur gleichen Zeit fortfahren – und das noch in zunehmendem Maße – ehemalige Kolonien, heute selbstständige Nationalstaaten, über Kredit- und Schuldenpolitik in Abhängigkeit und unter Druck zu halten, deren lokale Wirtschaften mit subventionierten Dumping-Exporten zu strangulieren und letztlich, wenn daraus Revolten hervorgehen, militärisch zu intervenieren – ganz zu schweigen von den Waffenexporten in die so entstandenen Krisengebiete.

Solange diese Politik, an der Deutschland an der Spitze der EU führend beteiligt ist, nicht einem grundsätzlichen Revirement unterworfen wird, wird die Flut derer, die ihr Heil in der Flucht nach Norden oder in andere Teile der „entwickelten“ Welt suchen, nicht abnehmen, sondern weiter anwachsen – sagen wir es unumwunden: wird die Flut der Migrationsbewegungen als neuer Verteilungskampf über die Ufer der gegenwärtigen Weltordnung treten und die heutige Eskalation extremer Ungleichheit mit sich reißen.

Also – was tun? Die Geschichte lehrt uns, wenn wir bereit sind zu lernen, dass solche Situationen, in denen eine gesellschaftliche Minderheit vom Elend einer großen Mehrheit lebt, zwar lange gestreckt werden können. Anders gesagt, die Wellen der Empörung laufen über weite Strecken des Meeres allmählich heran, immer wieder niedergedrückt von kurzfristig aufkommenden Wetterumschwüngen, bis sie aber irgendwann dann doch zu großen Brechern auflaufen. Nehmen wir die letzten großen zurückliegenden Revolutionen:

Die Französische Revolution kündigte sich lange vor dem Sturz Ludwigs XVI. in den Schriften und Polemiken der französischen Aufklärer an. Ihre durchschlagende Wucht, die die Strukturen des Ancien Regime in den Grundfesten erschütterte, bekam sie durch das Massenelend der französischen Bauern, deren sich wiederholende und steigernde Hungerrevolten und damit einhergehenden Brutalisierung der vorrevolutionären Gesellschaft, in der die Bauern nichts mehr zu verlieren hatten als ihr ihr Elend – in der für die Feudalen dagegen alles auf dem Spiel stand.

Im Kern nicht anders die russischen Revolutionen von 1905 bis 1917: Lange kündigte sich der Sturz des Zarismus in den Schriften der russischen Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts an, deren Aktivitäten, ebenso wie die des wankenden Zarentums um die Jahrhundertwende bis zum Terror eskalierten, bevor sie dann durch die Erhebung der Bauern 1905 die gewaltsame und auch brutale Dynamik bekamen, die eine relativ leichte Machtübernahme durch die Bolschewiki 1917 erst ermöglichte.

Macht es Sinn, unsere heutige Situation mit diesen zurückliegenden gesellschaftlichen Erschütterungen zu vergleichen? Nein, wenn man nur die äußeren Umstände vergleicht. Heute ist die Herrschaft der Ausbeuter global und tendenziell total, Kritik und Revolte sind dagegen über den ganzen Globus verteilt; eine Revolution, die diese Verhältnisse gewaltsam stürzen will, kann nur gleichbedeutend mit globalem Chaos sein.

Im Kern allerdings wiederholt sich der Spagat zwischen hoch entwickelter, radikaler Gesellschaftskritik und dem wachsenden Drang der Benachteiligten und der zunehmend „überflüssig“ Gemachten, ihrem Elend ein Ende zu setzen. Was ist der wachsende Terror heute denn anderes als die radikalisierte Reaktion auf die ausbeuterische Herrschaft der übermächtigen Kapitale und ihrer perfektionierten Unterdrückungsapparate?

Wieso begriffen die Adligen des Ancien Regime, die Aristokraten des Zarismus nicht, dass der von ihnen geführte Krieg gegen die Revolten diese nur weiter anheizen konnte? Wieso begreifen die heute herrschenden Kräfte nicht, dass der Krieg gegen den Terrorismus nur neue Terroristen hervorbringen kann? Oder begreifen sie es doch? Oder haben sie ein Interesse daran, die Welt unter dem Druck dieses anti-terroristischen Krieges zu halten? Wer hat mehr Interesse daran, die Bevölkerung in Angst zu halten? Diejenigen, die die vermeintliche Weltsicherheit angreifen oder diejenigen, die sie zu verteidigen vorgeben? Eine offene Frage.

Hier hilft vielleicht die Erkenntnis von Pjotr Kropotkin weiter, der als Ergebnis seiner Analyse der vorrevolutionären Bauernrevolten Frankreichs feststellte, man müsse mit einem allgemeinen Irrtum aufräumen, nämlich dem, dass Revolten – und noch mehr Revolutionen – aus Angst und Verzweiflung erwüchsen, nein, so Kropotkin, sie entzündeten sich über das Elend, die Angst und die Verzweiflung hinaus eher an der Hoffnung, nämlich an der, dass das Leben in Zukunft nur besser, vielleicht sogar glücklicher werden könne.

Könnte es vielleicht sogar sein, dass wir es heute mit Kräften zu tun haben, denen daran gelegen ist, die Mehrheit der Menschen in Angst zu halten, um überhaupt erst keine Hoffnung aufkeimen zu lassen, dass die Verhältnisse, wie sie heute sind, veränderbar sein könnten?

Und wo wären solche Kräfte zu suchen? Anders gefragt, ist der Terror tatsächlich eine Gefahr für die bestehenden Verhältnisse oder stützt er sie eher? „Sicherheit“ ist ja heute, wie es scheint, alles, was noch zählt. Mit nichts lässt sich eine Zementierung der herrschenden Verhältnisse besser begründen als mit drohendem Terror. Führt seine Ausbreitung, genauer die Angst vor seiner Ausbreitung nicht im geraden Gegenteil zu den hysterischen Warnungen zur Festigung, ja, geradewegs in die Eskalation der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in Richtung einer präventiven globalen Sicherheitsdiktatur? Ängste, Opfer des Terrors zu werden, sind heute eher hervorzurufen als jene, an zukünftigen Klimakataklysmen zugrunde zu gehen. Bedenken wir dies, wenn wir heute mit präventiven Sicherheitsstrategien unter der Parole „Krieg dem Terrorismus“ überzogen werden!

Was wir brauchen sind keine Strategien präventiver Sicherheit, sondern Visionen und umsetzbare Strategien zur Verwirklichung der bisher noch nicht verwirklichten Ziele aller, besonders der beiden letzten großen Revolutionen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – unter Einbeziehung der Ebenbürtigkeit von Männern und Frauen erweitert zu „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“. Das ist heute ein schwieriger Balanceakt, der den Mut zur radikalen Kritik des Bestehenden und seiner Veränderung bis hin zu aktivem Widerstand gegen kriegstreiberische Politik, von wem immer betrieben, mit dem scheinbar entgegengesetzten Mut verbindet, der äußeren Eskalation ein Widerlager der Deeskalation im eigenen Inneren und im konkreten Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, sogar dem Feindlichen entgegenzusetzen. Es bedeutet auch, sich keine bequemen Feindbilder aufschwatzen zu lassen, sondern in kritischer Solidarität zu unterscheiden, wann und von wem eskaliert, wann und vom wem Deeskaliert wird. Das heißt, selbst denken, den eigenen Kopf benutzen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zu diesem Thema:
Kai Ehlers, die Kraft der „Überflüssigen“, Pahl-Rugenstein, 2013
Bezug über den Autor: info@kai-ehlers.de