Schlagwort: Modernisierung

Russland ohne Europa? Auf der Suche nach der „russischen Idee“ – oder ist Russland nationalistisch?

 

Mit der vierten Amtszeit Wladimir Putins tritt Russland in eine neue Phase seiner nachsowjetischen Entwicklung ein. Zweifellos ist Putins Wiederwahl ein Ausdruck davon, dass die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nach wie vor Stabilität sucht. Und nicht zu Unrecht muss das Votum für ihn auch als Votum für eine stärkere Besinnung Russlands auf einen vom Westen unabhängigen eigenen Weg verstanden werden.

Putin wird sich alle Mühe geben, seinem Image als Stabilisator gerecht zu werden, innen- wie auch außenpolitisch. Ebenso klar ist aber auch, dass bloße Stabilität auf Dauer die Identitätslücke nicht füllen kann, in die Russland mit dem doppelten Bruch seiner Geschichte gefallen ist, einmal durch den Sturz des Zarismus in den  Revolutionen von 1905 und 1917, das zweite Mal siebzig Jahre später durch die Implosion der Sowjetunion 1991. 

Die Frage ist also: Was geschieht unter dem „westlichen Hut“, den Russland sich aufgesetzt hat? Was für ein Bewusstsein von der Rolle Russlands in der Welt wächst hinter den Fassaden der Modernisierung im Lande, in den Herzen und Köpfen der Menschen heran?

Anders gefragt, in welchen Verwandlungen erscheint heute das, was früher die „russische Idee“, danach siebzig Jahre lang die sowjetische Idee genannt wurde?

Noch anders: Was ist von westlichen Anwürfen zu halten, in Russland entwickle sich ein aggressiver Nationalismus?

Erlauben Sie mir zu diesen Fragen einen persönlichen Einstieg.

 

Ein Buch erscheint  

Passend zu der erneuten westlichen Medienkampagne gegen Russland nach den Wahlen zur russischen Präsidentschaft und wie gerufen zu meinem Text „Europa ohne Russland?“[1], der soeben erschienen war, wurde mir über meine Website ein Buch avisiert mit dem Hinweis, dass mich die in diesem Buch entwickelten Perspektiven eines eigenen russischen Weges vielleicht interessieren könnten.

Absender der Mail: Verlag Hagia Sophia mit dem Namenszusatz: „Philosophia Eurasia“;  Titel des Buches: „Das Zivilita-Gestirn“, Autor W.S. Milowatskij.[2]

Die Umstände, unter denen das Buch bei mir auftauchte, reichten aus, mich neugierig darauf werden zu lassen, ob aus ihm Hinweise für die zukünftigen Beziehungen Russlands zu sich und zu Europa und der Welt zu gewinnen sein könnten.

Das Buch, als es bei mir eintraf, erwies sich als Übersetzung aus dem Russischen mit einem extrem globalisierungskritischen Vor- und Nachwort des in Deutschland lebenden orthodoxen Erzpriesters André Sikojew, vor dem sich die hierzulande gewohnte Links-rechts-Radikalität fast pausbäckig ausnimmt. Das Buch erschien ursprünglich 2015 bei der „Gesellschaft zum Gedenken der Äbtissin  Taissija“, St. Petersburg, also bei einem kirchlichen russischen Herausgeber. Der Verlag „Hagia Sophia“, der das Buch jetzt in Deutschland herausbrachte, bezeichnet sich selbst als Nischenverlag, dessen Anliegen es sei, russische Philosophie, Tradition und die Ansätze zur Erneuerung russischer Identität aus orthodoxer Sicht deutschen Lesern bekannt zu machen und neue Wege der Krisenbewältigung aufzuzeigen.

Autor Milowatskij, von Haus aus Biologe, Philosoph und Historiker steht fest in der Denktradition des bekannten sowjetischen, international anerkannten  Naturwissenschaftlers und Ökologen Wladimir Wernadskij (1863 bis 1945), aus dessen Forschungen zur Biosphäre und der sich durch die geistige Tätigkeit des Menschen daraus erhebenden Noossphäre als sich selbst steuernder planetarischer Gesamtheit die in den sechziger Jahren im Westen entwickelte Gaia-Theorie des „New Age“ hervorging.[3] Ausführlich zitiert Milowatskij aus Wernadskijs Arbeit „Biossphäre und Noossphäre“ [4]:

„Der Mensch verstand zum ersten Mal  real“, schrieb Wernadskij, „dass er Bewohner eines Planeten ist, und unter einem neuen Aspekt denken und wirken kann – ja muss – nicht nur unter dem Aspekt einer Einzelpersönlichkeit, einer Familie oder eines Stammes, eines Staates oder seiner Bündnisse, sondern auch unter planetarischem Aspekt gerade im Lebensbereich, in der Biossphäre, in einer bestimmten irdischen Hülle, mit welcher er untrennbar, gesetzmäßig verbunden ist, und aus welcher er nicht heraustreten kann. Ihre Funktion ist seine Existenz. Er trägt sie überall mit sich.“ (Hervorhebungen von Milowatskij) (S. 70, siehe Anm. 2)

Weitere Bezugsgrößen Milowatskijs sind die Klassiker der “Russischen Idee“ von Fjodor Dostojewskij bis Leo Tolstoij. Das Buch stützt sich im Übrigen demonstrativ auf wissenschaftliche, historische und auch geistliche Quellen aus Ost und West. Leider geht gleich zu Beginn des Buches, wenn auch nur aus einer Fußnote in der Einführung durch den Erzpriester Sikojev auch hervor, dass die „eurasische Schule“ Alexander Dugins[5], die Sikojev  als „wichtigsten Gegenentwurf“ zu den „Exklusivgedanken“ Zbigniew Brzezinskis und Henry Kissingers benennt, ebenfalls zu Milowatskijs Bezugsgrößen gehört. ‚Leider‘ sage ich, weil dieser Einstieg mit einem im Westen als Putins Rasputin verschrienen Ideologen, sei dies berechtigt oder nicht, den Ausführungen Milowatskijs von vornherein einen Akzent mitgibt, der es schwer macht, die in dem Buch vorgestellten Inhalte unbelastet wahrzunehmen.  

 

Kritik der Globalisierung

Nichtsdestoweniger fordert das Buch fraglos zur Wahrnehmung und Auseinandersetzung heraus, wenn man verstehen will, was sich zur Frage der russischen Identität und der Rolle Russlands in der Welt heute in Russland, sagen wir, in traditionell orientierten Sphären des Landes entwickelt: Vorgestellt werden soll, auf Wernadskijs Forschungen aufbauend, eine zukünftige, ökologisch orientierte  „planetarische“ Welt, welche die gegenwärtig herrschende  Globalisierung und dadurch ausgelöste Nivellierung der traditionellen russischen Kultur durch neue Impulse ablösen könne.

Unter dem Ausdruck „Zivilita-Gestirn“, den Milowatskij an Stelle des von ihm als zu vieldeutig empfundenen Begriffes der Zivilisation einführt, wird Wernadskijs naturwissenschaftlich begründete Vision der Einbindung des Menschen in Biossphäre und Noossphäre zu einer Ordnung verschiedener Kulturräume auf Basis festen Glaubens an die sich selbst steuernde Göttlichkeit von Natur und Welt ausgeweitet. Dabei soll das „Gestirn“ für die Gesamtheit miteinander verbundener „Zivilitae“ stehen.

Unter „Zivilita‘ versteht der Autor eine kommunitäre Großgemeinschaft, in welcher der Einzelne unter der Voraussetzung eines gemeinsamen kulturellen Codes zum Bestandteil eines kollektiven Selbstbewusstseins werde, wo er sozusagen zu seiner ‚Volkheit‘ kommt; ausdrücklich lehnt Milowatskij dabei  eine Einengung der „Zivilita“ auf nur ethnische Kriterien ab. Die „Zivilita“ ist für ihn ein nicht ethnisch und nicht durch Staatsgrenzen definiertes Subjekt der Geschichte, in welchem der einzelne Mensch seinen Platz findet.

Bei all dem bewegt sich das ganze Traktat in Begriffen der Moderne, wie Geozivilisation, Globalisierung, Multipolarität, Modernisierung, Selbstorganisation und dergleichen mehr und macht seine Argumentation immer wieder auch an aktuellen politischen Ereignissen fest.  Soweit gekommen durfte man gespannt sein, ob sich da neue, zukunftsweisende Verbindungen auftun.

 

Das Wesen der „Zivilita“

Lassen wir den Autor selbst zu Wort kommen. Unter der Überschrift „Über das Wesen der Zivilita“ definiert er in einer langen Passage:

„Jeder lebendige Organismus ist notwendig  mit diesem oder jenem Öko-System, mit einer ökologischen Gemeinschaft ‚verbunden‘. Ebenso kann kein sozialer Organismus existieren, ohne zu diesem oder jenem sozialhistorischen oder kulturellen Supersystem zu gehören.

Das Hauptmerkmal der Zivilitae besteht darin, dass es sie gibt!

Das Menschengeschlecht kann nicht einfach ein Aggregat von einfachen Individuen sein; nicht eine triviale Masse oder irgendeine Herde, gesichtslos und amorph. Es (so im Buch! – ke) verfügt über viele Gesichter und hat seine besonderen Formen der Existenz. Die Zivilitae sind die größte und komplizierteste Form seiner Selbstorganisation. Etwas ausführlicher: Die Zivilita ist eine planetare kulturhistorische Gesamtheit, welche (oft informell) eine größere Gruppe von Ländern umfasst, die nach einem Paradigma leben. Diese Gesamtheit hat gewöhnlich keine exakten Grenzen, keine gemeinsame Verfassung und überhaupt keinerlei einheitliche Sammlung von Gesetzen. Sie ist eingefügt in eine bestimmte geographische Zone und in der Regel gebunden an diesen oder jenen Kontinent! Die ganze Menschheit ist organisiert in Gestalt von etwa fünf bis sieben Haupt-Zivilitae: In die Russische, Westeuropäische, Chinesische, Indische, Lateinamerikanische und die Afrikanische. Es existieren abgesondert einige Zivilisationen, welche nur ein Land darstellen: Die Japanische und Israelische. Wir rechnen sie nicht den Zivilitae zu: Sie haben keinen planetaren Charakter. Es gibt auch Länder, welche weder zu den Zivilitae noch zu den Zivilisationen gehören:  Sie sind dafür noch nicht reif.

Die Zivilitae werden durch ein persönliches Prinzip charakterisiert, man könnte sie auch katholische (griech. Gemäß dem Ganzen – allumfassende) Persönlichkeiten (Hervorhebung durch W.S. Milowatskij ) nennen, die in sich Millionen Personen bergen, die nur im Rahmen dieser Einheiten sich voll realisieren, darin schöpferisch fruchtbringend, geistig unbeirrt und wahrhaftig existieren können.

Diese allumfassenden Persönlichkeiten lassen sich nicht künstlich konstruieren – sie entstehen und entwickeln sich im Gang der Geschichte auf natürliche Weise, organisch wachsend, wie ein lebendiger Organismus. Wie jede Persönlichkeit haben sie ihr eigenes Gesicht, ihren eigenen Charakter und ihr Selbstbewusstsein.

Die Zivilitae sind untereinander unvermischt (Hervorhebung durch den Autor). Wie auch die Tierarten – das ist eine ihrer fundamentalen Eigenschaften. Sie müssen auch unvermischt bleiben, andernfalls verlöre  ihre Existenz den Sinn – der Kernpunkt liegt gerade darin, das sie abgesondert und unterschieden sind.“ (S. 35/36, siehe Anm. 2)

 

 Eingängige Worte…

Die Welt sei heute auf dem Weg, so Milowatskij weiter, sich zu einem Konzert der unterschiedlichen ‚Zivilitae‘ zu entwickeln, eben das „Gestirn“. Bei aller Verschiedenartigkeit seien die einzelnen Kultureinheiten doch nach gleichen Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die sich aus ihrem „planetarischen“ Wesen ergäben. Das sind nach Milowatskij, ohne hier ins Detail gehen zu wollen: „Verschiedenartigkeit“, „Selbstbewusstsein“ als besondere kulturelle Einheit, „Kontinentalität“, „gemeinsames Paradigma“ aller in einer „Zivilita“ lebenden Individuen, Vorrang des geistigen Kernbestandes vor der Ökonomie, dauernde „Entwicklungsdynamik“, Austausch und Kooperation über spezielle „Brücken“ bei bewusster Bewahrung des eigenen Charakters.

Jede „Zivilita“, so Milowatskij, verfüge über eine eigene Struktur: „Kern, Thesaurus, Korpus, Peripherie und Grenze.“: Im Kern werde „das Kulturelle, Religiöse, Politische und Industrielle zentriert“. Im Thesaurus seien „die sakralen Schriften enthalten, die das zivilitane Selbstbewusstsein formieren“. Der Korpus erstrecke sich „weit über die Grenzen des Kerns, wird aber durch den Thesaurus definiert. Die Peripherie stehe Wache „für die Ganzheit der Zivilita“. Ihre Grenzen, so Milowatskij schließlich, „fallen nicht mit  den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch  das Anziehungsvermögen des Kerns (Hervorhebung durch Milowatskij), durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

Für den russischen Thesaurus zählt Milowatskij auf: „Das Evangelium, die Heldensagen, das ‚Wort‘ des Ilarion, die Nestor-Chronik, die Stadt Kitesch, Sergij von Radonesch, das Kulokowo-Feld, die Entschlafungs-Kathedrale des Kreml, die Stadt des heiligen Apostels  Peter (Sankt Petersburg), Puschkin, ‚Krieg und Frieden‘ von L. Tolstoij, Stalingrad.“ Vieles mehr gehöre noch dazu, aber man müsse ja Maß halten. Der Korpus erstrecke sich vom Ladogasee, über Kiew, Dnjepr, Groß-Nowgorod, , Don und Wolga, Pskow,  Kasan und Ural, und Sibirien selbstverständlich – dies alles sind Namen unseres  heiligen russischen Korpus…Kamtschatka, Tundra, Asiatische Steppen usw. – das ist die Peripherie.“  Aber auch der Kaukasus, das Altai-Gebirge, Wladiwostok stünden Wache für die Ganzheit  der „Zivilita“. Schwierig sei es, Grenzen zwischen dieser und jener Zivilita zu ziehen. „Aber es gibt sie. Bei weitem fallen sie nicht mit den staatlichen zusammen. Die Grenzen der Zivilita werden bestimmt durch das Anziehungsvermögen des Kerns, durch sein Charisma und seine geistige Stärke.“

In gleicher Weise, wenn auch nicht so ausführlich werden die nichtrussischen „Zivilitae“ charakterisiert, die westeuropäische etwa durch die King-James-Bibel, die „Principia“ von Newton, die Werke von John Locke und Adam Smith, die Texte von Lincoln und Darwin, die chinesische Zivilita durch Konfuzius, die islamische durch den Koran usw.

Man könnte versucht sein, in diesem Ansatz – bereinigt von religiösen Überhöhungen und einseitigen Zuweisungen – eine Perspektive zu suchen, die über eine bloße Wiedergeburt russisch-orthodoxer, selbst eurasischer Traditionslinien hinaus tatsächlich in einen Raum des Miteinanders kultureller Großräume zielt – wenn, ja, wenn die berechtigte Kritik an den Auswüchsen der gegenwärtigen ökonomisch dominierten Globalisierung am Ende nicht unter Überschriften wie „Die sich überhebende Zivilita“ (gemeint ist Europa – mit Nordamerika und Australien) oder „Planetarität statt Globalismus“ als „Konfrontation zweier Strategien“ auf eine prinzipielle Ebene gehoben würde (Gemeint ist Eurasien ohne Westeuropa contra USA/‘Westen‘). Auf dieser Ebene reduzieren sich am Ende all die schönen Worte von gegenseitiger Anregung der Kulturen auf eine grobe Kampfansage gegen „den“ westlichen „Kulturimperialismus“, gegen „den“ Liberalismus, gegen ein von den USA geführtes „aggressives“ und „hedonistisches“ Europa und schließlich gegen „die Pest der Homoehen usw.“

Im „planetarischen“ Kampf gegen „den“ Liberalismus, wie er gegen Ende des Buches immer deutlicher hervortritt, mutiert der Mensch unversehens wieder zum Gefangenen eines dogmatischen Kollektivismus, von dem er soeben mit modernistischen Vokabeln befreit werden sollte. Vergeblich sucht man Aussagen dazu, wie das planetarische Selbstbewusstsein der „Zivilita“ sich zum Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen verhält. Von Selbstbewusstsein des Einzelnen ist keine Rede. Nicht die Befähigung des Menschen zu  freier Selbstbestimmung, eingebettet, versteht sich, in kooperative Gemeinschaft erweist sich als Ziel der „planetarischen“ Vision, wie man eingangs des Traktates als Lehre aus dem dogmatischen Kollektivismus der Sowjetzeit noch erwarten durfte, sondern die Einordnung des einzelnen Menschen in den Code seiner „Zivilita“, für deren Entwicklung und Erhaltung er eintreten müsse. „Das ist“, so fasst Milowatskij in den letzten Zeilen des Traktates sein „Fazit“ zusammen  „sozusagen unser planetarischer ‚Gehorsam‘.“ (Hervorhebung durch – Milowatskij)

 

Der Duginsche Kontext

Unverkennbar, wenn auch im Text nicht offengelegt, tritt hier nun auch der in der Anmerkung des Erzpriesters Sikojev eingangs nur angedeutete Duginsche Kontext hervor, allerdings weniger in seinen geopolitischen Dimensionen als in den ihnen zugrundeliegenden ideologischen Positionen. Schauen wir ein bisschen genauer, was das bedeutet: „Indem wir verstehen, was der Feind am meisten fürchtet“, schreibt Dugin in seinem ideologischen Hauptwerk „Die vierte politische Theorie“[6], in welchem er dem Liberalismus als der siegreichen Ideologie der Moderne den „eschatologischen“, also endzeitlichen Kampf ansagt, „schlagen wir die Theorie vor, daß jede menschliche Identität akzeptabel und berechtigt ist, außer der des Individuums. Der Mensch ist alles andere als ein Individuum. …Der Liberalismus muss besiegt und vernichtet, das Individuum  von seinem Piedestal  herabgeholt werden.“ (S. 53, siehe Anm. 5)

Und weiter fragt Dugin unter der Prämisse, dass die „Vierte politische Theorie“ das Brauchbare“ (S. 49, siehe Anm. 5) von Kommunismus, Faschismus und Liberalismus nach Eliminierung ihrer Fehler nutzen müsse: „Könnten wir irgendetwas dem Liberalismus entnehmen – eben diesem hypothetisch besiegten  und desorientierten Liberalismus?“ und antwortet: „Ja, es ist die Idee der Freiheit“, setzt aber gleich hinzu: ,Der Unterschied besteht darin, dass diese Freiheit als eine menschliche aufgefasst wird und nicht als Freiheit für das Individuum …  In die Gegenrichtung sich bewegend, kam das europäische Denken, zu einem anderen Schluss: „Der Mensch (als Individuum) ist ein Gefängnis ohne Mauern“ (Jean Paul Sartre); in anderen Worten, die Freiheit eines Individuums ist ein Gefängnis. Um eigentliche Freiheit zu erlangen, müssen wir die Grenzen des Individuums  überschreiten. In diesem Sinn ist die Vierte politische Theorie eine Befreiungstheorie, die jenseits des Gefängnisses in die Außenwelt vordringt, wo die Geltung der individuellen Identität endet.“ (S. 54, siehe Anm. 5)

Menschlich statt individuell – bemerkenswert! Aber es kommt noch deutlicher: Unter der Überschrift „Die neue politische Anthropologie: Der politische Mensch und seine Mutationen“ fügt Dugin hundert Seiten später hinzu: „Was der Mensch wird, wird nicht von ihm als Individuum, sondern von der Politik abgeleitet.  … Wir glauben, wir seien ‚causa sui‘, Selbstursache, und finden uns nur dann in der Sphäre der Politik. Es ist aber die Politik, die uns formt.“ Und weiter:  „Die anthropologische Struktur des Menschen wandelt  sich mit dem politischen Systemwechsel. … Am Pol der Moderne haben wir ja das rationale, autonome Individuum; am anderen Pol ein Teilchen eines bestimmten ganzheitlichen Ensembles.“ (S.185 …)

Hier wird der von Milowatskij zitierte Satz Wernadskijs, wonach die Biosphäre die „bestimmte irdische Hülle“ sei, aus welcher der Mensch nicht heraustreten könne, von Dugin noch weiter überdehnt als schon von Milowatskij und gleich darauf noch einmal weiter, wenn Dugin für die von ihm reklamierte „Post-Anthropologie“ schließlich die Vision einer „Angelopolis“ entwirft, in der „die Sphäre des Politischen beginnt, kontrolliert zu werden durch und begründet zu werden auf der Konfrontation zwischen übermenschlichen Wesen. Das sind Wesen“, so Dugin, „die weder menschlich noch göttlich sind (oder überhaupt nicht göttlich). ‚Angelopolis‘ besitzt ein enormes Potential, politische Rollen zu verteilen, ohne Menschenartige und Post-Menschenartige einzubeziehen. … Es gibt wirklich eine Kommandozentrale in der Post-Politik. Es gibt Akteure, und es gibt Entscheidungen, aber sie sind in der Postmoderne völlig entmenschlicht. Sie sind jenseits aller anthropologischen Rahmen.“ (S. 192)

Vor dem Hintergrund dieser Positionen gewinnt der von Erzpriester Sikojev nur unter dem Stichwort der Geopolitik erwähnte Duginsche Kontext eine nicht mehr zu übersehende ideologische Dominanz, unter deren Druck die Vision des „Zivilita-Gestirns“ endgültig ihre planetarische Unschuld verliert und auf schlichten orthodoxen antiliberalen Kollektivismus zusammenschrumpft, soweit sie nicht in den geopolitischen Feinderklärungen Duginscher Prägung steckenbleibt. Für eine Erneuerung  der russischen Identität in gegenseitiger Befruchtung verschiedener Kulturen, insbesondere der europäischen und russischen, und die gegenseitige Förderung unterschiedlicher Kulturräume wie im Ansatz versprochen war, bleibt da nichts übrig. Eher schon ist sie geeignet, wenn solche Ideen denn aufgegriffen werden sollten, zu einer wachsenden Entfremdung und zu Spannungen zwischen den Kulturen beizutragen.  

 

Der rationale Gegenentwurf

 Hier angekommen wird es Zeit nach rationalen Gegenentwürfen Ausschau zu halten. Auch hier möchte ich zunächst noch einmal persönlich einsteigen, diesmal allerdings mit einem Griff in die Erinnerung.

Zu sprechen ist von Prof. Igor Tschubajs, nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Anatoly Tschubajs, der als radikaler ‚Westler‘, als „Oberprivatisierer“ das absolute Hassobjekt der russischen Bevölkerung wurde.

Igor Tschubajs lernte ich im Jahr 2000 bei Forschungen nach der russischen Re-Orientierung als Professor an der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau kennen, wo er dabei war eine Fakultät für „russische Studien“ aufzubauen.  Er wollte „russische Studien“ als Unterrichtsfach in die neue Bildungspolitik zur Neu-Entwicklung der „russischen Idee“ einführen.

Tschubajs erklärte mir damals, dass die neue Macht, das war der soeben angetretene Wladimir Putin, nicht begriffen habe, worum es eigentlich gehe, nämlich, dass man sich heute mit dem Problem des doppelten Bruches beschäftigen müsse, der in der russischen Geschichte zum einen durch den Eintritt des Sowjetstaates, zum zweiten durch dessen Zusammenbruch vor sich gegangen sei. Er erklärte, dass man die Sowjetunion als Bruch der russischen Geschichte verstehen müsse, weil sie die Kontinuität der russischen Staatlichkeit grundsätzlich zerstört habe, dass man nach dem jetzigen erneuten Bruch also zurückgreifen müsse auf die staatlichen und kulturellen Wurzeln vor der Sowjetunion. Allerdings dürfe man dabei nicht in die Vergangenheit zurückgehen wollen, sondern müsse an den Entwicklungsimpulsen anknüpfen, die damals von den Bolschewiki abgerissen worden seien. Tschubais vertrat diese Theorie unter dem Stichwort der „Wiederherstellung der Kontinuität“ der russischen Entwicklung, die unter scharfer Kritik des durch die Sowjetpolitik verlorenen Jahrhunderts in die heutige Moderne geführt werden müsse.[7]

Nach Dugin befragt, der damals auch von „Wiederherstellung der Kontinuität“ sprach, antwortete Tschubajs: „Wenn Dugin und seine Parteigänger von ‚Kontinuität‘ sprechen, so wollen sie, soweit ich das verstehe, in vielem das alte Russland wiederherstellen, das damals existierte. Aber das zu bewirken ist nicht möglich und nicht nötig, denn Russland war ein Imperium, Russland war mit Eroberungen befasst. Russland betrieb eine expansive Politik bei gleichzeitiger Vereinheitlichung. Das ist heute absolut unnötig und unmöglich“[8]

Inzwischen hat Tschubajs sechs umfangreiche Bücher zu diesen Fragen veröffentlicht, die zum Teil im englischsprachigen Ausland herausgegeben wurden. Er ist auf einer schwer zu verstehenden Zwischenspur zwischen Rückwendung in die vorsowjetische Zeit und Übernahme der westlichen Moderne angekommen – unter Rückgriff auf die Spur der beginnenden kapitalistischen Entwicklung des zaristischen Russlands, die, so seine Sicht,  durch die Sowjets unterbrochen und geschädigt worden sei.

 

Definitionen

Lassen wir auch Igor Tschubaijs selbst zu Wort kommen. Die folgenden drei Statements, sind einem kleinen Traktat für den „Hausgebrauch“ entnommen, in dem er unter dem Titel „Wie wir unser Land verstehen sollen“ [9] versucht Begriffe zu klären und Bewusstsein für russische Kontinuität zu schaffen:

  • Zu den Grundlagen der „russischen Idee“:

„Die Werte, auf denen sich unser Staat im Laufe vieler Jahrhunderte ausformte, sind die Orthodoxie, die Sammlung der russischen Länder, und der dorfgemeindliche Kollektivismus. Bei jeglichem Volk gehört zur nationalen Idee auch seine Sprache, bei uns natürlich die russische.“

  • Zur Krise der „russischen Idee“:

„Wie wir sagten, hat Russland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem es das größte Staatsgebilde der Welt errichtet hatte, einen sehr günstigen entwickelten Zustand erreicht. Und in diesem Moment zeigte sich, dass das Fundament des Gebäudes von Erosion bedroht war. Alle drei Dimensionen der russischen Idee gerieten gleichzeitig in eine Krisenzeit und machten Reformen notwendig. Die Dorfgemeinde störte die Entwicklung des Agrosektors, die Sammlung der russischen Länder hatte sich erschöpft und die Orthodoxie geriet, wie das gesamte europäische Christentum, in Konflikt mit der Herausforderung des Atheismus.“ (Hervorhebung durch Tschubaijs)

  • Zur heutigen Situation:

„Siebzig sowjetische Jahre haben Russland aus der europäischen und Weltgeschichte herausgebrochen, aus dem natürlichen Fluss der Zeit gerissen. Und deshalb kommt der unsinnige Streit, ob wir Europa, ob wir Eurasien, ob wir Asiopa sind, nicht zur Ruhe. Tatsächlich ergänzen die beiden europäischen Traditionen einander, aber die Erben des Westlichen Roms und des Östlichen Roms haben ihre je eigene Besonderheit. Darüber kann man nachdenken.“

Aus dieser Position zwischen den Zeitbrüchen erklärt sich die ganz und gar zwittrige Lage, in die Tschubaijs gekommen ist, einerseits an die russische vorrevolutionäre Tradition anknüpfen, andererseits das heutige Russland an die heutige Westlichkeit anschließen zu wollen. Folgerichtig demonstrierte er anlässlich der Wahlen 2012 zusammen mit der liberalen Opposition gegen die Politik Putins, ging dafür sogar für 24 Stunden in Arrest. Damit steht er auf der Seite der liberalen Putingegner. Andererseits wurden seine Schriften auch von liberaler Seite aus ins Abseits gedrängt. Liberale Gazetten verweigerten Besprechungen zu seinen Büchern, liberale Lehrstühle  verschlossen sich ihm. Im Ergebnis all dessen wurde das von ihm begründete „Zentrum für Russlandforschung“ geschlossen. Ein Lehrbuch zur „Vaterlandskunde“ für den Schulunterricht und entsprechende Praxis blieb ein regionales Ereignis usw. Die Liste seiner immer wieder versuchten Ansätze ist lang.

Mit seinen Vorstellungen einer „Russischen Schule“ oder „Russlandkunde“ sitzt Tschubaijs zwischen allen Stühlen – nicht einverstanden mit der herrschenden Macht, nicht einverstanden mit romantisierenden, klerikalen Traditionalisten, nicht einverstanden mit rückwärtsgewandten neo-sowjetischen Nostalgikern, aber auch nicht mit der pro-westlichen liberalen Opposition. Aber zuversichtlich beschließt sein kleines Traktat für den „Hausgebrauch“ mit den Worten: „Die wiedererstandene und reformierte Russische Idee, das ist Historismus, Umgestaltung, Geistigkeit, Sittlichkeit und Demokratie. Kehren wir doch nach Russland zurück…Alles fängt erst an. Wir werden es schaffen.“

 

Bruchlinien

Betrachtet man die beiden hier skizzierten Ansätze, dann stellt sich die Frage: Wo ist die „russische Idee“ also heute gelandet? Da ist Tschubajs in einem vorbehaltlos zuzustimmen: Russland lebt gegenwärtig in Brüchen, mehrere Etappen der Geschichte existieren gleichzeitigen neben-  und miteinander. Für jeden ist etwas dabei, für die Vertreter eines „Zivilita-Gestirns“ ebenso wie für Sowjetnostalgiker, für Traditionalisten wie für „Westler“, für Machtpragmatiker wie für Anarchisten. Russland ist heute, entgegen dem äußeren Anschein, eine durch und durch uneinheitliche, plurale Gesellschaft, immer noch auf der Suche nach sich selbst – bis hinein in die neue Klassenwirklichkeit, die Spaltung zwischen Stadt und Land, die unterschiedliche Entwicklungen der Regionen und Religionen des Landes.

Insofern ist es vollkommen sinnlos von einem russischen Nationalismus, einer Gleichschaltung, einer Diktatur Putins oder dergleichen reden zu wollen.

Alle Versuche eine neue „russische Idee“, gar eine nationale Idee aus dem Boden stampfen zu wollen, sind bisher gescheitert: Das betrifft den von Jelzin seinerzeit eingerichteten „Wettbewerb“ zur Entwicklung einer „nationalen Idee“ ebenso wie die frühen Versuche Dugins und der mit ihm verbundenen nationalistischen Kreise. Allein Dugins „eurasischer“ Ansatz hat eine gewisse Basis in der Politik gefunden, allerdings von Putin pragmatisch reduziert auf die Reorganisation der russischen Staatlichkeit im eurasischen Raum, ohne die mystischen Ideologisierungen, die Dugin darauf aufgebaut hat.

So wundert es auch nicht, dass Dugin 2014 – nach vorübergehender Nähe zur Macht‘ – angestoßen von Protesten der universitären Öffentlichkeit gegen nationalistische Entgleisungen von ihm im Ukraine-Konflikt, von seiner Professur an der Lomonossow Universität suspendiert wurde

Tatsächlich ist Russlands Politik – nur scheinbar im Widerspruch zur  kollektivistischen Tradition des Landes – durch und durch personalistisch. Es ist eher so: Wenn sich etwas durch die russische Geschichte zieht, dann ist es diese personalistische Struktur, die Spontaneität und Zentralismus immer wieder in Polarität miteinander verbindet. Stichwort: Guter ‚Natschalnik‘, also: Chef, gute Sowchose, guter Zar, gutes Russland. Schlechter ‚Natschalnik‘, schlechte Sowchose, schlechter Zar, schlechtes Russland. Guter Putin, gutes Russland, schlechter Putin, schlechtes Russland. Auf den Westen fixierte Kritiker subsumieren das gern alles unterschiedslos unter Korruption. Die gibt es, zweifellos, und nicht zu knapp, und natürlich liegt hier auch die Gefahr der Willkür, bis hin zu despotischer Selbstherrlichkeit der ‚Macht‘, die sich aus der anarchischen Grundstruktur der Gesellschaft speist. In eben dieser anarchischen Grundstruktur liegen aber auch Russlands Qualitäten – die Priorität des Menschlichen vor dem Rechtlichen.

Wenn dieses Russland nun nach Europa schaut, dann sieht es dort einen Verfassungsstaat, eine Vertragsgesellschaft. Der Rechtsstaat, die deutsche Pünktlichkeit fasziniert die russische Bevölkerung – und schreckt sie zugleich ab. Russlands Stabilität, das Lebensgefühl der in Russland lebenden Menschen steht und fällt mit dem guten (oder schlechten) Natschalnik‘. Anders gesagt, russische Demokratie ist nicht formal; russische Demokratie kommt aus der Person, aus dem Herzen – oder sie kommt nicht.

In dieser Sphäre liegt auch die geradezu instinktive Ablehnung der von der EU oder einzelnen europäischen Staaten ausgehenden Menschenrechtsmahnungen als Menschenrechtelei. Das kann man gut finden oder nicht; es ist einfach ein Ausdruck der unterschiedlichen Paradigmen, in denen die Menschen leben. Darin ist den russischen Kritikern eindeutig zuzustimmen, auch wenn das orthodoxe Motto ‚Moral statt Recht‘ für Menschen mit europäischer Sozialisation schwer zu verstehen ist. Man könnte aber auch voneinander lernen und miteinander Fähigkeiten entwickeln, die über die starre Polarität hinausführen,  statt sich nur voneinander abzugrenzen und sich in feindlicher Frontstellung zu versteifen.

Die gegenwärtige Sanktionspolitik der EU mit Rückenwind der USA, die sich als menschenrechtlich darstellt, wird in Russland jedenfalls nicht als ein Zugewinn an Recht, sondern als das genaue Gegenteil, als die Zunahme von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, als Abbau persönlichen Vertrauens wahrgenommen. Da verkehren sich die Werte, und aus möglicher Kooperation zum gegenseitigen Nutzen wird eine schroffe Abwendung.

Blickt man von Moskau aus nach China, dann ist das entgegen dem, was vom  Westen aus gegenwärtig wahrgenommen wird, für die russische Mentalität, für die Menschen Russlands noch weniger akzeptabel als das, was sie von westeuropäischer Seite erleben. Die steife Ritualisierung und Dogmatisierung chinesischer Politik, chinesischer Kultur – auch in ihrer aktuellen Xi Jinping Variante – ist dem anarchischen, dem personalen Charakter der russischen Mentalität vom tiefsten Wesen her fremd. Insofern ist über ein strategisches Bündnis hinaus kein Zusammenwachsen der chinesischen und der russischen Kultur zu erwarten – wenn nicht über die Vermittlung durch die europäisch-westliche Kultur, die in ihrer Rechtsförmigkeit, aber zugleich doch auch Beweglichkeit das steife Chinesische und das anarchische Russische in einen Ausgleich bringen könnte.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

 

Siehe dazu das Buch:

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

(zu beziehen über den Buchhandel oder den Autor: www.kai-ehlers.de)

 

[1] www.kai-ehlers.de: „Europa ohne Russland?“

[2] W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn. Traktat über die Planetarität der Menschheit und das Projekt Gottes in der Geschichte. Mit einer Einleitung und einem  Nachwort von Erzpriester André Sikojev, Edition Hagia Sophia, Philosophia Eurasia 3, Wachtendonk, 2018

[3] Peter Krüger, W.I. Wernadskij, Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 55, Teubner Verlagsgesellschaft, 1881

Außerdem: Kai Ehlers, Sowjetunion – mit Gewalt zur Demokratie?, Galgenberg, Hamburg 1991, Exkurs S. 39

[4] W.I. Wernadskij, Biossphäre und Noossphäre, Moskau 2013, S. 262 zitiert nach W.S. Milowatskij, Das Zivilita-Gestirn, S. 70

[5] In der Anmerkung  zu Beginn seiner Einführung schreibt Sikojev u.a.:

Brzezinskis geopolitischer Klassiker The grand chessboard – American Primary  and its geostrategic  Imperatives (1977) trägt im deutschen Untertitel Amerikas Strategie der Vorherrschaft (2015) . Henry Kissingers „World Order“  ist demselben monopolaren  imperialistischen Raumdenken geschuldet, auch wenn  Kissinger  sich sehr viel mehr  als sein politischer Vorläufer wissenschaftlich fundiert  und kritisch reflektiert mit den eigenen Ansprüchen auseinandersetzt.  Beide Fundmentalwerke der Geopolitik  sind bis heute aktuell, zumindest  für das Verständnis  der zentralen  Euro-Atlantischen  Machtstrukturen und ihre Handlungsführer.

Den wichtigsten Gegenentwurf zu diesem anglosächsischen auf dem Exklusivgedanken  der Auserwähltheit  der westlichen Zivilisation  aufgrund des finanzökonomischen Erfolgs ihres Wirtschaftsmodells beruhenden – lieferte die Eurasische Schule A.G. Dugins mit den Grundlagen des Eurasiertums (Moskau 2002), Geopolitik (Moskau 2011) und Geopolitik Russlands (Moskau 2012)

[6] Alexander Dugin, Die vierte politische Theorie, ARKTOS, London 2013, S. 53/54

[7] Kai Ehlers, Themenheft 9, Sommer 2000: ‚Priemstwo‘ – Akzeptanz.  Russland auf dem Weg zu sich selbst. Gespräche über die russische Idee.

[8] ebenda

[9] Igor Tschubais, Wie wir  unser Land verstehen sollen, Shaker media, 2016, aus dem Russischen  Arsis Books, 2014. Zitate: S. 17, 29, 70

Putins Wahlsieg – Signal für ein Russland nach Putin?

In Russland wurde gewählt. Was zu erwarten war, ist eingetreten: eine überwältigende Mehrheit für Wladimir Putin.

In Zahlen: 76,69 % für Putin, 11,77 % für seinen sozialistischen Herausforderer Pawel Grudinin , 5,65 % für den ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski; die restlichen Kandidaten und Kandidatinnen fielen weit unter die 5% Marke. „Korruptionsjäger“ Alexei Nawalny scheiterte mit seinem Boykottaufruf. 

Die Botschaft der Wahl ist unüberhörbar:  Stabilität, Sicherheit, keine Revolution, nicht einen Weg zurück, keine Abenteuer voran, alles wie gehabt. Ruhe ist der erste Wunsch des nachsowjetischen Menschen. Wär‘s nicht  nachweislich ein russisches – es könnte ein deutsches Wahlergebnis sein.

Und doch, wer glaubt, dass alles so weitergehen werde wie bisher, irrt sich. Der Sieger selbst versprach Veränderungen für den Fall seiner erneuten Präsidentschaft: Entbürokratisierung, Wachstum der Wirtschaft, Reformen im Sozialen. Und er versprach diese Veränderungen nicht nur; mit rigider Umbesetzung von Ämtern traf er schon im Vorfeld der Wahl  Vorsorge dafür, das Notwendige auch durchsetzen zu können, was er jetzt vornehmen muss, denn das ist klar: das Votum des Wahlsieges bekam er zwar für die von ihm verfolgte Politik der Stabilität, aber ewige, zudem noch autoritäre  Stabilität muss letztlich enden – in Stagnation.

Die drohende Stagnation ist wohl die größte Herausforderung  für  den in seinem Amt bestätigten Präsidenten, außenpolitisch wie auch innenpolitisch.

Außenpolitisch sind weitere Erfolge wie die Eingliederung der Krim, die Teilbefriedung Syriens, das Bündnis mit China zurzeit kaum vorstellbar. Die Welt hat sich im Status quo festgefahren. Russlands,  konkret Putins Rolle darin ist die des Krisenmanagers. In dieser Frage kommt zurzeit niemand an ihm vorbei, aber Entwicklungsperspektiven sind darin kaum erkennbar, außer der von Putin in seiner kürzlich gehaltenen Rede an die Nation deutlich demonstrierten Bereitschaft Russland gegen jedwede zukünftige Angriffe zu verteidigen.

Innenpolitisch stehen für Russland lange vernachlässigte Reformen an. Das beginnt mit so banalen, aber drängenden Themen wie der nationalen Müllbeseitigung, geht über das Wohnungsproblem, die  Zweiklassenmedizin, marode Infrastrukturen bis hin zu einer krass auseinander klaffenden Schere zwischen arm und reich.

Mit Blick auf die innere Entwicklung hat Putin vor der  Wahl starke Aussagen gemacht, Kräfte der Selbstorganisation stärken zu wollen. Sein Aufruf an die Kandidaten nach der Wahl, die Kräfte zu bündeln, geht in die gleiche Richtung. Solche Töne in Verbindung mit der Ankündigung sozialer Reformen könnten von der russischen Bevölkerung als Versprechen auf Liberalität und wachsenden Wohlstand verstanden werden. 

Wenn andererseits Wachstum der Motor für Reformen sein soll, bedeutet das mehr sozialen Druck auf die Bevölkerung bis hin zu Vorschlägen aus den Beraterkreisen Putins, um nur ein Problem stellvertretend zu nennen, die Renten zu kürzen, indem das Rentenalter hinaufgesetzt wird.

Kurz gesagt: Putins Programm wird ein Spagat zwischen Modernisierung und sozialen Versprechungen, der auch von einem erfahrenen Kampfsportler, wie er es ist, schwer zu halten sein wird.

Im Land wachsen  zudem die Stimmungen, dass Russland sich nicht weiterhin einfach dem Prozess der kapitalisierenden Globalisierung unterwerfen dürfe, sondern wieder auf einen eigenen Weg finden müsse. Aber unklar ist immer noch, wie dieser aussehen könnte. Alle bisherigen Versuche, einen eigenen Weg zu definieren, sind auf halber Strecke stehen geblieben: So Gorbatschows ökologischer Aufbruch; so Jelzins nationale Idee. Ist Putins Weg nach Eurasien jetzt sinnstiftender?

Nein, es wird keine Ideologie helfen. Entscheidend wird sein, ob Putin es schafft, die Basiskräfte des Landes zu aktivieren – das heißt, Initiativen auf allen Ebenen der Gesellschaft nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Daran wird er gemessen werden. Daran wird sich zeigen, wohin die russische Gesellschaft geht.

Kai Ehlers, www.kai- ehlers.de

 

Siehe das Buch:

Kai Ehlers, Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

Bezug über: www.kai-ehlers.de

 

(Dieser Artikel erschien am 22.03.2018 unter anderer Überschrift und leicht verändert in „Freitag“)

 

 

Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki

Russland geht auf die nächsten Präsidentenwahlen im Jahr 2018 zu. Es gibt eine Stimmung im Lande, die befürchtet, dass den Zeiten der relativen Stabilität nunmehr Zeiten sozialer Probleme folgen könnten, dass Putin die von ihm betriebene Politik des Krisenmanagers, des Lavierens im Konsens zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nicht mehr in der gleichen Weise wie bisher halten könne, dass eine Zeit der Instabilität bevorstehe, die entweder Putin selbst oder einen Nachfolger zwingen könne, zu einer „wirklichen Diktatur“ überzugehen, um die von ihm auf dem Weg der „gelenkten Demokratie“ nach Ansicht seiner Kritiker in Korruption steckenbleibende Kapitalisierung  nunmehr mit Gewalt sauber durchzusetzen. Alexei Nawalny ist hier der Stichwortgeber.

Die provokanteste Position zu diesen Fragen vertritt Boris Kagarlitzki, Russlands prominentester Neulinker, Direktor des Institutes für Erforschung der Globalisierung und der Sozialen Bewegungen. Das Gespräch wurde unmittelbar vor der letzten großen Massendemonstration vom 12.Juni geführt. Continue reading “Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki” »

Russland: Entwicklungsland neuen Typs

Russland und der Westen stehen heute nicht nur in der politischen, sondern auch in der kulturellen Kontroverse. Die westliche Propaganda  betrachtet Russland wie einen unterentwickelten Paria, mit dem auch nur freundschaftlich zu verkehren schon für eine Stigmatisierung und den Verlust eines hohen Amtes ausreicht.

Der folgende Text mag dazu beitragen,  die russische ‚Unterentwicklung‘ von einer anderen Seite her zu betrachten. Er ist heute so wahr wie 2005, als er geschrieben wurde – angesichts der neueren Konfrontationen möglicherweise noch wahrer als zur Zeit seiner Entstehung.

 

Kai Ehlers

 

Mit Jefim Berschin[1] steige ich in die Fragen ein, die sich aus der Einsicht ergeben, dass Russland heute – zum wiederholten Male – zum globalen Entwicklungsland geworden ist, und das nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern im Sinne des wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs – ein Entwicklungsland neuen Typs. In Russland bleibt kein Stein auf dem anderen, auch im mentalen Bereich; es gibt keine Prioritären, keine eindeutigen, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum ‚Kapitalismus‘ oder (zurück) zum ‚Sozialismus‘, zum Christentum oder zum Islam, überhaupt zur Religion oder zum Atheismus usw. Es wirbelt vielmehr alles durcheinander, auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Wechselwirkung der Vielfalt pur!

    Insofern wird Russland erneut – wie schon mehrere Male in der Geschichte – zum  Entwicklungsland in dem Sinne, dass sich im Russischen Raum als Integrationsraum Euro-Asiens die Einflüsse aus allen Ecken der Welt überschneiden und neu gestalten. Das formuliert ja interessanter Weise auch Wladimir Putin. Die Form, die diese Entwicklung unter seiner Ägide zurzeit annimmt, ist höchst unglücklich – eine Wiederauflage des Paternalismus von der Art der Selbstherrschaft, im Wesen aber ist gar keine andere Politik möglich als die der Erneuerung der Integrationskräfte Russlands.

    Das Ringen um neue Ziele, neue Kräfte, neue Methoden der Integration bestimmt das gesamte russische, genauer gesprochen, russländische Leben, also nicht nur das der slawischen Russen, sondern das der Völker- und Kulturgemeinschaft Russlands – nicht zuletzt und im tiefstgreifenden Maße im Bereich der Ethik, Moral und Religion. Ohne neue Ethik kann dieser Raum, können die Menschen dort nicht überleben. In der Vielgestaltigkeit, ja in der chaotischen Vielfalt des Raumes, der aber doch ein Gesamtraum ist, liegt, wie jedes Mal deutlich wird, wenn man sich mit offenen Augen in Russland aufhält, die tiefe Begründung für den ethischen Extremismus, mit dem und in dem die russische Bevölkerung lebt: Nur extreme Besinnung auf moralische Verbindlichkeiten kann den Menschen in diesem offenen Raum, der allen Zentralisierungs- und Isolierungsbemühungen und –phasen zum Trotz immer wieder durch von außen kommende Einflüsse (wie jetzt die Globalisierung) chaotisiert wird, so etwas wie einen Halt, eine Sicherheit, eine Heimat geben.

    Die Heimat der russischen Menschen ist deshalb auch weniger – wie bei uns – die schöne Landschaft oder dergleichen, sondern die russische Kultur, was immer darunter verstanden wird, sind die Werte des Zusammenlebens, die Sprache, die Lieder usw. – letztlich die Moralität von Gemeinschaft, eben deswegen, weil in dieser Weite die Moral einer Gemeinschaft ein besonderes schützenswertes Gut ist, das nicht einfach existiert, sondern gegen die uferlose, grenzenlose Weite hergestellt und bewahrt werden muss. Einfach gesagt: Der europäische Mensch ist froh, einen Platz zu finden, an dem er allein sein kann; in Russland ist man froh, Gemeinschaft zu finden, die einen vor dem Alleinsein und Ausgesetzt-Sein schützt.

    Jetzt sind eben diese traditionellen moralischen Werte, durch die siebzig Jahre des realen Sozialismus zugleich bewahrt und diskreditiert, wieder einmal fundamental in Frage stellt – ähnlich wie zu Zeiten des Mongolensturms, ähnlich wie zu Zeiten Iwans IV., ähnlich wie zu Zeiten der großen Bauernrevolten im 18. Jahrhundert, ähnlich wie zu Zeiten des einbrechenden Kapitalismus und der Revolutionsjahre Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal bricht die Außenwelt in das mühsam zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd des Kontinents hergestellte Gleichgewicht ein – dieses Mal als ‚Globalisierung‘. Wieder einmal muss Russland von Grund auf seine Moral des Überlebens zwischen den territorialen, ethnischen und geistigen Extremen neu definieren. Insofern Russland das Zentrum des euro-asiatischen Kontinentes bildet, der seinerseits die größte Land- und Bevölkerungsmasse des Globus konzentriert, betrifft diese Definition die gesamte existierende Welt. In Maßen war das auch früher so – mit Auswirkungen auf die europäische wie auf die asiatische Entwicklung; heute im Zuge der Entwicklung, ja einer neuen Stufe der Intensivierung des globalen Marktes und damit sich entwickelnder gegenseitiger Abhängigkeiten betrifft diese Definition den gesamten Globus, ob wir wollen oder nicht. Grob gesprochen: Es kann der Welt nicht gleichgültig sein, welche Seite der russischen Wirklichkeit heute auf sie einwirkt – die Brutalität der russischen Mafia oder die Kultur der russischen Gemeinschaftstraditionen, oder, noch exponierter formuliert, die asozialen oder die sozialen Impulse, die aus der Transformation, sagen wir auch ruhig, aus der Modernisierung der russischen Gemeinschaftsethik heute hervorgehen.

    In Russland treffen heute Individualismus und Kollektivismus am härtesten, am schroffsten, im weitesten Maße und im tiefsten Sinne aufeinander; hier werden Neue Formen des Miteinanders von Einzelinteresse und Kollektivinteresse am extremsten ausprobiert, durchlitten, erfunden – auf allen Ebenen der menschlichen Existenz, vom Kindergarten bis zum Tod und bis zu den Vorstellungen vom Leben nach dem physischen Tode. In diesem Sinne ist Russland heute ein gewaltiges Feld schöpferischer Unruhe von globaler Bedeutung, das neue ethische Räume entstehen lässt.

    Jefim Berschin spricht hier geradewegs von Religion, wobei er sich gleichzeitig von bestehenden Glaubensgemeinschaften distanziert: Sein Credo: Gott im Menschen finden. Vom Judaismus über die historischen Glaubensgemeinschaften des Christentums und des Islam zum Ego des heutigen Menschen – dies, meint er, sei Russlands historische Botschaft. Das ist ein großer Entwurf.

    Ich möchte da vorsichtiger sein: Die Elemente einer Wissenschaft von der Transformation, die für mich aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte russischer Geschichte hervortreten – Krise der Pyramide als Gesellschaftsmodell, Erinnerung an das Labyrinth, Selbstorganisation in der Gemeinschaft – öffnen zwar neue mentale Räume, die ohne Zweifel auch über Russland hinaus gültig sind, aber sie sind doch noch nicht mehr als ein Gerüst, an dem neue Vorstellungen entstehen können. Eine neue Ethik ist das noch nicht.

    Vor allem ist es kein Automatismus: Der gegenwärtige Kurs Putins treibt Russlands Entwicklung auf eine neue Weggabelung zu: In seiner TV-Rede zu Beslan[2], deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Wie die Maßnahmen zeigen, die er vor und nach Beslan einleitete, meint er damit ganz offensichtlich nicht „Demokratie“ nach westlichem Vorbild, sondern etwas sehr Russisches, nämlich die Überwindung der gegenwärtigen Smuta, der Großen Unordnung, durch eine patriarchale Konsensgesellschaft. Die Smuta ist der Zustand des ungeordneten Pluralismus zwischen Asien und Europa, in den Russland im Lauf seiner Geschichte immer wieder versunken ist, wenn die Zentralmacht verfiel. In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin macht den Versuch, diese Polarität zu modernisieren, nachdem Gorbatschow sie gekündigt und Jelzin sie ins pluralistische Chaos überführt hatte. Putins gegenwärtige Stärke ist dabei Voraussetzung und Bremse zugleich: Voraussetzung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft, Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen entgegen handelt. Das lässt den angestrebten Konsens zur leeren Geste verkommen. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus verlangt eine ideologische Aufrüstung, zu der die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht motiviert ist.

     Im Ergebnis vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft in eine herrschende politische Klasse auf der einen, eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten zurückzieht auf der anderen Seite. Putin steht vor der Wahl, diese Verweigerung zu akzeptieren oder sie mit Gewalt zu brechen. Sie akzeptieren heißt, den unabgesicherten Weg der Transformation fortzusetzen, dem Kapital die Symbiose mit einer agrarisch orientierten Selbstversorgung als Dauereinrichtung, ja, als Perspektive zuzumuten und Schritt für Schritt neue Beziehungen zwischen ihnen entstehen zulassen; sie brechen, würde bedeuten, einen Ausweg in neuen Fortschrittsillusionen und expansiven imperialen Abenteuern zu suchen. Welchen Weg Putin in Zukunft wählen wird, ist offen; zur Zeit versucht er sich auf der Mitte zu halten. Solange Putin aber – oder ein Nachfolger Putins – den Weg der Reformen geht, besteht die Chance, dass die Transformation des patriarchalen Fürsorgestaats allen Härten und Krisen zum Trotz nicht in die Katastrophe, sondern in eine Erneuerung der traditionellen Symbiose von Produktion und Selbstversorgung unter heutigen Bedingungen führt. Damit könnte Russland einen Weg der Modernisierung gehen, in dem sich individuelle Initiative westlichen Zuschnitts und traditionelle russische Gemeinschaftsstrukturen zu einem neuen Verständnis der Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gemeinschaft verbinden, das auch für den Westen Impulse enthält. Möglich ist dies aber nur, wenn Russland bei der Entwicklung seines Weges nicht isoliert und angefeindet, sondern in seinen exemplarischen Werten erkannt und gefördert wird.

 

(Entnommen aus:

Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch?, Pforte  Entwürfe, 2005, zu beziehen über den Verlag oder direkt über den Autor www.kai-ehlers.de

 

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

 

[1] Jefim Berschin, Journalist, Schriftsteller, Dichterin Moskau

Bücher von und mit ihm:

– Jefim Berschin, Kai Ehlers, Dikoe Pole, wildes Feld, Bod, 2016, 9,99 €

– Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte 2009, 1990 €

(Bezug der Bücher über www.kai-ehlers.de). 

[2] Bei der Geiselnahme von Beslan im September 2004 brachten nordkaukasische ‚Gotteskämpfer‘mehr als 1100 Kinder und Erwachsene in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan in ihre Gewalt. Die Geiselnahme endete nach drei Tagen in einer Tragödie – bei der Erstürmung des Gebäudes durch russische Einsatzkräfte starben nach offiziellen Angaben 331 Geiseln. (Nach Wikipedia)

Siehe auch: https://test.kai-ehlers.de/2004/09/beslan-wer-sind-die-opfer-wer-sind-die-tter/

Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes

Ungeachtet des angekündigten Kuschelkurses zwischen Donald Trump und Wladimir Putin, ungeachtet aller Beteuerungen aus Kreisen der EU wie auch der politischen Etagen Deutschlands, man wolle sich um ein gutes Verhältnis zu Russland bemühen, ungeachtet der von niemandem zur Zeit mehr bestrittenen Tatsache, dass das Schlachten in Syrien durch das Hinzutreten von Russland in einen – zumindest vorläufigen – Waffenstillstand übergegangen ist, also, ungeachtet all dieser Signale, ist das Verhältnis zwischen den Weltmächten doch nach wie vor das bekannte: die soeben zurückliegende „Sicherheitskonferenz“ in München brachte es unmissverständlich an den Tag: dort hat, wie die  „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es treffend zusammenfasste, die neue amerikanische Regierung in der Person des US-Vize-Präsident Mike Pence den Europäern „Bündnistreue in der NATO und eine Kritische Haltung gegenüber der russischen Aggression zugesichert.“ US-Präsident Trump twitterte gar in Abwesenheit, er sei ein „NATO-Fan“. Continue reading “Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes” »

Apropos Sanktionen: Ein Blick auf Russlands Ressourcen

Nach vorübergehender Annäherung zwischen Russland und dem Westen, speziell der EU, lautet die herrschende Frage des Westens heute wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse.

Wer glaubte, Russland fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder auf die Knie zwingen und zu einer Erdöl liefernden Regionalmacht, gar Kolonie herabstufen zu können, sieht sich getäuscht. Wieder einmal, muss hinzugefügt werden. Schon Napoleon, später Hitler unterlagen dieser Täuschung. Jetzt hat Russland den Erweiterungs-Offensiven der EU und der NATO ein klares Njet entgegengesetzt, verwandelt die vom Westen gegen das Land verhängten Sanktionen und Isolierunsversuche in neue eigene Entwicklungsschübe und festigt sein Bündnissystems mit den aus der US-Hegemonie heraustretenden Neuen Welt.

Woher nimmt Russland die Kraft der „Weltgemeinschaft“ auf diese Weise zu trotzen? Wie erklärt sich die Russland-Phobie der USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte?
Doppelt gestaffelte Autarkie

Die Antwort ist umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Die russische Autarkie ist doppelt begründet. Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen der eurasischen Weite: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Dazu gehört als besonderes Element auch noch die Vielfalt der in Russland lebenden Völker, die zusammen einen Organismus bilden, in dem Zentrum und Autonomie sich noch einmal unterhalb der staatlichen Verwaltungsstrukturen in besonderer Weise ergänzen.

Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder.

Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf der neueren Geschichte – wie oben schon angedeutet – bereits in die Lage, europäischen Kolonisierungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939. Heute ist es wieder so: Trotz Krise, trotz technischer Rückständigkeiten, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern auch dieses Mal wieder stärker aus der Krise hervorzugehen.

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte und von ihm abhängige – soziale Befriedungspolitk gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind: Beschluss einer neuen Militärdoktrin seit 2002, Auftritt gegen die USA bei der Münchner NATO-Tagung 2006, dazu eine, so möchte ich es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen, konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Es folgte das erste Njet gegen die NATO-Erweiterung 2008 im sog. Georgischen Krieg, in dem Russland sich gegen die weitere Ausdehnung der NATO in die Ukraine und nach Georgien wandte; gegenwärtig erleben wir die Aktualisierung dieses Njet im verdeckten Ukrainischen Stellvertreterkrieg zwischen EU/USA und Russland.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde Russland zum potentiellen Führer einer aus den ehemaligen Kolonien hervorgehenden neuen Welt, die sich aus der US-Hegemonie lösen will, während die frühere Neue Welt, die USA, sich im Versuch, ihren überhöhten Energiebedarf zu decken und ihre Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, sondern auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen wird.
Basis der Autarkie – extreme Bedingungen

Die russische Autarkie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch, Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden können. Diese Kombination von Reichtum und extremer Härte hat eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen Entwicklung, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch Privateigentum an Produktionsmitteln entstand, waren es lokale Ausnahmen und vorübergehende Erscheinung von kurzer Dauer, wie gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als neben den der staatlich initiierten Industrialisierung aus den dörflichen Strukturen zusätzlich private Industrie entstand, deren private Rechtsformen jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt wurden.

Das heißt, vor Ort, in den Weiten des russischen Landes, im Bewusstsein des Volkes war Eigentum „schon immer“ gemeinschaftlich organisiert. In der westlichen Geschichtswahrnehmung sind diese Verhältnisse als russische Dorfgemeinschaft, als Dorfdemokratie (MIR), russisch Òbschtschina bekannt; in Sibirien und im Süden Russlands waren es Genossenschaften freier Bauern, aber auch diese waren aufeinander angewiesene Gemeinschaften.

Die russischen Dörfer waren in ihrer Mehrheit ihrerseits Gemeineigentum des Zaren, der herrschenden Schicht, das heißt, des Hofes, der Kirche, des dem Zaren hörigen Dienstadels, alles zusammengefasst unter der Führung der zaristischen Selbstherrschaft, zu der Kirche und Staat sich verbunden hatten. Autarkie und Autokratie sind in dieser Geschichte untrennbar miteinander verbunden. Man hat es im Ergebnis im traditionellen Russland mit einer Wirtschafts- und Lebensweise zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit als „asiatische Produktionsweise“ charakterisierten. Damit waren Verhältnisse gemeint, wie sie auch aus dem alten Mesopotamien, aus Ägypten, von den Inkas, aus China, Indien usw. bekannt waren. . In der Industrie setzte sich diese Realität als staatlich initiierter Kapitalismus fort.
Asiatische Produktionsweise

Marx und Engels kategorisierten die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entlang zweier von ihnen angenommener Linien. Auf der Hauptlinie sahen sie, noch ganz einem ungebrochenen eurozentristischen Verständnis verhaftet, die Entstehung der abendländisch-europäischen Produktionsweise: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus – Kommunismus, die sich, basierend auf der Entwicklung des Privateigentums an Produktionsmitteln, dynamisch, unaufhaltsam, eskalierend von Revolution zu Revolution aus einer Formation in die nächst höhere bewege. Für Marx/Engels war Europa das Zentrum dieser Bewegung, heute sind es von Europa ausgehend die USA, allgemeiner der euro-amerikanische Westen. Auf der Nebenlinie verorteten sie die asiatische Produktionsweise, anders von Marx auch als gemeineigentümlicher Despotismus bezeichnet, die aus dem Zusammenwirken von dörflicher Selbstversorgung und einer ihr übergeordneten Bürokratie entstehe und von den Dörfern lebe (Priesterkaste, Gelehrtenhierarchie, Beamtenapparat…).

Prinzipiell formuliert: Die europäische Produktionsweise entwickelte Privateigentum als Motor der Selbstverwertung des Geldes, aus welcher der privatwirtschaftliche Kapitalismus hervorging. In ihr sind Staat, Kirche und Kapital getrennt und müssen sich immer wieder neu verbinden. Ihre Krisen tragen dynamischen Charakter. Die asiatische Produktionsweise entwickelt Gemeineigentum als Basis einer stabilen individuellen und allgemeinen Selbstversorgung unter der Herrschaft einer verwaltenden Klasse. Krisen entstehen periodisch aus der Schwäche der Bürokratie, nicht aus der Dynamik des Kapitals.

Marx bezeichnete diese asiatischen Formen der Wirtschaft im Gegensatz zur griechisch/römischen Sklavenhaltergesellschaft, in welcher einzelne Menschen zum Privatbesitz einzelner Menschen wurden, als eine „allgemeine Sklaverei“, weil in ihnen der Einzelne zwar frei, im Kollektiv aber dem Staat unterworfen oder gar hörig sei. Einen wesentlichen Unterschied der asiatischen Produktionsweise zur europäischen sahen Marx und Engels auch darin, dass die asiatische Produktionsweise keine innere Dynamik aufweise, die zum Kapitalismus dränge, sondern eine im Wesen sich immer gleich bleibende Gesellschaftsordnung sei, die als Krise der herrschenden Bürokratie zwar auch periodisch zusammenbreche, sich aber immer auf demselben Niveau wiederherstelle.

Marx und Engels entwickelten ihre Analyse am Beispiel der indischen Gesellschaft und bezogen auch die alten Hochkulturen mit ein. In Russland erkannten sie eine besondere Form der asiatischen Produktionsweise, die sich aus einer immer wieder erfolgten Mischung mit europäischen Elementen ergeben habe; eine Entwicklung billigten sie Russland jedoch nur im Kontext mit dem Kapitalismus und der Revolution im Westen zu.

Aber Marx und Engels irrten. Ausgelastet mit der Aufarbeitung der Entwicklung des europäischen Kapitalismus konnten sie die Analyse der asiatischen Produktionsweise nicht zu Ende führen. So konnten sie nicht erkennen, dass auch diese Gesellschaftsform, insbesondere in ihrer russischen Variante, periodische Modernisierungskrisen erlebte, die nach Zeiten des Zerfalls regelmäßig in eine Effektivierung des Systems von bürokratischem Zentralismus und Peripherer Autonomie übergingen, nur dass die Ursachen ihrer Krisen nicht in wirtschaftlicher Dynamik, sondern in bürokratischer Stagnation lagen.

Kurz, sie erkannten nicht, dass euro-amerikanische und asiatische Produktionsweise zwei Wege der Entwicklung sind, die nicht aufeinander folgen, sondern in Wechselwirkung neben- und miteinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen, sodass auch immer wieder neue Zwischenformen entstanden. Das gilt für die russische Geschichte, einschließlich ihrer sowjetischen Periode.
Russlands Besonderheiten

Schauen wir deshalb noch ein wenig genauer auf die russische Entwicklung: Russland entstand im offenen Niemandsland zwischen mongolischen Chanaten und westlichen Städten, in reicher Natur, aber der Weite und der Wildnis ausgesetzt. Ergebnis war die Selbstherrschaft der Moskauer Zaren als Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die polare Doppelstruktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau – autonome Versorgung im Lande. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Hinzu kamen die auf sich selbst bezogenen kollektiven Traditionen der in den zaristischen Organismus integrierten Völker, die eine Dynamik der Selbstbestimmung innerhalb des Gesamtorganismus bildeten – wenn auch zweifellos nicht immer ohne Konflikte.

Die Modernisierungswellen gingen über das Land, ohne die Grundstruktur von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen; Veränderungen vollzogen sich letztlich als Revolutionen von oben, als Teilimport westlicher Elemente, aber immer nur mit dem Ergebnis der Auswechslung von Personen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin provozierte als Reformer den bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus.
Modernisierungsetappen: Stolypin, Lenin, Stalin…

In den Umwälzungen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts prallten asiatische und europäische Produktionsweise in Gestalt des von Europa ausgehenden Imperialismus und der bäuerlichen Realität Russlands besonders hart aufeinander. Die Revolution von 1905, ebenso wie die von 1917 waren Ausdruck dieser Entwicklung. In seinem Feldzug gegen die Selbstgenügsamkeit der Obschtschina wollte Stolypin im vorrevolutionären Russland die Fortsetzung der von Peter I. begonnenen Industrialisierung erzwingen. Die Dorfgemeinschaften sollten in Wirtschaften privater Großbauern überführt werden, die „überflüssigen“ Mitglieder der Dorfgemeinschaft sollten als Arbeiter in die Städte gehen. Am „Stolypinschen Kragen“, wie der Strick des Galgens von der Bevölkerung damals getauft wurde, endeten tausende von Bauern, die dieser Politik nicht folgen wollten – aber ihr Opfer dokumentierte auch das Scheitern der Stolypinschen Politik.

Lenin wiederholte den Stolypinschen Ansatz zur Industrialisierung der Landwirtschaft – aber nicht durch Auflösung der Dorfgemeinschaften, sondern indem er sie – Sowchosen und Kolchosen (Staatswirtschaft und kollektive Wirtschaft) – zu staatlichen Grundeinheit des neuen Staatswesens erhob. Ihre Struktur wiederholte sich im sowjetischen Aufbau der Verwaltung. Lenins Sieg über den Zarismus lebte einerseits von seinem Versprechen, jedem Bauern ein Stück Land zu geben. Gleichzeitig leitete er die Verstaatlichung der Landwirtschaft ein; Stalin setzte sie gewaltsam fort und verwandelte die kollektive Tradition des Landes zugleich in einen allgemeinen Zwangskollektivismus auf dem Lande wie in der Industrie. Wer sich weigerte oder angeblich im Wege stand, wurde deportiert und liquidiert. Aus dem agrarischen Despotismus des Zarentums wurde so ein planmäßiger industrieller Despotismus. Enteignung der Bevölkerung von ihrer gewachsenen Gemeinschaftstradition könnte man diesen Vorgang nennen.

Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa nur einfach den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde.

Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele. Diese Konstellation, wie schon frühere Konstellationen der russischen Lebensweise, wäre auf langfristige Stabilität, in westlicher Diktion „Stagnation“, angelegt gewesen, wenn sie nicht – dies allerdings stärker als früher – mit dem europäischen Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase zusammengestoßen wäre. So ergab sich eine Konfrontation von prinzipiellem Charakter und historischen Ausmaßen: Selbstversorgung, auch auf industriellem Gebiet gegen Selbstverwertung des Kapitals und Selbstgenügsamkeit gegen konsumistische Expansion.

Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: für die Entwicklungszyklen der russischen Produktionsweise gelten offensichtlich andere Regeln als die europäischen. Sie lassen sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: Zusammenbruch nach langer Stabilität, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht, Stagnation. Phase zwei: Eintritt einer „verwirrten Zeit“, russisch: Smuta. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses in der herrschenden Schicht unter Hinzunahme von einzelnen Elementen der europäischen/westlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt jedoch erhalten. So war es nach dem Tod Iwans Iv. , im Westen besser bekannt als Iwan der Schreckliche, so nach den großen Bauernaufständen im 16. und siebzehnten Jahrhundert, so nach Peter I., so nach dem 1. Weltkriegs und danach, so ist es heute.
Heute

Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 – gegliedert in mehrere Etappen, versteht sich, die hier nicht im Detail auszuführen sind – individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“) und „Glasnost“ waren nicht die Ursache für neue Initiativen, sie waren der Ausdruck, das grüne Licht für eine schon lange befahrene Straße, auf der sich der Verkehr bereits gefährlich staute. Nach dem 17. Juli 1953 in der DDR, dem Aufstand in Ungarn 1956, dem Bau der Mauer 1961 war der Prager Frühling 1968 schließlich ein unübersehbares Zeichen; er zeigte aber auch, dass die sowjetische Staatsbürokratie noch nicht reif für die Smuta war. Einen theoretischen Reflex auf diese Entwicklung konnte man 1977 in Rudolf Bahros „Alternative“ nachlesen; einen zweiten in der Sowjetunion selbst am Ende der 70er in den Untersuchungen der Nowosibirsker Schule unter ihrer Leiterin Tatjana Saslawskaja.

Das Auftreten Michail Gorbatschows Anfang der 80er Jahre signalisierte die Bereitschaft der Führung der KPdSU zu einer der in der russisch-sowjetischen Geschichte üblichen Reformen von oben: Perestroika zielte auf eine gelenkte Befreiung der herangewachsenen Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese insgesamt aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung dieser Ordnung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung, nicht um die Einführung einer privatwirtschaftlichen Ordnung, auch nicht um die Verwandlung des asiatischen Typs der Produktion in den europäisch-westlichen.

Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung und Privatisierung des Denkens und Wollens, sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem sich beschleunigenden allgemeinen Zerfall führte. Der Druck der Anpassung an die umgebende Welt war einfach zu groß, um ihn kanalisieren zu können, die technische Revolution der neu entstehenden globalen Kommunikationsstruktur als Einwirkung von außen nicht – von heute aus gesehen: noch nicht – wieder beherrschbar. Mittel der Abschottung und Kontrolle der neuen Medien waren noch nicht zur Hand. Man könnte sagen, die Moskauer Bürokratie wurde von der Computerisierung überrannt. Boris Jelzin und seine ganz an den äußeren Einflüssen orientierten Reformer waren der Ausdruck dieser Dynamik – die sich dann im Schockprogramm Luft machte, das die Umwälzung innerhalb von zwei Jahren schaffen wollte.
Putin

Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand und besteht, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Nicht Nachvollzug, nicht Übernahme der europäisch-westlichen Produktions- und Lebensweise ist der Inhalt der nach-sowjetischen und heutigen russischen Transformation, sondern die Effektivierung des bürokratischen Kapitalismus auf privatwirtschaftlicher Basis.

Was dabei bisher herausgekommen ist, ist keine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus mit der ihm immanenten Selbstverwertungslogik des Kapitals, auf keinen Fall nur ein Nachvollzug westlicher Muster, sondern die Entstehung eines bürokratischen Zentralismus, der westliche und die russische Gemeinschaftstradition zusammenführt, eine Entwicklung also, die Elemente der zentralistisch gelenkten gemeineigentümlichen Ordnung mit privateigentümlichen Freiheiten zu verbinden sucht – das, was man im Westen ohne viel Verständnis für die innere Struktur des Landes „gelenkte Demokratie“ nennt.

Ihre widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Angleichung an die Standards der WTO sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite; dem auf der anderen Seite steht die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht, Subventionen für die eigene Landwirtschaft beizubehalten und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung gegenüber. Klar gesprochen: Russland wird sich auch in Zukunft nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, weil es aus seiner Geschichte die doppelt begründete Autarkie mitbringt: die Unabhängigkeit in den natürlichen Ressourcen und die Tradition der Eigen- und Selbstversorgung in der Bevölkerung, und autonomer Völker in einem übergreifenden zentralisierten Organismus.

 

Internationale Kraftlinien
Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen. Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Eine direkte militärische Zerstörung Russlands, die mehr bewirken sollte als nur eine vorübergehende Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Sommergespräch über Russland in Tarussa: Rückblick und Ausblick

Hallo allerseits! Ich bin wieder einmal in Russland unterwegs.

Im Folgenden können Sie sich in ein Gespräch einklinken, das der Herausgeber der Internetzeitung russland.ru und ich in seinem Wohnort in Tarussa geführt haben. Das Gespräch beginnt mit einer Rückschau auf touristische Annäherungen an Russland noch vor Perestroika und endet bei der Frage, warum die Sanktionspolitik desWestens Russland nicht wird in die Knie zwingen können. Nachfolgend das mit mir geführte Sommergespräch in Tarussa als Video:

Dazu die beiden erwähnten Bücher:

  • Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer – bestellen
  • Kai Ehlers, Jenseits von Moskau, 186 und eine Geschichte von der inneren Kolonisierungn- bestellen

Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum

Wer die Welt beherrschen will, muss Eurasien beherrschen. Wer Eurasien beherrschen will,  muss das eurasische Herzland, Russland beherrschen. Wer Russland beherrschen will, muss die Ukraine  aus dem Einflussbereich Russlands lösen, denn – wiederholen wir die Feststellung  Zbigniew Brzezinskis, die angesichts der Vorgänge um die Ukraine nicht oft genug wiederholt werden kann: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“[1]

Nach diesem, dem Britischen Commonwealth nachempfundenen Credo, haben die USA ihre Weltpolitik seit Auflösung der bipolaren Systemteilung 1989/90/91 entwickelt – einmal enger, einmal weniger eng am Drehbuch. Autor Brzezinski war immer wieder zur Stelle, um die Einhaltung der Grundausrichtung, die er nach dem Zerfall der Sowjetunion mit seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ 1996 skizzierte, mit öffentlichen Kritiken und Interventionen aus dem strategischen Soufflierkasten einzuklagen. Continue reading “Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum” »

Aufruhr in der Ukraine

Das zurückliegende Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“ sollte sich mit der Frage beschäftigen, was Regionalisierung im Kaukasus bedeutet. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine haben das Thema ganz und gar in Richtung der ukrainischen Ereignisse verschoben.

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Rußland in die WTO – warum jetzt? Oder auch: WTO auf dem Weg in die Transformation?

Am 22.08.2012 unterschrieb Wladimir Putin das Beitrittsdokument Rußlands zur WTO, der Welthandelsorganisation. Was verspricht sich Rußland von diesem Beitritt? Und warum gerade jetzt? Was wird geschehen?

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Russische Innenansichten – „Einen Plan B gibt es nicht.“ Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki, Gründer des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“

Als Analytiker des „Instituts für Fragen der Globalisierung und sozialer Bewegungen“ ist Boris Kagarlitzki einer jener Kritiker Putins, die über die Tagesproteste und kurzatmige Aufgeregtheiten hinaus denken. Das Gespräch dreht sich um die Frage, welche politischen Entwicklungen nach den zurückliegenden Duma- und Präsidentenwahlen zu erwarten sind. Das Gespräch fand im Juli in den Räumen des Institutes in Moskau statt.

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Brennpunkt Syrien

Auswertung des  17. Treffens zu „Brennpunkt Syrien“ vom 12.05.2012

und Einladung zum Treffen am Sonntag 10.06.2012, 16.00 Uhr;

Thema: Charta für ein Europa der Regionen

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Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,

das Thema „Syrien“ geht zur Zeit jeden Tag durch die Medien. Es soll hier daher nicht der tägliche Informationsstand referiert werden. Ich werde mich in diesem Bericht auf die Benennung der Grundfelder beschränken, auf denen sich das Gespräch im Forum bewegt hat – und darauf, worauf es sich unseres Erachtens bewegen sollte.

Anders als andere Themen, die uns bewegen, sahen wir uns außerstande, das Thema „Syrien“ auf eine Hauptfrage zu fokussieren – es sei denn man nehme die Tatsache, daß hier das gegenwärtige labile Gleichgewicht des Weltfriedens, besser zu sagen vielleicht, des Nicht geführten Weltkrieges zur Debatte steht.

Womit beginnen? Wie immer, versteht sich, mit dem Versuch einer Bestandsaufnahme der Interessenfelder, die sich hier in vielfältigster, kaum entwirrbarer Form überlagern:

Syrien als ein Glied in der Kette der muslimisch geprägten arabischen Welt. Das ist offensichtlich. Da gelten die gleichen allgemeinen Entwicklungstendenzen wie im gesamten arabisch-mittelmeerisch-muslimischen Kulturraum: Aufbruch einer sich rapide vermehrenden Bevölkerung in dem Wunsch der Teilhabe an den Errungenschaften der europäisch geprägten Moderne, konkret an den im Westen (Europa, USA und auch Rußland) als Ergebnis ihrer Jahrhunderte dauernden kolonialen Vorherrschaft konzentrierten wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten.

Gleichzeitig treten starke Tendenzen der Rückbesinnung auf die Qualitäten der eigenen muslimischen Geschichte und Kultur auf – von gemäßigten bis zu radikalen Positionen.

Diese Motive und Strömungen im Einzelnen, wie sie in Syrien jetzt in Erscheinung treten, auseinander zu halten und nach fortschrittlich oder rückschrittlich, berechtigt oder unberechtigt zu sortieren, dürfte zur Zeit nicht einmal Spezialisten gelingen – und ich denke auch, daß es nicht unsere Aufgabe ist, solche Sortierungen von außen her vorzunehmen.

Sicher ist, daß die unterschiedlichen Strömungen und gesellschaftlichen Fraktionen im Zuge der allgemeinen Entwicklungsprozesse des arabisch-mittelmeerischen Raumes heute an dem gewaltsam hergestellten Konsens einer nach-kolonialen autoritären Modernisierung rütteln, die nicht der Mehrheit der Bevölkerung, sondern nur Teilen der zur Zeit Herrschenden zugute kommt. Sicher ist auch, daß dies eine Entwicklung ist, durch die sich eingesessene Herrschaftsinteressen der westlichen Welt existentiell bedroht sehen.

Der arabische Modernisierungsprozeß, ist nicht als eindeutige Hinwendung zum Westen, aber auch nicht als Rückwendung zu einem wie immer gearteten muslimischen Fundamentalismus zu begreifen. Es geht um eine Besinnung auf die Kraft der eigenen Kultur, aber auch um Überwindung von Entwicklungshemmnissen in der eigenen Kultur. Das ist ein Prozeß, der seine eigene innere Dynamik hat, in den einzugreifen für den Westen nicht ratsam ist.

Darin waren wir uns einig. Es gehen in diesen Prozeß, über diese Tatsachen hinaus, aber auch noch schwer kalkulierbare ethnische und kulturelle Konfliktpotentiale mit ein, die aus den von den westlichen Kolonialmächten zu vorgenommenen willkürlichen Grenzziehungen am Ende der Kolonialzeit hervorgehen – ein syrischer „Nationalismus“, der nur durch die Macht der Einparteienherrschaft der Bathpartei aufgebaut werden konnte und der jetzt innerhalb des Gebietes, das heute Syrien umschließt, gegenüber diversen Sonderinteressen im wesentlichen autoritär gehalten wird.

Strukturell dürfte sich Syrien damit wenig von den anderen Staaten des arabisch-mittelmeerischen Raumes unterscheiden  – ausgenommen Israel und Palästina, die sich unter dem Druck des israelisch-palästinensischen Dauerkonfliktes gewissermaßen in das verwandelt haben, was man, ins Internationale gehoben, eine „Einpunkt-Bewegung“ nennen könnte: für oder gegen ein Existenzrecht Israels in diesem Teil der Welt.

Konkret aber sieht es so aus, als ob die Fraktionierung der im syrischen Gebiet lebenden Bevölkerung auf Grund des historisch undefinierten ethnischen und kulturellen Pluralismus eines Durchgangsraumes zwischen den unmittelbaren Nachbarn der Türkei im Norden, des Irak und des Iran im Osten, des Dauerkrisengebietes Israel/Palästina im Süden und den dies alles durchziehenden globalen Interessen der USA, Rußlands, Chinas weitaus tiefer gehen als in den übrigen Ländern der arabisch-mittelmeerischen Welt.

Das alles bedeutet, daß eine innere Destabilisierung des Landes, ebenso wie eine einseitige Orientierung an einer der genannten regionalen oder auch globalen Mächte sich sehr schnell zu einer Destabilisierung des gesamten mittelmeerisch-arabischen Raumes auswachsen kann. Dies gibt der Herrschaft Assads eine Rolle, die nicht einfach umgangen werden kann, ohne unkontrollierbare Folgen für den Raum nach sich zu ziehen.. Einfach gesagt: Syrien ist nicht Libyen.

Es wären dem bisher Gesagten selbstverständlich noch reichlich Einzelheiten hinzuzufügen, um die Zerrissenheit des Landes und die darauf als Klammer sitzende autoritäre Struktur noch besser zu verstehen. Hier soll aber jetzt zur entscheidenden Frage weitergegangen werden; sie lautet: Wie sollen, wie können wir, wie kann die Welt sich zu „Syrien“ verhalten?

Zwei „Optionen“ stehen sich gegenüber, beide auch benannt in den Texten, insbesondere dem, des österreichischen Friedensforschers Galtung, die wir das letzte Mal mit herumgegeben hatten. Kurz und direkt gesagt: die westliche „Libysche“ Variante (NATO-„Hilfe“ für einen Regimewechsel) und die russisch-chinesische Variante der „Gespräche“

Vor dem Hintergrund, daß jedes gewaltsame Eingreifen von außen, in diesem Gebiet der Welt speziell von Seiten des Westens als Dejá vu des westlichen Kolonialismus erlebt wird, vor dem weiteren Hintergrund, daß eine Beseitigung der mit dem Iran verbundenen Herrschaft Assads den Weg für westliches (Israelisch/amerikanisches) Vorgehen gegen den Iran freimachen würde und schließlich angesichts unbestreitbaren Tatsache, daß die „Friedensmissionen“ der NATO in Afghanistan, Pakistan, Libyen keineswegs zu demokratischen Verhältnissen und geführt haben – und selbstverständlich aus prinzipiellen Erwägungen heraus, daß tragfähiger Frieden und eine tatsächliche demokratische Entwicklung nicht mit Waffengewalt erzwungen werden können, sondern die Erhaltung einer Mindest-Stabilität dafür Voraussetzung ist, kamen wir in unserer Gesprächrunde darin überein, uns für die russische Variante zu entscheiden, d.h., einen „runden Tisch“ zwischen allen Beteiligten – Assad und Kritikern – zu fördern, auch wenn klar ist, daß dies der schwierigere Weg ist und auch dann noch und immer wieder, wenn schon keine Hoffnung mehr zu bestehen scheint. In der Realität vor Ort hat Leben immer Priorität!

Wobei die Paradoxie offenkundig ist und auch Bestandteil der komplizierten Gemengelage in der syrischen Problematik, daß die Variante des „runden Tisches“ ausgerechnet von autoritär regierten Staaten wie Rußland oder auch China vorgeschlagen wird, die ihrerseits reichlich Probleme mit, freundlich gesprochen, verschleppten Reformen haben.

Sich für Gespräche einzusetzen bedeutet daher nicht, das sei unmißverständlich gesagt, das blutige Vorgehen der herrschenden syrischen Kräfte gegen ihr Kritiker, zu rechtfertigen oder auch nur gut zu heißen, es bedeutet auch nicht Rußland oder China zu Mustern demokratischer Politik zu erklären, es bedeutet nur einfach, sich der Dämonisierung Assads nach Art der Dämonisierung Saddam Husseins oder Gaddaffis zu widersetzen – wie gesagt: das Leben hat Priorität! In dieser Frage folgen wir einstimmig der Argumentation des Friedensforschers Galtung. (Wir geben sie deshalb diesem Bericht zur nochmaligen Kenntnisnahme bei).

Wir kamen damit wieder einmal zu der Frage, was wir selbst, über die Enttarnung der in den Medien betriebenen Desinformation hinaus zur Entwicklung von tatsächlichen demokratischen Kräften beitragen können. Unsere vorläufige Antwort:

Wir werden uns beim nächsten Treffen mit der in Entstehung begriffenen „Charta für ein Europa der Regionen“  befassen. In ihr geht es darum, ein Europa zu denken und zu gestalten, daß bei sich selbst Ernst macht mit Selbstorganisation, Entwicklung demokratischer Strukturen und – Menschenrechten.

Wir treffen uns zu dieser Frage am Sonntag, d. 10. Juni 2012 um 16.00 Uhr

Anmeldung über Kontakt zu mir

Zur Vorbereitung liegt diesem Bericht eine vorläufige Fassung der „Charta für ein Europa der Regionen“ samt erläuternden (ebenso vorläufigen) Anhängen bei, außerdem bisher noch nicht eingearbeitete kritische Anmerkungen von mir. (Kai Ehlers). Es handelt sich bei dem jetzigen Stand der „Charta“ nicht um eine endgültige Vorlage für eine endgültige Verfassung, sondern um ein Diskussionsangebot für ein anderes als ein imperial-bürokratisches Europa.

Erarbeitet wurde dieser Entwurf als Ergebnis des „Kongresses integrale Politik“ vom August 2008 in St. Arbogast/Österreich. Er soll dem diesjährigen zweiten „Kongreß integrale Politik“ als Vorlage zugeführt werden. Wir können unseren Beitrag mit einfließen lassen.

Wer aktiv teilnehmen möchte, kann das Vorbereitungsmaterial bei mir über Kontakt bestellen.

Liebe Freunde, liebe Freundinnen, wir würden uns freuen, Dich und Dich und Dich in diesen Diskussions- und Findungsprozeß mit einbeziehen zu können: Die Zeit ist reif.  Wir freuen uns auf Dein Kommen oder auch auf Deinen Beitrag.

Im Namen des „Forums integrierte Gesellschaft“

Herzlich, Kai Ehlers

 

 

Rußland: Zwischentöne zur Wahl

Rußland hat gewählt. Eine neue Duma wird zusammentreten. In ihr wird die „Partei der Macht“, Einheitliches Rußland, die Partei Medwedews und Putins mit 238 von 450 Sitzen zwar noch die absolute Mehrheit haben. Ein Weiter-So auf einem von einem willigen Parlament abgestützten Tandem, auf dem Medwedew und Putin nach Belieben die Plätze tauschen, wird es dennoch nicht geben.

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Das „chinesische Prinzip“: Ökonomische Freiheit – politische Lenkung: Der bessere Weg zur globalen Perestroika? Ein Vergleich.

Wer heute an China denkt, hat zwei Bilder vor Augen: Das eine wird von China-Reisenden als „happy China“ beschrieben, das andere als Parteiendiktatur, die die Menschenrechte nicht achte und jeden Ansatz zu einer Opposition ersticke. Wohin führt dieser Weg? Diese Frage wird in diesem Text anhand eines Vergleiches von Perestroika und den chinesischen Reformen vor dem Hingergrund der Geschichte beider Gesellschaften untersucht.

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Arabien, Japan – Übergänge wohin?

Es ist eine beunruhigende Reihe: Islam, China, Arabien, Japan - bevor wir Zeit und Kraft gefunden haben, das Eine wahrzunehmen, werden wir schon wieder getrieben, uns dem Nächsten zuzuwenden? Wann gab es zuletzt eine solche Phase, in der sich die Ereignisse derart verdichteten?

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