Schlagwort: Opposition

Das Lindenblatt auf Putins Schulter – oder warum Putin auf Wahlkampfreisen geht

In Russland wird demnächst  ein neues Staatsoberhaupt gewählt.  Das neue wird das alte sein, Wladimir Putin. Das ist die allgemeine Erwartung, der man wohl zustimmen muss: Putin hat das Land stabilisiert. Er hat den Schuldendrachen besiegt, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seinen Klauen hielt. Er hat die Zinsgier des internationalen Kapitals zurückgewiesen, als er bei seinem Amtsantritt weitere Kredite des IWF und der Weltbank ablehnte und die Altschulden der Sowjetunion gegen den Widerstand der westlichen Banken beglich. Er hat die vielköpfige Schar der Privatisierungsgewinnler gezähmt, die sich aus dem Chaos der Ära Jelzins  erhoben hatten und sie im Konsens um sich zum Nutzen der Stabilisierung Russlands gruppiert. Im Krieg mit den Tschetschenen hat er verhindert, dass der Zerfall der Sowjetunion sich als Zerfall Russlands entlang seiner Vielvölkerstruktur fortsetzte. Er hat einen Stabilitätsfonds geschaffen, mit dem er zwei Krisen und drei Amtszeiten überstand. Alle oppositionellen Angriffe, berechtigt oder nicht berechtigt, sind an ihm abgeprallt, ebenso wie Versuche aus dem Ausland, ihn als neuen Stalin oder Hitler zu diffamieren.  Am Ende wuchs er sogar, wenn auch getrieben von wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, über den innenpolitischen Stabilisierer zum außenpolitischen Krisenmanager[1] empor, der mit China an einer neuen multipolaren Weltordnung baut[2], welche die USA in die Schranken weisen könnte. Die internationale Rating-Agentur Forbes setzte ihn kürzlich zum vierten Mal hintereinander auf Platz eins der einflussreichsten Menschen unserer Zeit.[3]

Kurz, dieser Mann scheint vielen seiner Landsleute und nicht nur diesen und nicht wenigen auch zu ihrem Ärger, unverwundbar wie seinerzeit Siegfried, nachdem er im Blut des von ihm erlegten Drachen gebadet hatte. Herausforderer, die mit ihm jetzt um das Amt des Präsidenten konkurrieren, haben keine Chance, ihn zu  besiegen, es sei denn, sie treffen ihn dort, wo einst Siegfried getroffen werden konnte, als ein Lindenblatt zwischen seinen Schulterblättern die Aushärtung des Drachenblutes verhindert hatte.

 

Die Riege der Konkurrenten

Betrachten wir Putins Konkurrenten. Da ist zunächst der „ewige Zweite“, wie er im Lande genannt wird, der Chef der „Kommunistischen Partei Russlands“ (KPRF) Gennadij Sjuganow. Er ist zwar soeben zugunsten eines neuen unverbrauchten Kandidaten der KP, Pawel Grudinin[4] zurückgetreten. Grudinin ist als erfolgreicher landwirtschaftlicher Unternehmer auch über die traditionellen Kreise der alten Riege der KPRF hinaus eine angesehene politische Figur, die für eine mögliche Erneuerung der KP steht. Aber auch der jüngere und weltoffenere Grudinin wird, mit der sklerotisierten KPRF im Schlepptau, nicht mehr als einen Achtungserfolg einfahren können.

Ähnliches, wenn auch vielleicht nicht gerade von Achtung die Rede  sein kann, kann man von dem Kandidaten der „Liberaldemokratischen Partei“ (LDPR), Wladimir Schirinowski[5] sagen. Er ist als provokativer Rechtsaußen ebenfalls Dauerkandidat bei Wahlen zur Präsidentschaft seit Beginn der nachsowjetischen neuen russischen Staatlichkeit. Meinungsumfragen, wie auch aktuell ‚gefühlte‘ Wahrnehmungen im Lande, die aus der Tatsache resultieren, dass die LDPR ein besseres ‚Händchen‘ für die Nöte der Bevölkerung zeige als die übrigen Parteien, besonders  die ‚Partei der Macht‘, „Einheitliches Russland“, geben ihm die Chance zur KPRF aufzuschließen. Eine ernste Konkurrenz für den Amtsinhaber wird aber auch er nicht werden.

Bleiben neben Grudinin und  Schirinowski noch Kandidaten und Kandidatinnen aus der zweiten Reihe, die nicht dem etablierten Parteiengefüge entstammen, sondern mit persönlichen Unterstützerkreisen antreten. Sie nehmen nach eigenen Aussagen durchweg allein deswegen an der Wahl teil, weil sie Putin nicht allein das Feld überlassen wollen. Keine/r von ihnen kann, sofern sie zur Wahl zugelassen werden, mit mehr als zwei, drei, höchstens fünf Prozent der Stimmen rechnen. Alles andere wären Überraschungen.

Da ist zunächst Grigori Jawlinski, ein aus der Zeit Jelzins übrig gebliebener Veteran der Liberalen, von dem kaum jemand noch etwas anderes erwartet als die Befriedigung von dessen persönlichen politischen Ambitionen. Weiterhin Oligarch Boris Titow, Chef der „Wachstumspartei“, als neo-liberaler Vertrauter Putins ein eher unglaubhafter Konkurrent. Weiter Anton Bakow, Unternehmer, Antikommunist,  Vorsitzender der Monarchistischen Partei der Russischen Föderation, der das Zarentum wieder errichten will. Sodann Maxim Suraikin, Chef der „Kommunisten Russlands“, einer seit 2012 begründeten Konkurrenzorganisation zur KPRF.

Dieses Mal sind auch einige Frauen dabei: Xenia Sobtschak, die Tochter von Putins Ziehvater Anatoly Sobtschak, dem verstorbenen Bürgermeister von St. Petersburg, parteilos, die sich mit ihrer Wahlkampfparole „Gegen alle“  allerdings von vornherein aus dem Rennen geschossen hat. Sodann Katja Gordon, Journalistin, Menschenrechtsaktivistin, die sich für Frauenrechte einsetzt und – unübersehbar im mehrfachen Sinn  des Wortes – Elena Berkowa, ehemalige Pornodarstellerin aus Murmansk, die in high-heels und Dessous posiert.

Als bisher Letzte  meldete Alina Gamzatova, Muslimin aus Dagestan ihre Kandidatur an. Als Ziel gab sie an, ihr gehe es nicht darum mit Putin zu konkurrieren, sondern die radikalen Islamisten in ihrer Republik zu bekämpfen.[6]

Offen ist, ob Michail Prochorow, Unternehmer und Sergej Mironow, Vorsitzender der Partei „Gerechtes Russland“, die 2012 mit zur Wahl standen, auch dieses Mal antreten werden und ob sich noch weitere Kandidaten melden.

Der nach früheren Umfragen und umtriebigen Aktivitäten möglicherweise aussichtsreichste Konkurrent, Alexei Nawalny, der sich in den letzten Jahren als ‚Korruptionsjäger‘ zu einer beachtlichen politischen Figur hinaufgearbeitet hat[7], wurde auf Grund des gegen ihn verhängten Urteils wegen Unterschlagung Ende Dezember von der Wahl ausgeschlossen. Er versucht jetzt eine Wahlboykottkampagne im Land in Gang zu setzen.

So wie die anderen mit ihrer Kandidatur, hat Nawalny allerdings auch mit seinem Boykottaufruf keine Chance Putins Wiederwahl ernsthaft in Frage zu stellen. Erst recht wird er kaum so etwas wie einen russischen Maidan inszenieren können, wie es sich nicht wenige westliche Beobachter erhoffen.[8] Wird doch seine aktuelle Kampagne selbst von Putins Intimfeind Michail Chodorkowski abgelehnt, der die russische Bevölkerung aufruft, für jeden „annehmbaren Kandidaten“ zu stimmen, nur nicht für den „vorherbestimmten Gewinner“.[9]

Werfen wir einen Blick auf die Marge, an der Putins Herausforderinnen und Herausforderer sich messen lassen müssen: Lässt man die vorangegangenen Wahlen beiseite, die abgesehen von Putins Einstieg im Jahr 2000 mit 52,94% der Stimmen, mit ihren hohen Werten von 71,31% für Putin 2004, mit 70,88% für seinen Ersatzmann Dimitri Medwedew 2008 schon außerhalb des politischen Horizontes von heute liegen, dann kann auch die Präsidentenwahl von 2012, an der sich 65 Prozent der russischen Wahlberechtigten beteiligten, schon eine Ahnung davon geben, welchen Abstand Putins Konkurrenten aufzuholen hätten, wenn sie ihn jetzt im Amt des Präsidenten ablösen wollten: Putin kam 2012  auf 64,35 Prozent der Stimmen, Sjuganow auf 17, 38, der liberale Oligarch Prochorow auf 8,00, Schirinowski  auf 6,30, der eher linke Konservative Sergei Mironow auf 3,90 Prozent. Weitere Kandidaten, u.a. Jawlinksi, waren erst gar nicht zur Wahl zugelassen worden.[10]

Bei einer Umfrage vom April 2017, wen die Menschen zu dem Zeitpunkt der Befragung wählen würden, entschieden sich 48% für Putin, je 3% für Sjuganow und Schirinowski; alle anderen blieben bei einem Prozent.[11]

 

Vorsprung mit Einschränkungen

Der Vorsprung Putins ist offensichtlich. Aber etwas, nur eine Kleinigkeit, wie es scheinen mag,  ist dieses Mal anders: Dieses  Mal könnten mehr Kandidaten auf der Liste stehen als 2012. Zwar mindert das nicht den Vorsprung Putins vor allen anderen Bewerbern und Bewerberinnen, aber alle anderen zusammen könnten die Zustimmungsrate zu Putin unter das Niveau senken, das die russische Führung mit der Zielmarke 70/70[12], soll heißen, bei 70 prozentiger Wahlbeteiligung 70 Prozent der Stimmen für Putin, vorgeben möchte.

Und noch etwas ist neu: Erstmals traten in den vorangegangenen Kommunalwahlen vom September  2017 in Moskau jüngere Kräfte auf einer Liste an, die nicht aus der Konkursmasse der Alt-Liberalen à la Jawlinksi oder aus den Reihen der provokativen Parteigänger des ermordeten Boris Nemzow, aber auch nicht aus der Spur Nawalny´s hervorgingen. Sie fanden vielmehr in der praktischen Selbstorganisation auf Bezirksebene zusammen.

Der Initiator der Liste, ein ehemaliger Abgeordneter der Moskauer Duma, Dimitri Gudkow schaffte es, unter dem Motto „unabhängige Kandidaten“ die zerstrittenen oppositionellen Kräfte von unten  her zu bündeln und zu einem beachtlichen Erfolg zu führen, auch wenn Nawalny, wie der ‚Spiegel‘ anmerkt, „es nicht fertig brachte, Gudkow und seinem Team zu gratulieren.“[13]  Bei insgesamt 1502 kommunalen Abgeordneten brachte die Liste 262 Kandidaten in die Moskauer Kommunalvertretungen ein. Sie wurden damit zur zweiten  Kraft neben den kommunalen Vertretern der bisher unangefochten herrschenden Partei „Einheitliches Russland“, welche die  Mehrheit im kommunalen Bereich hält.

Gudkow hält sich bereit, als Kandidat zu der für 2018 anstehenden Bürgermeisterwahl in Moskau anzutreten. Die Vorgänge in Moskau könnten Initiator für eine von unten entstehende, echte Opposition in anderen Großstädten Russlands werden.[14]   

Dies alles, der Andrang von Kandidaten und Kandidatinnen, die Putin nicht besiegen, aber einengen wollen, der Boykottaufruf Nawalny’s, die Botschaft, die von dem Erfolg der Opposition in den Moskauer Wahlen ausgeht, macht erkennbar, warum Putin, obwohl sein Wahlsieg absehbar ist und er sich ruhig zurücklehnen könnte, um die Ergebnisse abzuwarten, dennoch den aktiven Wahlkampf betreibt, bei dem er gegenwärtig zu beobachten ist. Vorzugsweise will er vor jugendlichen Auditorien, in Betrieben, generell mit sozialen Themen und erklärtermaßen als unabhängiger Kandidat auftreten.[15] Bezeichnend dafür ist, wie er die Ankündigung seiner Kandidatur vor 15.000 Jugendlichen des 2015 nach der Übernahme der Krim in den russischen Staatsverband ins Leben gerufenen „Allrussischen Freiwilligenforums“[16], in der Jugendliche sich für Flüchtlingshilfe und Katastrophenschutz einsetzen, und gleich danach vor Veteranen und Arbeitern des Autowerks GAZ in Nischni Nowgorod inszenierte. Zwar lässt er sich von der Partei „Einheitliches Russland“ unterstützen, ist aber sichtlich bemüht, sich von deren schlechtem Image als ‚Partei der Macht‘ abzusetzen, der von der Bevölkerung die Verantwortung für Bürokratismus,  Korruption und sinkendes materielles Lebensniveau angelastet wird.

Einfach gesagt, es geht nicht darum, ob Putin für eine vierte Amtszeit gewählt wird, sondern wie. Mit einem Ergebnis, das deutlich unter seinem bisherigen Ranking und den Zielvorgaben für die kommende Wahl bliebe, bekäme Russland zwar keinen neuen, aber einen geschwächten Präsidenten. Damit tritt das Lindenblatt auf Putins Schultern deutlich hervor: Es heißt Legitimation. Ohne einen eindeutigen neuen Vertrauensbeweis, der erkennbar über den 52, 94 Prozent aus seiner Antrittswahl 2000 liegt, wenn schon nicht über der 70ger Marke der Wahlen von 2004 und 2008, wird er die kommende Legislaturperiode nicht ohne Entstehung innerer Unruhen bewältigen können.

 

Die Last der Stabilität…

Es ist ja eine widersprüchliche, wenn nicht gar eine fatale Situation, in der Putin sich befindet: Die Stimmen, die ihn erneut ins Amt des Präsidenten führen sollen, wenn alles so läuft, wie zur Zeit absehbar, erhält er für seinen siebzehnjährigen Stabilitätskurs, der ihn zum unersetzbaren Kapitän auf dem russischen Schiff hat werden lassen, ohne den nichts läuft. Erhält er den gewünschten Zuspruch, selbst wenn nicht ganz in gewünschter Höhe, kann er ihn durchaus als Aufforderung zur Fortsetzung seines bisherigen Kurses annehmen. Zugleich ist aber  klar, dass er den Kurs angesichts wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die seine dritte Amtszeit seit der Krise 2014/2015 begleiten, nicht zuletzt der Verschuldung, die das Land jetzt wieder eingeholt hat, nach der Wahl nur halten kann, wenn es ihm gelingt, den Impuls der Modernisierung zu erneuern, mit dem er im Jahr 2000 angetreten ist – und wenn er sich zugleich der Lösung der überfälligen sozialen Fragen zuwendet.

Nach Lage der Dinge, die durch seinen autoritären Führungsstil entstanden ist, bedeutet das, eine Stabilität, die auf Basis eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber einem allmächtigen Zentrum, das heißt, Putin, zunehmend in Stagnation überzugehen droht, erneut in Bewegung bringen zu müssen. Es bedeutet privates Unternehmertum wieder von staatlicher Bevormundung zu befreien, private unternehmerische Aktivitäten wie auch generell Initiativen der Selbstorganisation von der Basis der Gesellschaft bis in die Verwaltungsorgane hinein nicht nur wieder zuzulassen, sondern zu fördern, ohne dabei die Autorität des Zentrums, seine eigene Machtbasis zu schwächen.

Zugleich muss Putin aber Korruption und Eigenmächtigkeiten von Gouverneuren, Oligarchen, bürokratischen Korruptionsgemeinschaften, die ihren eigenen Interessen zum Schaden des Landes nachgehen, die Kapital angesichts der Erosion des Modernisierungskurses zunehmend „off shore“ auslagern, aktiv, ggfls. sogar repressiv an die Leine nehmen, dabei aber vermeiden, von einer autoritären Modernisierung in eine Diktatur abzugleiten. Die massiven Umbesetzungen leitender Posten, die in letzter Zeit im russischen Machtapparat vorgenommen wurden, lassen das Ausmaß dieses Problems erkennen.[17]

Paradox formuliert, muss Putin autoritäre Wege einschlagen, um eine autoritäre Erstarrung der politischen Strukturen wieder in Bewegung zu bringen. Das ist eine Aufgabe, die nicht ohne Widerstände durchführbar ist.

Zugleich muss es ihm gelingen, die im Zuge der Konfrontation mit dem Westen seit der Krise 2014/15 gewachsenen, aber vernachlässigten sozialen Probleme mit Blick auf Befriedung einer unruhig werdenden Bevölkerung aufzugreifen. Das Land ist gespalten in eine superreiche Oberschicht, eine kleine konsumorientierte Mittelschicht und eine große Mehrheit von Menschen, die heute nur knapp über der Armutsgrenze leben, heute erkennbar knapper als in den Aufbaujahren nach 2000, als der Öl-Preisboom der Regierung eine lockere Sozialpolitk ermöglichte, welche die vom Zusammenbruch der Union gebeutelte Bevölkerung zu befrieden vermochte.

Zunehmende lokale und überregionale Proteste im Lande sind ein deutlicher Ausdruck dieser veränderten Lage im Lande – das sind Aktivitäten der Transportarbeiter gegen die Einführung eines Mautsystems, das ihre Selbstständigkeit stranguliert. Das sind verzweifelte Bauernproteste gegen Landraub und Korruption durch eine kleptokratische Landoligarchie. Es sind lokale Lohnkämpfe, Mieterproteste gegen korrupte Spekulation mit Immobilien und Bauprojekten zu Lasten der Wohnung suchenden Bevölkerung, es sind Unruhen im Bildungsbereich, Mängel im Gesundheitswesen und in der Justiz usw., von den Zuständen in Sozialhilfestationen oder gar Gefängnissen ganz zu schweigen.[18]

 

… aber kein russischer Maidan

Ein russischer Maidan, wie manche im Westen unken, wird sich daraus allerdings zurzeit kaum entwickeln. Das muss hier noch einmal betont werden: 94 % der Bevölkerung erklärten bei einer entsprechenden Umfrage im März 2017, dass sie eine solche Entwicklung wie in der Ukraine nicht für möglich halten.[19] Auftritte Putins, bei denen er vor ‚Unruhestiftern vom Schlage Saakaschwilis‘ warnt, sind zurzeit eher als Wahlkampfagitation einzuordnen. Vor dem Hintergrund, dass die Ukraine Saakaschwili zum Agenten Moskaus stempeln will, sind sie möglicherweise auch noch als Botschaft an die Ukraine zu verstehen, dass Russland mit Saakaschwili nichts zu schaffen habe.

Dass hinter der aktuellen Wahlkampfagitation Putins selbstverständlich die innenpolitischen Strategien stehen, auf die Putin und sein ’Kommando‘ gegebenen Falles bereit sind zurückzugreifen, wenn sie es für nötig halten möglichen inneren Unruhen zu begegnen, ist ebenso klar. Nach den Vorgängen in der Ukraine 2014 liegt das Schwergewicht russischer Sicherheitsstrategien bis hinauf in die 2017 vorgelegte  neue Version darauf, mögliche Unruhestiftung von außen nach dem Muster des Kiewer Maidan präventiv zu verhindern und gegebenen Falles repressiv zu ersticken. Eine Nationalgarde, die dem Präsidenten direkt unterstellt ist, steht seit ihrer Gründung 2016 für solche Fälle bereit. [20]

Zurzeit aber, um darauf zurück zu kommen, geht es um mögliche Reformen. Beide Aufgaben, ein erneuter Privatisierungsschub zum einen, verbunden mit sozialen Einschnitten, dirigistische Maßnahmen zur Disziplinierung der Wirtschaft zum anderen, verbunden mit einer Sozialpolitik im Interesse der  Mehrheit der Bevölkerung stehen konträr zueinander. Der ungelöste Widerspruch ist geeignet, den bisherigen Konsens Putinscher Politik, in welcher der Präsident als oberster Wächter einer halb liberalen, halb autoritären Politik Balance hielt, platzen zu lassen.

Wenn das bisher noch nicht geschehen ist, ist das der Tatsache zu verdanken, dass diese Schwierigkeiten, angesichts der empfundenen Bedrohung des Landes durch äußere Mächte sowohl in den oberen Etagen, als auch an der Basis der Bevölkerung bisher als notwendig und unvermeidlich für die Verteidigung der Sicherheit des Landes hingenommen wurden. Die Eingliederung der Krim, die erfolgreiche Kriseneindämmungspolitik Putins in Syrien, Russlands neue Rolle als Weltmacht im Verbund mit China haben dem durchlässig gewordenen wirtschaftlichen begründeten Konsens aus den Anfangsjahren der Putinschen Ära noch einmal einen neuen, einen politischen Halt in der gemeinsamen Abwehr der äußeren Feinde verliehen. Zugleich belasten die enormen Kosten, welche die außenpolitischen Einsätze nach sich ziehen, auch diesen Konsens zunehmend. Länger ist deshalb eine Reform, die sich den seit 2014 gewachsenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsproblemen zuwendet, auch durch weitere außenpolitische Erfolge nicht mehr oder nur unter der Gefahr von Illoyalität in den Führungsetagen und zunehmenden sozialen Unruhen in der Bevölkerung aufzuschieben.

 

Polare Programme 

Eine Ahnung von der Zerreißprobe, die Russland bevorsteht, lassen die Programme erkennen, die im Vorfeld der Wahlen, zuletzt auf dem Wirtschaftsforum im Juni 2017, öffentlich diskutiert wurden. Sie sind verbunden, um in aller Kürze nur die Extreme zu nennen, mit den Namen Alexei Kudrin zum einen und Sergei Glasjew zum anderen. Beide sind informelle, aber enge Berater Wladimir Putins.

Kudrin, von 2000 bis 2011 Finanzminister, ist Träger der Modernisierungspolitik Putins aus den ersten beiden Amtsperioden. Nach vorübergehendem Zurücktreten von diesem Amt, wurde er 2016 zum Vorsitzenden des Wirtschaftsrates beim Präsidenten ernannt. Putin beauftragte ihn, ein Programm für eine nach der Wahl 2018 einzuleitende Wirtschafts- und Strukturreform vorzulegen. Kudrin sieht die Lösung der Krise in einer radikalen neo-liberalen Öffnung der russischen Wirtschaft für den Weltmarkt auf vornehmlich privatwirtschaftlicher Grundlage. Sie soll den Modernisierungskurs aus den ersten Amtsjahren Putins wieder aufgreifen. Zur Ankurbelung wirtschaftlicher Gesundung schlägt Kudrin den Verkauf, also die Privatisierung von Staatsfirmen vor, allen voran die großen Öl- und Gaskomplexe. Dies alles soll von Einschränkungen staatlicher Sozialausgaben flankiert werden, allem voran durch Erhöhung des Rentenalters und Kürzung der Renten. Bildung und Gesundheit will Kudrin dagegen fördern; das liegt durchaus in der neo-liberalen Logik des Programms, denn diese Sektoren werden für eine effektive Modernisierung gebraucht.[21]

Dem Programm Kudrins steht das Konzept Sergei Glasjews gegenüber. Nach einem bewegten Lebensgang durch die konservative politische Landschaft Russlands, einschließlich vorübergehender Mitgliedschaft in der KPRF wurde Glasjew 2009 Leiter des Sekretariats des „einheitlichen Wirtschaftsraumes“ von Russland, Weißrussland und Kasachstan. 2012 ernannte Putin ihn zu seinem Berater für die Integration der eurasischen Wirtschaft. Glasjew fordert eine staatliche Regulierung, der Wirtschaft, genauer deren entschlossene Fortsetzung nach Regeln, die eher an sowjetische Strukturen und Methoden anknüpfen.

Schon 2014, gleich nach den Maidan-Ereignissen, hatte Glasjew mit einem Plan von sich reden gemacht, wie Russland auf die westlichen Sanktionen regieren solle: mit klaren dirigistischen Maßnahmen müsse der russische Staat, vertreten durch die russische Zentralbank, russisches Kapital aus dem Ausland zurückholen, statt sich westlichem Kapital weiter zu öffnen, wie Kudrin es vorschlage. Mit einer Politik der „Entdollarisierung“ müssten russische Guthaben auf Banken in neutralen Ländern außerhalb des NATO-Bereiches transferiert werden. Der radikalste Vorschlag Glasjews besteht darin, den russischen Schuldendienst gegenüber  internationalen Gläubigern angesichts der durch die Finanzsanktionen entstandenen, nicht einlösbaren Verschuldung Russlands einzustellen, das heißt, Russland, wenn die Sanktionszange weiter geschlossen gehalten werde, mit der Begründung, dass Zahlungsverkehr unter Sanktionsbedingungen ohnehin nicht möglich sei, praktisch für Bankrott zu erklären, gleichzeitig aber, die Finanzbeziehungen mit China zu stärken. Die Umsetzung dieser Vorschläge käme einer radikalen Abkoppelung Russlands vom Westen gleich.

Innenpolitisch fordert Glasjew eine harte Besteuerung der oligarchischen Superprofite, um damit ein soziales Sicherungssystem in Russland und den Schutz russischer Minderheiten in den ehemaligen sowjetischen Republiken aufzubauen. Das wäre eine Sozialpolitik vom Zuschnitt der KPRF.[22]

Putin hat sich bisher nicht entschieden, welcher Seite er den Zuschlag geben will, außer, dass er im Wahlkampf erklärt, sich in Zukunft den sozialen Fragen zuwenden zu wollen. So oder so stehen jedoch, wenn er das Amt des Präsidenten erneut antritt, Entscheidungen an, die die bisherige politische Konstellation ablösen werden, in der Putin als ‚Zar‘ über den unterschiedlichen Fraktionen der Gesellschaft den überparteilichen, quasi neutralen Konsens halten konnte, in welchem Liberalismus und Traditionalismus, neo-kapitalistisches Laissez faire und rigide Staatskontrolle des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens einander die Waage hielten. Das Wahlergebnis wird den Ausschlag geben, wofür Putin sich entscheidet, wie das neue ‚Kommando` im und um den Kreml herum aussehen, nach welchen Regeln es arbeiten wird – und welche Veränderungen für Russlands Zukunft aus dieser  Entscheidung folgen werden. Vorab verbietet sich jede Spekulation.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Zwei Bücher zum Thema:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte Entwürfe, 2005. Knapper Blick auf Russland nach dem Antritt Putins 2000, 85 Seiten.

Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg,  2014/5. Band I: Gorbatschow und Jelzin, Band II: Putin, Medwedew, Putin

Authentischer, chronologisch verfolgbarer Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika und im heutigen Russland.

Weitere Titel unter: www.kai-ehlers.de

Eine interessante Bearbeitung des Textes findet sich unter http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/das-lindenblatt-auf-putins-schulter-oder-warum-putin-auf-wahlkampfreisen-geht

 

[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Globales Zwischenhoch:  Putin Krisenmanager – Chance oder Irrtum? https://test.kai-ehlers.de/2016/06/globales-zwischenhoch-putin-krisenmanager-chande-oder-irrtum/

[2] Siehe dazu:  Kai Ehlers, „Globaler Farbwechsel –Gedanken zu Putins Rückzug aus Syrien.  https://test.kai-ehlers.de/2017/12/globaler-farbwechsel-gedanken-zu-putins-rueckzug-aus-syrien/

[3] The guardian, 14.12.2016

[4] Sputnik news, 26.12.2017

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wolfowitsch_Schirinowski

[6] rt deutsch, 03.01.2018

[7]Kai Ehlers: „Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki.  https://test.kai-ehlers.de/2017/08/was-kommt-nach-putin-kai-ehlers-im-gespraech-mit-boris-kagarlitzki/

[8] Dazu diverse Internetberichte 25. Und 26.12. 2017

[9] rt deutsch, 25.10.2017

[10] Alle Zahlenangaben nach Wikipedia: Präsidentschaftswahlen in Russland 200,2004,2008, 2012

[11] Dazu Daten in Russland Analysen, 334 vom 12.05. 2017, S. 18

[12] Epoch times, 27.03.2017

[13] Spiegel Online,  11.09.2017

[14] Siehe dazu: Russland Analysen 340 vom 22.09.2017S. 2 ff

[15] Russland news:  http://www.russland.news/putin-gab-seine-kandidatur-fuer-das-amt-des-praesidenten-bekannt/

[16] Siehe dazu :Russland Analysen 291 vom 27.02.2015, S.15

[17] Siehe dazu: Russland Analysen 334 vom 12.05.2017, S. 10 ff, Stichwort: „Elitenwechsel“

[18] Siehe dazu: Russland Analysen 333 vom 31.03.2017

[19] Ebenda, Grafiken S. 18 ff

[20] Siehe dazu: „Russland, EU, NATO – ist Frieden möglich“ auf der Website von Kai Ehlers: https://test.kai-ehlers.de/2017/12/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich

[21] Siehe dazu u.a.: Spiegel Online, 3.06.2017

[22] Siehe dazu: diverse Einzelberichte unter dem Stichwort: der Glasjew-Plan,

    außerdem: Peter W. Schulze, Wohin steuert Russland mit Putin? Campus, 2004, S. 172 ff.

 

Opposition in Russland: Nawalnyaufruf im nationalen Feiertag untergegangen

Zum 13. Juni hatte Moskaus Korruptionsjäger Alexei Nawalny zum zweiten großen Protestmarsch gegen Korruption aufgerufen. Nach seinem ersten Aufruf vor anderthalb Monaten, dem rund hunderttausend, vor allem junge Menschen im ganzen Lande gefolgt waren, waren die Erwartungen groß. Hier können Sie einen spontanen Bericht hören, wie diese Demonstration ablief.

Näheres auf russland.NEWS

Endlich eine Opposition in Russland?

Mehr als sechzigtausend Menschen auf Russlands Straßen gegen Korruption und Bürokratismus, davon die Hälfte unter dreißig Jahre alt – ist das eine neue Opposition?

Wünschenswert wäre es ja, wenn in Russland eine Opposition heranwüchse, die der Staatsführung das Recht auf Selbstbestimmung, basierend auf einer für alle gleichermaßen gesicherten Existenz abfordern könnte, denn das ist, bei allen Erfolgen, auf die Wladimir Putin verweisen kann, unverkennbar die Schattenseite der von ihm eingeführten vertikalen Stabilität.

Aber ist das, was nach den gegenwärtigen Protesten gegen Korruption als Opposition in den westlichen Medien dargestellt wird, dazu angetan, einen solchen Impuls in die Wirklichkeit zu bringen? Darin sind sich selbst diejenigen, die jetzt das Hohelied eines nach Freiheit verlangenden Jugendprotestes singen, keineswegs einig.

 

Kaum soziale Parolen

Auffallend, wie schon bei früheren vergleichbaren Massenprotesten, zuletzt denen anlässlich der Wahlen 2012,  ist auch jetzt wieder, dass neben Forderungen wie  „Nieder mit …“ kaum weiterführende politische oder gar soziale  Forderungen laut wurden. Dieses Mal wurde der Ruf „Nieder mit Putin“ sogar noch durch den quasi stellvertretenden Ruf „Nieder mit Medwedew“ ersetzt. Dies alles geschieht zudem zu einer Zeit, in der Putin von einem Rating zwischen 70 und 80, aktuell sogar 81 Prozent getragen wird.

Auffallend ist in der Tat, dass  überraschend viele Jugendliche an diesen jüngsten Protesten teilnahmen. Aber wie russische Soziologen durchaus richtig bemerkten, könnten die aktuellen Straßenaktionen Strohfeuer sein, die heute aufleuchten und morgen so schnell zurückfallen, wie sie hochgekommen sind, mit einem Wort, sie könnten sich als Facebookproteste erweisen, die keine über den Moment hinaus gehende Basis und über das bloße Treffen hinausgehende Zielvorstellungen haben.

Zudem stehen die Proteste auf dem sehr fragwürdigen Boden einer Kampagne, die mehr Indizienketten als Tatsachen für die Verfehlungen liefert, die Medwedew angelastet werden. Wie fragwürdig die Kampagne letzten Endes ist, muss darüber hinaus jedem deutlich werden, der bedenkt, dass Alexei Nawalny, ihr Initiator – durch ihn selbst mit dem Hinweis bestätigt, dass anders eine solche Kampagne im autoritären Russland nicht möglich sei – wesentlich von den USA unterstützt wird. Das ist Hilfe ausgerechnet von der Seite, die in der Person Donald Trumps als neuem Präsidenten Korruption und Clanwirtschaft öffentlich zum Prinzip erhebt.   

Was sind denn – selbst wenn man der Spur des von Nawalny vorgelegten Materials folgen könnte – ein paar über Mittelsmänner gehaltene Villen Dimitri Medwedews in Sotschi oder Italien, was ist selbst die Putin nachgesagte Begünstigung seiner früheren Petersburger Seilschaft gegen das offen zur Schau getragene globale Beziehungsgeflecht des Trump-Clans, der jetzt die USA regiert? Da könnte die Kampagne, wenn die von ihr Aufgerufenen den Kampf gegen Korruption nicht nur lokal, sondern prinzipiell  angehen, den Aktivisten Nawalnys sehr schnell auf die eigenen Füße fallen.

 

Event oder soziale Bewegung?

Aber wie auch immer – das eigene Land ist nicht Amerika, also äußert sich der Unmut über die heutigen Verhältnisse zunächst einmal in der eigenen Realität.  Das gilt vor allem für die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der aktuellen Proteste. Wenn sich  daraus mehr entwickeln sollte als ein paar spannende Events,  wäre das gut; kaum etwas wäre wichtiger für Russlands weitere Entwicklung als eine politisch erwachende Jugend.

Nach allen Erfahrungen mit bisherigen Protesten in Russland ist es allerdings eher ungewiss, ob aus der gegenwärtigen Anti-Korruptions-Kampagne mehr entsteht als ein kurzfristiges Aufschäumen,  auch wenn es Nawalny, unterstützt vom Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, von dem ehemaligen Schachweltmeister Garry Kasparow und anderen vom Ausland her agierenden, ihrem Verständnis nach liberalen langjährigen Putin-Gegnern gelingen sollte über kurzfristige Mobilisierungen hinaus langfristig eine oppositionelle Bewegung zustande zu bringen –– es sei denn, die Staatsmacht bliese die Funken der gegenwärtigen aktuellen Proteste durch Repression zu einem offenen Brand auf. Hier ist natürlich Raum für Provokationen von allen Seiten.

Basis für einen solchen Brand wäre allerdings durchaus gegeben, wenn sich die eher spielerischen Facebook-Proteste gegen Korruption mit existenziell begründeten sozialen Protesten in verschiedenen Gegenden Russlands verbänden.  Zu nennen ist da genug. Da sind die Bereiche Bildung – zu geringe Bezahlung der Lehrkräfte, schlecht ausgerüstete Schulen; Gesundheit – trotz immer noch garantierter Grundversorgung eine Zweiklassenmedizin; Justiz – Willkürurteile im Interesse der Reichen; Wohnungswesen – mangelnder zu teurer Wohnraum, aktuell die geplante Zwangssanierungen großen Stils in Moskau, die zu Lasten der Bewohner zu gehen drohen;  seit Jahren landesweit streikende Fernfahrer; Kleinbauern, die gegen Landraub protestieren; Rentner, die Renten fordern, von denen sie leben und nicht nur vegetieren; Arbeiter, die immer wieder für die Auszahlung ausstehende Löhne kämpfen müssen.

Kurz, viele Dutzend Einzelaktionen und –proteste finden zur gleichen Zeit im Lande parallel  zu der von Nawalny  und seinen ausländischen Freunden mobilisierten Kampagne statt. Wenn die Nawalny-Kampagne und diese sozialen Proteste sich miteinander verbänden, dann könnte daraus ein Flächenbrand entstehen – wenn, dann.  

 

Verschiedene oppositionelle Wellen

Die so entstandene Situation gibt Anlass darüber nachzudenken, was in Russland Opposition ist, wenn man nicht schematisch für den Westen geltende Verhältnisse und Vorstellungen auf Russland übertragen will. Da kann ein Blick zurück in die neuere russische Geschichte helfen. In deren Verlauf gingen sehr verschiedene Wellen von Opposition durch das Land und es macht Sinn sich diese Wellen in ihrer Unterschiedlichkeit in Erinnerung  zu rufen.

Da haben wir – noch im Übergang von der Sowjetunion  in das nachsowjetische Russland – die Opposition Michail Gorbatschows, das heißt, der unteren Parteiebene gegen die konservativen Kräfte des Politbüros. Das war der Versuch, jene Kräfte im Lande an die Schalthebel kommen zu lassen, die unzufrieden waren mit der Knebelung der Initiative, und diese Unzufriedenheit in Politik umzusetzen. Diese Opposition hatte eine breite, historisch gewachsene Basis in der Bevölkerung und sie wurde unterstützt von Kräften an der Spitze der Partei, die die Krise des Landes erkannt hatten. Es ging um die Befreiung  der persönlichen Handlungsfreiheit vom Joch der kollektivistischen Bevormundung. Von interessierter Seite wurde diese Opposition sogar Revolution genannt. Ihr Ergebnis ist bekannt. Sie führte die Sowjetunion zuerst in die Euphorie, dann ins Chaos.

Die nächste oppositionelle Bewegung war die von Boris Jelzin geschürte im Jahr 1991, die zur Ablösung Gorbatschows durch Jelzin führte. Als die erste Welle der Reformen aus dem Ruder zu laufen begann und Gorbatschow sich zum Bremser wandelte, trat Jelzin auf das Gaspedal. Unter den Parolen „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“ mobilisierte er die Unzufriedenheit der Bergarbeiter, die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Republiken, die Ungeduld der Städter, denen die Umwandlung nicht schnell genug gehen konnte.  Das „Programm der 500 Tage“ mobilisierte eine breite Opposition, vor allem in den größeren Städten,  gegen die Mächte der Beharrung. Ergebnis war der Zerfall des Landes, des Imperiums als Ganzem wie auch der inneren staatlichen und sozialen Strukturen der gesamten Gesellschaft.

Dagegen erhob sich 1993 eine dritte Welle der Opposition, diesmal ganz anderer, konservativer Art:  Eine stark motivierte, allerdings äußerst heterogene Bewegung verschiedenster Kräfte wandte sich gegen die Zwangs-Privatisierung der Jelzin-Administration, forderte zumindest eine langsamere Gangart, vermischt mit national-patriotischen Tönen, die sich gegen eine Okkupation des Landes durch den Westen wandten. Der Widerstand war aber kein allgemeiner mehr wie in den Jahren zuvor; die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf den Kongress der Volksdeputierten, das halbdemokratische, noch aus der sowjetischen Parteistruktur entstandene Volks-Vertretungs-Organ, das Gorbatschow eingeführt hatte. Jelzin ließ diesen Widerstand im Haus des Deputiertenkongresses, heute ‚Weißes Haus‘ genannt, von Panzern zusammenschießen. Mindestens 120 Menschen fanden dabei den Tod.

 

Präsidialverfassung statt Opposition

Nach diesen Ereignissen war der Widerstand gegen die Auflösung der Sowjetunion, insbesondere gegen die Privatisierung im Lande gebrochen, die Bevölkerung müde. Die von Jelzin eingeführte Präsidialverfassung fixierte die neu entstandene Lage. Er regierte  von da an über Verordnungen. Weder auf alltäglicher, im weitesten Sinne gewerkschaftlicher Ebene noch in der von Jelzin entmachteten kommunistischen Linken konnte sich eine nennenswerte Gegenkraft bilden. Opposition  reduzierte sich auf kommentierende Parteiauftritte in dem neugebildeten Parlament, der Duma, die an die Stelle des Deputiertenkongresses getreten war. Neu-Sozialistische und radikaldemokratische Reformansätze blieben Splittergruppen außerhalb der Duma. 

Eine Opposition, wenn man es so nennen möchte, fand Jelzin allein in den strukturellen Machtkonstellationen des Landes, den eigenmächtig agierenden Oligarchen, die zu Ende seiner Amtszeit mit dem einflussreichsten von ihnen, Wladimir Beresowski, als Sicherheitsberater an der Spitze faktisch eine Schattenregierung bildeten, mit den von Moskau aus kaum zu kontrollierenden Gebietsfürsten in den Republiken, mit den Tendenzen der Sezession, in denen sich  der Zerfall der Sowjetunion auf dem Gebiet des neuen Russland fortzusetzen drohte. In den zwei Tschetschenienkriegen (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) fand dieser Konflikt seinen exemplarischen und für das neue Russland existenziellen Ausdruck.

 

Putins Einstieg: Tschetschenien

Die Tschetschenienkriege kennzeichnen aber zugleich auch den Übergang aus der Phase des Zerfalls in die der Konsolidierung. Der zweite Tschetschenienkrieg ist mit dem Namen Wladimir Putins untrennbar verbunden. Die Beendigung der tschetschenischen Sezession gab ihm die stabile Machtposition, von der aus er die Kräfte des Landes neu zusammenzuführen konnte. Das war die Disziplinierung der Oligarchen, die Einführung vertikaler Verwaltungsstrukturen in den in Republiken auseinanderstrebenden Organismus des Landes und nicht zu vergessen die Unterwerfung der Gewerkschaften unter ein rigides Arbeitsgesetz. Damit war die strukturelle Opposition aus der Zeit Jelzins in einen Konsens eingebunden, der Modernisierung und Wiederaufbau zusammenführte. Putin war und ist der Manager dieses Konsenses.

Ergebnis war, allgemein gesprochen, eine Differenzierung der nach-sowjetischen russländischen Gesellschaft, in welche die raue Klassenwirklichkeit wieder einzog. Die Schroffheit dieser Entwicklung wurde dadurch gemildert, dass es Putin gelang die Oligarchen dazu zu veranlassen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen und in bescheidenem Maße wieder in die sozialen Verpflichtung einzutreten, die sie zuvor im gewerkschaftlichen, kommunalen und regionalen Bereich wahrgenommen hatten, als das gesellschaftliche Leben noch von den Betrieben her organisiert war.

 

Jelzins alte Garde in der Opposition

Solange diese Entwicklung zu einem allgemeinen Ansteigen des Lebensniveaus führte, verhielt die Bevölkerung sich ruhig,  weil sie – wenn auch auf niedrigem Niveau – einen gewissen Anstieg der sozialen Sicherung gegenüber der Zeit Jelzins erlebte.

Als neue Opposition entwickelte sich jetzt aber die aus den Ämtern verdrängte liberale Schicht der Jelzinzeit, allen voran mit Vertretern wie Boris Nemzow, groß geworden als Privatisierungsspezialist in Nischni Nowgorod, daraufhin Minister unter Jelzin, Gary Kasparow und anderen Liberalen. Finanziert wurden ihre Kampagnen anfangs von Beresowski, der sich nach London abgesetzt hatte, später von Chodorkowski im Lande selbst. Chdorkowski steht erklärtermaßen jetzt auch wieder hinter den aktuellen Protesten, inzwischen vom Ausland her wie seinerzeit Beresowski.

Die Liberalen entwickelten eine Daueropposition gegen Putin, fanden aber in der Bevölkerung keinen Rückhalt,  bis dahin, dass sie selbst in der Duma nicht mehr vertreten waren. Sie gingen stattdessen zu einer außerparlamentarischen Provokationsstrategie über, in der sie sich bemühten, den ‚Putin-Staat‘ mit Gesetzesübertretungen, vor allem mit Durchführung nicht genehmigter Demonstrationen zum Eingreifen zu veranlassen und so als autoritär vorzuführen.  

So dümpelten die Kräfte während der ersten Amtszeit Putins vor sich hin, auf der einen Seite eine mit dem sozialen Gesunden, teils auch nur Überleben beschäftigte Bevölkerung, auf der anderen die kleine liberale Minderheit, die sich mit einer nicht abreißenden Serie von provokativen Straßenaktionen den Rücktritt Putins forderten – ohne ihrerseits ein anderes Programm als den Ruf nach dem Wiedereintritt der Jelzinschen Verhältnisse, ohne irgendein Programm zur Lösung der sozialen Probleme anzubieten.   

Eine Zäsur brachte das Jahr 2005/2006, als die Regierung Putin einen entscheidenden Schritt in der Monetarisierung von Sozialleistungen vorangehen wollte. Rentner, Schüler und Lehrer gingen dagegen auf die Straße, sodass die Regierung es vorzog, diese Maßnahmen als ganzes Paket zurückzunehmen und in ein Programm der schrittweisen Umsetzung umzugießen. Eine Bewegung konnte so nicht entstehen.

Eine weitere Zäsur wurde das Jahr 2011/12. Mit ihren Protesten gegen Wahlfälschungen trat erstmalig die neu entstandene Mittelklasse Russlands aktiv in Erscheinung. Auch zu der Zeit jedoch nicht mit sozialen Forderungen, sondern über die Kritik an Wahlfälschungen hinaus vor allem mit Forderungen nach mehr persönlicher Freiheit auf unterschiedlichsten Gebieten. Russische Analytiker – wie der Reformsozialist Boris Kagarlitzki – erklärten damals, dass man die Ursache für  diese Orientierung darin sehen könne, dass diese Mittelklasse, vor allem die städtische, zu der Zeit zu einem gewissen Wohlstand gekommen, nunmehr nach mehr politischer Bewegungsfreiheit, Reisefreiheit etc., verlangte, aber die soziale Lage im Lande überhaupt nicht im Blick hatte.

Putin trat dem seinerzeit mit einem Programm entgegen, das einen „Zukunftsdialog“ zwischen Regierung und Bevölkerung vorschlug. Endlich aufgegriffen würden jetzt, ließ er verlauten, die schon nach den Protesten von 2005 verkündeten, aber nicht durchgeführten, „nationalen Programme“, also Maßnahmen zur Förderung „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie  der Landwirtschaft. Darüber hinaus sollte die Verwirklichung der ausstehenden Rentenreformen endlich eingeleitet werden. Dies alles müsse zugleich mit einer Stärkung Russlands gegen die äußeren Bedrohungen durch die aus dem Gleichgewicht geratende Weltordnung verwirklicht werden.

Das außenpolitische Ziel Russland wieder stark zu machen und als Krisenmanager in die Weltpolitik einzubringen, konnte Putin weitgehend verwirklichen. Innenpolitisch sind die meisten Dinge, die er damals versprach bis heute offen. Ja mehr noch, nach dem Fall des Ölpreises ist die innenpolitische Situation merklich schwieriger geworden, besonders auf dem Lande. Die Übernahme der Krim, die Unterstützung des ukrainischen Ostens, die Einsätze in Syrien sowie die Sanktionen, mit denen Russland vom Westen belegt wurde, sind weitere Faktoren, die das Land unter Druck gebracht haben und weiter bringen.

Zwar zeigt das Rating von 81 Prozent für Putin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung dem Präsidenten noch immer, mehr sogar als nach den Wahlen 2012 vertraut, auf Dauer lassen sich die bisher  nicht eingehaltenen Versprechungen auf innenpolitische Reformen jedoch nicht durch äußere Erfolge kompensieren.

Wenn nach der relativen innenpolitischen Ruhe der letzten Jahre jetzt die Perspektive aufscheint, auch wenn darin nur eine blasse Möglichkeit liegt, dass die aktuellen Proteste der Navalny-Kampagne sich mit den sozialen Unruhen zu einer Bewegung verbinden könnten, sieht Putin sich vor die Herausforderung gestellt, sich den vernachlässigten innenpolitischen Problemen jetzt  erkennbar zuzuwenden. Jetzt muss er definitiv ein Programm vorlegen, das sich der so lange offen gebliebenen Fragen annimmt, wenn er soziale Verwerfungen in der nächsten Amtsperiode, für die er sich inzwischen  erneut zur Wahl gestellt hat, überstehen will.

Es scheint, dass er sich dessen bewusst ist, denn er hat bereits die Erarbeitung eines umfassenden Reformprogramms für die Zeit nach der Wahl 2018 in Auftrag gegeben. Wohin dabei sein Würfel rollt, in Richtung des ehemaligen Finanzministers Alexei Kudrin, eines erklärten Liberalen mit entsprechenden neo-liberalen Perspektiven oder zu Sergei Glasjew, der eher konservative Vorstellungen vertritt, oder zu einem Mittelweg zwischen beidem, und wie das konkret aussehen kann, ist dabei allerdings noch ganz offen. Die letzte Entscheidung liegt möglichweise entgegen allen öffentlich zurzeit vorgebrachten Vermutungen nicht bei Putin allein, sondern in der Frage, wie sich die Protestkultur im Lande weiter entwickelt. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die ‚Macht‘, auch hier nicht nur Putin, klug genug und bereit ist, Repressionen zu vermeiden, konkret auch Nawalny als Kandidaten in der Reihe der Prätendenten für die bevorstehende Präsidentenwahl zu akzeptieren und den versprochenen offenen Dialog zu suchen, der nach 2005 und auch nach 2012 noch nicht wirklich stattgefunden hat.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Siehe hierzu die beiden Bände:

  • Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Band I und II, Laika, 2014/15
  • Kai Ehlers, Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen, Pforte, 2005

Bezug über den Buchhandel oder direkt über den Autor: www.kai-ehlers.de

 

 

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