Schlagwort: Nationalstaat

Katalonien – Signal für ein neues Staatsverständnis?

Es ist offensichtlich: Das Credo des nationalen Einheitsstaates ist in der Krise. Der Kampf um Kataloniens Unabhängigkeit ist nur der aktuellste Ausdruck dieser Tatsache. Ähnliche Konflikte gingen dem voran, weitere werden folgen.

 Der Wunsch von gut 50% der Bevölkerung Kataloniens nach Autonomie und Unabhängigkeit steht gegen den Monopolanspruch des spanischen Staates und gegen die ‚schweigende Mehrheit‘, die sich aus unterschiedlichen Gründen an der Abstimmung zum Referendum vom 1. Oktober 2017 nicht beteiligt hat. Dieser Konflikt kann weder zugunsten des spanischen Staates noch einer regionalen Abspaltung Kataloniens lebensförderlich gelöst werden, solange beide Seiten auf dem Boden des heutigen Verständnisses vom einheitlichen Nationalstaat stehen bleiben, das heißt, eines Staates, der, dominiert von der Ökonomie, sämtliche Lebensbereiche überformt und beherrscht. Grundsätzliche Veränderungen des Staatsverständnisses stehen an, die von  der Wirklichkeit des Zusammenlebens in unserer heutigen Welt gefordert werden.

 Diese Wirklichkeit liegt zum Ersten in der Tatsache, dass das globale Wirtschaftsleben schon längst alle nationalen Grenzen gesprengt und sich die Nationalstaaten als bloße Instrumente unterworfen hat.

Sie liegt des Weiteren in der historischen Erfahrung, dass alle Revolutionen, bürgerliche wie sozialistische, bisher nur dazu geführt haben, die Diktatur der Ökonomie mit anderem Namen, aber unverändertem Staatsverständnis auf immer neuem Niveau wiederherzustellen.

Sie liegt schließlich in der wachsenden emotionalen und spirituellen Verlorenheit vieler Menschen angesichts einer Welt, die, von ökonomischen  Kriterien beherrscht, beängstigenden Katastrophen entgegentaumelt.

Dies alles bedeutet nichts anderes, als dass die Menschen heute nach neuem Sinn, nach neuen Formen des Zusammenlebens und – nennen wir es mit einem aus berechtigten Gründen in Deutschland vorsichtig zu benutzenden Begriff – nach  neuer Heimat suchen, wo sie als Einzelne in überschaubaren, pluralen Zusammenhängen ihren Wert und ihre Würde finden können.

 

Autonomie – eine Forderung der Zeit

Vor einem solchen Hintergrund gewinnen die Bestrebungen nach Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit wie jetzt in Katalonien, wie zuvor in Schottland, wie in Norditalien, wie in vielen anderen Regionen Europas, die den Verlust ihrer lokalen oder regionalen Autonomie beklagen, ihre Erklärung und ihre Berechtigung als Ausdruck der Zeit – wenn sie ihre eigene historische Dynamik begreifen, die faktisch aus der überfälligen Übermacht des Staatsmonopols erwächst, die zugleich dessen Ohnmacht offenbart.

Bei wachem Blick wird zudem erkennbar, dass dies nicht nur eine europäische, sondern ein globale Dynamik ist, die den Osten ebenso wie den Westen, den Süden und den Norden betrifft. Die sich vermehrenden ‚eingefrorenen‘ oder auch nur mühsam eingehegten Konflikte am Rande der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan, in Mesopotamien, in Afrika, Südamerika, ebenso wie im asiatischen Teil der Welt sprechen eine unmissverständliche Sprache.

Zum tieferen Verständnis, welche Bedeutung diese Vorgänge für das heutige Leben haben, ist ein kurzer Blick in die neuere Geschichte des einheitlichen Nationalstaates unerlässlich.

 

Nationalstaat als Credo

Schon nach dem ersten Weltkrieg war klar, dass es die Konfrontation der europäischen Nationalstaaten mit ihren imperialen Ansprüchen war, die in die Weltkriegskatastrophe geführt hatte. Das Entsetzen war allgemein. Eine Wiederholung sollte unbedingt vermieden werden. ‚Nationale Selbstbestimmung‘ hieß das Zauberwort, unter dem das geschehen sollte. Unter dieser Parole wurde der auf europäischem Boden gewachsene nationale Einheitsstaat in den Friedensverhandlungen nach dem Ende des Krieges zum Credo der zukünftigen Völkerordnung erhoben. Ein Völkerbund wurde gegründet, der diese neue Ordnung pflegen sollte.

Es war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, führender Vertreter der Siegermächte, der diese Intentionen als ‚demokratische Vision‘ in die Nachkriegsverhandlungen einbrachte. Die bis dahin bestehenden von Europa ausgehenden Imperien, Vielvölkerstaaten und Kolonien wurden in diese neue Ordnung überführt. Ob sie es wollten oder nicht, ob es in die kulturellen und ethnischen Gewordenheiten passte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Grenzen wurden willkürlich gezogen. Dies führte die Kolonien, anders als verkündet und mit Folgen bis heute, nicht etwa in die Unabhängigkeit, sondern in neue Formen der Abhängigkeit, provozierte darüber hinaus massenhaft ethnische ‚Säuberungs’konflikte und daraus folgende  Abgrenzungskriege. Entsprechend anfällig war die neue Völkerordnung für Revirements, wie sie dann in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg von allen Seiten im Kleinen und im Großen versucht wurden. Nicht zuletzt Hitler verstand diese ungelösten Probleme für seine Welteroberungspläne auszunutzen.

 

Sonderwege

Einen Sonderweg ging Russland, das, anders als Österreich und das Osmanische Reich, trotz Revolution und trotz massiver Interventionen des Westens auf Seiten der Konterrevolution als Vielvölkerzusammenhang erhalten blieb. Allerdings diente die Parole der nationalen Selbstbestimmung auch Lenin als Grundlage für die von ihm initiierte Grundorganisation der Sowjetunion. So entstand die Sowjetunion als Zwitter, das heißt, als Vielvölkerstaat mit sowjetnationaler Ideologie. Stalin zerlegte das Land dann in ebensolche schematischen Schnittmuster, mit ebensolchen desaströsen, bis heute wirkenden Folgen, wie die, die aus dem imperialen Erbe des ‚Westens‘ hervorgingen.

Eine andere Konsequenz aus dem Desaster des ersten Weltkrieges zog der aus Österreich, also aus einer Vielvölkertradition stammende, Rudolf Steiner mit der von ihm als allgemeinem Kulturimpuls vorgetragenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Notwendig sei eine Entflechtung von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben, trug er vor, die sich zukünftig unabhängig voneinander, aber in gegenseitiger Förderung und Kontrolle entwickeln müssten, um die Dominanz des Ökonomischen zugunsten einer lebendigen Beziehung und freien Entwicklung aller Lebensbereiche zu überwinden. Darunter verstand er: Eine Wirtschaft in staatlich nicht gebundenen Assoziationen von Produzenten, Distribuenten und Konsumenten, ein Geistesleben in unabhängiger Selbstverwaltung sowie eine Reduzierung des Staates auf die Regelung des Rechtslebens, in dem die Menschen sich als „mündige Bürger“ gleichwertig und gleichberechtigt in ihren örtlichen oder regionalen Gemeinschaften miteinander verbinden.

 

Vom Nationalstaat zum Totalstaat

 Steiners Vorstellungen fanden seinerzeit ein Echo bis in die höchsten Regierungskreise in Deutschland und Österreich. Im Aufkommen der Restauration und im Verlauf der einsetzenden Faschisierung der deutschen und europäischen Verhältnisse fielen sie, ebenso wie jene Elemente der Neuordnung Wilsons, die demokratisch genannt werden konnten, sowie auch die revolutionären Hoffnungen im Gefolge der russischen Revolution den wieder wachsenden nationalstaatlichen Konfrontationen zum Opfer

Der zweite Weltkrieg steigerte den nationalen Einheitsstaat zum nationalen Totalstaat – im Westen nicht anders als im Osten. In dessen Hitlerscher wie auch Stalinscher Prägung wurde der Mensch auf ein Schräubchen im Getriebe der Zwangsindustrialisierungen jener Zeit erniedrigt – unter unterschiedlichen ideologischem Zeichen, aber mit dem gleichen Ergebnis seiner Entwürdigung als Mensch.

Ein entscheidender Fakt ist dabei zu beachten: Während die Wilsonsche wie auch die revolutionäre Variante des Nationalstaates bruchlos in den Totalstaat übergingen, gingen die Ansätze zur Differenzierung, wie sie die Dreigliederung ansatzweise entwickelte, zusammen mit den demokratischen und pluralen Elementen der Nationalstaaten in eben dieser Entwicklung unter.

 

Nie wieder Nationalismus?

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Einsicht in die krisentreibende Wirkung der Nationalstaatsideologie groß: Nie wieder Nationalismus, lautete diese Einsicht, nie wieder Krieg. Das deutsche Grundgesetz ist von diesen Einsichten geprägt. Nur beispielhaft sei genannt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Idee des Völkerbundes, die zwischen den Weltkriegen gescheitert war, wurde in der Form der Vereinten Nationen wieder aufgenommen. Mit der EG, später der Europäischen Union wurde der Versuch gemacht, den gewachsenen übernationalen Verflechtungen und Entnationalisierung der Wirtschaft Rechnung zu tragen. Die Verfassung der Europäischen Union garantiert jedem individuellen und kollektiven Mitglied unveräußerliche Bürgerrechte – nicht zuletzt die freie Wahl seiner staatlichen Vertretung und Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Wenn jetzt das Credo des einheitliche Nationalstaats wieder benutzt werden soll, um Volkseinheiten, die nach einer eigenen autonomen Regierung streben, unter Androhung von Repression zu verpflichten, in dem nationalstaatlichen Zusammenhang zu verbleiben, in den sie im Lauf der Geschichte mehr oder weniger zufällig geraten sind, wenn die Europäische Union sich, obwohl auf Pluralität begründet, als Block hinter dieses Vorgehen des spanischen Nationalstaates stellt, so entspricht das weder der Verfassung der Europäischen Union, noch den Erfordernissen und Bedingungen der heutigen Zeit. Ein Aufbegehren dagegen ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig und weist in die Zukunft – wenn es nicht bei einer bloßen Abspaltung bleibt, die ihrerseits das Credo des einheitlichen Nationalstaats beibehält. Eine bloße Regionalisierung würde auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Multiplizierung des nationalstaatlichen Credos ins Kleine und tendenziell Unendliche. Das wäre eine sinnlose, sogar bedrängende Variante, deren Konsequenz nur die Wiederkehr krassester Spielarten des Nationalismus mit entsprechenden Vereinheitlichungs- und Säuberungs‘tendenzen sein könnte. Beispiele für solche Irrwege hat die neuere Geschichte leider auch zahlreich geliefert. Man denke nur an die Ukraine.

Was heute auf der Tagesordnung steht, ist die überfällige Befreiung des Lebens aus dem Monopol des einheitlichen Nationalstaats. Angesichts der historischen Erfahrungen, die zeigen, wie sich diese Staatsform immer wieder etabliert hat, wenn nur die Machtfrage, aber nicht die grundsätzliche Frage nach einem anderen Verständnis des Staates gestellt wird, kann das jedoch nicht zum widerholten Male als Eroberung der Macht geschehen, in die das herrschende Staatsverständnis mit hinübergenommen wird. Unumgänglich ist der bewusste Abschied vom Verständnis des Staates als einem alles regelnden Monopol und die schrittweise, aktive, kollektive Stärkung der heute bereits entwickelten Tendenzen, welche die Pluralität, die Dezentralisierung, die Kommunalisierung, die  vielfältigen Ansätze neuer Gemeinschaftsbildung usw., ebenso wie die übernationalen wirtschaftlichen und geistigen Strukturen als einen aus dem Leben hervorwachsenden Prozess schrittweise und beharrlich in die Realität bringt. Wenn dies als Impuls in den Wunsch nach Unabhängigkeit eingeht, hat sie ihren Namen verdient.

 

Das Buch zum Thema:

Jefim Berschin, dikoje polje, wildes Feld. Übersetzung aus dem Russischen. – Ein authentischer Bericht über den Sprachenkrieg in Moldawien am Ende der Sowjetunion 1992, der die politischen und ethischen Probleme eines Unabhängigkeitskrieges exemplarisch zeigt.

 

 

Präventionswahn

Unsere Welt steht vor einem Entwicklungssprung: Immer weniger Menschen verfügen über immer effektivere Mittel zur Produktion gesellschaftlichen Reichtums, während immer mehr Menschen gerade durch diesen Reichtum als ‚Überflüssige‘ ausgeschlossen oder gar nicht erst zur Teilhabe zugelassen werden.

Das Aufkommen von Milliarden Menschen, die freigesetzt, denen aber zugleich die Lebensgrundlagen entzogen werden, rückt den ‚turning point‘, an dem das Profitprinzip dem Solidarprinzip weichen müsste, unmissverständlich vor aller Augen. Aber statt dem zu entsprechen, gehen die heute Herrschenden daran, die Zäune, mit denen sie sich vor den ‚Überflüssigen‘ der Welt in Sicherheit zu bringen trachten, höher und höher zu ziehen. Zugleich versuchen sie die übrige Bevölkerung präventiv ruhig zu stellen.

 

Deutscher Herbst

Über den präventiven Sicherheitsstaat ist schon vor Jahren geschrieben worden, allerdings ohne dass all das bereits voll eingetreten wäre, was seinerzeit am Horizont dunkel hoch zu kommen schien. Gleichwohl macht es Sinn, an diese Zeit zu erinnern: Teile der 68er Generation des vorigen Jahrhunderts befürchteten eine schnelle Re-Faschisierung der Bundesrepublik Deutschland wie auch der internationalen Beziehungen, speziell mit Blick auf die USA.

Ihren schärfsten Ausdruck fand diese Sicht in der Roten Armee Fraktion (RAF), die die Welt nur noch in Kategorien eines Weltfaschismus definierte, dem nicht mehr anders als militärisch, das hieß für sie angesichts des von ihnen beklagten mangelnden Bewusstseins der ‚Massen‘, nur noch mit gezieltem Terror gegen  Funktionsträger des ‚Systems‘ zu begegnen sei.

Aber auch in ruhigeren Analysen wurde damals die Entwicklung des modernen Staates zum autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat befürchtet. Begründet war das in der Erfahrung der globalen Systemkonfrontation und in Deutschland speziell in der schnellen Remilitarisierung der damaligen ‚BRD‘, dem Westen des geteilten Deutschland. Zu erinnern ist an den „Deutschen Herbst“ nach der Entführung des damaligen BDI-Präsidenten Hans Martin Schleyer durch die RAF, in dem Kanzler Schmidt per Notstand das staatliche Gewaltmonopol durchsetzte. Zu erinnern ist an die toten Gefangenen in deutschen Gefängnissen, die im Zuge polizeilicher Fahndung Erschossenen, an das bürgerkriegsähnliche Vorgehen der Staatsmacht gegen die Anti-AKW-Bewegung, an die Aufregung um das ‚Orwell-Jahr‘ 1984, um nur einige Daten zu nennen, aus denen sich seinerzeit die Befürchtungen speisten. Das „Dritte Internationale Russel-Tribunal“, das 1977-1979 „zur Situation der Menschenrechte in der BRD“ abgehalten wurde, war ein Ausdruck dieser Stimmung.[i]

Von heute aus gesehen waren die Erwartungen der unmittelbaren Eskalation des  Sicherheitsstaates, gar einer Faschisierung der BRD und der internationalen Verhältnisse eine etwas, sagen wir ruhig, hysterische Sicht. Tatsächlich befand sich die Welt damals eher in einem Zustand des Kalten Friedens, als dem des  ‚Kalten Krieges‘. Es herrschte das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘. Die BRD befand sich in der kalten Systemkonfrontation mit der DDR, heute würde man sagen, in einem ‚eingefrorenen Konflikt‘.

 

Globale Anarchie

Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging das globale, auch das deutsche und europäische Patt in die anarchische Bewegung über, die jetzt in die damals befürchteten Verhältnisse zu führen droht. Nach dem Niedergang des realen Sozialismus ist die globale Lage heute von drei Elementen gekennzeichnet:

  • Dem Sichtbar-Werden der prinzipiellen Grenzen des kapitalistischen Industrialismus. Inzwischen unübersehbar an der wachsenden Zahl der Marginalisierten, der aus der Produktion Gedrängten, in einem Wort, der oben erwähnten ‚Überflüssigen‘, deren Unruhen den globalen Überfluss begleiten.
  • Der Krise des Nationalstaats als Grundordnung des heutigen Zusammenlebens der Völker, erkennbar an dem Widerspruch, dass globale Monopole die Nationen als souveräne Subjekte aushebeln, während gleichzeitig neuer Nationalismus in nachholender Weise entsteht.
  • Dem Problem begrenzter Ressourcen bei wachsendem Bedarf durch eine zunehmende Zahl potentieller Verbraucher.

In dieser Gemengelage haben sich die globalen Konflikte entschieden verschärft, soweit verschärft, dass die bisher herrschenden ‚Eliten‘ ihre Zukunft bedroht sehen. Ökologisch orientierte Warnrufe, wie die Veröffentlichung des ‚Club of  Rome‘ 1972 zu den „Grenzen des Wachstums“[ii], die Warnungen und Forderungen des Berichtes „Global 2000“ 1981[iii], die im Zuge der heraufkommenden Perestroika in den Kreisen Michail Gorbatschows 1982[iv] entwickelten Perspektiven von der Notwendigkeit einer ökologischen Wende verengten sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, anders gesagt, mit der Befreiung der kapitalistischen Welt von ihrem sozialistischen Konkurrenten in den ‚Denkfabriken‘ des Westens, allen voran denen der USA, zu langfristigen Strategien einer präventiven Sicherung der heute herrschenden, nachsowjetischen  Verhältnisse. Die sowjetischen Nachfolgestaaten fügten sich in diese Ordnung. Wie lange dies so bleiben kann, ist eine offene Frage, der an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden soll.

 

Fundamentale Bedrohung der   Zivilisation?

Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die Globalisierung, sprechen  US-Dienste von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, so wurde von den CIA und seinen ‚Thintanks‘ vorgerechnet, wenn die Millionen junger Menschen, die heute in den ehemaligen Entwicklungsländern geboren werden – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten.[v] Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte.

Nachzulesen ist dies in aller Ausführlichkeit auch in dem 2003 erschienenen Buch „Söhne und Weltmacht“ des Bremer Terror- und Völkermordforschers Gunnar Heinsohn[vi], der sich mit diesem Buch bemühte, die seit Mitte der 80er entwickelten CIA-Strategien zur globalen Bevölkerungskontrolle als herrschendes Dogma auch in Deutschland zu verankern. 

Dass mit der ‚bedrohten Zivilisation‘ selbstverständlich die westliche Welt gemeint ist, allen voran die USA, versteht sich schon fast von selbst. Die grassierende Jugendarbeitslosigkeit in den Industrieländern des Westens wird bei den demographischen Hochrechnungen der CIA vollkommen außer Acht gelassen, obwohl, angesichts der von dem Dienst für diese Länder durchaus richtig konstatierten niedrigeren Geburtenraten, umso unmissverständlicher erkennbar sein sollte, wo die Ursache für das beschriebene Phänomen der ‚Überflüssigen‘, konkret auch der Masse der arbeitslosen Jugendlichen in den ‚entwickelten‘ Industrieländern liegt, nämlich, nicht in zu viel oder zu wenig Jugendlichen, sondern in einer Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung, die weltweit immer mehr Menschen als nicht mehr benötigt ausschließt.

Die Ursachen der heutigen Krise sind eben nicht nur, nicht einmal hauptsächlich demographischer Natur, wie CIA, Heinsohn und andere es hinstellen, sie liegen in der kapitalistischen Produktionsweise. Karl Marx sprach deshalb seinerzeit in der Kritik an den eugenischen Theorien Robert Malthus‘ nicht von ‚Überflüssigen‘, sondern von „Überflüssig Gemachten“, wörtlich von einer „relativen Überflüssigmachung“, mit der das Kapital sich eine „industrielle Reservearmee“ halte.[vii] Heute sind das die Menschen, deren Arbeitskraft im Zuge der Automation in sich zusehends beschleunigendem Maße eingespart wird. Das ist kein lokaler, das ist ein weltweiter Prozess, der heute an seine Grenzen kommt.

 

Das Märchen vom ‚Stillen‘  

Die ökonomischen und demografischen Daten der CIA flossen auch in die legendäre Tagung ein, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ über die Zukunft der Welt zu beraten.[viii]

Als Hauptfrage kristallisierte sich bei dieser Tagung heraus, was mit dem Heer der ‚Überflüssigen‘ geschehen solle, das aus dem Zusammentreffen von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Hier wurde der Begriff der 20/8o- oder auch Einfünftelgesellschaft geprägt. Was Gorbatschow dazu sagte, ist nicht überliefert,  zu vermuten ist, dass er nach dem Scheitern seiner Reformen und seinem Sturz als Parteisekretär einfach nur den Dialog zu „Neuem Denken“ wenigstens im globalen Rahmen erneuern wollte.

Bekannt wurde jedoch der Vorstoß des  US-Strategen Zbigniew Brzezinski, der grauen Eminenz der US-Sicherheitspolitik seit Jimmy Carter, ein globales „tittytainment“ einzuführen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verband das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainment“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel der von ihm vorgestellten Maßnahmen wäre es gewesen, 80% der Menschheit auf dem Niveau niedrigen Konsums durch Massenmedien zu ‚stillen‘.

Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierbare Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange gesprochen werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen der damaligen wie auch heutigen Kritiker und Kritikerinnen zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein. Eher heizen neue Techniken wie Facebook, die weltweite Verbreitung von Mobiltelefonen und anderes die Unruhen weiter an, die man gerade ersticken möchte. Die Revolten der letzten Jahre lassen das klar erkennen.

Aber davon abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten eines solchen ‚Stillens‘ schon in den Widersprüchen der herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte ‚Überflüssige‘ und nicht hereingelassene ‚Unterentwickelte‘ haben dieses Geld nicht.

Eine Verkürzung des Wirtschaftskreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital, das den Sektor des konkreten Marktes, der noch von tatsächlicher Produktion und Konsumption lebt, zugunsten eines Finanzmarktes hinter sich lässt, auf dem Geld für mehr Geld gekauft und verkauft wird oder sogar nur noch Wetten auf Risikogelder gehandelt werden, kann dieses Problem auch nicht lösen, sondern führt – wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Auch massenhaftes Drucken von Geld hilft aus ihr nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet.

Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung einer allgemeinen Grundversorgung für alle Menschen liegen. Mit solchen Schritten, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was als noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der ‚Überflüssigen‘ als stillzulegender oder gar zu entsorgender ‚menschlicher Müll‘ und einiges mehr. Das könnte den Menschen vom Reserve-Objekt und Abfall einer profitorientierten Megamaschine zum Kulturwesen machen. Es ist aber offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt.

 

Für den Fall der Fälle…

Für den Fall, dass die gewünschte Stilllegung der befürchteten Unruhen, sei es durch kollektives oder persönliches „tittytainment“, wie von den Diensten schon bei Ausarbeitung ihrer Strategien erwartet, nicht gelingen sollte, gingen aus den US-Studien von 1990 denn auch „effektivere“ Varianten zum Umgang mit der erwarteten Bedrohung hervor.

In Heinsohns Kolportage der CIA-Studien stehen diese Ausführungen bezeichnender Weise unter der Überschrift: „Nur ein wankender Hegemon muss sich rüsten“. Dem folgt nach ein paar abschweifenden Nebengedanken mit dem Satz: „Kehren wir auf die andere Seite zurück, die a u s g e l ö s c h t werden soll.“ die Aufforderung an die Leser, sich diesem bedrohten Hegemon, der ausgelöscht werden soll, wieder zuzuwenden.  (Gesperrt durch ke). Kann man noch deutlicher werden?

Die westliche Führungsmacht, so fasste Heinson zusammen,  stellt sich jedenfalls für weitere zwanzig oder mehr Jahre auf „youth bulge-geborene Konflikte ein“.  (kursiv: Heinsohn)

Die ins Auge gefassten ‚Rüstungen‘ sollen mit dem aktiven Export der ‚westlichen Eigentumsordnung‘ beginnen, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der  ,Überflüssigen‘ sollen hereingelassen, die Unerwünschten an den Grenzen abgefangen werden. Die Realität zeigt, dass diese Politik das Problem der ‚Überflüssigen‘ nicht löst, sondern im Gegenteil weiter verschärft, indem sie die Menschen vor Ort aus ihren traditionellen Wirtschaftsräumen reißt, ohne ihnen eine neue Perspektive geben zu können – oder wirklich zu wollen.

Ergänzend zu der Theorie des Exports der ‚westlichen Eigentumsordnung‘ wurde deshalb schon in der Grundlegung dieser Strategie über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Wer erinnert sich da nicht an das Blutvergießen zwischen Irak und Iran von 1980 bis 1988, in dem beide Seiten mit amerikanischen Waffen ausgerüstet wurden.

Für den Fall aller Fälle müsse man sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen man jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, die technische Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen. Auch hier sei wieder auf den Iran verwiesen, der  nach dem Aderlass in den  80gern heute immer noch im Fadenkreuz der US-Politik steht.

Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahrzehnte und der ihrer westlichen Verbündeten, einschließlich des globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachvollziehen. Das muss an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden. Die inzwischen zur globalen ‚Flüchtlingskrise’ angeschwollene Immigration und der Einsatz der NATO zu ihrer Bewältigung im Mittelmeer macht zudem deutlich, was für die Zukunft zu erwarten ist.

 

Problem der erwachenden Völker

Brzezinski aktualisierte die Warnungen der CIA daher im Jahr 2013 in dem dritten seiner für die US-Politik und ihre westlichen Verbündeten wegweisenden Bücher. Unter dem Titel  „Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power”[ix], in dem er sich mit dem Niedergang der US-Vormacht befasst, entwirft er eine ‚alarmierende‘ Skizze für die Jahre bis 2025, in der er die aktuelle Situation der USA sogar mit dem Niedergang der Sowjetunion Anfang der 80er des letzten Jahrhunderts vergleicht. Schon in der Einleitung warnt er vor der Gefahr des „Erwachens der Völker“, das der Vorherrschaft des Westens gefährlich werden könne. Unter der Überschrift „Der Rückzug des Westens“ charakterisiert er  das „neue Phänomen massiven politischen Erwachens“ u.a. wie folgt:

„Laut einem von ‚Population Action International‘ herausgegebenen Report von 2007 waren ‚youth bulges‘ in vollen 80% ziviler Konflikte  zwischen 1970 und 1999 präsent. Man muss zudem bemerken, dass der Mittlere Osten und die weitere muslimische Welt einen überdurchschnittlichen Anteil von Jugendlichen haben. Irak, Afghanistan, die Palästinensischen Gebiete, Saudi Arabien und Pakistan  haben alle massive Jugendpopulationen, die von ihrer Ökonomie nicht absorbiert werden können und die anfällig sind für Enttäuschungen und Militanz. Es ist diese Region, von Ost-Ägypten  bis zum Westen Chinas, wo politisches Erwachen das größte Potential  für gewalttätige Umstürze hat. Das ist im Effekt ein demographisches Pulverfass. Ähnlich gefährliche  demographische Realitäten herrschen in Afrikanischen Ländern  wie dem Kongo und Nigeria ebenso wie in einigen Lateinamerikanischen Ländern.“

Im Unterschied zu früher, fügt Brzezinski dann hinzu, als es möglich war, eingeborene Bevölkerungen mit geringem finanziellen und technischen Aufwand zu beherrschen, habe das Aufkommen des politischen Erwachens der Völker den Widerstand gegen fremde Herrschaft effektiviert, so in Vietnam, Algerien, Tschechien, Afghanistan, und er beschließt diesen Absatz mit der Warnung: „In den daraus resultierenden mit starkem Willen und Ausdauer geführten Schlachten (im Original: battles, ke) waren die technisch weiter Entwickelten  nicht notwendigerweise die Gewinner.“

Man muss nur noch Irak, Libyen, Syrien, generell Afrika und Mesopotamien hinzufügen, um das Bild zu vervollständigen. Der Krieg gegen den ‚internationalen Terrorismus‘, wie er jetzt in einer zweiten Welle wieder neu aufgelegt wird, hebt diese Reihe auf eine erneute Stufe der Eskalation. Eine friedliche Lösung des Problems der ‚Überflüssigen‘ ist auf diesem Wege nicht zu erwarten.

 

Der geistige Hintergrund

Das  gibt Anlass in eine tiefere, sehr viel schwerer erkennbare Dimension des ‚Stillens‘ hinein zu schauen, die sich hinter den offen vorgetragenen Strategien als öffentlich unerklärte weitere Präventionslinie verbirgt: die verdeckte Neuauflage eugenischer Vorstellungen, die heute in den ‚entwickelten‘ Industriestaaten entsteht.  

Die bedrängende politische Perspektive dieses Weltbildes ist die Kombination des präventiven Sicherheitsstaates mit den neuen computergestützten Biotechnologien

Zukunftsforscher wie Achim Bühl[x] sprechen von dem Heraufkommen einer „biomächtigen Gesellschaft“: „Die reale Gefahr einer solchen Entwicklung“, schreibt er im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen gleichnamigen Sammelband, bestehe „im Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft bezüglich der normierenden Kraft (post)moderner Lebenstechnologien.“

Die Perspektive der biotechnischen Prävention zeigt sich heute allerdings nicht etwa in der offenen Wiederholung der eugenischen Propaganda des letzten Jahrhunderts und nicht in offenen Rufen nach einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; diese Ebene ist als historisch unwiederholbar tabuisiert.

Das Wiederaufleben eugenischer Vorstellungen vollzieht sich auf neuem wissenschaftlichen und technischen Niveau unter dem Vorzeichen einer allgemeinen Lebensvorsorge, die Krankheit als Abweichung von der gesunden Norm auf allen Ebenen des Lebens durch Verbesserung der genetischen Ausstattung des Menschen verhindern will. Die neuen eugenischen Tendenzen kommen unter dem Vorzeichen der Lebensvorsorge daher, im Zuge eines allgemeinen Sicherheitsdenkens, das jedes Risiko ausschalten möchte – das größte Risiko in diesem Denken ist selbstverständlich der lebendige, verwundbare Mensch.

Als Risiken im präventiven bio-technischen Sicherheitsdenken gelten nicht etwa die von Menschen geschaffenen Verhältnisse, die zu den bekannten Verwerfungen unserer heutigen Entwicklung geführt haben und weiter zu führen drohen, insbesondere zu der Verwandlung der wachsenden Anzahl von Menschen in ‚Überflüssige‘. Als ‚Sicherheitsrisiken‘ gelten vielmehr die ‚Überflüssigen‘ selbst. ‚Sicherheitsrisiken‘ sind alle die Menschen, welche die ungehinderte Selbstverwertung des Kapitals stören könnten – sei es durch spielerische Fantasie, durch reale Alternativen, durch aktive politische Tätigkeit, durch Proteste, Aufstände, , Bürgerkriege oder auch terroristische Akte, sei es schließlich einfach  nur durch Leistungsschwäche und Krankheiten, welche die Prozesse der Kapitalvermehrung gefährden.

Überflüssig sind in diesem Weltbild tendenziell auch heute alle sozialen Schichten, von denen Teile schon mehrmals in der jüngeren Vergangenheit in Verwahrhäusern, Irrenanstalten, Konzentrations- und Vernichtungslagern zusammengepfercht und umgebracht wurden, weil sie den jeweiligen Nützlichkeitskriterien nicht entsprachen. Die Reihe der potentiell nicht ‚verwendungsfähigen‘ Mitglieder der Gesellschaft lässt sich bis in die feinsten Verästelungen verdünnen.

Am Ende dieser Abwärtsspirale landet die Gesellschaft dann doch wieder bei einer Selektion „lebensunwerten Lebens“, diesmal allerdings, paradox gesagt, nicht über „Vernichtung durch Arbeit“, sondern im Gegenteil über Verweigerung von Arbeit, nämlich durch Ausschluss aus der der gesellschaftlichen Produktion und damit des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.

Mit dem biotechnischen Weltbild entsteht eine neue Form der Eugenik, die den unvollkommenen Menschen und die durch ihn gefährdete Welt tendenziell durch die gentechnische Optimierung des Menschen und die künstliche Steuerung der Evolution ersetzen will. Diese Tendenz geht über aktuelle politische Kombinationen, über Ländergrenzen und auch über die Anti-Terrorstrategien hinaus, wo diese an die erkennbare Grenze kommen, an der sich, sagen wir es deutlich, mit jeder Bombe, die auf tatsächliche oder vermeintliche Terroristen niedergeht, neue Kämpfer erheben.

Dabei sind die eugenischen Inhalte in Begriffe der Vorsorgemedizin, der Zukunftssicherung, der Optimierung individueller Lebenschancen gekleidet; heute ist die Rede von Pränataldiagnostik, also von Tendenzen der vorgeburtlichen Auslese, von Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, die die Auslese sogar noch vor die Zeugung verlegt, von Stammzellenforschung, von der man sich das Heranzüchten künstlicher Organe verspricht, von reproduktivem Klonen, das die natürliche Zeugung bei Mensch und Tier ablösen soll, von ‚Grüner Gentechnik‘, die eine künstliche Pflanzenwelt schaffen will usw.

Das alles zielt auf verständliche, berechtigte Lebenswünsche der Menschen. Wer möchte nicht stark, gesund, klug und mit einem langen, erfüllten Leben gesegnet sein? Der individuelle Wunsch nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen wäre ja nicht das Problem, schon gar nicht, wenn dies allen Menschen gleichermaßen zugestanden würde. Das Problem liegt im Missbrauch dieser Wünsche durch die herrschenden Mächte.

 

Biotechnische Ruhe

Betrachten wir noch kurz die Liste der absehbaren, teils schon stattfindenden „Genetisierungen“, die Achim Bühl am Schluss  seines Buches aufführt. 

Das ist die Genetisierung der Überwachung, der Personalausweis mit genetischem Fingerabdruck, verbunden mit zentralen DNA-Banken für Straftäter, das sind DNA-Bürgerdatenbanken, die alle Staatsangehörigen von Geburt an erfassen, mit  pflichtgemäßer Beteiligung an Massenscreenings zur Aufklärung von Straftaten bis zu gesetzlich verankerten DNA-Tests zur Überprüfung der Familienzugehörigkeit bei Einwanderern.

Das ist die Genetisierung des Arbeitslebens. Wessen Gentest mögliche zukünftige Erkrankungen erkennen lässt, der oder die wird als  Bewerber/in abgewiesen. Im Gesundheitswesen zeigt sich die Tendenz, Krankheiten in wachsendem Maße als Abweichungen von einer virtuellen genetischen Norm zu definieren und per Sequenzanalyse und Gendiagnose als unangepasst zu stigmatisieren.

Das ist die Genetisierung der Reproduktion. Sie zielt darauf, die natürliche Zeugung durch die Zeugung in vitro zu verdrängen: „Der Staat einer biomächtigen Gesellschaft als ‚eugenischer Staat’“, so Bühl, „wird durch diverse Steuerungsmechanismen sowie Druck (‚Hegemonie gepanzert mit Zwang’) das Ziel verfolgen, die ‚natürliche Zeugung zu Hause’ durch die kontrollierte Zeugung in vitro inclusive umfassender PID zu ersetzen – begleitet von Diskussionen über ‚Gesundheitsverantwortung’ und staatsbürgerliche Pflicht zur Gesundheit’.“

Das ist Genetischer Rassismus. Seine Vertreter betrachten bestimmte genetische Dispositionen als wünschenswert, andere als minderwertig und ordnen sie zugleich bestimmten Bevölkerungsgruppen zu.

Hier darf an neuere Beispiele erinnert werden: das „Judengen“ etwa, das Thilo Sarrazin[xi] gefunden haben wollte, das „Toleranzgen“, das nach Ansicht des früheren niederländischen Außenministers Ben Bot den Moslems fehle[xii] oder selbst ein “Demokratie-Gen“, das Michail Gorbatschow bei den Protesten gegen Wladimir Putin zum Jahreswechsel 2011/12 ausgemacht haben wollte.[xiii] Die Variationsbreite der hier genannten Personen weist darauf hin, wie weit der alltägliche genetische Aberglaube heute bereits verbreitet ist.

In der Ökonomie schließlich wachsen Mikroelektronik, Computerindustrie und Biotechnologie zusammen. Ergebnis, so Bühl, werde ein „hohes Rationalisierungspotential“ sein, das sich besonders in der Agrochemie, der Lebensmittelindustrie und der Pharmaindustrie auswirken werde: „Bereits vorhandene Medikamente werden durch neue ersetzt, herkömmliches durch transgenes Saatgut abgelöst, der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft wird weiter verringert, Produktionsprozesse etwa in der Lebensmittelverarbeitung erfahren einen neuen Effektivierungsschub.“ Es werden, anders gesagt, noch weitere Menschen ins Abseits geschickt.

Betrachten wir noch den letzten Satz, mit dem Bühl seine Einführung in die Bestandsaufnahme zur „biomächtigen Gesellschaft“ abschließt: „Mit bereits erteilten Patenten auf pflanzliches, tierisches und menschliches Leben sind erste Schritte in Richtung einer biomächtigen Gesellschaft, die sich durch eine umfassende Ökonomisierung und Kapitalisierung des globalen Lebens auszeichnen würde, sowie durch vielfältige neue Abhängigkeiten nationaler Ökonomien ganzer Länder und Kontinente von einer Handvoll global agierender Saatmultis wie Pharmariesen, bereits vollzogen. Für ein dystopisches Szenario einer Genetisierung der Ökonomie existieren somit bereits vielfältige Wege zum andocken.“

Zum „dystopischen Szenario“, also dem abschreckenden Gegenbild zur wünschenswerten Utopie, gehören nach Bühl, wie könnte es unter heutigen Bedingungen anders sein, selbstverständlich auch noch das „genetische Personenkennzeichen“, das Staatsbürger schon vor ihrer Geburt katalogisiert, sowie – offenbar unvermeidlich und schon weit entwickelt – eine „neue Qualität der Bio-waffen“, die selektiv töten können.

Es muss nicht alles so kommen, wie Bühl und andere Kritiker des biotechnischen Präventionswahns es beschreiben. Vieles davon aber hat sich bereits unbemerkt von der Öffentlichkeit in den Alltag eingeschlichen. Und jeden Tag kommen neue Meldungen hinzu, nicht zuletzt über das Angebot immer ‚intelligenterer‘ Smartphones und der ausufernden Flut von ‚apps‘, die das Leben so angenehm verfügbar machen, indem sie dem Einzelnen die Kontrolle über das eigene Leben abnehmen.  

Einfach zusammengefast heißt dies alles: Die Gleise, die in eine „bio-mächtige Gesellschaft“ hinausweisen, in welcher die  ‚Überflüssigen‘ nicht mehr physisch vernichtet werden müssen, sondern stattdessen psychisch stillgelegt, normiert und kontrolliert werden, in der Geburten von vornherein verhindert oder ihre Anzahl und Qualität nach demographischen Nützlichkeitserwägungen gelenkt wird, sind bereits gelegt; am Zug, der darauf fahren soll, wird noch gebastelt. Der Phantasie über das Machbare sind jedoch kaum noch Grenzen gesetzt, sie führt direkt in ein ‚tittytainment’ der das gesamte Leben erfassenden futuristischen Art. Die „Biomächtige Gesellschaft“, eingefasst in den präventiven Sicherheitsstaat ist möglich, die Frage ist nur noch, salopp formuliert, ob wir, genauer gesagt, ob die ‚Überflüssigen‘ dieser Welt zusammen mit den noch-nicht ‚Überflüssigen‘ eine solche Entwicklung zulassen.

(Zuerst veröffentlicht in „Hintergrund, 3/2018)

 

überarbeiteter Auszug aus dem Buch:

Kai Ehlers die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Neuauflage, BoD Norderstedt, 2016. Zu beziehen über: www.kai-ehlers.de  

[i] Siehe http://www.mao-projekt.de/BRD/REP/Russell-Tribunal.shtml

[ii] Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of  Rome zur Lage der Menschheit, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1972

[iii] Global 2000, Ein Bericht an den Präsidenten, Frankfurt/M., Zweitausendeins, 1981

[iv] Igor Frolow, Wladimir Sagladin, Globale Probleme der Gegenwart, Dietz, Berlin, 1982, ausserdem: Miachail Gorbatschow, Perestroika, Die zweite russische Revolution, Knaur, München, 1987/89

Sowie: Igor Bestuschew,-Lada, Die Welt im Jahr 200 – Eine sowjetische Prognose für unsere Zukunft, Dreisam-Verlag, Freiburg, 1984

[v] CIA-Report, Long-Term Global Demographic Trends: Reshaping the Geopolitical Landscape, July 2001, us: http://www.cia.gov/library/report/s/general-reports-1/Demo Trends For WEB.pdf

[vi] Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell  füssli, Zürich 2003

[vii] Karl Marx, Das Kapital, Band 1,   Werke Bd. 23, Dietz, Berlin, 1979, S. 657 ff , Kapitel 3: „Progressive Produktion einer relativen Überbevölkerung oder industriellen Reservearmee.“

[viii] Hans-Peter Martin, Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle, Rowohlt, Hamburg 1996

[ix] Zbigniew  Brzezinski, Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power, Basis Books, New York, 2013

[x] Achim Bühl, Auf dem Weg zur biomächtigen Gesellschaft? Chancen und Risiken der Gentechnik, VS Research, Wiesbaden 2009

[xi] Thilo Sarazzin, Deutschland schafft sich ab, Deutsche Verlagsanstalt, München 2010

[xii] Siehe Achim Bühl, S. 89

[xiii] Kai Ehlers, Russland Zwischentöne, Dezember 2011 auf www.kai-ehlers.de

Putin und Trump – ein Gespann? Ein Versuch hinter die Worte zu blicken

Ja, möchte man sagen – und doch nein. Ungeachtet unterschiedlicher persönlicher und politischer Profile sind Donald Trump und Wladimir Putin ein Gespann, notgedrungen, ob sie es wollen oder nicht. Und sind es doch nicht.

Beide sind vor einen Wagen gespannt, dessen Räder im Sumpf ungelöster globaler Probleme und Aufgaben zu versinken drohen. Sie selbst und die hinter ihnen stehenden „Eliten“ sind ratlos, wie sie mit der aus allen Fugen schießenden globalen Expansionsdynamik und der wachsenden Ungleichheit zwischen den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung und der bedrohlich wachsenden Zahl Benachteiligter, Ausgegrenzter, „Überflüssiger“, Marx würde sagen, überflüssig gemachter Paupers umgehen oder sich ihrer entledigen können. Immer ungeduldiger fordern diese Milliarden ihren Anteil am Reichtum der Welt, global und lokal. Eine Elitendämmerung kündigt sich an, wenn keine Vernunft einkehrt.

Die unipolare Weltordnung, die mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war, ist in wilder Bewegung.  Syrien ist dafür der aktuelle Brennpunkt, wo Kämpfe um lokale Souveränität, regionale Einflusszonen und globale Vorherrschaft sich an der Grenze zum globalen Krieg überschneiden.  

Denkbar wäre natürlich, dass die „Eliten“ in dieser Krisensituation, ungeachtet ihres Herkommens und ungeachtet der persönlichen Profile ihrer Vertreter und Vertreterinnen gemeinsam an einer Lösung dieses Knotens arbeiten, um ihre Ratlosigkeit zu überwinden, ja, sich vielleicht gar bereitfinden Ratschläge und Hilfe von „unten“ zu akzeptieren,  statt Milliarden von Menschen zu ohnmächtigen Zuschauern  oder zu Opfern ihrer Entscheidungen zu machen.

In Einzelfragen, die gegenwärtig in ersten Telefonaten zwischen dem neuen Mann in Washington und seinem schon länger amtierenden Kollegen in Moskau verhandelt werden, könnte tatsächlich Einiges möglich werden. Die Rede ist von der Einrichtung geschützter Zonen für Flüchtlinge in Syrien, von einem Ende der  Sanktionspolitik gegen Russland, von  einer Beilegung der Krim- und Ukrainekonflikte. Schließlich sogar von einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Terror – wobei allerdings schon zu fragen ist, was unter „dem“ Terror jeweils verstanden wird.  

Das alles klingt nach Frontbegradigungen – und wäre auch zu begrüßen, wenn es zu Entspannung auf überfälligen Konfliktfeldern führen, wenn es dazu beitragen könnte, die weitere Ausbreitung des Terrorismus zu verhindern. Allerdings muss hier über die Frage hinaus, was jeweils unter Terror verstanden wird, festgehalten werden, dass Terrorismus nicht mit Waffengewalt, auch mit einer russisch-amerikanisch kombinierten Militäraktion nicht zu beseitigen sein wird, sondern nur mit einer grundlegend anderen Politik der „entwickelten“  gegenüber der sich entwickelnden Welt, die den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben vor Ort zu gestalten.

Im Übrigen sind schon die ersten außenpolitischen Dekrete des neuen US-Präsidenten, die ein willkürliches Einwanderungsverbot aus einer Reihe von muslimischen Ländern in die USA verfügen, eher geeignet, dem Terrorismus weltweit neue Kämpfer und Kämpferinnen aus diesem Feld zuzuführen als ihn zu dämpfen. Auch flackern in der Unsicherheit des neuen Frontverlaufs ungelöste Konflikte wieder auf wie in der Ukraine, andere sind zu erwarten. 

 

Unterschiedliche Perspektiven

Obwohl gleichermaßen eingespannt und trotz möglicher Kompromisse in Einzelfragen streben Putin und Trump doch in entgegengesetzte Richtungen. Der eine, Putin, strebt seit seinem Amtsantritt 1999/2000 in die Richtung einer kooperativen Weltordnung, aus wohlverstandener eigener Schwäche  und aus bitterer historischer Erfahrung, wohin eine Überdehnung der eigenen Kräfte führt.

Der andere, Trump, getrieben von dem Bestreben, von globalen Verpflichtungen nicht länger, wie er sagt,  „ausgebeutet“ zu werden, setzt unter dem Motto „America first“ auf Parzellierung  gewachsener globaler Strukturen – bei gleichzeitiger Überhöhung seines und des US-Machtanspruches. Das setzt autoritäre und nationalistische Impulse frei.

Weit entfernt also davon in eine Richtung zu ziehen, obwohl in einem Gespann, gehen die Dynamiken Russlands und der USA extrem auseinander. Putin  orientiert auf Stabilisierung und Reform der nationalstaatlichen Ordnung, wie sie sich in den Vereinten Nationen herausgebildet hat und in ihrer Charta fixiert ist. Trump forciert bilaterale Beziehungen unter Führung der USA.

Damit setzt sich ins Extrem fort, was schon die Politik der letzten Jahre bestimmt hat. Sollte man die Situation, die so entsteht, in ein Bild bringen, so müsste man das einer Waage wählen, deren eine Seite sich senkt, während die andere sich hebt. Schauen wir im Detail.

 

Schrumpfen mit Trump?

Seit Jahren zielt die US  Strategie darauf die globale Vorherrschaft der USA nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ zu bewahren – und kann doch deren Verfall nicht  aufhalten. Bester Zeuge dafür ist der bekannte US-Stratege Zbigniew Brzezinski, in dessen Büchern die Stufen des Verfalls der US-Vormacht umso deutlicher hervortreten, je stärker er die Vorzüge dieser Macht hervorzuheben bestrebt ist – darin ein unfreiwilliger Vorbote Trumps, der jetzt auf den unteren Sprossen dieser Stufenleiter als Erbe erscheint:

Den Zusammenbruch der Sowjetunion begrüßt Brzezinski mit dem  Fanfarenruf des Siegers in dem Buch: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“[1]. Es erschien erstmals 1997, avancierte danach zum Weltbeststeller. In dem Buch wird das strategische Szenario entworfen, wie die USA die ihr in den Schoß gefallene Weltherrschaft  bewahren könnten, wenn sie dafür sorgten, dass in der Welt, insbesondere in Eurasien in Zukunft kein neuer Rivale sein Haupt erheben könne. Auf dieser Linie entwickelten die USA nach 1990/91 ihre Politik der Einkreisung Russlands.

Zehn Jahre später, 2006, schon wesentlich gedämpfter, folgt Brzezinskis erste Bilanz unter dem Titel: „The second chance“[2]. In diesem Buch schaut er auf die Präsidentschaften von Bush I, Clinton und Busch II zurück (so Brzezinskis Schreibweise).  Bush I – in Brzezinskis Charakteristik ein mittelmäßiger Verwalter, der nichts aus dem Sieg von 1990/91 gemacht habe, Clinton – ein Parvenü, der der Welt zu viel versprochen und dadurch amerikanisches Potential  leichtfertig verschleudert habe, Bush II  – ein politischer Hasardeur, der mit seinem brachialen, alleingängerischen „Krieg gegen den Terrorismus“ amerikanisches Ansehen in der Welt und dessen Vormachtstellung in krimineller Weise geschädigt habe. Zugleich habe er die Bildung der Bevölkerung sträflich vernachlässigt. Mit dem von ihm zurückgelassenen Bildungsniveau der US-Bevölkerung, so Brzezinski, sei keine Weltpolitik zu machen. 

Eine zweite  Chance für die in der Folge dieser drei Präsidenten geschwächte Weltmacht könne es nur geben, so Brzezinski, wenn das Land einen neuen Anlauf nähme, den „American way of life“ durch eine Bildungsoffensive im Innern und eine Bündnisoffensive nach außen zu erneuern. Barack Obamas Politik des „Yes we can“ war ein Kind dieser Kritik, eine Offensive des Lächelns bei gleichzeitiger Eskalation der US-Interventionen im Selbstmandat.

Noch ein Intervall später, 2013, im Vorjahr zum Ukrainischen Maidan, unter dem Titel „Strategic Vision, America and the crisis of global Power“[3]  sieht Brzezinski sich zu der Aussage gezwungen: „Angesichts des neuen dynamischen,  und international komplexen und politisch erwachenden Asien ist die neue Realität die, dass keine Macht versuchen kann – in Mackinders Worten[4] – Eurasien ‚zu beherrschen‘ und so die Welt zu ‚kommandieren‘.  Amerikas Rolle, besonders  nachdem es zwanzig Jahre vergeudet  hat (having wasted), muss jetzt sowohl subtiler als auch verantwortlicher gegenüber Asiens neuen Machtrealitäten sein. Herrschaft durch einen einzigen Staat, wie mächtig auch immer, ist angesichts des Hochkommens neuer regionaler Spieler (player) nicht länger möglich“. Nur unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, wiederholt Brzezinski beschwörend, könne dem  weiteren Niedergang der US-Vormacht entgegengewirkt werden.

Wie die Entwicklung zeigt, hat eine breiter angelegte Bündnispolitik  unter Obama auch nach Brzezinskis zweiter Ermahnung den weiteren Niedergang der US-Vormacht nicht aufhalten können, sondern mit der Politik des Regime Changes und der gezielten Tötung durch Drohnen noch tiefer in die Sackgasse des US-Alleingangs geführt. Darüber konnte auch Obamas aggressive Propaganda gegenüber dem angeblichen Kriegstreiber Russland nicht hinwegtäuschen. Das Ukrainische Abenteuer, wie auch der vorläufige Rückzug der USA aus Syrien haben vielmehr die zunehmende Schwäche der USA klar erkennen lassen.

Trump ist der Erbe  dieses innen- und außenpolitischen Niedergangs. Statt sich in ein erweitertes Bündnis der von Brzezinski beschworenen „Newcomer“ zur Herausbildung einer kooperativen Kraft einzugliedern, sucht er den Weg in die weitere Fraktionierung der internationalen Ordnung, die er, wie gesagt, als Last empfindet – in der irrigen Annahme Amerika auf diese Weise wieder groß machen zu können. Das geschieht ohne erkennbares Programm nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.

Im Gegensatz zu den zurzeit vor allem in Europa grassierenden Klagen, mit Trumps brachialem Motto werde die demokratische Tradition der „Pax Americana“ gebrochen, findet der unter diesem Schild bisher verdeckte Nationalismus der USA mit Trump lediglich seine unverhüllte Zuspitzung und Offenbarung. Die irritierte Empörung der atlantischen Partner der USA angesichts dieser Offenbarung des tatsächlichen Charakters der US-Politik lässt vor allem anderen eine Sorge erkennen, nämlich die, mit der Demaskierung der US-Politik zugleich selbst demaskiert zu werden.

 

… und wachsen mit Putin?

Demgegenüber Putin – ebenfalls Erbe, allerdings einer gegenläufigen Entwicklung. Sie steigt von Michail Gorbatschow, der ins europäische, über Boris Jelzin, der gleich ins amerikanische Haus einziehen wollte bis zu Putins und Medwedews immer aufs Neue wiederholtem Angebot auf, gemeinsam mit der NATO eine „Sicherheitsarchitektur“ von Wladiwostok bis Lissabon schaffen zu wollen . 

Auf dieser Linie ging es darum Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zu Kräften zu bringen. Dafür brauchte das Land eine Stärkung der internationalen Ordnung, wie sie von den Vereinten Nationen repräsentiert und in ihrer Charta beschrieben wird. Wohlverstanden im eigenen Interesse Russlands, aus eigener Schwäche, zum Schutz gegen die übermächtige Dominanz der USA.

Die Stationen dieses spät- und nachsowjetischen Restaurationsprozesses folgten nicht aus einem Programm der Revanche und der Re-Imperialisierung, wie vom Westen unterstellt, sondern aus den Tatsachen des für die Bevölkerung lebensbedrohlichen Zusammenbruchs der Sowjetunion und den blanken Notwendigkeiten einer Restauration der russischen Staatlichkeit, sprich fundamentaler sozialer Strukturen.   

Gorbatschow bat den Westen 1991 um Hilfe für die Verwirklichung seiner Reform des Sozialismus – die er, versteht sich, von den potentiellen Geldgebern nicht erhielt. Man schickte ihn vom Londoner G7-Treffen zum Scheitern nach Haus, während man Jelzin zu gleicher Zeit ermutigte und half, das Land für eine ökonomische und kulturelle Kolonisierung durch den Westen zu öffnen.

Erst mit Wladimir Putin kehrte so etwas wie die Besinnung Russlands auf sich selbst in die russische Gesellschaft zurück. Putin formulierte bei seinem Amtsantritt zwei grundlegende Ziele, die er danach beharrlich verfolgte und bis heute verfolgt: Russlands Staatlichkeit wieder aufzubauen und Russland entsprechend seiner gewachsenen historischen Rolle wieder zum Integrationsknoten Eurasiens zu machen.

Mit diesem Arbeitsprogramm, seinerzeit unprätentiös als einfache Internetmeldung der Öffentlichkeit bekanntgegeben, wandte er sich zunächst der  Stabilisierung der inneren Verhältnisse des Landes zu, verpflichtete die Oligarchen ihren im Zuge der Privatisierung des Volksvermögens gegeneinander geführten Krieg einzustellen und sich dem Wiederaufbau des Landes zuzuwenden. Das bedeutete für die neuen Reichen wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, wieder in minimale kommunale und soziale Verpflichtungen einzusteigen, ihre privaten Vermögen in eine korporative Führung zu überführen, die sich staatlichen Regeln zu unterwerfen hatte. 

Kurz, es war ein Aufbauprogramm. Wer nicht wollte, wurde  beiseite gedrängt. Man erinnere sich an die Namen Wladimir Gussinski, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, die unter Jelzin – neben dem IWF – zu den unerklärten Herrschern Russland aufgestiegen waren.

Der eigentliche Befreiungsschlag Putins bestand jedoch in der Aufkündigung der von Jelzin eingegangenen Abhängigkeit von den Milliardenkrediten des IWF, darauf folgend auch noch in der Rückzahlung der sowjetischen Altschulden an die westlichen Gläubiger, die an der Rückzahlung überhaupt kein Interesse hatten, sondern es lieber gesehen hätten, die Schulden wachsen zu lassen.

Nach der inneren Konsolidierung trug Putin den Anspruch seines Krisenmanagements in die Außenpolitik, um dort der Einkreisung zu begegnen. Von da an ging es Zug um Zug entsprechend den allmählich wachsenden Kräften des neuen Russland.

2007: Putins Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“, bei dem er der aggressiven Militarisierung der Weltpolitik durch die USA, sowie der ebenso aggressiven Ost-Erweiterungspolitik der EU und der NATO erstmals weltöffentlich entgegentrat – ohne dass er zu der Zeit ernst genommen worden wäre. Die westlichen Medien ließen ihn vielmehr als Möchtegern Kraftprotz erscheinen.

Dann aber 2008: Nach der Serie „bunter Revolutionen“ und angesichts neuer Ansätze der Ost-Erweiterung von NATO und EU in die Ukraine, über Georgien und darüber hinaus, zieht Russland die gelbe Karte gegen die Provokationen des Georgischen Präsidenten Saakaschwili, der sich Ossetien einverleiben will.

In der Folge der Georgischen Krise, ebenfalls 2008, entstehen erste Ansätze zur Gründung der Eurasischen Union – übrigens nicht von Putin, sondern vom Kasachischen Präsidenten Nasarbajew angestoßen. 2010 folgt die aktive Erneuerung des Angebotes an die NATO zur Bildung einer gemeinsamen „Sicherheitszone“. 2013 schlägt Russland vor, das Problem der Ost-West-Gespaltenheit der Ukraine zwischen europäischer und eurasischer Union einvernehmlich in Gesprächen zu lösen. Keines dieser Angebote erschien dem Westen wert darauf einzugehen.

Mit dem vom Westen betriebenen Regimewechsel in der Ukraine 2014 ging Russland vom passiven Widerstand gegen die westliche Einkreisungspolitik zum aktiven über, indem es das Referendum der Bevölkerung der Krim zur Frage einer Rückkehr der Halbinsel nach Russland aktiv unterstützte und die Krim in den russischen Staatsbestand aufnahm. Zugleich förderte Russland die Bestrebungen im Osten der Ukraine nach Autonomie – lehnte von dort ausgehende Beitrittswünsche allerdings ab, ja, unterband sogar den Aufbau einer eigenen Staatlichkeit des Gebietes als „Novo Rossia“.

Mit dem Eingreifen  russischer Bomber auf Seiten Baschar al Assads in Syrien und gegen den „Islamischen Staat“ , das zum vorläufigen Rückzug der USA aus deren Interventionsreihe in Mesopotamien führte, fand das russische Krisenmanagement seinen vorläufigen Höhepunkt. Ergebnis ist das gegenwärtige Krisenpatt zwischen den USA und Russland, wie es sich in den von der Türkei, Russland und Iran initiierten Waffenstillstandsverhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana niederschlug, an denen die USA nur als Beobachter teilnahmen. Was daraus folgt, ist offen.

 

Patt – aber gemeinsame Interessen?

So stehen sich diese beiden globalen „Partner“ heute gegenüber. Wenn jedoch von gemeinsamen Interessen, wenn gar von gemeinsamer Sprache der Präsidenten die Rede ist, wenn gesagt wird, Trumps  „America first“ bedeute das Gleiche wie Putins seinerzeit erklärte Absicht, Russland wieder aufbauen zu wollen,  wenn gar gesagt wird, beide seien gleich unberechenbar, oder auch, jetzt würden die USA genauso unberechenbar wie vorher Putin, dann ist das nichts weiter als Augenwischerei, im harmlosesten Fall einfach Unkenntnis historischer Tatsachen oder Dummheit. 

Fakt ist die unübersehbare Kontinuität der Putinschen Politik, der seit seinem Amtsantritt vollkommen berechenbar Schritt für Schritt von der Stabilisierung der innenpolitischen Situation Russlands zur Stabilisierung der globalen Beziehungen fortgeschritten ist – während die USA im gleichen Maßstab ihre Berechenbarkeit verloren haben und mit Trump jetzt gänzlich zu verlieren sich anschicken.

Ergebnis ist, dass die beiden großen Mächte, die heute – neben China als bisher stillem Begleiter – die Weltpolitik wesentlich bestimmen, auf polaren Seiten ein und derselben gegenwärtigen Entwicklung stehen, eben als ein Gespann. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, wenn Trump die Weltordnung in nationale Fragmente zerlegen, der andere, Putin,  die Souveränität des Nationalstaates als Voraussetzung für Stabilität erhalten will.

Putin und Trump treffen an ein und demselben kranken Punkt der gegenwärtigen internationalen Weltordnung aufeinander, beide allerdings letztlich, wenn auch auf gegensätzlichen Seiten, auf löcherigem Boden, denn die heutige Form der globalen Nationalstaatsordnung, manifestiert in den vereinten Nationen, die der eine erhalten, der andere noch weiter als bisher beiseiteschieben will, ist angesichts der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technik und Kultur so oder so überlebt. Sie bedarf nicht nur der Reform, sie bedarf einer zeitgemäßen Weiterentwicklung.

Unter nationalstaatlicher Grundorganisation des heutigen Staatenlebens, um das hier in aller Kürze zu verdeutlichen, ist das im 19. Jahrhundert entstandene Credo zu verstehen, nach dem alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens von der Wirtschaft bis zur Kultur durch den nationalen Einheitsstaat unter staatlichem Gewaltmonopol zusammengefasst und verwaltet und gegenüber allen anderen Staaten zur Geltung gebracht werden, mit denen jeder Staat für sich Arbeitskräfte, Ressourcen und Märkte mit anderen teilen muss.

Kurz gesagt: was des einen Staates Gewinn, ist  zwangsläufig des anderen Verlust. Kriege sind bei dieser Ordnung umso unvermeidlicher, je größer die Anzahl der Nationalstaaten wird, die sich in dieser Weise den globalen Kuchen teilen müssen.

Beim Stand der Dinge ist die Politik, die Trump einzuschlagen gedenkt allerdings die gefährlichere, insofern sie die schon von seinen Vorgängern betriebene Fraktionierung dieser Ordnung unter dem Slogan „America first“ ohne Rücksicht auf zukünftige Folgen, nur getrieben vom spontanen Abwärtstrend der US-Supermacht, wie er sich in dem Weckruf „America first“ ausdrückt, ins Extrem zu treiben antritt. Putins Strategie, insofern sie das eigene Überleben nur im Rahmen eines globalen Krisenmanagements begreift, beinhaltet demgegenüber immerhin die Chance, so etwas wie einen vorübergehenden globalen Stabilitätsrahmen herzustellen,  der ein Sprungbrett für eine Ordnung bilden könnte, die über den Nationalstaat als Grundorganisation  des heutigen Staatenlebens hinausweisen – könnte.

 

Vom Zweier- zum Dreierpatt

Dass die Frage der heute anstehenden Neuordnung letztlich nicht allein zwischen den beiden Polen USA und Russland ausgetragen wird, ist dem bisher Gesagten schließlich noch hinzuzufügen. Zwar treten gewisse historische Linien aus der Vergessenheit der Geschichte wieder hervor, so die anglo-amerikanische, die aus der Tradition des Britischen Commonwealth heraus einem eigenen Kurs gegenüber Mitteleuropa und Eurasien folgt. Das ist eine Spur, die sich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über den zweiten bis zu den jetzt wieder hervortretenden Konstellationen  zieht. Sie  zielt auf eine Schwächung Europas, genauer der europäischen Mitte, insbesondere Deutschlands, noch  genauer und aktuell gesagt auf die Verhinderung einer möglichen deutsch-russischen Achse. Der Austritt Britanniens aus der EU und seine neue Nähe zu den USA unter Trump lässt diese Linie nach Brexit und US-Präsidentenwechsel unmissverständlich hervortreten.

Die historischen Parallelen sind allerdings nur noch bedingt gültig, eine einfache Wiederholung historischer Konstellationen wird es nicht geben können, weil inzwischen – wie schon von Brzezinski unter dem Stichwort der tendenziellen West-Ost-Verschiebung der globalen Machtzentren richtig beschrieben  – andere Kräfte in der Welt aufgetreten sind, insbesondere China. Damit ist der historische Impuls des Commonwealth nicht mehr das einzige bestimmende Element in der Weltgeschichte und auch nicht in der Beziehung zwischen den USA und Britannien und kann es, wenn kein Wunder geschieht, auch nicht wieder werden.

Ein Dreiecksverhältnis ist entstanden, bestehend aus Russland plus China, Europa und den USA, in das sich alle anderen Länder der Welt einfügen müssen. Das könnte dem zwischen Russland und USA entstandenen Patt vorübergehend  eine festere Haltbarkeit geben.

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Könnte,  wenn …

Allerdings kann selbst in einer solchen Dreiecksbeziehung nicht mehr entstehen als eben ein vorübergehendes Stillhalteabkommen. Warum? Weil die Grundfragen der gegenwärtigen Entwicklung, durch Krisenmanagement allein nicht zu lösen sind, solange die drei, und nicht nur die drei, sondern alle Mächte der Welt, alle heute herrschenden Kräfte der Welt, an der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Expansion festhalten, die ja ihrerseits letztlich Ursache der Krisenerscheinungen ist, wie wir sie heute haben.

Nicht oft genug kann wiederholt werden: Wir leben in einer Welt, in der alle bisherigen Versuche das Paradies auf Erden herzustellen gescheitert sind. Das betrifft das Glücksversprechen des Kapitalismus ebenso wie das des realen Sozialismus. Die bisherige Form der Globalisierung erweist sich darüber hinaus auch nicht als Lösung, sondern als Verschärfung dieser Ergebnisse. Die Frage stellt sich also, wie wollen wir leben, wenn nicht so, aber auch nicht so?

Solange eine Antwort auf diese Frage nicht über die Reduzierung des Menschen auf einen „Homo Konsumentis“ hinauskommt, der nur in Kategorien beständiger Expansion, wirtschaftlich gesprochen „Wachstum“ denken und leben kann, solange keine andere Weltorientierung, kein anderes Verständnis vom Menschen in der Welt entwickelt worden ist, das ihn wieder als kosmisches Ganzes begreift, solange ist eine weitere Zuspitzung der genannten Widersprüche unumgänglich, in welcher Konstellation auch immer.  

Das betrifft auch die nationale Frage. Zwar könnte die Achtung der internationalen Ordnung, wie sie die Charta  der Vereinten Nationen enthält, einen Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen abgeben, wenn sich alle Länder darauf als zur Zeit noch verbindlichen Rahmen einigen könnten, und niemand total quer schösse, aber – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – angesichts der globalen Verflechtung unserer heutigen Weltwirtschaft, Technik und Kultur ist die nationale Ordnung des Völkerlebens, ist die nationale Organisation, konkreter gesprochen, der nationale Zugriff auf das Feld der Ressourcen etc., ein auslaufendes Modell.

Die heute anstehenden Aufgaben, allen voran die Bewirtschaftung von Ressourcen – als Beispiel seien nur Öl und Internet genannt – können nur dann befriedigend und friedlich gelöst werden, wenn dies in nicht national begrenzter gemeinschaftsdienlicher Verwaltung  geschieht. Das allein kann eine Entwicklung öffnen, die im Rahmen der allgemeinen Nutzung zugleich zu der existenziell notwendigen Wiederbelebung lokaler Räume durch miteinander verbundene größere oder kleinere Bedarfsgemeinschaften führt.

Gebraucht wird eine Differenzierung gesellschaftlicher Aktivitäten, bei welcher der einzelne Mensch zugleich selbstorganisiert und in kooperativer Gemeinschaft leben kann, ohne von einem Staatsmonopol oder gar einem globalen Hegemons auf einen bloßen Konsumenten reduziert und zum Schräubchen fremder Interessen erniedrigt  zu werden.  

Mögliche Ansätze zu Entwicklungen in diese Richtung gibt es viele – globale,  regionale und lokale. Nach dem ersten, ebenso nach dem zweiten Weltkrieg und heute. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und wird viel ausprobiert . Eine Verwirklichung im großen Maßstab steht jedoch noch aus. Ein vorübergehendes Patt der heutigen Großmächte und ihrer politischen wie auch persönlichen „Follower“ könnte eine Chance sein, einen neuen Anlauf zur Förderung solcher Alternativen zu entwickeln. Klar ist jedoch: Die Rückführung der jetzigen globalen in bi-nationale Beziehungen unter der Dominanz eines Hegemons, wie das von der amerikanischen Politik, genauer von ihrem gegenwärtigen Präsidenten zurzeit anvisiert wird, ist nicht dazu geeignet, Alternativen auch nur ansatzweise zu fördern. Sie läuft auf eine Zertrümmerung solcher Ansätze hinaus. Möglicherweise ist das auch ein Weg zur Erkenntnis, aber es ist der schlechtere Weg.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu  das Video:

http://www.russland.news/putin-und-trump-ein-gespann-video

 

 

und das Buch:

Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Eigenverlag, Bestellung über: www.kai-ehlers.de

 

Außerdem Vortragsangebote, die Sie buchen können:

Siehe dazu auf der Eingangsseite: VORTRÄGE BUCHEN

[1] Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht, 1996 bei Fischer, neu herausgegeben bei Kopp Verlag, 2015

[2] Brzezinski, Zbigniew, Second Chance, 2006, English, Basic books, 2007

[3] Brzezinski, Zbigniew, Strategic vision, America and the crisis of global power, English, S. 131, Basic Books,

[4] Mackinder, Halford, 1861 – 1947, britischer Geopolitiker, Begründer Theorie des „Herzlandes“

Krise des Nationalstaats – als Aufforderung zur geistigen Erneuerung

Ukraine, Syrien, Libyen, Irak, Türkei, Afghanistan – unter dem Druck der Flüchtlingsströme von Süden in den Norden des Globus jetzt auch die Europäische Union: das Kampffeld, auf dem nationale Souveränität in Frage gestellt wird und wo sie umso radikaler behauptet wird, weitet sich zusehends aus. Die großen Mächte schieben nationale Souveränität beliebig beiseite, kleine Völker wie die Kurden, wie die Uiguren Chinas, wie Indigene Südamerikas ringen um Autonomie oder „nationale Widergeburt“, arbeiten vergessene Geschichte in eigenen Epen auf. So etwa die Tschuwaschen Russlands, deren neuestes „Nationalepos“ soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Bei all dieser nationalen Selbstbesinnung und ihrer gleichzeitigen Zerstörung stellt sich die Frage, welche Bedeutung Autonomie, nationale Wiedergeburt, genereller nationale Souveränität, Nation, Nationalstaat und überhaupt die völkerrechtlich festgeschriebene nationalstaatliche Grundordnung, die heute als Norm gilt, in der gegenwärtigen Krise hat.
Die neue Weltordnung, die im Zuge des ersten und des zweiten Weltkriegs auf den Trümmern der Vielvölkerdynastien Habsburgs, des Osmanischen Reiches, die in der Nachfolge des englischen Commnonwealth, des Übergangs des russischen Vielvölkerreiches in eine Union der Sowjetrepubliken als nachkoloniale zukünftige Völkerordnung selbstbestimmter Nationalstaaten konzipiert wurde, begleitet vom Aufkommen der USA, später der EU, zerfällt heute in eine, paradox formuliert, fragmentierte Globalisierung – wenn die Konzeption einer stabilen internationalen Ordnung von souveränen Nationalstaaten überhaupt jemals mehr wurde als ein Plan.
Sicher ist allein: Die Erhebung des Nationalstaats zur herrschenden Doktrin der modernen Völkerordnung schnürte die Unterschiede der Staatsformen in ein definitorisches Korsett ein, das die tatsächlichen Machtverhältnisse in dem so entstandenen internationalen Staatengeflecht zum Nutzen der dominanten Mächte formierte und diese Realität zugleich kaschierte.
Um es nur anzudeuten: Unter die Norm des Nationalstaats fallen heute so unterschiedliche Formen wie die mit dem Lineal gezogenen Gebietsaufteilungen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten, die ungeachtet gewachsener Raum- und Kultureinheiten zu „souveränen Staaten“ erklärt wurden, wohl wissend, dass damit Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialländern erhalten blieben und so Konflikte implantiert wurden, die ein „teile und herrsche“ auch für die Zukunft garantieren sollten.
Die derart schon bei ihrer Geburt um ihre Souveränität gebrachten Nationen liegen heute als politische und soziale Minenfelder über den Globus verteilt. So im gesamten vom Westen dominierten nachkolonialen Raum; so in anderer Form auch innerhalb des nachsowjetischen Raums. Die Reihe sog. „eingefrorener“, dazu die der potentiellen Konflikte breitet sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit über den Globus aus.
Und weiter: Als Nationalstaaten galten und werden faktisch auch die multinationalen „Supermächte“ der USA, der UdSSR, sowie neuerdings die EU, ebenso die nach wie vor bestehenden Vielvölkerstaaten Russland, Indien, China, Brasilien gehandelt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.
Ein neues Kapitel eröffnen schließlich fundamentalistische Bewegungen wie der „Islamischen Staat“, die den Anspruch stellen, den Nationalstaat durch einen Gottesstaat ersetzen zu wollen, welcher die Grenzen bisheriger säkularer Staatlichkeit überhaupt überschreitet.
Was, bitte sehr, ist angesichts dieses scheckigen Bildes heute noch der Nationalstaat? Zurückhaltend gesprochen sind Definitionen wie „Nationalstaat“, mehr noch „Nation“ oder gar „Nationalismus“ dynamisch, offen für Interpretationen, entwicklungsfähig; schärfer betrachtet, erscheinen die Grenzen dieser Definitionen diffus und in ihrer Unbestimmtheit latent konfliktträchtig. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehung dieser Gebilde, deren Hoheitsansprüche sich auf diversen Gebieten immer wieder überlagern. Es gilt auch für die Merkmale, auf welche die Nationen selbst gegründet, bzw. dafür, wie sie gewaltsam zusammengesetzt wurden; ethnische, sprachliche, historische, geografische, ideologische Elemente sind darin eingegangen. Diverse Mischungen von Nationalstaaten sind darüber hinaus anzutreffen. Dazu kommen politische Strukturen, die ein gleitendes Spektrum von autoritärem Zentralismus bis hin zu demokratischen Verhältnissen abdecken.
Nur eins ist am Ende all diesen Erscheinungsformen des heutigen Nationalstaates als kleinster Nenner gemeinsam: der Anspruch des staatlichen Definitions- und Machtmonopols gegenüber den in ihren Grenzen jeweils lebenden Bevölkerungen, in dem sämtliche Funktionen des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ökonomie, genauer der profitorientierten Kapitalverwertung zusammenlaufen. Alle anderen Lebensimpulse, einschließlich der geistigen, kulturellen und moralischen sind dieser Dominanz der staatlichen Kapitalverwaltung unter- und nachgeordnet.
Zwar sind die Staaten – im günstigsten Fall – nach Judikative, Legislative und Exekutive in sich differenziert. Über ihren Anspruch des staatlichen Machtmonopols als kleinster gemeinsamer Nenner sind die Staaten jedoch – allen anderen Beteuerungen auf Mitwirkung der Bevölkerungen zum Trotz – der Souveränität der in ihren Grenzen lebenden Menschen als unausweichlicher, ggfls. mit Zwang bewehrter Imperativ entgegengestellt: Wer im Rahmen dieses Machtmonopols lebt, ist Staatsbürger einer Nation, die sich durch ihre souveränen Hoheitsansprüche von anderen Staaten abgrenzt.
Soweit gekommen wird sichtbar, dass selbst diese Kern-Definition von Nationalstaat heute tendenziell keine „nationale“ Gültigkeit, genauer, keine nationalen Grenzen mehr hat, wenn sie inzwischen in der Praxis zunehmend durch supra-nationale Monopole, Korporationen, globalisierte Kapitalflüsse, transnationale Abkommen wie CETA, TTIP usw. nicht nur ausgehebelt, sondern praktisch in deren Dienste gestellt wird.
War die Existenz einer völkerrechtlich geschützten i n t e r – n a t i o n a l e n stabilen Ordnung gleichberechtigter souveräner Nationen schon bei ihrem Entwurf eine Fiktion, so ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Fiktion, sondern selbst in Bezug auf das selbstbestimmte Machtmonopol als dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Definition des Nationalstaat auf ein Niveau heruntergekommen, auf dem Versuche zur Rettung des Nationalstaats zum einen und die brutale Missachtung nationalstaatlicher Souveränität zum anderen sich gegenseitig zu wachsenden Konflikten aufzuschaukeln.
Hier kurz eine Erinnerung an die aktuellsten Symptome dieser widersprüchlichen Eskalation:
Die Ukraine: Mit Gewalt soll in einer nachholenden Entwicklung ein nationaler Einheitsstaat entstehen, wo eine föderale Beziehung autonomer Regionen die einfachste Lösung wäre. Faktisch entsteht hier ein weiterer „eingefrorener Konflikt“.
Syrien: Die völkerrechtlich festgeschriebene Souveränität eines Staates wird von einer Koalition der Willigen unter Führung der USA brutal beiseitegeschoben wie zuvor schon und parallel dazu auch in anderen Staaten ehemaligen „Entwicklungsgebieten“ der Welt. Nur Russland besteht auf Einhaltung der Souveränität.
Die EU: Überwunden geglaubter Nationalismus entwickelt in dem Moment seine erneute Sprengkraft, in dem die EU sich als supranationale Fortsetzung des Nationalstaats entpuppt, statt als Bündnis gleichberechtigter Regionen.
Die geplanten Handelsabkommen: Mit TTIP/TTP, CETA u.ä. macht das globale Finanzkapital Anläufe dazu die Souveränität der Nationalstaaten (sowohl der direkt beteiligten wie auch der von den möglichen Auswirkungen als Dritte betroffenen) auszuhebeln und sich zu unterwerfen.
Und schließlich, schon benannt, doch wichtig genug hier noch einmal in die Reihe gestellt zu werden, Phänomene wie der „Islamische Staat“, die eine völkerrechtliche Nationalstaatlichkeit durch den rechtlich nicht begrenzten Anspruch eines Gottesstaates ersetzen wollen.
Die Konflikte entwickeln sich scheinbar in unterschiedliche Richtungen – verspätete Nationenbildung hier, Renationalisierung, Rückkehr zu Nationalismen, „eingefrorene Konflikte“, die jederzeit aufgetaut werden können dort – der Kern der Konflikte ist jedoch immer der gleiche: die nicht vorhandene, bedrohte oder nicht anerkannte nationale oder mit Gewalt erzwungene Souveränität. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Alle Versuche der Erneuerung müssen zudem folgenlos bleiben, solange der Widerspruch zwischen propagierter nationaler Souveränität und tatsächlicher Unterordnung unter globale ökonomische Fremdbestimmung nicht gelöst wird, genauer gesprochen und eine Etage tiefer gestochen, solange Idee und Realität des Nationalstaats in der heutigen Form eines von der Ökonomie determinierten Machtmonopols weiter unverändert bestehen bleibt.
Selbst aufrichtige, zumindest als Krisenmanagement ernst gemeinte Versuche die Nationalstaatsordnung durch verstärkte Propagierung der vor allem seitens der USA bedrohten nationalen Souveränität zu stützen, wie es Russland zur Zeit in Syrien tut, selbst der aktivste „Werte-Export“, mit dem der Westen die Ukraine zu einem demokratischen Nationalstaat erheben möchte, ja selbst Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der heutigen Politik ihrer Länder und im internationalen Geschehen, etwa für eine Reform der Vereinten Nationen, bleiben in dem Chaos der Nationalstaatsbeziehungen hängen, solange kein neues Verständnis von Selbstbestimmung gefunden wird, das die Definition von Souveränität als ökonomisch dominiertes Machtmonopol des Staates über „seine“ Bürger und folgerichtig der mächtigeren „Nationalstaaten“ über die weniger mächtigen, über die „failed states“, die „eingefrorenen“ und die potentiellen Konflikte, den schwächeren Konkurrenten usw. hinter sich lässt.

Was ansteht, ist die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Staat, die Öffnung, klarer gesprochen, die Sprengung des gegenwärtigen nationalstaatlich definierten staatlichen Machtmonopols in gesellschaftliche Bereiche, die ihre eigenen Belange selbstbestimmt in Kooperation mit anderen Bereichen auf der Basis echter Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Basis-Gemeinschaften und Gemeinden entwickeln und verwalten und so ihren Gesamtzusammenhang bilden, ist darüber hinaus die Öffnung in eine Zukunft föderal miteinander verbundener, selbstbestimmter autonomer Länder und Regionen und eine dem folgende globale Ordnung.

Aber wie ist das anzufassen, worauf können, worauf müssen die Impulse für eine geistige Erneuerung sich richten, wenn nicht Initiativen, Reformen, Aufrufe zu mehr Beteiligung, mehr Demokratie, zu einer Ordnung der Vielfalt etc. etc. immer wieder im herrschenden Verständnis und der ermüdenden Wirklichkeit des nationalstaatlichen Machtmonopols hängenbleiben oder von ihm abgeschmettert werden sollen – und: ohne dass andererseits totalitäre Auswege wie die des „Islamischen Staates“ gesucht werden, die ganzheitliche Lösungen aus der jetzigen Malaise vorgaukeln?

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Syrien – Gipfel der Souveränität.

So wie es vom Gipfel aus abwärts geht – oder im hohen Flug in ungesicherte Gefilde, so geht es vom Krieg in Syrien aus in die endgültige Beseitigung des Prinzips des souveränen Nationalstaats – oder zu deren grundlegender Neubestimmung.

Schauen wir, was da auf dem syrischen Schlachtfeld zusammenläuft: Continue reading “Syrien – Gipfel der Souveränität.” »

Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?

Das Aktuelle ist schnell benannt: der ukrainische Präsident Poroschenko möchte zusammen mit dem rumänischen Präsidenten Johannis den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Moldawien und der von Moldawien abgespaltenen Dnjesterrepublik (Transnistrien) auftauen, „damit ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität wiedererlangen und Transnistrien re-integrieren kann.“ Er will damit zugleich die von ihm immer wieder beschworene territoriale Einheit der Ukraine wiederherstellen, versteht sich.

Wenige Tage vor dieser Ankündigung hatte Poroschenko den ehemaligen Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, bekannt für seinen provokativen Kriegskurs gegen Russland 2008, als dessen Ergebnis die Enklaven Südossetien und Abchasien zurückblieben, zum Gouverneur des Bezirks Odessa ernannt. „Ich kam nach Odessa, um Krieg zu verhindern“, erklärte Saakaschwili in einem Interview der Deutschen Tagesschau vor wenigen Tagen, konnte sich aber nicht bremsen, sofort dazu zu setzen: „Es gibt den klaren Plan Russlands, die Region zu zerstören.“ ‚Krieg verhindern‘, das heißt für Saakaschwili also unmissverständlich, Russlands ‚klaren Plan‘ zu verhindern. Continue reading “Auftauen, Einfrieren – oder die Zeichen der Zeit wahrnehmen?” »