Schlagwort: Privatisierung

Das Lindenblatt auf Putins Schulter – oder warum Putin auf Wahlkampfreisen geht

In Russland wird demnächst  ein neues Staatsoberhaupt gewählt.  Das neue wird das alte sein, Wladimir Putin. Das ist die allgemeine Erwartung, der man wohl zustimmen muss: Putin hat das Land stabilisiert. Er hat den Schuldendrachen besiegt, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seinen Klauen hielt. Er hat die Zinsgier des internationalen Kapitals zurückgewiesen, als er bei seinem Amtsantritt weitere Kredite des IWF und der Weltbank ablehnte und die Altschulden der Sowjetunion gegen den Widerstand der westlichen Banken beglich. Er hat die vielköpfige Schar der Privatisierungsgewinnler gezähmt, die sich aus dem Chaos der Ära Jelzins  erhoben hatten und sie im Konsens um sich zum Nutzen der Stabilisierung Russlands gruppiert. Im Krieg mit den Tschetschenen hat er verhindert, dass der Zerfall der Sowjetunion sich als Zerfall Russlands entlang seiner Vielvölkerstruktur fortsetzte. Er hat einen Stabilitätsfonds geschaffen, mit dem er zwei Krisen und drei Amtszeiten überstand. Alle oppositionellen Angriffe, berechtigt oder nicht berechtigt, sind an ihm abgeprallt, ebenso wie Versuche aus dem Ausland, ihn als neuen Stalin oder Hitler zu diffamieren.  Am Ende wuchs er sogar, wenn auch getrieben von wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, über den innenpolitischen Stabilisierer zum außenpolitischen Krisenmanager[1] empor, der mit China an einer neuen multipolaren Weltordnung baut[2], welche die USA in die Schranken weisen könnte. Die internationale Rating-Agentur Forbes setzte ihn kürzlich zum vierten Mal hintereinander auf Platz eins der einflussreichsten Menschen unserer Zeit.[3]

Kurz, dieser Mann scheint vielen seiner Landsleute und nicht nur diesen und nicht wenigen auch zu ihrem Ärger, unverwundbar wie seinerzeit Siegfried, nachdem er im Blut des von ihm erlegten Drachen gebadet hatte. Herausforderer, die mit ihm jetzt um das Amt des Präsidenten konkurrieren, haben keine Chance, ihn zu  besiegen, es sei denn, sie treffen ihn dort, wo einst Siegfried getroffen werden konnte, als ein Lindenblatt zwischen seinen Schulterblättern die Aushärtung des Drachenblutes verhindert hatte.

 

Die Riege der Konkurrenten

Betrachten wir Putins Konkurrenten. Da ist zunächst der „ewige Zweite“, wie er im Lande genannt wird, der Chef der „Kommunistischen Partei Russlands“ (KPRF) Gennadij Sjuganow. Er ist zwar soeben zugunsten eines neuen unverbrauchten Kandidaten der KP, Pawel Grudinin[4] zurückgetreten. Grudinin ist als erfolgreicher landwirtschaftlicher Unternehmer auch über die traditionellen Kreise der alten Riege der KPRF hinaus eine angesehene politische Figur, die für eine mögliche Erneuerung der KP steht. Aber auch der jüngere und weltoffenere Grudinin wird, mit der sklerotisierten KPRF im Schlepptau, nicht mehr als einen Achtungserfolg einfahren können.

Ähnliches, wenn auch vielleicht nicht gerade von Achtung die Rede  sein kann, kann man von dem Kandidaten der „Liberaldemokratischen Partei“ (LDPR), Wladimir Schirinowski[5] sagen. Er ist als provokativer Rechtsaußen ebenfalls Dauerkandidat bei Wahlen zur Präsidentschaft seit Beginn der nachsowjetischen neuen russischen Staatlichkeit. Meinungsumfragen, wie auch aktuell ‚gefühlte‘ Wahrnehmungen im Lande, die aus der Tatsache resultieren, dass die LDPR ein besseres ‚Händchen‘ für die Nöte der Bevölkerung zeige als die übrigen Parteien, besonders  die ‚Partei der Macht‘, „Einheitliches Russland“, geben ihm die Chance zur KPRF aufzuschließen. Eine ernste Konkurrenz für den Amtsinhaber wird aber auch er nicht werden.

Bleiben neben Grudinin und  Schirinowski noch Kandidaten und Kandidatinnen aus der zweiten Reihe, die nicht dem etablierten Parteiengefüge entstammen, sondern mit persönlichen Unterstützerkreisen antreten. Sie nehmen nach eigenen Aussagen durchweg allein deswegen an der Wahl teil, weil sie Putin nicht allein das Feld überlassen wollen. Keine/r von ihnen kann, sofern sie zur Wahl zugelassen werden, mit mehr als zwei, drei, höchstens fünf Prozent der Stimmen rechnen. Alles andere wären Überraschungen.

Da ist zunächst Grigori Jawlinski, ein aus der Zeit Jelzins übrig gebliebener Veteran der Liberalen, von dem kaum jemand noch etwas anderes erwartet als die Befriedigung von dessen persönlichen politischen Ambitionen. Weiterhin Oligarch Boris Titow, Chef der „Wachstumspartei“, als neo-liberaler Vertrauter Putins ein eher unglaubhafter Konkurrent. Weiter Anton Bakow, Unternehmer, Antikommunist,  Vorsitzender der Monarchistischen Partei der Russischen Föderation, der das Zarentum wieder errichten will. Sodann Maxim Suraikin, Chef der „Kommunisten Russlands“, einer seit 2012 begründeten Konkurrenzorganisation zur KPRF.

Dieses Mal sind auch einige Frauen dabei: Xenia Sobtschak, die Tochter von Putins Ziehvater Anatoly Sobtschak, dem verstorbenen Bürgermeister von St. Petersburg, parteilos, die sich mit ihrer Wahlkampfparole „Gegen alle“  allerdings von vornherein aus dem Rennen geschossen hat. Sodann Katja Gordon, Journalistin, Menschenrechtsaktivistin, die sich für Frauenrechte einsetzt und – unübersehbar im mehrfachen Sinn  des Wortes – Elena Berkowa, ehemalige Pornodarstellerin aus Murmansk, die in high-heels und Dessous posiert.

Als bisher Letzte  meldete Alina Gamzatova, Muslimin aus Dagestan ihre Kandidatur an. Als Ziel gab sie an, ihr gehe es nicht darum mit Putin zu konkurrieren, sondern die radikalen Islamisten in ihrer Republik zu bekämpfen.[6]

Offen ist, ob Michail Prochorow, Unternehmer und Sergej Mironow, Vorsitzender der Partei „Gerechtes Russland“, die 2012 mit zur Wahl standen, auch dieses Mal antreten werden und ob sich noch weitere Kandidaten melden.

Der nach früheren Umfragen und umtriebigen Aktivitäten möglicherweise aussichtsreichste Konkurrent, Alexei Nawalny, der sich in den letzten Jahren als ‚Korruptionsjäger‘ zu einer beachtlichen politischen Figur hinaufgearbeitet hat[7], wurde auf Grund des gegen ihn verhängten Urteils wegen Unterschlagung Ende Dezember von der Wahl ausgeschlossen. Er versucht jetzt eine Wahlboykottkampagne im Land in Gang zu setzen.

So wie die anderen mit ihrer Kandidatur, hat Nawalny allerdings auch mit seinem Boykottaufruf keine Chance Putins Wiederwahl ernsthaft in Frage zu stellen. Erst recht wird er kaum so etwas wie einen russischen Maidan inszenieren können, wie es sich nicht wenige westliche Beobachter erhoffen.[8] Wird doch seine aktuelle Kampagne selbst von Putins Intimfeind Michail Chodorkowski abgelehnt, der die russische Bevölkerung aufruft, für jeden „annehmbaren Kandidaten“ zu stimmen, nur nicht für den „vorherbestimmten Gewinner“.[9]

Werfen wir einen Blick auf die Marge, an der Putins Herausforderinnen und Herausforderer sich messen lassen müssen: Lässt man die vorangegangenen Wahlen beiseite, die abgesehen von Putins Einstieg im Jahr 2000 mit 52,94% der Stimmen, mit ihren hohen Werten von 71,31% für Putin 2004, mit 70,88% für seinen Ersatzmann Dimitri Medwedew 2008 schon außerhalb des politischen Horizontes von heute liegen, dann kann auch die Präsidentenwahl von 2012, an der sich 65 Prozent der russischen Wahlberechtigten beteiligten, schon eine Ahnung davon geben, welchen Abstand Putins Konkurrenten aufzuholen hätten, wenn sie ihn jetzt im Amt des Präsidenten ablösen wollten: Putin kam 2012  auf 64,35 Prozent der Stimmen, Sjuganow auf 17, 38, der liberale Oligarch Prochorow auf 8,00, Schirinowski  auf 6,30, der eher linke Konservative Sergei Mironow auf 3,90 Prozent. Weitere Kandidaten, u.a. Jawlinksi, waren erst gar nicht zur Wahl zugelassen worden.[10]

Bei einer Umfrage vom April 2017, wen die Menschen zu dem Zeitpunkt der Befragung wählen würden, entschieden sich 48% für Putin, je 3% für Sjuganow und Schirinowski; alle anderen blieben bei einem Prozent.[11]

 

Vorsprung mit Einschränkungen

Der Vorsprung Putins ist offensichtlich. Aber etwas, nur eine Kleinigkeit, wie es scheinen mag,  ist dieses Mal anders: Dieses  Mal könnten mehr Kandidaten auf der Liste stehen als 2012. Zwar mindert das nicht den Vorsprung Putins vor allen anderen Bewerbern und Bewerberinnen, aber alle anderen zusammen könnten die Zustimmungsrate zu Putin unter das Niveau senken, das die russische Führung mit der Zielmarke 70/70[12], soll heißen, bei 70 prozentiger Wahlbeteiligung 70 Prozent der Stimmen für Putin, vorgeben möchte.

Und noch etwas ist neu: Erstmals traten in den vorangegangenen Kommunalwahlen vom September  2017 in Moskau jüngere Kräfte auf einer Liste an, die nicht aus der Konkursmasse der Alt-Liberalen à la Jawlinksi oder aus den Reihen der provokativen Parteigänger des ermordeten Boris Nemzow, aber auch nicht aus der Spur Nawalny´s hervorgingen. Sie fanden vielmehr in der praktischen Selbstorganisation auf Bezirksebene zusammen.

Der Initiator der Liste, ein ehemaliger Abgeordneter der Moskauer Duma, Dimitri Gudkow schaffte es, unter dem Motto „unabhängige Kandidaten“ die zerstrittenen oppositionellen Kräfte von unten  her zu bündeln und zu einem beachtlichen Erfolg zu führen, auch wenn Nawalny, wie der ‚Spiegel‘ anmerkt, „es nicht fertig brachte, Gudkow und seinem Team zu gratulieren.“[13]  Bei insgesamt 1502 kommunalen Abgeordneten brachte die Liste 262 Kandidaten in die Moskauer Kommunalvertretungen ein. Sie wurden damit zur zweiten  Kraft neben den kommunalen Vertretern der bisher unangefochten herrschenden Partei „Einheitliches Russland“, welche die  Mehrheit im kommunalen Bereich hält.

Gudkow hält sich bereit, als Kandidat zu der für 2018 anstehenden Bürgermeisterwahl in Moskau anzutreten. Die Vorgänge in Moskau könnten Initiator für eine von unten entstehende, echte Opposition in anderen Großstädten Russlands werden.[14]   

Dies alles, der Andrang von Kandidaten und Kandidatinnen, die Putin nicht besiegen, aber einengen wollen, der Boykottaufruf Nawalny’s, die Botschaft, die von dem Erfolg der Opposition in den Moskauer Wahlen ausgeht, macht erkennbar, warum Putin, obwohl sein Wahlsieg absehbar ist und er sich ruhig zurücklehnen könnte, um die Ergebnisse abzuwarten, dennoch den aktiven Wahlkampf betreibt, bei dem er gegenwärtig zu beobachten ist. Vorzugsweise will er vor jugendlichen Auditorien, in Betrieben, generell mit sozialen Themen und erklärtermaßen als unabhängiger Kandidat auftreten.[15] Bezeichnend dafür ist, wie er die Ankündigung seiner Kandidatur vor 15.000 Jugendlichen des 2015 nach der Übernahme der Krim in den russischen Staatsverband ins Leben gerufenen „Allrussischen Freiwilligenforums“[16], in der Jugendliche sich für Flüchtlingshilfe und Katastrophenschutz einsetzen, und gleich danach vor Veteranen und Arbeitern des Autowerks GAZ in Nischni Nowgorod inszenierte. Zwar lässt er sich von der Partei „Einheitliches Russland“ unterstützen, ist aber sichtlich bemüht, sich von deren schlechtem Image als ‚Partei der Macht‘ abzusetzen, der von der Bevölkerung die Verantwortung für Bürokratismus,  Korruption und sinkendes materielles Lebensniveau angelastet wird.

Einfach gesagt, es geht nicht darum, ob Putin für eine vierte Amtszeit gewählt wird, sondern wie. Mit einem Ergebnis, das deutlich unter seinem bisherigen Ranking und den Zielvorgaben für die kommende Wahl bliebe, bekäme Russland zwar keinen neuen, aber einen geschwächten Präsidenten. Damit tritt das Lindenblatt auf Putins Schultern deutlich hervor: Es heißt Legitimation. Ohne einen eindeutigen neuen Vertrauensbeweis, der erkennbar über den 52, 94 Prozent aus seiner Antrittswahl 2000 liegt, wenn schon nicht über der 70ger Marke der Wahlen von 2004 und 2008, wird er die kommende Legislaturperiode nicht ohne Entstehung innerer Unruhen bewältigen können.

 

Die Last der Stabilität…

Es ist ja eine widersprüchliche, wenn nicht gar eine fatale Situation, in der Putin sich befindet: Die Stimmen, die ihn erneut ins Amt des Präsidenten führen sollen, wenn alles so läuft, wie zur Zeit absehbar, erhält er für seinen siebzehnjährigen Stabilitätskurs, der ihn zum unersetzbaren Kapitän auf dem russischen Schiff hat werden lassen, ohne den nichts läuft. Erhält er den gewünschten Zuspruch, selbst wenn nicht ganz in gewünschter Höhe, kann er ihn durchaus als Aufforderung zur Fortsetzung seines bisherigen Kurses annehmen. Zugleich ist aber  klar, dass er den Kurs angesichts wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die seine dritte Amtszeit seit der Krise 2014/2015 begleiten, nicht zuletzt der Verschuldung, die das Land jetzt wieder eingeholt hat, nach der Wahl nur halten kann, wenn es ihm gelingt, den Impuls der Modernisierung zu erneuern, mit dem er im Jahr 2000 angetreten ist – und wenn er sich zugleich der Lösung der überfälligen sozialen Fragen zuwendet.

Nach Lage der Dinge, die durch seinen autoritären Führungsstil entstanden ist, bedeutet das, eine Stabilität, die auf Basis eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber einem allmächtigen Zentrum, das heißt, Putin, zunehmend in Stagnation überzugehen droht, erneut in Bewegung bringen zu müssen. Es bedeutet privates Unternehmertum wieder von staatlicher Bevormundung zu befreien, private unternehmerische Aktivitäten wie auch generell Initiativen der Selbstorganisation von der Basis der Gesellschaft bis in die Verwaltungsorgane hinein nicht nur wieder zuzulassen, sondern zu fördern, ohne dabei die Autorität des Zentrums, seine eigene Machtbasis zu schwächen.

Zugleich muss Putin aber Korruption und Eigenmächtigkeiten von Gouverneuren, Oligarchen, bürokratischen Korruptionsgemeinschaften, die ihren eigenen Interessen zum Schaden des Landes nachgehen, die Kapital angesichts der Erosion des Modernisierungskurses zunehmend „off shore“ auslagern, aktiv, ggfls. sogar repressiv an die Leine nehmen, dabei aber vermeiden, von einer autoritären Modernisierung in eine Diktatur abzugleiten. Die massiven Umbesetzungen leitender Posten, die in letzter Zeit im russischen Machtapparat vorgenommen wurden, lassen das Ausmaß dieses Problems erkennen.[17]

Paradox formuliert, muss Putin autoritäre Wege einschlagen, um eine autoritäre Erstarrung der politischen Strukturen wieder in Bewegung zu bringen. Das ist eine Aufgabe, die nicht ohne Widerstände durchführbar ist.

Zugleich muss es ihm gelingen, die im Zuge der Konfrontation mit dem Westen seit der Krise 2014/15 gewachsenen, aber vernachlässigten sozialen Probleme mit Blick auf Befriedung einer unruhig werdenden Bevölkerung aufzugreifen. Das Land ist gespalten in eine superreiche Oberschicht, eine kleine konsumorientierte Mittelschicht und eine große Mehrheit von Menschen, die heute nur knapp über der Armutsgrenze leben, heute erkennbar knapper als in den Aufbaujahren nach 2000, als der Öl-Preisboom der Regierung eine lockere Sozialpolitk ermöglichte, welche die vom Zusammenbruch der Union gebeutelte Bevölkerung zu befrieden vermochte.

Zunehmende lokale und überregionale Proteste im Lande sind ein deutlicher Ausdruck dieser veränderten Lage im Lande – das sind Aktivitäten der Transportarbeiter gegen die Einführung eines Mautsystems, das ihre Selbstständigkeit stranguliert. Das sind verzweifelte Bauernproteste gegen Landraub und Korruption durch eine kleptokratische Landoligarchie. Es sind lokale Lohnkämpfe, Mieterproteste gegen korrupte Spekulation mit Immobilien und Bauprojekten zu Lasten der Wohnung suchenden Bevölkerung, es sind Unruhen im Bildungsbereich, Mängel im Gesundheitswesen und in der Justiz usw., von den Zuständen in Sozialhilfestationen oder gar Gefängnissen ganz zu schweigen.[18]

 

… aber kein russischer Maidan

Ein russischer Maidan, wie manche im Westen unken, wird sich daraus allerdings zurzeit kaum entwickeln. Das muss hier noch einmal betont werden: 94 % der Bevölkerung erklärten bei einer entsprechenden Umfrage im März 2017, dass sie eine solche Entwicklung wie in der Ukraine nicht für möglich halten.[19] Auftritte Putins, bei denen er vor ‚Unruhestiftern vom Schlage Saakaschwilis‘ warnt, sind zurzeit eher als Wahlkampfagitation einzuordnen. Vor dem Hintergrund, dass die Ukraine Saakaschwili zum Agenten Moskaus stempeln will, sind sie möglicherweise auch noch als Botschaft an die Ukraine zu verstehen, dass Russland mit Saakaschwili nichts zu schaffen habe.

Dass hinter der aktuellen Wahlkampfagitation Putins selbstverständlich die innenpolitischen Strategien stehen, auf die Putin und sein ’Kommando‘ gegebenen Falles bereit sind zurückzugreifen, wenn sie es für nötig halten möglichen inneren Unruhen zu begegnen, ist ebenso klar. Nach den Vorgängen in der Ukraine 2014 liegt das Schwergewicht russischer Sicherheitsstrategien bis hinauf in die 2017 vorgelegte  neue Version darauf, mögliche Unruhestiftung von außen nach dem Muster des Kiewer Maidan präventiv zu verhindern und gegebenen Falles repressiv zu ersticken. Eine Nationalgarde, die dem Präsidenten direkt unterstellt ist, steht seit ihrer Gründung 2016 für solche Fälle bereit. [20]

Zurzeit aber, um darauf zurück zu kommen, geht es um mögliche Reformen. Beide Aufgaben, ein erneuter Privatisierungsschub zum einen, verbunden mit sozialen Einschnitten, dirigistische Maßnahmen zur Disziplinierung der Wirtschaft zum anderen, verbunden mit einer Sozialpolitik im Interesse der  Mehrheit der Bevölkerung stehen konträr zueinander. Der ungelöste Widerspruch ist geeignet, den bisherigen Konsens Putinscher Politik, in welcher der Präsident als oberster Wächter einer halb liberalen, halb autoritären Politik Balance hielt, platzen zu lassen.

Wenn das bisher noch nicht geschehen ist, ist das der Tatsache zu verdanken, dass diese Schwierigkeiten, angesichts der empfundenen Bedrohung des Landes durch äußere Mächte sowohl in den oberen Etagen, als auch an der Basis der Bevölkerung bisher als notwendig und unvermeidlich für die Verteidigung der Sicherheit des Landes hingenommen wurden. Die Eingliederung der Krim, die erfolgreiche Kriseneindämmungspolitik Putins in Syrien, Russlands neue Rolle als Weltmacht im Verbund mit China haben dem durchlässig gewordenen wirtschaftlichen begründeten Konsens aus den Anfangsjahren der Putinschen Ära noch einmal einen neuen, einen politischen Halt in der gemeinsamen Abwehr der äußeren Feinde verliehen. Zugleich belasten die enormen Kosten, welche die außenpolitischen Einsätze nach sich ziehen, auch diesen Konsens zunehmend. Länger ist deshalb eine Reform, die sich den seit 2014 gewachsenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsproblemen zuwendet, auch durch weitere außenpolitische Erfolge nicht mehr oder nur unter der Gefahr von Illoyalität in den Führungsetagen und zunehmenden sozialen Unruhen in der Bevölkerung aufzuschieben.

 

Polare Programme 

Eine Ahnung von der Zerreißprobe, die Russland bevorsteht, lassen die Programme erkennen, die im Vorfeld der Wahlen, zuletzt auf dem Wirtschaftsforum im Juni 2017, öffentlich diskutiert wurden. Sie sind verbunden, um in aller Kürze nur die Extreme zu nennen, mit den Namen Alexei Kudrin zum einen und Sergei Glasjew zum anderen. Beide sind informelle, aber enge Berater Wladimir Putins.

Kudrin, von 2000 bis 2011 Finanzminister, ist Träger der Modernisierungspolitik Putins aus den ersten beiden Amtsperioden. Nach vorübergehendem Zurücktreten von diesem Amt, wurde er 2016 zum Vorsitzenden des Wirtschaftsrates beim Präsidenten ernannt. Putin beauftragte ihn, ein Programm für eine nach der Wahl 2018 einzuleitende Wirtschafts- und Strukturreform vorzulegen. Kudrin sieht die Lösung der Krise in einer radikalen neo-liberalen Öffnung der russischen Wirtschaft für den Weltmarkt auf vornehmlich privatwirtschaftlicher Grundlage. Sie soll den Modernisierungskurs aus den ersten Amtsjahren Putins wieder aufgreifen. Zur Ankurbelung wirtschaftlicher Gesundung schlägt Kudrin den Verkauf, also die Privatisierung von Staatsfirmen vor, allen voran die großen Öl- und Gaskomplexe. Dies alles soll von Einschränkungen staatlicher Sozialausgaben flankiert werden, allem voran durch Erhöhung des Rentenalters und Kürzung der Renten. Bildung und Gesundheit will Kudrin dagegen fördern; das liegt durchaus in der neo-liberalen Logik des Programms, denn diese Sektoren werden für eine effektive Modernisierung gebraucht.[21]

Dem Programm Kudrins steht das Konzept Sergei Glasjews gegenüber. Nach einem bewegten Lebensgang durch die konservative politische Landschaft Russlands, einschließlich vorübergehender Mitgliedschaft in der KPRF wurde Glasjew 2009 Leiter des Sekretariats des „einheitlichen Wirtschaftsraumes“ von Russland, Weißrussland und Kasachstan. 2012 ernannte Putin ihn zu seinem Berater für die Integration der eurasischen Wirtschaft. Glasjew fordert eine staatliche Regulierung, der Wirtschaft, genauer deren entschlossene Fortsetzung nach Regeln, die eher an sowjetische Strukturen und Methoden anknüpfen.

Schon 2014, gleich nach den Maidan-Ereignissen, hatte Glasjew mit einem Plan von sich reden gemacht, wie Russland auf die westlichen Sanktionen regieren solle: mit klaren dirigistischen Maßnahmen müsse der russische Staat, vertreten durch die russische Zentralbank, russisches Kapital aus dem Ausland zurückholen, statt sich westlichem Kapital weiter zu öffnen, wie Kudrin es vorschlage. Mit einer Politik der „Entdollarisierung“ müssten russische Guthaben auf Banken in neutralen Ländern außerhalb des NATO-Bereiches transferiert werden. Der radikalste Vorschlag Glasjews besteht darin, den russischen Schuldendienst gegenüber  internationalen Gläubigern angesichts der durch die Finanzsanktionen entstandenen, nicht einlösbaren Verschuldung Russlands einzustellen, das heißt, Russland, wenn die Sanktionszange weiter geschlossen gehalten werde, mit der Begründung, dass Zahlungsverkehr unter Sanktionsbedingungen ohnehin nicht möglich sei, praktisch für Bankrott zu erklären, gleichzeitig aber, die Finanzbeziehungen mit China zu stärken. Die Umsetzung dieser Vorschläge käme einer radikalen Abkoppelung Russlands vom Westen gleich.

Innenpolitisch fordert Glasjew eine harte Besteuerung der oligarchischen Superprofite, um damit ein soziales Sicherungssystem in Russland und den Schutz russischer Minderheiten in den ehemaligen sowjetischen Republiken aufzubauen. Das wäre eine Sozialpolitik vom Zuschnitt der KPRF.[22]

Putin hat sich bisher nicht entschieden, welcher Seite er den Zuschlag geben will, außer, dass er im Wahlkampf erklärt, sich in Zukunft den sozialen Fragen zuwenden zu wollen. So oder so stehen jedoch, wenn er das Amt des Präsidenten erneut antritt, Entscheidungen an, die die bisherige politische Konstellation ablösen werden, in der Putin als ‚Zar‘ über den unterschiedlichen Fraktionen der Gesellschaft den überparteilichen, quasi neutralen Konsens halten konnte, in welchem Liberalismus und Traditionalismus, neo-kapitalistisches Laissez faire und rigide Staatskontrolle des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens einander die Waage hielten. Das Wahlergebnis wird den Ausschlag geben, wofür Putin sich entscheidet, wie das neue ‚Kommando` im und um den Kreml herum aussehen, nach welchen Regeln es arbeiten wird – und welche Veränderungen für Russlands Zukunft aus dieser  Entscheidung folgen werden. Vorab verbietet sich jede Spekulation.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zwei Bücher zum Thema:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte Entwürfe, 2005. Knapper Blick auf Russland nach dem Antritt Putins 2000, 85 Seiten.

Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg,  2014/5. Band I: Gorbatschow und Jelzin, Band II: Putin, Medwedew, Putin

Authentischer, chronologisch verfolgbarer Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika und im heutigen Russland.

Weitere Titel unter: www.kai-ehlers.de

Eine interessante Bearbeitung des Textes findet sich unter http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/das-lindenblatt-auf-putins-schulter-oder-warum-putin-auf-wahlkampfreisen-geht

 

[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Globales Zwischenhoch:  Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum? https://test.kai-ehlers.de/2016/06/globales-zwischenhoch-putin-krisenmanager-chande-oder-irrtum/

[2] Siehe dazu:  Kai Ehlers, „Globaler Farbwechsel –Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien.  https://test.kai-ehlers.de/2017/12/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien/

[3] The guardian, 14.12.2016

[4] Sputnik news, 26.12.2017

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wolfowitsch_Schirinowski

[6] rt deutsch, 03.01.2018

[7]Kai Ehlers: „Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki.  https://test.kai-ehlers.de/2017/08/was-kommt-nach-putin-kai-ehlers-im-gespraech-mit-boris-kagarlitzki/

[8] Dazu diverse Internetberichte 25. Und 26.12. 2017

[9] rt deutsch, 25.10.2017

[10] Alle Zahlenangaben nach Wikipedia: Präsidentschaftswahlen in Russland 200,2004,2008, 2012

[11] Dazu Daten in Russland Analysen, 334 vom 12.05. 2017, S. 18

[12] Epoch times, 27.03.2017

[13] Spiegel Online,  11.09.2017

[14] Siehe dazu: Russland Analysen 340 vom 22.09.2017S. 2 ff

[15] Russland news:  http://www.russland.news/putin-gab-seine-kandidatur-fuer-das-amt-des-praesidenten-bekannt/

[16] Siehe dazu :Russland Analysen 291 vom 27.02.2015, S.15

[17] Siehe dazu: Russland Analysen 334 vom 12.05.2017, S. 10 ff, Stichwort: „Elitenwechsel“

[18] Siehe dazu: Russland Analysen 333 vom 31.03.2017

[19] Ebenda, Grafiken S. 18 ff

[20] Siehe dazu: „Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich“ auf der Website von Kai Ehlers: https://test.kai-ehlers.de/2017/12/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

[21] Siehe dazu u.a.: Spiegel Online, 3.06.2017

[22] Siehe dazu: diverse Einzelberichte unter dem Stichwort: der Glasjew-Plan,

    außerdem: Peter W. Schulze, Wohin steuert Russland mit Putin? Campus, 2004, S. 172 ff.

 

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Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen  über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik  des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor Perestroika zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Saustausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleich sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender  Kolonialismus“ und schließlich noch der  „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.[1]

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten „Aufbau des Sozialismus“; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt.

Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 909er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren  Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe. Putin hat – gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt – diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte, Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nichts geändert.   Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen, bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, und so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell – und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern  bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.[2]

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins, Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion wie duie ganze neue herrschende Schicht Russlands bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür.[3] Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der sog. „Nationalen Projekte“, die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gaseinnahmen resultierenden Einahmen ergänzend zur Moedernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits- , des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft, sowie spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwjedew übernahm diese Staffette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“ Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, den er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten, ebenso wie kommunaler Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen – gewissermaßen exemplarisch.

Kai Ehlers

Unter www.kai-ehlers.de


[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Herausforderung Russland, Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung , dort das Kapitel: „Das Missverständnis vom kapitalismus – Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation“, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997

[2]Siehe dazu: Kai Ehlers,  „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung  aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

[3] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“,  April 2005 im Verlag Pforte/ Entwürfe

veröffentlicht in: Streifzüge

Medwedews Sozialpolitik: Vor einer 2. Phase der Privatisierung

Thesen zur Diskussion der Zeit nach Putin

Dimitri Medwedew orientierte bei seinem Antritt als Präsident auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Ausländischem Kapital will er optimale Investitionsmöglichkeiten bieten, in der Innenpolitik will er sich auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen, also die Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“

Nach solchen Äußerungen wurde Medwedew von vielen Menschen in Russland und im Westen als Liberaler begrüßt. Wer genauer wissen will, was zu erwarten ist, muss allerdings etwas zurückschauen: Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sie sich nach Gorbatschow und Jelzin entzogen hatten. Das hieß auch, ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug Putin mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Maßlosigkeiten der privaten Bereicherung, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige Bereiche, insbesondere die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder her (ohne die Privatisierung vom Grundsatz her zurückzudrehen!) und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.

Putins Versuche, die Privatisierung auf die soziale und kommunale Sphäre auszudehnen, blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Die dringend benötigte Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde nicht geschafft. Das allgemeine unentgeltliche, genauer, vergütungsbasierte Bau-, Gesundheits- ebenso wie das Bildungswesen verfiel und verwandelte sich in private Spielwiesen für Neureiche. Landwirtschaftliche Betriebe verfielen. Als Putin und die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 dann doch an die Privatisierung der sozialen und kommunalen Sphäre gehen wollten, musste er vor landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen und Vergütungen blieb in halben Maßnahmen stecken.

Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern. Kern der putinschen Vorschläge war ein staatliches Kreditierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 – vor der Wahl – kündigte Medwedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.

Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds Ende 2007 auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Milliarden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.

Die Ausrufung der nationalen Projekte durch Putins im Herbst 2005 war somit eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem keine besondere Sympathie für Putin nachgesagt werden kann, könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“. Das Problem der putinschen Sozialpolitik liege nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt worden seien, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückte, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte.

„Im Großen und Ganzen“, fasste Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“ – Nicht mehr unmittelbare Not ist Ursache wachsender Unzufriedenheit, sondern ein Verteilungsproblem, die ungleiche Teilhabe am wachsenden Wohlstand.

Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichten, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums darauf beschränkten, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken.

Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wurde nach ihnen gesucht. Dabei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und soeben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird. Das ist das von Medwedews übernommene Erbe.

Da war beispielsweise bei deutschen Analytikern[1] zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“

Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.

Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.

Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.

Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden. Im Übrigen gehen unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.

Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus allein dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem sein. Es ist darüber hinaus auch eine Frage der Lebensweise, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.

Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw., die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungsmarkt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.

Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“, also die Verwandlung von Vergünstigungen und Vergütungsstrukturen in finanzielle Kompensationen, zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.

Vor diesem Hintergrund bekommen Medwedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, auch nicht die angekündigte Entbürokratisierung, neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles jetzt verstärkt im Zentrum des Regierungshandelns stehen soll. Zusammen mit Medwedews Ankündigungen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen zu wollen, wird darin die Entschlossenheit der russischen Führung deutlich, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren zu wollen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF private Investitionen im Wohnungssektor zu erleichtern, das Bildungswesens an die EU-Normen anzupassen, den Dienstleistungssektor zu kommerzialisieren, die Agrar-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften zu fördern und schließlich, selbstverständlich, einen zweiten Anlauf zu nehmen, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen.

Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht. Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die zum einen selbstverständlich vom Niveau der Öl- und Gaspreisen abhängt, aber auch damit nicht allein beantwortet wird. Es geht auch um generellere Fragen des Lebens- und Gesellschaftsentwurfes: Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit abflachenden oder einbrechenden Gas- oder Ölpreisen, mit möglichen inflationären Folgen maßloser Kreditierungsexzesse könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Als Ergebnis einer Überprüfung dieser Analyse, die ich durch Gespräche im Lande selbst im Sommer 2006 in drei verschiedenen Orten durchführte – Moskau, Tarussa/Kaluga und Tscheboksary, möchte ich Folgendes festhalten:

1. Auch Medwedews Modernisierungsprogramm folgt, wie schon vor ihm das Gorbatschows, Jelzins, Putins dem für Russland typischen Muster der Reform von oben: Russlands Modernisierungsschübe sind immer Reformen von oben gewesen. Das entspricht der historisch gewachsenen Grundstruktur der russischen Ökonomie, die man traditionell als bürokratisch gelenkte Wirtschaft auf gemeinwirtschaftlicher Basis bezeichnen kann. Das Stichwort, welches Karl Marx und Friedrich Engels dazu seinerzeit gaben, lautet: asiatische Produktionsweise.

2. Es zeigt sich aber, dass eine Privatisierung der kommunalen und sozialen Strukturen auch unter den neuen Bedingungen nach dem Wechsel von Putin auf Medwedew nicht einfach zu dekretieren, auch nicht durch bloße Ausweitung des Kreditierungsprogrammes zu erkaufen ist, sondern nur in einem intensiven, im wahrsten Sinne nachhaltigen sozialen Dialog zwischen oben und unten entwickelt werden kann, in dem sich herausbildet, was die Bevölkerung, die aus einer gemeinwirtschaftlichen Tradition kommt, tragen kann und will.

3. Dieser soziale Dialog fehlt jedoch auch unter Medwedew, zumindest ist er nur in allerzartesten Ansätzen entwickelt. Die Privatisierung im Wohn-, Bildungs- und Gesundheitswesens erscheint immer noch als Zerstörung der gewachsenen sozialen Sicherungssysteme und Spaltung der Gesellschaft in Reihe und Arme – Gesundheitsangebote für Reiche, Wohnungen zu unerschwinglichen Preisen, Bildung nur über Beziehung oder für Geld, häufig sogar Bestechungsgeld, Verödung der Dörfer. Exemplarisch dafür die Häuserkämpfe in Moskau, die nach wie vor von der Bevölkerung nicht verstandene, nicht akzeptierte, sondern nur bürokratisch verordnete Monetarisierung in Kleinstädten wie Tarussa oder auch die sich weiter öffnende Schere zwischen mangelnder gesundheitlicher Versorgung auf dem Land und einem Klinikboom in einer Stadt wie Tscheboksary, um nur einige Beispiele zu nennen.

4. Wenn der soziale Dialog ungenügend geführt wird, reproduzieren die nationalen Projekte einschließlich der Monetarisierung jedoch nur die vorhandenen Strukturen der Bürokratie und der Trennung von oben und unten, lässt die Verfügbarkeit leichter Kredite bei gleichzeitiger sozialer Apathie der Mehrheit der Bevölkerung Korruption und Spekulation (im Bauwesen, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen ebenso wie in der Agrarwirtschaft) und eine für die Zukunft problematische Verschuldung entstehen.

5. Als Kern der Sozialpolitik, einschließlich Modernisierung der großen Produktion und der Entwicklung einer breiten mittelständischen wirtschaftlichen Tätigkeit, tritt unter diesen Umständen die Notwendigkeit einer Bildungsoffensive zutage, die auf Entwicklung individueller Kompetenz, Bereitschaft, Initiative zielt, welche die bürokratischen Leitungsstrukturen ersetzt, bzw. von unten mit Leben erfüllt.

6. Die soeben beschlossene Einführung des EGE (des einheitlichen Staatsexamens), welche die Bildung nach Standarts der WTO und der Bologner-Beschlüsse der EU ausrichtet, ersetzt jedoch die Entwicklung individueller sozialer Kompetenz durch standardisiertes Spezialistentum zum einen und rudimentäre Grundbildung der Mehrheit der Bevölkerung zum Anderen, d.h. sie verfestigt die traditionelle Grundstruktur von oben und unten, statt sie aufzulösen.

7. Notwendig wäre eine Bildungspolitik, die das Prinzip der Pluralität – ausgehend von der eigentümlichen ethnischen, kulturellen und geografischen Pluralität Russlands bis hin zur Multipluralität der internationalen Beziehungen, wie sie Russland als Alternative zur heutigen Weltordnung vorschlägt – als ureigenen russischen Impuls aufnimmt und mit einem allgemeinen, international kompatiblen Standart verbindet. Dies könnte der Schritt sein, der Russland über eine bloße Kopie des westlichen Kapitalismus hinausführen würde.

Der Text wurde für eine Konferenz in der „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau Dezember 2008 formuliert, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau organisiert wurde.


[1] „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa, Anfang 2006

Bilder von der Wolga

Fünf autonome Republiken bilden hier eine nicht-slawische Insel im Herzen Russlands. Aufenthalte dort -in der Tschuwaschischen Republik, auch im benachbarten Tatarstan, Utmurtien, El Mari, Baschkirien – führen tief in die Vielvölkerrealität Russlands hinein. Die Völker sprechen ihre eigene Sprache und sind bedacht auf ihre kulturelle Identität als nicht-slawischer Bestandteil Russlands. Die stillen Dörfer entlang der Wolga gehören mit zu den touristischen Attraktionen Russlands.

Über den „gespaltenen Zentralismus“ Gespräch mit Valentin Falin im „Institut für Friedensforschung“

Valentin Falin war von 1971 bis 1978 Botschafter der UdSSR in Bonn. „Sieben Jahre, vier Monate, drei Tage“, sagt er. Seit dem 14.1.92 hält er sich in Hamburg auf, wo er im „Institut für Friedenforschung“ ein wissenschaftliches Projekt über Verlauf und Ergebnisse der Perestroika verfolgt. Mit Valentin Falin sprach Kai Ehlers.

I: Herr Falin, sie leben jetzt in Deutschland. Kamen Sie freiwillig oder als Emigrant?

F: Freiwillig wäre überzogen gesagt. Es ist vor allem die Notwendigkeit, einen Ersatz zu schaffen für meine verlorenen Voraussetzungen, zuhause wissenschaftlich zu arbeiten. Ich habe in Russland meine wissenschaftliche Bibliothek verloren, die Notizen, die aus den letzten dreißig Jahren stammen. Sie waren in meinem Büro im ZK. Ich habe sie nicht herausbekommen. Hier sind die Bedingungen für eine normale analytische Arbeit viel besser. Deswegen haben meine Frau und ich das Angebot des „Instituts für Friedensforschung“ angenommen.

I: Sie sind bekannt als jemand, der auch während der Zeit der etwas gespannteren Beziehungen zwischen Ost und West immer für einen Dialog eingetreten ist. Wie kommt es, dass in einer Situation, in der der Ost-West-Dialog im Mittelpunkt steht, gerade Sie in solche Schwierigkeiten kommen?

F: Es ist nur ausgewählten Personen bekannt, was ich zu verschiedenen Zeiten zu tun versuchte, um die Partei umzuordnen, unsere Gesellschaft, unsere Innen- und Außenpolitik. Das ist ziemlich lange her. Ich hatte Möglichkeiten, mit ersten Personen des Staates und der Partei einen ganz direkten Kontakt zu pflegen. Ich begann meine Arbeit in einer Analysezentrale, die für Stalin Papiere verfertigte. Später, Anfang der sechziger Jahre, hatte ich das Privileg und (lächelt verhalten) die Strafe jede Woche seinen Nachfolger Chruschtschow zu sprechen und ihn zu hören…

I: Wieso Strafe?

F: Weil seine Monologe nicht immer so überaus interessant war. Am Ende war es auch ein bisschen traurig, zu beobachten, wie ein Mann zugrunde ging, indem er über sich selbst stolperte.

I: Wie stehen Sie zu dem sogenannten Putsch?

F: Das ist ein merkwürdiger Putsch in jeder Beziehung. Ich würde ganz definitiv sagen: Wenn dieser Versuch im Geheimen vorbereitet war, so vor allem geheim gegenüber der Partei. Ich selbst war zu der Zeit der Auslösung des Putsches im Urlaub. Ich kam erst nach Moskau, als die Krisensitzung, die ich als Präsident leiten sollte, schon beendet war und konnte nur, sozusagen am Rande, meine Fragen stellen. Da bekam ich von dem geschäftsführenden Mann, Schenin, die Antwort: Stellen auch Sie keine Fragen, auf die Sie keine Antworten kriegen! Mein hartnäckiges Bohren provozierte eine weitere Replik von ihm: Das sei vor allem eine Frage des Staates und nicht der Partei! Am nächsten Tage habe ich, wie auch die anderen, erfahren, der gleiche Schenin habe im Namen des Sekretariats ein Telegramm an die Parteiorganisation des Ortes verbreitet, in dem es hieß, dass man namens der Organisation das Komitee unterstütze. Es wurde in dem Telegramm aber auch gefragt, wie weit die Maßnahmen der Verfassung entsprächen. Heute wird der zweite Teil des Telegramms weggelassen, der sich auf die Verfassung bezieht. Es wird nur der erste zitiert, also, die Maßnahmen des Komitees zu unterstützen. Das wird als Beweis angeführt, dass die Führung der Partei in die Vorbereitungen und Ausführung des Putsches involviert war. Das war nicht der Fall!

I: Abgesehen von dem, was sich da im Hintergrund alles abgespielt hat, hätten Sie sich mit den Zielen des „Notstandskomitees“ identifizieren können?

F: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil die Putschisten formell die Respektierung des Volkswillens aus dem Referendum vom 17. März 91 zum Ausdruck gebracht und für die Einhaltung der Verfassung plädiert hatten. Soweit die Verfassung existiert, soweit die Gesetze in Kraft sind, egal, ob gut oder schlecht, sollen sie respektiert werden, wenn sie durch andere, durch bessere nicht ersetzt werden. Das ist das Prinzip aller Staaten, egal welchen  Systems. Aber, was die Methoden angeht, die Gewalt und vor allem die Pläne des „Komitees“, ihre Opponenten in Konzentrationslager zu verbannen und alle regelmäßigen Treffen außer Kraft zu setzen, das würde ich strikt ablehnen. Das haben wir in unserem Lande schon erlebt. Für mich war es vollkommen undiskutabel, so etwas zu wiederholen.

I: Wenn ich mir heute anschaue, wie Jelzin regiert, dann ist das doch genau das Notstandsregime, für das vorher die Putschisten eingetreten sind.

F: Ich kann bedingt der These zustimmen, dass Jelzin nicht gerade weich regiert und außerordentlichen Methoden nicht vollkommen fremd ist. Das ist auch Gegenstand der Kritik an ihm im Kongress der Volksdeputierten. Es ist auch eine besondere Frage, die eine Analyse braucht, wie drei Personen alle Verträge und alle verfassungsmäßige Entscheidungen aus dem Jahre zweiundzwanzig und später außer Kraft setzen konnten und der Existenz der Sowjetunion ein Ende bereiteten. Das schafft viele ungesetzliche Situationen. In dem Sinne ist unser Land noch weiter von einem Rechtsstaat entfernt als je zuvor.

I: Es gibt Stimmen bei Ihnen im Land, die die Sache so sehen, dass im Grunde ein Zustand erreicht worden sei, wie vor der Perestroika – nur unter anderer Form.

F: Es gibt verschiedene Meinungen zu diesem Thema. In außerordentlichen Situationen ist es unmöglich, mit ordentlichen, weißen Handschuhen  zu regieren. Es ist nur eine Frage des Maßes und des rechtlichen, wenn Sie gestatten, Taktes. Ich selbst würde vorziehen, dass keine Rückschläge in der Frage der Rechtspflege entstünden. Kontinuität beim Aufbau einer Gesellschaft, in der das Recht regiert und nicht Personen, wäre mir lieber. Dafür bin ich immer eingetreten, längst vor Perestroika. Ich habe zum Beispiel versucht, Chruschtschow zu überzeugen, dass eine Regierung der Sachverständigen viel vorteilhafter wäre als die Regierung der Parteifunktionäre. Aber ich würde eine andere Frage in den Vordergrund stellen, nämlich: Welches Programm der Präsident ausführen soll und entsprechend dem Programm würde ich seine Vollmachten bestimmen, nicht umgekehrt.

I: Wie beurteilen Sie das, was unter den Stichworten der Privatisierung und der Marktwirtschaft bei Ihnen im Lande passiert? Mir scheint, da entsteht nicht Marktwirtschaft, sondern Chaos.F: Ich stimme Ihnen zu. Dieses Chaos ist von der Tatsache abzuleiten, dass die Leute, die über Marktwirtschaft, über Privatisierung sprechen, im Grunde nicht verstehen, worüber sie sprechen. Was ist ein Markt? Man sagt bei uns, das sei die Frage des Eigentums. Aber Markt ist vor allem die Frage des Wettbewerbs. Ob ein Staatsmonopol oder ein privates Monopol existiert, dem Markt ist das gleichermaßen schädlich, ebenso für den Konsumenten. Wenn wir einen Markt erreichen wollen, müssen wir vor allem dafür Sorge tragen, dass von diesem Markt die verschwinden, die imstande sind, den anderen Dank ihrer Monopolstellung ihren Willen aufzuzwingen, ihre Preise, ihre Quantität, ihre Qualität und vieles andere mehr. Ich habe versucht, das dem Generalsekretär zu erklären, später dem Präsidenten Gorbatschow, den Kollegen im obersten Sowjet, in der Führung der Partei. Man darf das nicht verwechseln. Man muss erst mit der Demonopolisierung der Wirtschaft beginnen.

I: Schließt das die nationale Selbstständigkeit mit ein?

I: Welchen Weg würden Sie beschreiten wollen?

F: Einen demokratischen.

I: Eine Förderation?

F: Es kann auch eine Konföderation sein. Eine Föderation würde den internationalen Trend mehr entsprechen, aber keine aufgezwungene, sondern eine freiwillige, erkannt aus ökonomischen, ökologischen und anderen Imperativen, die uns bei Gründung des Staates dahin bewegten, nicht auseinander, sondern zusammen zu gehen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Auf diesem riesigen Territorium, das früher Sowjetunion hieß, gab es in der Geschichte kein einziges Jahr, in dem es überall zugleich eine gute Ernte gab. Das heißt, bei den vielfältigen klimatischen Bedingungen, die in dem Lande existieren, sind oder waren verschiedene Teile des Volkes und des Landes aneinander gebunden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die russische Dorfgemeinde bis Anfang dieses Jahrhunderts existierte. Nur gemeinsam, als eine Gemeinde im Dorfe, als eine gemeinsame Institution der oder anderer Art war es möglich, mit diesen Herausforderungen der Natur fertig zu werden. Wie jetzt? Wie wird es jetzt sein? Das ist eine Frage, auf die man keine Antwort gibt und die Frage, die man gerne vermeidet.

I: Die KPdSU, als zentraler Mechanismus, hat die alten gemeinschaftlichen Strukturen ja praktisch, nun sagen wir, vom Anspruch her ersetzt. Jetzt ist sie zerfallen. Was kann an ihre Stelle treten?

F: Nun, es wird so sein: Anstelle einer Staatsideologie wird eine andere eingepflanzt, die als demokratische oder als demokratischere bezeichnet wird. Aber wie ein Monopol in der Wirtschaft, so führt auch das Monopol in der Ideologie, in der Kultur in der Politik in die Sackgasse. Das ist mit unserer kommunistischen Partei geschehen. Das wird auch mit anderen geschehen, die versuchen, eine Ideologie zu erfinden und sie zu pflegen, egal wie sie heißt. Vom Wettbewerb der Ideen – das konnte in einer Partei schon geschehen. vom Wettbewerb von verschiedenen Schulen der Philosophie, der Kultur, der Kunst usw. kann man sich etwas versprechen. Gerade in diesem Punkt hat Stalin – und seine Nachfolger auch – den Marxismus der Seele beraubt. Was Stalin aufbaute, war Antisozialismus. Stalins Modell hatte mit Sozialismus nichts zu tun. Und wenn man heute über den Niedergang des Stalinsozialismus spricht, dann, korrekter gesehen, trägt man den Antisozialismus stalinschen Schlages zu Grabe.

I: Ich sehe darin schon eine Entwicklungsform des Sozialismus. Man darf sich nicht um die historische Kritik drücken.

F: Es ist nicht die heutige Erkenntnis, dass Stalin etwas dem Sozialismus Entgegengesetzes aufgebaut hat. Das ist zum ersten Male im August 1932 formuliert worden, und zwar von Rüting. Stalin tötet unter dem Motto „Leninismus!“, unter dem Motto „Proletarische Diktatur“. Das war damals schon Leuten klar. Später war es bequem aus verschiedenen Gründen, auch aus materiellen, diese Lehren zu vergessen. Und dieser langwierige Abschied vom Stalinismus: sechsundfünfzig mit Chruschtschow eingesetzt und bis zum Ende der Perestroika nicht zu Ende geführt!  Wie anders konnte die Partei von den Methoden dieser grausamen Zeit Abstand nehmen, als dass sie letztenendes ein eigenes Todesurteil unterschrieb! Ich habe das ganz offen gesagt, 1957, mehrmals später ’68 aus Anlass des Prager Frühlings, dann ’80 aus Anlass der Geschehnisse in Polen, ’86 aus Anlass der Gestaltung des ideologischen Programms der Perestroika. Aber es gab die Weiseren, die imstande waren, der Führung etwas anderes nahezulegen.

I: Halten Sie eine politische Sammlungsbewegung unter Gedanken des konservativen Kommunismus in der ehemaligen SU für möglich?

F: Das hängt davon ab, wohin das Land weiter steuert. Wie der Weg, der heute beschritten wird, die Bevölkerung herausfordert, auf die Straße zu gehen. Wenn, was ich befürchte, dieser Sommer eine katastrophale Missernte bringt, weil auf dem Lande alles fällt, dann – Ende! Dann ist nichts ausgeschlossen! Dann wird es den Ruf nach einer „harten Hand“, einer Art von Stalin, Neo-Stalin oder ich weiß nicht wie geben. Das wird leider nicht so verstanden. Es wäre das für lange Zeit das Ende des Versuches, eine unblutige Veränderung zustande zu bringen. Bei allem, was Gorbatschow gut oder schlecht gemacht hat, bei all dem, was wir heute mit dem sogenannten Putsch in Zusammenhang bringen – man vermied Blut, Meere von Blut! Das schien mir eine ganz neue Qualität in der Entwicklung nicht nur unserer Ordnung zu sein, sondern in der Entwicklung der internationalen Politik überhaupt, weil es bis dahin kaum jemanden gelang, den Sprung aus einer sozialen und politischen Qualität in die andere ohne Opfer zu unternehmen.

I: Betrachten wir in diesem Zusammenhang die Politik des neuen Deutschland. Nützt sie einer solchen friedlichen Transformation?

F: Nun, die Bundesrepublik vertritt ihre eigenen Interessen. Das ist legitim und verständlich. Die Regierung will beweisen, dass das, was erreicht wurde, Wiedervereinigung Deutschlands, Abschaffung einer militärischen Gefahr, Ergebnis einer langfristigen Ostpolitik war, an der die CDU, zum Teil die FDP aktiv teilgenommen, die sie zum Teil mitgestaltet habe. Nach diesen Vorstellungen ist alles, was im Osten passierte, ein Sieg des Staates, ein Sieg der Regierung, ein Sieg der Ordnung, die hier in der Bundesrepublik existiert. Man versucht sogar den Gedanken zu entwickeln, die Ostpolitik am Anfang der 70er Jahre (also, die der SPD – K.E.) sei eine falsche Politik gewesen. Hätte man sie nicht betrieben, wäre der Zusammenbruch der UdSSR und der DDR schon früher eingetreten! Das heißt, man unterstellt, dass die Politik der Gewalt eine produktive gewesen sei. Sie soll fortgesetzt werden in der oder einen anderen Form. Die Zeit für solche Politik ist nicht abgelaufen. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Neben den Vorteilen, die aus der Entwicklung entstanden sind, erkennt man auch klare Nachteile: Es gab eine stabile Situation im Osten, solange die Sowjetunion existierte. Es gab eine überschaubare Politik des Landes, soweit es überhaupt möglich ist. Es hatte sich auch eine Praxis herausgebildet, die eine Kontrolle über die Rüstungen ermöglichte etc. Praktisch sind wir heute alle in einer Null-Situation. Wir müssen vieles aufs Neue beginnen. Es ist zwar merkwürdig, aber doch eine Tatsache, dass der Abrüstungsprozess sich irgendwie im Stillstand befindet. Man braucht neue Konzepte, braucht neue Mechanismen, braucht vieles weiteres Neues. Aber wie dieses Neue aussehen wird, weiß niemand im Moment.

I: Ist die deutsche Vereinigung ein Ergebnis erfolgreicher deutscher Politik oder des Zusammenbruchs, bzw. einer klugen Politik von Seiten der Sowjetunion?

F: Beides gehört zusammen. Es gibt keine einheitliche und nicht nur eine einzige Antwort auf eine solche Frage. Ich würde Folgendes sagen wollen: Die Frage, wann die Spaltung überwunden werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Aber es ab verschiedene Modelle der Entwicklung. Es gab auch verschiedene Zeitvorstellungen für eine solche Wiedervereinigung und die damit zusammenhängende Überwindung der Spaltung Europas, Überwindung der Spaltung in der Welt. Wenn es anders verlief, so ist das zum Teil Ergebnis der von der sowjetischen Führung herbeigeführten Politik, von Manövern in dieser Politik, die bis heute nicht erklärt sind. Zum Teil ist es auch Ergebnis der sehr dogmatischen Position der damaligen DDR-Führung. Und letztenendes war es auch eine Entwicklung der ganzen Situation im Warschauer Pakt-Bereich.

I: Wenn Sie das Ergebnis betrachten, das dabei herausgekommen ist, dieses neue Deutschland: War es das wert?

F: Dieses neue Deutschland wird in den nächsten Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die heutige Entwicklung ist viel teurer als die, die möglich gewesen wäre, wenn man Alternativen berücksichtigt hätte. Sie ist vor allem für die einfachen Menschen teurer, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist. Letztenendes wird das technologische Niveau in den neuen Bundesländern höher sein als in den alten Bundesländern, zum Teil höher als in anderen europäischen und möglicherweise auch in nicht-europäischen Ländern. Man setzt neueste Produktionen ein wie nach einem Kriege. Neueste Technologien, die nicht im Kompromiss mit alten in Angriff genommen werden, sind den alten immer einige Jahre voraus. Kein Land inklusive Japan ist imstande so etwas zuhause zu leisten. Das ist einfach zu teuer. Ich gehe davon aus, dass die Deutschen es schaffen, obwohl das, ich wiederhole, ungeheuer viel materielle, moralische und menschliche Kosten verursacht. Aber letztendendes bin ich sicher, soweit alles normal in der Welt verläuft, ist das erreichbar für dieses dynamische Volk und für diesen dynamischen Staat. Dies haben die Deutschen nicht nur einmal in der Geschichte bewiesen.

I: Kann dieses Deutschland, das Sie so beschrieben haben, Modell sein für die ehemalige Sowjetunion?

F: Ja, wenn Deutschland seine Potenzen in einer konstruktiven, friedlichen Politik zu verwirklichen sucht und nicht in einer Politik der Gewalt, direkt oder indirekt, wenn Deutschland versteht, das es ein Teil Europas und der Welt ist, und nicht ein Zentrum und, dann ja. Ich möchte aber auch unangenehme Aspekte nennen, die leider auf Grund der Analyse nicht auszuschließen sind: Ein äußerer Zwang, so zu sein, ist auch für Deutschland verschwunden. Die Existenz der DDR bewegte Bundesdeutschland, stärkeres Gehör zu entwickeln gegenüber Forderungen von Mittelschichten, Bauern, Rentnern, als unter anderen Umständen politische Führungen bereit sind zu zeigen.

I: Es gibt bei uns viele Leute, die sich einem neuen starken Deutschland fürchten.

F: Solche Gefahren sind immer latent. Es hängt davon ab, ob die Atmosphäre, die materiellen und die anderen Voraussetzungen existieren, die aus dieser latenten Gefahr eine akute machen. Die jüngsten Wahlen in Baden-Würthemberg und Schleswig-Holstein haben gezeigt, dass dies als ernste Herausforderung zu verstehen ist. Ich möchte nicht zu denen gehören, die solche Gefahren überschätzen. Unterschätzen und überschätzen ist gleichermaßen falsch. Man muss genau wissen, woher der Wind weht und welche Methoden es gibt, um die Entwicklung nicht nur zu überwachen, sondern nach Möglichkeit zu beeinflussen. Das ist die Kunst der Politik, die Kunst, die uns zu eigen zu machen wir verurteilt sind, wenn wir uns über die Zukunft der nächsten Generation Gedanken machen wollen.

I: Viele beklagen ja auch die gegenwärtige Weltunordnung und sehen sich zum früheren Status quo zurück. Was halten Sie davon?

F. Die Bi-polare Welt beugte manchen Amokläufen der einzelnen Nationen vor. Andererseits ist die heutige Entwicklung kein Schlusspunkt. Die andere Ordnung wird sich etablieren, die den modernen Herausforderungen adäquater ist als die, die es gegeben hat.

I: Welche neue Ordnung, gar welche neue Utopie könnte sich Ihrer Ansicht nach aus dem Zusammenbruch entwickeln?

F: Erst einmal war das keine Utopie. Das war ein praktischer Versuch, eine praktikable Ordnung zu gründen, ein Versuch, der im Laufe der Entwicklung entartete, auf Grund des Kampfes auf Leben und Tod mit dem anderen System, also praktisch Sozialismus in einem Lande und nach dem Kriege in mehreren Ländern. Dieser Versuch hat keine friedliche Stunde erfahren. Das war ein permanenter, zermürbender Kampf. Auch in diesem Kampf hätte eine Ordnung, die sich als sozialistische bezeichnet, allerdings nicht zugrunde gehen müssen, wenn die Führer dieser Ordnung eine korrekte Politik durchgeführt hätten. Das war aber auch nicht der Fall.Trotz allem hat die sozialistische Idee in diesem Jahrhundert ganz tiefe Spuren hinterlassen. Wenn Sie den Kapitalismus von heute mit dem Kapitalismus aus dem Jahre ’17 vergleichen, dann sind auch das zwei verschiedene Ideologien. Das ist nicht von ungefähr vom Himmel gefallen, Das ist ein Ergebnis der Anpassung des Kapitalismus an die neue Welt, die dank dieses Versuches, Sozialismus aufzubauen, entstanden ist. Wenn schon der Versuch solche Folgen gehabt hat, dann können wir uns vorstellen, welche produktiven Potenzen in der Idee der sozialen, der nationalen und der menschlichen Gerechtigkeit liegen. Das ist nicht die Frage des Marxismus etc. Der Sozialismus ist viel älter als der Marxismus. Die Idee ist wenigstens zweitausend Jahre alt. Deswegen die Idee zu Grabe zu tragen, weil die marxistische Variante dieser Idee sich nicht so gerechtfertigt hat wie gewünscht, ist weder fair noch praktikabel.

I: Welche Schlussfolgerungen haben Sozialisten Ihrer Meinung nach aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen?

F: Sozialisten sollen einmal irgendwann versuchen, nicht nur sozialistisch zu plaudern, sondern sozialistisch zu denken und vor allem zu handeln. Sozialistisch, das heißt, die Moral in den Vordergrund zu stellen, das Wort der Tat gleich zu machen. Es heißt, keine leichten Versprechungen zu verstreuen, um Stimmen zu gewinnen, und dafür Sorge zu tragen, dass nicht die Gewalt die Welt regiert, sondern Recht und nicht einzelne Personen die Schicksale der Zivilisation und des Individuums gestaltet.