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Präventionswahn

Unsere Welt steht vor einem Entwicklungssprung: Immer weniger Menschen verfügen über immer effektivere Mittel zur Produktion gesellschaftlichen Reichtums, während immer mehr Menschen gerade durch diesen Reichtum als ‚Überflüssige‘ ausgeschlossen oder gar nicht erst zur Teilhabe zugelassen werden.

Das Aufkommen von Milliarden Menschen, die freigesetzt, denen aber zugleich die Lebensgrundlagen entzogen werden, rückt den ‚turning point‘, an dem das Profitprinzip dem Solidarprinzip weichen müsste, unmissverständlich vor aller Augen. Aber statt dem zu entsprechen, gehen die heute Herrschenden daran, die Zäune, mit denen sie sich vor den ‚Überflüssigen‘ der Welt in Sicherheit zu bringen trachten, höher und höher zu ziehen. Zugleich versuchen sie die übrige Bevölkerung präventiv ruhig zu stellen.

 

Deutscher Herbst

Über den präventiven Sicherheitsstaat ist schon vor Jahren geschrieben worden, allerdings ohne dass all das bereits voll eingetreten wäre, was seinerzeit am Horizont dunkel hoch zu kommen schien. Gleichwohl macht es Sinn, an diese Zeit zu erinnern: Teile der 68er Generation des vorigen Jahrhunderts befürchteten eine schnelle Re-Faschisierung der Bundesrepublik Deutschland wie auch der internationalen Beziehungen, speziell mit Blick auf die USA.

Ihren schärfsten Ausdruck fand diese Sicht in der Roten Armee Fraktion (RAF), die die Welt nur noch in Kategorien eines Weltfaschismus definierte, dem nicht mehr anders als militärisch, das hieß für sie angesichts des von ihnen beklagten mangelnden Bewusstseins der ‚Massen‘, nur noch mit gezieltem Terror gegen  Funktionsträger des ‚Systems‘ zu begegnen sei.

Aber auch in ruhigeren Analysen wurde damals die Entwicklung des modernen Staates zum autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat befürchtet. Begründet war das in der Erfahrung der globalen Systemkonfrontation und in Deutschland speziell in der schnellen Remilitarisierung der damaligen ‚BRD‘, dem Westen des geteilten Deutschland. Zu erinnern ist an den „Deutschen Herbst“ nach der Entführung des damaligen BDI-Präsidenten Hans Martin Schleyer durch die RAF, in dem Kanzler Schmidt per Notstand das staatliche Gewaltmonopol durchsetzte. Zu erinnern ist an die toten Gefangenen in deutschen Gefängnissen, die im Zuge polizeilicher Fahndung Erschossenen, an das bürgerkriegsähnliche Vorgehen der Staatsmacht gegen die Anti-AKW-Bewegung, an die Aufregung um das ‚Orwell-Jahr‘ 1984, um nur einige Daten zu nennen, aus denen sich seinerzeit die Befürchtungen speisten. Das „Dritte Internationale Russel-Tribunal“, das 1977-1979 „zur Situation der Menschenrechte in der BRD“ abgehalten wurde, war ein Ausdruck dieser Stimmung.[i]

Von heute aus gesehen waren die Erwartungen der unmittelbaren Eskalation des  Sicherheitsstaates, gar einer Faschisierung der BRD und der internationalen Verhältnisse eine etwas, sagen wir ruhig, hysterische Sicht. Tatsächlich befand sich die Welt damals eher in einem Zustand des Kalten Friedens, als dem des  ‚Kalten Krieges‘. Es herrschte das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘. Die BRD befand sich in der kalten Systemkonfrontation mit der DDR, heute würde man sagen, in einem ‚eingefrorenen Konflikt‘.

 

Globale Anarchie

Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging das globale, auch das deutsche und europäische Patt in die anarchische Bewegung über, die jetzt in die damals befürchteten Verhältnisse zu führen droht. Nach dem Niedergang des realen Sozialismus ist die globale Lage heute von drei Elementen gekennzeichnet:

  • Dem Sichtbar-Werden der prinzipiellen Grenzen des kapitalistischen Industrialismus. Inzwischen unübersehbar an der wachsenden Zahl der Marginalisierten, der aus der Produktion Gedrängten, in einem Wort, der oben erwähnten ‚Überflüssigen‘, deren Unruhen den globalen Überfluss begleiten.
  • Der Krise des Nationalstaats als Grundordnung des heutigen Zusammenlebens der Völker, erkennbar an dem Widerspruch, dass globale Monopole die Nationen als souveräne Subjekte aushebeln, während gleichzeitig neuer Nationalismus in nachholender Weise entsteht.
  • Dem Problem begrenzter Ressourcen bei wachsendem Bedarf durch eine zunehmende Zahl potentieller Verbraucher.

In dieser Gemengelage haben sich die globalen Konflikte entschieden verschärft, soweit verschärft, dass die bisher herrschenden ‚Eliten‘ ihre Zukunft bedroht sehen. Ökologisch orientierte Warnrufe, wie die Veröffentlichung des ‚Club of  Rome‘ 1972 zu den „Grenzen des Wachstums“[ii], die Warnungen und Forderungen des Berichtes „Global 2000“ 1981[iii], die im Zuge der heraufkommenden Perestroika in den Kreisen Michail Gorbatschows 1982[iv] entwickelten Perspektiven von der Notwendigkeit einer ökologischen Wende verengten sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, anders gesagt, mit der Befreiung der kapitalistischen Welt von ihrem sozialistischen Konkurrenten in den ‚Denkfabriken‘ des Westens, allen voran denen der USA, zu langfristigen Strategien einer präventiven Sicherung der heute herrschenden, nachsowjetischen  Verhältnisse. Die sowjetischen Nachfolgestaaten fügten sich in diese Ordnung. Wie lange dies so bleiben kann, ist eine offene Frage, der an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden soll.

 

Fundamentale Bedrohung der   Zivilisation?

Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die Globalisierung, sprechen  US-Dienste von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, so wurde von den CIA und seinen ‚Thintanks‘ vorgerechnet, wenn die Millionen junger Menschen, die heute in den ehemaligen Entwicklungsländern geboren werden – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten.[v] Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte.

Nachzulesen ist dies in aller Ausführlichkeit auch in dem 2003 erschienenen Buch „Söhne und Weltmacht“ des Bremer Terror- und Völkermordforschers Gunnar Heinsohn[vi], der sich mit diesem Buch bemühte, die seit Mitte der 80er entwickelten CIA-Strategien zur globalen Bevölkerungskontrolle als herrschendes Dogma auch in Deutschland zu verankern. 

Dass mit der ‚bedrohten Zivilisation‘ selbstverständlich die westliche Welt gemeint ist, allen voran die USA, versteht sich schon fast von selbst. Die grassierende Jugendarbeitslosigkeit in den Industrieländern des Westens wird bei den demographischen Hochrechnungen der CIA vollkommen außer Acht gelassen, obwohl, angesichts der von dem Dienst für diese Länder durchaus richtig konstatierten niedrigeren Geburtenraten, umso unmissverständlicher erkennbar sein sollte, wo die Ursache für das beschriebene Phänomen der ‚Überflüssigen‘, konkret auch der Masse der arbeitslosen Jugendlichen in den ‚entwickelten‘ Industrieländern liegt, nämlich, nicht in zu viel oder zu wenig Jugendlichen, sondern in einer Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung, die weltweit immer mehr Menschen als nicht mehr benötigt ausschließt.

Die Ursachen der heutigen Krise sind eben nicht nur, nicht einmal hauptsächlich demographischer Natur, wie CIA, Heinsohn und andere es hinstellen, sie liegen in der kapitalistischen Produktionsweise. Karl Marx sprach deshalb seinerzeit in der Kritik an den eugenischen Theorien Robert Malthus‘ nicht von ‚Überflüssigen‘, sondern von „Überflüssig Gemachten“, wörtlich von einer „relativen Überflüssigmachung“, mit der das Kapital sich eine „industrielle Reservearmee“ halte.[vii] Heute sind das die Menschen, deren Arbeitskraft im Zuge der Automation in sich zusehends beschleunigendem Maße eingespart wird. Das ist kein lokaler, das ist ein weltweiter Prozess, der heute an seine Grenzen kommt.

 

Das Märchen vom ‚Stillen‘  

Die ökonomischen und demografischen Daten der CIA flossen auch in die legendäre Tagung ein, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ über die Zukunft der Welt zu beraten.[viii]

Als Hauptfrage kristallisierte sich bei dieser Tagung heraus, was mit dem Heer der ‚Überflüssigen‘ geschehen solle, das aus dem Zusammentreffen von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Hier wurde der Begriff der 20/8o- oder auch Einfünftelgesellschaft geprägt. Was Gorbatschow dazu sagte, ist nicht überliefert,  zu vermuten ist, dass er nach dem Scheitern seiner Reformen und seinem Sturz als Parteisekretär einfach nur den Dialog zu „Neuem Denken“ wenigstens im globalen Rahmen erneuern wollte.

Bekannt wurde jedoch der Vorstoß des  US-Strategen Zbigniew Brzezinski, der grauen Eminenz der US-Sicherheitspolitik seit Jimmy Carter, ein globales „tittytainment“ einzuführen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verband das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainment“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel der von ihm vorgestellten Maßnahmen wäre es gewesen, 80% der Menschheit auf dem Niveau niedrigen Konsums durch Massenmedien zu ‚stillen‘.

Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierbare Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange gesprochen werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen der damaligen wie auch heutigen Kritiker und Kritikerinnen zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein. Eher heizen neue Techniken wie Facebook, die weltweite Verbreitung von Mobiltelefonen und anderes die Unruhen weiter an, die man gerade ersticken möchte. Die Revolten der letzten Jahre lassen das klar erkennen.

Aber davon abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten eines solchen ‚Stillens‘ schon in den Widersprüchen der herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte ‚Überflüssige‘ und nicht hereingelassene ‚Unterentwickelte‘ haben dieses Geld nicht.

Eine Verkürzung des Wirtschaftskreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital, das den Sektor des konkreten Marktes, der noch von tatsächlicher Produktion und Konsumption lebt, zugunsten eines Finanzmarktes hinter sich lässt, auf dem Geld für mehr Geld gekauft und verkauft wird oder sogar nur noch Wetten auf Risikogelder gehandelt werden, kann dieses Problem auch nicht lösen, sondern führt – wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Auch massenhaftes Drucken von Geld hilft aus ihr nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet.

Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung einer allgemeinen Grundversorgung für alle Menschen liegen. Mit solchen Schritten, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was als noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der ‚Überflüssigen‘ als stillzulegender oder gar zu entsorgender ‚menschlicher Müll‘ und einiges mehr. Das könnte den Menschen vom Reserve-Objekt und Abfall einer profitorientierten Megamaschine zum Kulturwesen machen. Es ist aber offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt.

 

Für den Fall der Fälle…

Für den Fall, dass die gewünschte Stilllegung der befürchteten Unruhen, sei es durch kollektives oder persönliches „tittytainment“, wie von den Diensten schon bei Ausarbeitung ihrer Strategien erwartet, nicht gelingen sollte, gingen aus den US-Studien von 1990 denn auch „effektivere“ Varianten zum Umgang mit der erwarteten Bedrohung hervor.

In Heinsohns Kolportage der CIA-Studien stehen diese Ausführungen bezeichnender Weise unter der Überschrift: „Nur ein wankender Hegemon muss sich rüsten“. Dem folgt nach ein paar abschweifenden Nebengedanken mit dem Satz: „Kehren wir auf die andere Seite zurück, die a u s g e l ö s c h t werden soll.“ die Aufforderung an die Leser, sich diesem bedrohten Hegemon, der ausgelöscht werden soll, wieder zuzuwenden.  (Gesperrt durch ke). Kann man noch deutlicher werden?

Die westliche Führungsmacht, so fasste Heinson zusammen,  stellt sich jedenfalls für weitere zwanzig oder mehr Jahre auf „youth bulge-geborene Konflikte ein“.  (kursiv: Heinsohn)

Die ins Auge gefassten ‚Rüstungen‘ sollen mit dem aktiven Export der ‚westlichen Eigentumsordnung‘ beginnen, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der  ,Überflüssigen‘ sollen hereingelassen, die Unerwünschten an den Grenzen abgefangen werden. Die Realität zeigt, dass diese Politik das Problem der ‚Überflüssigen‘ nicht löst, sondern im Gegenteil weiter verschärft, indem sie die Menschen vor Ort aus ihren traditionellen Wirtschaftsräumen reißt, ohne ihnen eine neue Perspektive geben zu können – oder wirklich zu wollen.

Ergänzend zu der Theorie des Exports der ‚westlichen Eigentumsordnung‘ wurde deshalb schon in der Grundlegung dieser Strategie über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Wer erinnert sich da nicht an das Blutvergießen zwischen Irak und Iran von 1980 bis 1988, in dem beide Seiten mit amerikanischen Waffen ausgerüstet wurden.

Für den Fall aller Fälle müsse man sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen man jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, die technische Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen. Auch hier sei wieder auf den Iran verwiesen, der  nach dem Aderlass in den  80gern heute immer noch im Fadenkreuz der US-Politik steht.

Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahrzehnte und der ihrer westlichen Verbündeten, einschließlich des globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachvollziehen. Das muss an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden. Die inzwischen zur globalen ‚Flüchtlingskrise’ angeschwollene Immigration und der Einsatz der NATO zu ihrer Bewältigung im Mittelmeer macht zudem deutlich, was für die Zukunft zu erwarten ist.

 

Problem der erwachenden Völker

Brzezinski aktualisierte die Warnungen der CIA daher im Jahr 2013 in dem dritten seiner für die US-Politik und ihre westlichen Verbündeten wegweisenden Bücher. Unter dem Titel  „Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power”[ix], in dem er sich mit dem Niedergang der US-Vormacht befasst, entwirft er eine ‚alarmierende‘ Skizze für die Jahre bis 2025, in der er die aktuelle Situation der USA sogar mit dem Niedergang der Sowjetunion Anfang der 80er des letzten Jahrhunderts vergleicht. Schon in der Einleitung warnt er vor der Gefahr des „Erwachens der Völker“, das der Vorherrschaft des Westens gefährlich werden könne. Unter der Überschrift „Der Rückzug des Westens“ charakterisiert er  das „neue Phänomen massiven politischen Erwachens“ u.a. wie folgt:

„Laut einem von ‚Population Action International‘ herausgegebenen Report von 2007 waren ‚youth bulges‘ in vollen 80% ziviler Konflikte  zwischen 1970 und 1999 präsent. Man muss zudem bemerken, dass der Mittlere Osten und die weitere muslimische Welt einen überdurchschnittlichen Anteil von Jugendlichen haben. Irak, Afghanistan, die Palästinensischen Gebiete, Saudi Arabien und Pakistan  haben alle massive Jugendpopulationen, die von ihrer Ökonomie nicht absorbiert werden können und die anfällig sind für Enttäuschungen und Militanz. Es ist diese Region, von Ost-Ägypten  bis zum Westen Chinas, wo politisches Erwachen das größte Potential  für gewalttätige Umstürze hat. Das ist im Effekt ein demographisches Pulverfass. Ähnlich gefährliche  demographische Realitäten herrschen in Afrikanischen Ländern  wie dem Kongo und Nigeria ebenso wie in einigen Lateinamerikanischen Ländern.“

Im Unterschied zu früher, fügt Brzezinski dann hinzu, als es möglich war, eingeborene Bevölkerungen mit geringem finanziellen und technischen Aufwand zu beherrschen, habe das Aufkommen des politischen Erwachens der Völker den Widerstand gegen fremde Herrschaft effektiviert, so in Vietnam, Algerien, Tschechien, Afghanistan, und er beschließt diesen Absatz mit der Warnung: „In den daraus resultierenden mit starkem Willen und Ausdauer geführten Schlachten (im Original: battles, ke) waren die technisch weiter Entwickelten  nicht notwendigerweise die Gewinner.“

Man muss nur noch Irak, Libyen, Syrien, generell Afrika und Mesopotamien hinzufügen, um das Bild zu vervollständigen. Der Krieg gegen den ‚internationalen Terrorismus‘, wie er jetzt in einer zweiten Welle wieder neu aufgelegt wird, hebt diese Reihe auf eine erneute Stufe der Eskalation. Eine friedliche Lösung des Problems der ‚Überflüssigen‘ ist auf diesem Wege nicht zu erwarten.

 

Der geistige Hintergrund

Das  gibt Anlass in eine tiefere, sehr viel schwerer erkennbare Dimension des ‚Stillens‘ hinein zu schauen, die sich hinter den offen vorgetragenen Strategien als öffentlich unerklärte weitere Präventionslinie verbirgt: die verdeckte Neuauflage eugenischer Vorstellungen, die heute in den ‚entwickelten‘ Industriestaaten entsteht.  

Die bedrängende politische Perspektive dieses Weltbildes ist die Kombination des präventiven Sicherheitsstaates mit den neuen computergestützten Biotechnologien

Zukunftsforscher wie Achim Bühl[x] sprechen von dem Heraufkommen einer „biomächtigen Gesellschaft“: „Die reale Gefahr einer solchen Entwicklung“, schreibt er im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen gleichnamigen Sammelband, bestehe „im Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft bezüglich der normierenden Kraft (post)moderner Lebenstechnologien.“

Die Perspektive der biotechnischen Prävention zeigt sich heute allerdings nicht etwa in der offenen Wiederholung der eugenischen Propaganda des letzten Jahrhunderts und nicht in offenen Rufen nach einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; diese Ebene ist als historisch unwiederholbar tabuisiert.

Das Wiederaufleben eugenischer Vorstellungen vollzieht sich auf neuem wissenschaftlichen und technischen Niveau unter dem Vorzeichen einer allgemeinen Lebensvorsorge, die Krankheit als Abweichung von der gesunden Norm auf allen Ebenen des Lebens durch Verbesserung der genetischen Ausstattung des Menschen verhindern will. Die neuen eugenischen Tendenzen kommen unter dem Vorzeichen der Lebensvorsorge daher, im Zuge eines allgemeinen Sicherheitsdenkens, das jedes Risiko ausschalten möchte – das größte Risiko in diesem Denken ist selbstverständlich der lebendige, verwundbare Mensch.

Als Risiken im präventiven bio-technischen Sicherheitsdenken gelten nicht etwa die von Menschen geschaffenen Verhältnisse, die zu den bekannten Verwerfungen unserer heutigen Entwicklung geführt haben und weiter zu führen drohen, insbesondere zu der Verwandlung der wachsenden Anzahl von Menschen in ‚Überflüssige‘. Als ‚Sicherheitsrisiken‘ gelten vielmehr die ‚Überflüssigen‘ selbst. ‚Sicherheitsrisiken‘ sind alle die Menschen, welche die ungehinderte Selbstverwertung des Kapitals stören könnten – sei es durch spielerische Fantasie, durch reale Alternativen, durch aktive politische Tätigkeit, durch Proteste, Aufstände, , Bürgerkriege oder auch terroristische Akte, sei es schließlich einfach  nur durch Leistungsschwäche und Krankheiten, welche die Prozesse der Kapitalvermehrung gefährden.

Überflüssig sind in diesem Weltbild tendenziell auch heute alle sozialen Schichten, von denen Teile schon mehrmals in der jüngeren Vergangenheit in Verwahrhäusern, Irrenanstalten, Konzentrations- und Vernichtungslagern zusammengepfercht und umgebracht wurden, weil sie den jeweiligen Nützlichkeitskriterien nicht entsprachen. Die Reihe der potentiell nicht ‚verwendungsfähigen‘ Mitglieder der Gesellschaft lässt sich bis in die feinsten Verästelungen verdünnen.

Am Ende dieser Abwärtsspirale landet die Gesellschaft dann doch wieder bei einer Selektion „lebensunwerten Lebens“, diesmal allerdings, paradox gesagt, nicht über „Vernichtung durch Arbeit“, sondern im Gegenteil über Verweigerung von Arbeit, nämlich durch Ausschluss aus der der gesellschaftlichen Produktion und damit des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.

Mit dem biotechnischen Weltbild entsteht eine neue Form der Eugenik, die den unvollkommenen Menschen und die durch ihn gefährdete Welt tendenziell durch die gentechnische Optimierung des Menschen und die künstliche Steuerung der Evolution ersetzen will. Diese Tendenz geht über aktuelle politische Kombinationen, über Ländergrenzen und auch über die Anti-Terrorstrategien hinaus, wo diese an die erkennbare Grenze kommen, an der sich, sagen wir es deutlich, mit jeder Bombe, die auf tatsächliche oder vermeintliche Terroristen niedergeht, neue Kämpfer erheben.

Dabei sind die eugenischen Inhalte in Begriffe der Vorsorgemedizin, der Zukunftssicherung, der Optimierung individueller Lebenschancen gekleidet; heute ist die Rede von Pränataldiagnostik, also von Tendenzen der vorgeburtlichen Auslese, von Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, die die Auslese sogar noch vor die Zeugung verlegt, von Stammzellenforschung, von der man sich das Heranzüchten künstlicher Organe verspricht, von reproduktivem Klonen, das die natürliche Zeugung bei Mensch und Tier ablösen soll, von ‚Grüner Gentechnik‘, die eine künstliche Pflanzenwelt schaffen will usw.

Das alles zielt auf verständliche, berechtigte Lebenswünsche der Menschen. Wer möchte nicht stark, gesund, klug und mit einem langen, erfüllten Leben gesegnet sein? Der individuelle Wunsch nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen wäre ja nicht das Problem, schon gar nicht, wenn dies allen Menschen gleichermaßen zugestanden würde. Das Problem liegt im Missbrauch dieser Wünsche durch die herrschenden Mächte.

 

Biotechnische Ruhe

Betrachten wir noch kurz die Liste der absehbaren, teils schon stattfindenden „Genetisierungen“, die Achim Bühl am Schluss  seines Buches aufführt. 

Das ist die Genetisierung der Überwachung, der Personalausweis mit genetischem Fingerabdruck, verbunden mit zentralen DNA-Banken für Straftäter, das sind DNA-Bürgerdatenbanken, die alle Staatsangehörigen von Geburt an erfassen, mit  pflichtgemäßer Beteiligung an Massenscreenings zur Aufklärung von Straftaten bis zu gesetzlich verankerten DNA-Tests zur Überprüfung der Familienzugehörigkeit bei Einwanderern.

Das ist die Genetisierung des Arbeitslebens. Wessen Gentest mögliche zukünftige Erkrankungen erkennen lässt, der oder die wird als  Bewerber/in abgewiesen. Im Gesundheitswesen zeigt sich die Tendenz, Krankheiten in wachsendem Maße als Abweichungen von einer virtuellen genetischen Norm zu definieren und per Sequenzanalyse und Gendiagnose als unangepasst zu stigmatisieren.

Das ist die Genetisierung der Reproduktion. Sie zielt darauf, die natürliche Zeugung durch die Zeugung in vitro zu verdrängen: „Der Staat einer biomächtigen Gesellschaft als ‚eugenischer Staat’“, so Bühl, „wird durch diverse Steuerungsmechanismen sowie Druck (‚Hegemonie gepanzert mit Zwang’) das Ziel verfolgen, die ‚natürliche Zeugung zu Hause’ durch die kontrollierte Zeugung in vitro inclusive umfassender PID zu ersetzen – begleitet von Diskussionen über ‚Gesundheitsverantwortung’ und staatsbürgerliche Pflicht zur Gesundheit’.“

Das ist Genetischer Rassismus. Seine Vertreter betrachten bestimmte genetische Dispositionen als wünschenswert, andere als minderwertig und ordnen sie zugleich bestimmten Bevölkerungsgruppen zu.

Hier darf an neuere Beispiele erinnert werden: das „Judengen“ etwa, das Thilo Sarrazin[xi] gefunden haben wollte, das „Toleranzgen“, das nach Ansicht des früheren niederländischen Außenministers Ben Bot den Moslems fehle[xii] oder selbst ein “Demokratie-Gen“, das Michail Gorbatschow bei den Protesten gegen Wladimir Putin zum Jahreswechsel 2011/12 ausgemacht haben wollte.[xiii] Die Variationsbreite der hier genannten Personen weist darauf hin, wie weit der alltägliche genetische Aberglaube heute bereits verbreitet ist.

In der Ökonomie schließlich wachsen Mikroelektronik, Computerindustrie und Biotechnologie zusammen. Ergebnis, so Bühl, werde ein „hohes Rationalisierungspotential“ sein, das sich besonders in der Agrochemie, der Lebensmittelindustrie und der Pharmaindustrie auswirken werde: „Bereits vorhandene Medikamente werden durch neue ersetzt, herkömmliches durch transgenes Saatgut abgelöst, der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft wird weiter verringert, Produktionsprozesse etwa in der Lebensmittelverarbeitung erfahren einen neuen Effektivierungsschub.“ Es werden, anders gesagt, noch weitere Menschen ins Abseits geschickt.

Betrachten wir noch den letzten Satz, mit dem Bühl seine Einführung in die Bestandsaufnahme zur „biomächtigen Gesellschaft“ abschließt: „Mit bereits erteilten Patenten auf pflanzliches, tierisches und menschliches Leben sind erste Schritte in Richtung einer biomächtigen Gesellschaft, die sich durch eine umfassende Ökonomisierung und Kapitalisierung des globalen Lebens auszeichnen würde, sowie durch vielfältige neue Abhängigkeiten nationaler Ökonomien ganzer Länder und Kontinente von einer Handvoll global agierender Saatmultis wie Pharmariesen, bereits vollzogen. Für ein dystopisches Szenario einer Genetisierung der Ökonomie existieren somit bereits vielfältige Wege zum andocken.“

Zum „dystopischen Szenario“, also dem abschreckenden Gegenbild zur wünschenswerten Utopie, gehören nach Bühl, wie könnte es unter heutigen Bedingungen anders sein, selbstverständlich auch noch das „genetische Personenkennzeichen“, das Staatsbürger schon vor ihrer Geburt katalogisiert, sowie – offenbar unvermeidlich und schon weit entwickelt – eine „neue Qualität der Bio-waffen“, die selektiv töten können.

Es muss nicht alles so kommen, wie Bühl und andere Kritiker des biotechnischen Präventionswahns es beschreiben. Vieles davon aber hat sich bereits unbemerkt von der Öffentlichkeit in den Alltag eingeschlichen. Und jeden Tag kommen neue Meldungen hinzu, nicht zuletzt über das Angebot immer ‚intelligenterer‘ Smartphones und der ausufernden Flut von ‚apps‘, die das Leben so angenehm verfügbar machen, indem sie dem Einzelnen die Kontrolle über das eigene Leben abnehmen.  

Einfach zusammengefast heißt dies alles: Die Gleise, die in eine „bio-mächtige Gesellschaft“ hinausweisen, in welcher die  ‚Überflüssigen‘ nicht mehr physisch vernichtet werden müssen, sondern stattdessen psychisch stillgelegt, normiert und kontrolliert werden, in der Geburten von vornherein verhindert oder ihre Anzahl und Qualität nach demographischen Nützlichkeitserwägungen gelenkt wird, sind bereits gelegt; am Zug, der darauf fahren soll, wird noch gebastelt. Der Phantasie über das Machbare sind jedoch kaum noch Grenzen gesetzt, sie führt direkt in ein ‚tittytainment’ der das gesamte Leben erfassenden futuristischen Art. Die „Biomächtige Gesellschaft“, eingefasst in den präventiven Sicherheitsstaat ist möglich, die Frage ist nur noch, salopp formuliert, ob wir, genauer gesagt, ob die ‚Überflüssigen‘ dieser Welt zusammen mit den noch-nicht ‚Überflüssigen‘ eine solche Entwicklung zulassen.

(Zuerst veröffentlicht in „Hintergrund, 3/2018)

 

überarbeiteter Auszug aus dem Buch:

Kai Ehlers die Kraft der Überflüssigen – und die Macht der Über-Flüssigen, Neuauflage, BoD Norderstedt, 2016. Zu beziehen über: www.kai-ehlers.de  

[i] Siehe http://www.mao-projekt.de/BRD/REP/Russell-Tribunal.shtml

[ii] Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of  Rome zur Lage der Menschheit, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1972

[iii] Global 2000, Ein Bericht an den Präsidenten, Frankfurt/M., Zweitausendeins, 1981

[iv] Igor Frolow, Wladimir Sagladin, Globale Probleme der Gegenwart, Dietz, Berlin, 1982, ausserdem: Miachail Gorbatschow, Perestroika, Die zweite russische Revolution, Knaur, München, 1987/89

Sowie: Igor Bestuschew,-Lada, Die Welt im Jahr 200 – Eine sowjetische Prognose für unsere Zukunft, Dreisam-Verlag, Freiburg, 1984

[v] CIA-Report, Long-Term Global Demographic Trends: Reshaping the Geopolitical Landscape, July 2001, us: http://www.cia.gov/library/report/s/general-reports-1/Demo Trends For WEB.pdf

[vi] Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell  füssli, Zürich 2003

[vii] Karl Marx, Das Kapital, Band 1,   Werke Bd. 23, Dietz, Berlin, 1979, S. 657 ff , Kapitel 3: „Progressive Produktion einer relativen Überbevölkerung oder industriellen Reservearmee.“

[viii] Hans-Peter Martin, Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle, Rowohlt, Hamburg 1996

[ix] Zbigniew  Brzezinski, Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power, Basis Books, New York, 2013

[x] Achim Bühl, Auf dem Weg zur biomächtigen Gesellschaft? Chancen und Risiken der Gentechnik, VS Research, Wiesbaden 2009

[xi] Thilo Sarazzin, Deutschland schafft sich ab, Deutsche Verlagsanstalt, München 2010

[xii] Siehe Achim Bühl, S. 89

[xiii] Kai Ehlers, Russland Zwischentöne, Dezember 2011 auf www.kai-ehlers.de

Arabien, Japan – Übergänge wohin?

Es ist eine beunruhigende Reihe: Islam, China, Arabien, Japan - bevor wir Zeit und Kraft gefunden haben, das Eine wahrzunehmen, werden wir schon wieder getrieben, uns dem Nächsten zuzuwenden? Wann gab es zuletzt eine solche Phase, in der sich die Ereignisse derart verdichteten?

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Arabische Umbrüche

Liebe Freundinnen, liebe Freunde

des Forums integrierte Gesellschaft,

unser Treffen zu den Umbrüchen im arabischen Raum war sehr intensiv. Wir haben natürlich keinen Fahrplan für eine arabische Revolution entworfen – dafür sahen wir uns umso intensiver mit der Frage konfrontiert, was wir Westler, konkret auch wir in unserem Alltag mit diesen Ereignissen zu tun haben.

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Die demographische Falle – Beobachtungen zur Kraft der „Überflüssigen“ (Anregungen zur Kritik gängiger Wachstums- und Schrumpfungstheorien)

Menschenwürde und Wirtschaft – das sind zwei Begriffe, die uns im Alltag wie selbstverständlich von den Lippen gehen. Tatsächlich ist der eine Begriff heute so wenig selbstverständlich wie der andere. Worin besteht die Würde des Menschen? Wer einmal so zu fragen beginnt, verliert sich schnell in unendlich vielen Antworten.

Die Menschenwürde ist untastbar, lesen wir schließlich im deutschen Grundgesetz; tatsächlich wird sie tagtäglich angetastet, wenn sich – um nur dies zu nennen – Millionen von Erwerbslosen dem ausgesetzt sehen, was von Kritikern der Hartz IV Regeln mit Recht „Verfolgungsbetreuung“  genannt wird, wie sie durch die Arbeitsämter vorgenommen wird. Und noch gar nichts ist mit diesem Hinweis auf hiesige Verhältnisse darüber gesagt, in welchem Maße Menschenwürde in anderen Teilen der Welt mit Füßen getreten oder einfach missachtet  wird.

Nicht besser geht es uns mit der Wirtschaft. Vor dem Ende der Sowjetunion mochten „Kapitalismus“ oder „Realsozialismus“ bei vielen Menschen noch als reale Definitionen des Wirtschaftens gegolten haben, inzwischen sind solche scheinbaren Definitionssicherheiten auf die Befürchtung geschrumpft, dass „die Wirtschaft“ die Menschheit in die Krise zu treiben drohe, statt deren Überleben zu sichern – ungeachtet der Frage, ob dieser Prozess als Vor-, Spät- oder Nachkapitalismus, als Turbokapitalismus, Globalisierung, als nationaler Sozialismus oder, wie im Falle Chinas, gar noch als Kommunismus bezeichnet wird.

Noch erklärungsbedürftiger ist der Zusammenhang von Menschenwürde und Wirtschaft. Nur so viel ist unbezweifelbar: Menschenwürde kann man nicht essen – aber ohne Essen gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht produzieren wie eine Ware – aber ohne Arbeit gibt es keine Menschenwürde. Menschenwürde kann man nicht berühren – aber ohne soziale Beziehungen gibt es keine Menschenwürde. Damit sind drei Bereiche der Realität genannt, die in der Beziehung von Wirtschaft und Menschenwürde untrennbar ineinander greifen: Versorgung, Arbeit, Kommunikation. Versorgung, das ist die ganze Spannbreite vom physischen Unterhalt bis zur Bildung, von der Selbstversorgung bis zur Fremdversorgung. Arbeit, das sind alle Veräußerung von Kraft, Fantasie und Lebenszeit, durch welche Menschen die Welt gestalten; Lohnarbeit ist nur ein besonderer, verabsolutierter Aspekt davon, der heute wieder an seinen Platz gerückt werden muss. Kommunikation, das sind die emotionalen, sozialen und kulturellen Beziehungen, die entstehen, wenn Menschen miteinander und füreinander tätig und aneinander interessiert sind.

Wie entwickelt sich das Dreieck dieser drei Elemente heute? Die Antwort auf diese Frage muss schockieren: In allen drei Bereichen tritt heute ein Problem vor allen anderen in den Vordergrund – die wachsende Zahl der so genannten „Überflüssigen“. Damit sind die Menschen gemeint, die in zunehmender Zahl aus dem Kreislauf von Arbeit, Versorgung und Kommunikation herausfallen oder gar nicht erst zu einem Bestandteil dieses Kreislaufes werden, weil ihre Arbeitskraft zunehmend durch Maschinen, beschleunigt durch Elektronik, generell gesprochen, durch Intensivierung der Produktion ersetzt wird. Zugleich werden die Strukturen traditioneller Selbstversorgung und Möglichkeiten einer Eigentätigkeit vor Ort zunehmend zerstört, sodass die Menschen von der Versorgung mit Fertigprodukten der Industrie abhängig werden, die sie aber – mangels Einkommen – nicht oder nur ungenügend erwerben können. Das betrifft auch für die Nutzung der Kommunikationsmittel von heute.

In der „Wirtschaft“, präziser, im Gefolge des technologischen Fortschritts der Industrialisierung entsteht so eine doppelte Entwürdigung des Menschen, der in die vollkommene Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung verfällt – der eine durch Ausgrenzung vom gemeinsamen Wohlstand, ohne noch auf minimale Versorgung durch Eigentätigkeit zurückgreifen zu können, der andere, der – in die intensivierte Produktion eingeschlossen – durch einen sich in mörderischer Weise beschleunigenden Arbeitsdruck zwar über die finanziellen Mittel, aber nicht mehr über die Kraft und die Fähigkeit verfügt, sich noch ausreichend um sich selbst als Mensch zu kümmern.

Merke gut: Dies alles geschieht, obwohl der industrielle Entwicklungsprozess evolutionär betrachtet eine zunehmende Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit beinhaltet, sein Überleben durch Einsatz seiner physischen Arbeitskraft zu sichern. „Eigentlich“ liegt in dieser zunehmenden Freisetzung „überflüssiger“ Kräfte bei steigender Produktivität heute die Chance für die unterschiedlichen Gesellschaften, für die Menschheit insgesamt, sich mehr als bisher anderen Aufgaben als denen des bloßen physischen Überlebens zuzuwenden. Das sind gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Zuwachses an Menschenwürde, wenn wir Menschenwürde an der Fähigkeit des Menschen messen, sich als Mensch zu verwirklichen – und wenn die Verhältnisse, unter denen die „Überflüssigen“ heute freigesetzt werden, als das erkannt werden, was sie sind, als Überfluss nämlich, und dieser Überfluss für diese Verwirklichung genutzt wird, indem die „überflüssigen“ Kräfte zu Eigeninitiativen aller Art ermutig werden, statt sie als Arbeitslose unter Kontrolle zu halten. Die Umwandlung der jetzigen kontrollierten Sozialfürsorge in ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen, das die materielle und kulturelle Basisversorgung eines jeden Menschen sichert, wäre dazu ein richtiger Schritt.

Eine weitere Tatsache rückt allerdings an dieser Stelle in den Blick, die das Problem gewissermaßen verdoppelt: Zeitgleich zur Freisetzung der „Überflüssigen“ aus dem Wirtschaftsprozess steigt die Zahl der Menschen auf dem Globus exponentiell an. Heute teilen sich 6,3 Milliarden Menschen den Globus, 2020 werden es ca. 9 Milliarden sein. Zwar sind sich Demographen aller Länder darin einig, dass die Kurve der jährlichen Zuwachsrate der Weltbevölkerung sich abgeflacht habe, die Dynamik des Wachstums trotz absolut steigender Bevölkerungszahlen rückläufig sei, das Gespenst einer allgemeinen „Bevölkerungsexplosion“, welche die „Tragfähigkeit“ des Globus sprengen werde also gebannt sei, dafür habe sich aber eine gefährliche „Disproportion“ des realen Wachstums herausgebildet. Salopp gesprochen ist auch tatsächlich zu konstatieren: Die Bevölkerungen der „westlichen“ Industrieländer schrumpfen, einschließlich Russlands, das von dieser Entwicklung am krassesten betroffen ist, die Länder des globalen „Südens“ dagegen erreichen Geburtenraten, die um ein Vielfaches über denen der „westlichen“ Länder liegen. Das gilt vor allem für Afrika, Indien und die Mehrheit der muslimischen Länder, nicht dagegen für China, dessen Zuwachsrate, bei steigender absoluter Zahl der Menschen dort, ebenfalls deutlich abgeflacht ist.

US-Geheimdienste – und in ihrem Gefolge europäische Popularisierer ihrer Erkenntnisse wie Gunnar Heinsohn, Völkermordforscher aus Bremen und nach ihm Thilo Sarrazin – haben es sich zu Aufgabe gemacht, für dieses Szenario Strategien zu entwickeln.  Seit 1990, genau genommen seit der globalen Wende zum Ende der Sowjetunion, zeitgleich mit dem großen Sprung in die „Globalisierung“ der Wirtschaft, sprechen sie nacheinander von der Gefahr einer demografischen Globalkrise, die in den kommenden Jahren, spätestens 2020/2030 auf die „entwickelte“ Welt zukomme, dann nämlich, wenn all diese jungen Menschen – im Jargon der Dienste: „Youth bulge“ genannt, Jugendüberschuss – in ihren jeweiligen Geburtsländern keine gesellschaftlichen Positionen mehr fänden, in denen sie ihre Ansprüche ans Leben verwirklichen könnten, während in den Industrieländern die jungen Menschen fehlten. Hieraus erwachse eine fundamentale Bedrohung der globalen Zivilisation, die es präventiv abzuwehren gelte. Dass mit dieser Zivilisation die „westlich“ dominierte gemeint ist, versteht sich schon fast von selbst, sei aber trotzdem erwähnt.

Von einer 80:20-Welt, bzw. Einfünftelgesellschaft war angesichts dieser ökonomischen und demografischen Daten bereits auf jener legendären Tagung die Rede, die Michail Gorbatschow im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco zusammenrief, um in einem „globalen Braintrust“ ausgesuchter „VIPs“ die Zukunft der Welt zu beraten.  Als Hauptthema kristallisierte sich heraus, was mit dem Heer der „Überflüssigen“ geschehen solle, die aus dieser Verdoppelung von Freigesetzten und globalem Bevölkerungszuwachs resultiere. Bekannt wurde der Vorschlag des einschlägig berüchtigten US-Strategen Sbigniew Brzezinski , ein globales „tittytainment“ einführen zu wollen. Die von ihm gewählte Wortschöpfung verbindet das englische Wort für die weibliche Brust, hier im nährenden Sinne, mit dem des „entertainments“ zu einer zeitgemäßen Variante des im alten Rom entwickelten Prinzips von „Brot und Spielen“. Ziel ist, 80% der Menschheit auf diese Weise „stillen“ zu wollen.

Über den zynischen Charakter dieser Vorstellung, die glaubt, 80% der Menschheit auf kontrollierte Konsumenten reduzieren zu können, muss hier nicht lange räsoniert werden. Wichtiger ist festzuhalten, dass eine solche Vorstellung – allen berechtigten Befürchtungen und Kritiken zum Trotz – nicht eins zu eins umgesetzt werden kann. Schon die dafür notwendigen Manipulations- und Kontrollsysteme dürften schwierig zu installieren und zu betreiben sein; aber davon ganz abgesehen, liegt der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten der Verwirklichung einer solchen Strategie schon in den Widersprüchen der gegenwärtig herrschenden globalen Wirtschaftsmechanismen. Die funktionieren nur dann, wenn der Kreislauf von: Kapital, Ware, mehr Kapital stattfinden kann. Dafür braucht es aber Konsumenten, die über Geld zum Kauf der Waren verfügen. Ausgegrenzte, „Überflüssige“, „Unterentwickelte“ haben dieses Geld nicht. Eine Verkürzung des Kreislaufes auf: Kapital gleich mehr Kapital kann dieses Problem aber auch nicht lösen, sondern führt – wie die Krisenentwicklung der letzten Zeit gezeigt hat – unweigerlich noch tiefer in die Krise. Aus ihr hilft auch massenhafter Druck von Geld nicht heraus, weil dieses Geld ebenfalls im Spekulationshimmel, statt bei den Konsumenten und in der Warenproduktion landet, wenn die Gelder für soziale Unterstützung der Erwerbslosen gleichzeitig zusammengestrichen werden.

Eine Lösung könnte einzig und allein in der Verlängerung der Vorstellungen Brzezinskis zur Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens für alle Menschen liegen. Mit einer solchen Maßnahme, und dies auch noch mit Blick auf die globale Gesellschaft, würde jedoch bereits der Raum eines gänzlich anderen Verständnisses von Wirtschaft und – was noch wichtiger dahinter steht – vom Wert des Menschen, von der Menschenwürde betreten. Es müsste dann heißen: Orientierung der Wirtschaft am Bedarf, nicht an der Selbstverwertung des Kapitals; neue Arbeitsteilung, die produktive wie nicht produktive Arbeiten auf alle Menschen verteilt; Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, statt Ausgrenzung der „Überflüssigen“ als stillzulegender oder gar zu entsorgender „menschlicher Müll“.

Es ist offensichtlich, dass eine solche Ausweitung nicht im Sinne des von Brzezinski vorgeschlagenen „tittytainments“ liegt. Für den Fall jedoch, dass die gewünschte Stilllegung nicht gelingen sollte, gehen aus den US-Studien von 1990, die dem 80:20-Szenario von 1995 und auch den daraus abgeleiteten Ausführungen Heinsohns zugrunde liegen, denn auch effektivere Varianten zum Umgang mit der dort beschriebenen Bedrohung hervor, die hier nur angedeutet werden können, aber eine weitere Betrachtung unbedingt fordern: Sie beginnen mit dem aktiven Export der westlichen „Eigentumsordnung“, verbunden mit einer gefilterten Immigration aus den Ländern des Bevölkerungsüberschusses in die Industriestaaten. Die Besten aus dem Heer der „Überflüssigen“ sollen hereingelassen,  die Unerwünschten dagegen an den Grenzen abgefangen werden. Ergänzend dazu wird über die nützliche Funktion von Bürgerkriegen in Ländern mit „Youth bulges“ nachgedacht, auch über Kriege zwischen solchen Ländern, in denen die Überschüsse „abgebaut“ werden könnten. Für alle Fälle müsse „man“ sich schließlich auch auf präventive militärische Eingriffe vorbereiten, mit denen „man“ jenen unter den „Youth bulge“-Ländern zuvorkommen müsse, welche die technischen Fähigkeiten zu möglichen Aggressionen gegenüber den industriellen Zentren erkennen ließen.

Die Wirklichkeitsnähe dieser strategischen Überlegungen lässt sich an der US-Politik der letzten Jahre, einschließlich des gegenwärtigen globalen Ausbaues der NATO zum allgemeinen Krisenmanager bestens nachbuchstabieren.  Klar ist aber, dass auch diese Strategien keine Lösung, sondern selbst Teil des Problems sind, schlimmsten Falles sogar seine Zuspitzung zur  allgemeinen Katastrophe. Besonders deutlich wird dies an den Vorschlägen zum Export der „Eigentumsordnung“, die Heinsohn als Alternative einer zukünftigen Wirtschaftsordnung anbieten möchte, wenn sie nach dem Beispiel der europäischen Entwicklung über die bloße „Produktion“ von Bevölkerungsüberschuss hinausgehe. Heinsohns Begründungen dafür sind nicht sonderlich originell, lassen aber den Kernpunkt klar heraustreten, wohin die herrschenden Strategien zielen, wo demgegenüber grundsätzliche Veränderungen anzusetzen hätten, wenn sie nicht Wiederholungen, Verfestigungen oder gar katastrophale  Zuspitzungen der bestehenden Wirtschaftsweise sein sollen.

Hier aber erst einmal Heinsohns Beschreibung: Er baut seine ganze Argumentation auf der Unterscheidung von Besitz und Eigentum auf. Durch den Übergang von der Besitz- zur Eigentumsordnung sei Europa groß geworden. „Ein Teil der Autoren redet  – und meint das kritisch – von Kapitalismus, ein anderer von „Marktwirtschaft. (kursiv – Heinsohn) Beide wollen damit den entscheidenden Beweger des Wirtschaftens jeweils möglichst knapp umreißen. Die Basis des Wirtschaftens liegt aber weder im Kapital  noch im Markt, sondern im Eigentum. Das kann man nicht sehen, riechen, schmecken oder anfassen, weil es ein papierener Rechtstitel ist.“  Die Unterscheidung von Besitz und Eigentum sei für das Verständnis des Wirtschaftens fundamental, weil nicht Besitz, sondern erst verbrieftes Eigentum die Möglichkeit gebe, Schuldverpflichtungen gegen Kredit und Zins einzugehen. Mit Besitz werde nicht „gewirtschaftet“, so Heinsohn, er werde lediglich „physisch benutzt“. Dass aber „Zins als entscheidende Zugkraft des Wirtschaftens am Eigentum haftet“, werde allgemein schlecht verstanden.

Am Beispiel des Ackers kommt Heinsohn dann zum Punkt: „Zur geschäftlichen Verwendung eines Ackers – also zum Wirtschaften mit ihm – kann es erst kommen, wenn zum Besitzrecht noch ein Eigentumstitel hinzutritt.  Man kann sagen, dass mit dem Acker produziert, mit dem Zaun, der ihn umgibt jedoch gewirtschaftet wird, wobei er den Eigentumstitel symbolisiert und nicht nach Draht und Pfosten betrachtet wird, die es auch in Besitzgesellschaften geben kann.  Während der Bauer einer Eigentumsgesellschaft seine Feldmark – durch eigenen Verbrauch oder durch Verpachten – als Besitzer nutzt, kann er mit dem Eigentumstitel an ihr gleichzeitig und eben zusätzlich wirtschaften. Er kann diesen Titel für das Leihen von Geld – Mark z.B. – verpfänden, oder er kann ihn für die Bereicherung des von ihm selbst emittierten Geldes – wiederum Mark – belasten. Die Geldnote – ob auf Metall oder Papier gedruckt – ist also ein Eingriffsrecht in das Eigentum ihres Emittenten und kommt nur durch Schuldenmachen in die Welt.“

Wirtschaften, um es deutlich herauszuholen, ist in dem von Heinsohns beschriebenen Modell also die private Aneignung eines Stück Landes (oder anderer Objekte), die andere Menschen von diesem Gebrauch ausschließt – eben einen „Zaun“ um das abgesonderte Eigentum errichtet. Auf dieser Basis erhebt sich, von ihm als positiv beschrieben, die Pyramide von Zins und Zinseszins, mit der erst Europa, heute der “Westen“ die übrige Welt in die Kredit- und Zinspflicht gebracht hat. Mit dieser Beschreibung liegt Heinsohn durchaus richtig. Treffender und aktueller als mit dem Bild des „Zaunes“ hätte er dieses Modell, das hier als Lösung, noch dazu als neue in die Welt gebracht werden soll, nicht umreißen können: Bei ihm nur bildlich gemeint, sind die Zäune, mit denen sich die sich die „Leistungsträger“ der sich herausbildenden 20:80-Gesellschaft von den „Überflüssigen“ absetzt, inzwischen ja gesellschaftliche Realität geworden. Man denke nur an die Zäune der EU in Tunesien und demnächst zwischen Griechenland und der Türkei, an die Zäune, mit denen sich die Reichen in den Metropolen selbst vor der armen Umgebung abschotten.  Es ist klar, dass dieses Modell nur tiefer in die Krise führen kann.

Wichtig und interessant ist es deshalb sich die Gegenentwürfe anzuschauen, die heute in der Kritik der möglichen 20:80 Zukunft weltweit an verschiedenen Orten entstehen. Nehmen wir die jüngste Veröffentlichung von Jeremy Rifkin , der als Amerikaner, weltweit anerkannter Zukunftsforscher und Berater von EU-Gremien nicht im Verdacht eines Schwärmers steht. Eher könnte er schon als gewissenhafter Buchhalter der Alternativdenker durchgehen, der sich um die wissenschaftlich korrekte Auflistung zukünftiger Weltbilder bemüht.

Unter dem Titel „Die empathische Zivilisation“ hat Rifkin eine Zusammenfassung der heute zu beobachtenden Entwicklungstendenzen der menschlichen Gesellschaft vorgelegt. Darin beschreibt er die Evolution der Gesellschaft als eine durchgehende Aufwärtsspirale von Fortschritt durch Empathie, Zusammenbruch, erneutem Fortschritt mit gewachsenen Empathiekräften, wieder Zusammenbruch bis hin zur heutigen entropischen Krise. Dabei versteht Rifkin unter Empathie die Fähigkeit des mitfühlenden miteinander Lebens, unter Entropie im Sinne des wissenschaftlichen Begriffes: Unordnung im Raum, sozial gesehen: Zerfall, Zerstörung, Zusammenbruch von Kulturen, Reichen, Zivilisationen. „Wir sind an einem Punkt angelangt“ schreibt er in seiner Einleitung, „an dem der Wettlauf  zwischen globalem empathischen Bewusstsein und globalem entropischen Zusammenbruch vor der Entscheidung steht.“  Das globale Bewusstsein, vom dem Rifkin hier spricht, nennt er schließlich eine „Lebensweise, in der die Menschen sich in einem „empathischen Biosphärenbewusstsein miteinander auf einer neuen Kulturstufe kooperierend verbinden“.

Wie Heinsohn beschreibt Rifkin zunächst den Übergang vom Besitz zum Eigentum, der erst die Entwicklung bis zum heutigen Stand der Zivilisation ermöglicht habe. Dann aber zeigt er auf, dass die Entwicklung der Produktions-, Verteilungs- und Konsumstrukturen der heutigen globalisierten Wirtschaft über den privatisierenden Eigentumsbegriff hinausweise. Die Basis dafür sieht Rifkin im geraden Gegensatz zu Heinsohn in der „Wiedererweckung des kulturellen und öffentlichen Kapitals“. Die hochgradige Dezentralisierung und Vernetzung des Kapitals, des Konsums wie auch des alltäglichen, durch globale Kommunikation intensivierten Lebens löse das Verständnis von Eigentum als Ausgrenzung durch die „Wiedererweckung“ eines Eigentumsbegriffes ab, in dem Eigentum wie seinerzeit in den vorkapitalistischen Gesellschaften nicht den Ausschluss von, sondern „Zugangsrechte“ zum gemeinsamen Besitz definiere. Eigentum werde in zunehmendem Maße wieder als die Berechtigung verstanden, Zugang zum gemeinsamen Kapital zu haben – so wie in vorkapitalistischer Zeit zu Feld, Wald, Allmende oder Gerätebestand eines Dorfes. Heute und in absehbarer Zukunft gehe es um das Recht auf Versorgung mit Grundelementen der allgemeinen Infrastruktur, des Weiteren mit Wärme, Wasser, Luft, um das gemeinsame Wissen im Netz usw.

Rifkin skizziert also eine Entwicklung, die dem 20:80 Modell diametral entgegenläuft. Es ist ein Modell, das nicht auf Ausgrenzung einer Mehrheit von Menschen aus einer zum Privateigentum einer Minderheit erklärten Welt zielt, sondern auf Nutzungsmöglichkeiten für alle zu einem als Gemeinschaftsbesitz verstandenen Kapital, wobei „Kapital“ das gesamte bisher im Laufe der Menschheit geschaffene ökonomische und kulturelle Vermögen umfasst, einschließlich der Beschaffenheit unseres Planeten, die Lebensgrundlage für die Existenz der gesamten Zivilisation ist.

Hier möchte ich Rifkins Skizze der möglichen Welt von morgen verlassen. Bis hierhin konnte ich mich seiner Beschreibung weitgehend anschließen. Siehe dazu auch meine eigene Darstellung dieses Sachverhaltes in dem Buch „Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“ , in dem die Frage der Wiederkehr des Nutzungsrechtes im Rahmen eines als historische Gemeinschaftsleistung der Menschheit verstandenen Kapitals ausführlich erörtert wird.

Die abschließenden Prognosen Rifkins jedoch unter dem Stichwort der „Selbstinszenierung einer Improvisationsgesellschaft“, in welcher er die Zukunft als „Dramatisierung“ des Lebens in den Kommunikationsnetzen des virtuellen Raums beschreibt, wird den sozialen Herausforderungen der 20:80 Perspektive aus meiner Sicht nicht gerecht. Die mit dem 20:80-Problem verbundenen Fragen sind mit der bloßen Vernetzung in einer globalen Kommunikation analytisch nicht in ihrer Widersprüchlichkeit erfasst und praktisch so nicht zu meistern – weder in ihren negativen Auswirkungen, noch in den darin liegenden Chancen. Es wirken ja außer der Kommunikation, im Fall der Missachtung auch hinter unserem Rücken, noch die beiden anderen Bestandteile des Wirtschaftens: Versorgung und Arbeit. Erst in Verbindung mit ihnen gewinnen die heutigen und noch zu erwartenden Möglichkeiten der Kommunikation ihren Charakter – als Instrumente der globalen Freisetzung von Kreativität, produktiver sozialer Aktivität und eigenen Entwicklungsmöglichkeiten für die Millionenscharen „Überflüssiger“, wie mit Rifkin zu hoffen ist, oder der Manipulation im Sinne des „tittytainment“ und schlimmsten Falles direkter repressiver Kontrolle.

Deshalb sei hier noch ein weiteres Element in die Betrachtung eingeführt, das unbedingte Beachtung verdient. In der Regel wird es bei Analysen der heutigen Entwicklungsdynamiken vergessen, übergangen, nicht selten auch aktiv unterschlagen. Die Rede ist von den seit dem Ende der Sowjetunion unternommenen Versuchen, die russischen Gemeinschaftsstrukturen zu privatisieren und von den Wellen, die davon auf die globale Entwicklung ausgehen. Ich will diese Frage hier nicht im Detail ausführen und verweise auch dafür auf das schon erwähnte Buch zur „Integrierten Gesellschaft“ und weitere Veröffentlichungen von mir zur Analyse der Geschichte und der Aktualität der russischen, nachsowjetischen Gemeinschaftsstrukturen.

So viel aber muss hier gesagt werden: Trotz aller Bemühungen der russischen Reformer wie auch ihrer Stichwortgeber und Mitstreiter der internationalen Kapitale – angefangen bei Jeffrey Sachs  Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bis hin zu den verzweifelten Modernisierungskampagnen des gegenwärtigen russischen Tandems, das Dimitri Medwedew und Wladimir Putin bilden – ist es bisher nicht gelungen, die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands aufzulösen und in privatkapitalistische Monopolstrukturen zu überführen. Nach wie vor dominiert eine nicht aufgelöste Kombination zwischen der durch die Verfassung deklarierten privaten Eigentumsordnung und korporativen Wirtschafts- und Lebensstrukturen. Immer noch existieren ganze Lebensgemeinschaften, zu denen sich Großbetriebe, industrielle wie auch agrarische, Dörfer und Städte verbinden, nicht selten mit regionalen Vernetzungen.

Aus westlichem Blickwinkel, auch aus dem Blickwinkel westlich orientierter Reformer in Russland selbst wird diese Realität in der Regel als Korruption wahrgenommen. Tatsächlich handelt es sich hier um Elemente, nicht selten inzwischen auch in degenerierter Form, gemeinschaftlicher, nicht privateigentümlicher Eigentumsverhältnisse, die ihre Wurzeln noch in der Zarenzeit haben, durch die Sowjetunion noch einmal tiefer in die öko-sozialen Strukturen des Landes und in das soziale Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben und bisher nicht vollends transformiert, aufgelöst oder zerstört werden konnten. Kurz und knapp gesagt: Es geht um eine Kombination von Produktion und in Russland so genannter „familiärer Zusatzwirtschaft“, in der die Selbstversorgung vor Ort ein konstituierender Bestandteil der Volkswirtschaft war – und heute noch ist. Die Privatisierung, sprich auch die Kapitalisierung hat nur Teile der Bevölkerung, nur Teile des Landes, generell kann man sagen, nur einige Bereiche des Lebens und der Gesellschaft erreicht, andere Bereiche und Teile zeigen sich aller oberflächlichen Modernisierung zum Trotz resistent.

Diese Organisation des Lebens setzt sich auch heute als Symbiose von industrieller Modernisierung im Geiste westlicher Industriekultur und nach wie vor bewusst gepflegter Strukturen der familiären und auch gemeinschaftlichen Selbstversorgung fort. Supermarkt und Datscha (also familiäre oder auch gemeinschaftliche Zusatzversorgung im Garten, auf dem eigenen kleinen Feld und im Hofgarten), Fremdversorgung und Eigenversorgung halten sich auch heute in der Versorgung der Bevölkerung mit alltäglichen Grundnahrungsmitteln die Waage. Auf dem Höhepunkt der letzten Krise 2008/2009 war die Datscha in dieser Bedeutung neben dem Stabilisierungsfonds aus den Erdöleinnahmen das zweite Standbein für die Erhaltung der sozialen und wirtschaftlichen Stabilität. Putin forderte die Unternehmen, die sich im Zuge der Privatisierung ihrer sozialen Aufgaben entledigt hatten, ausdrücklich und unter Androhung von Sanktionen auf, in ihre korporativen Pflichten gegenüber Dörfern, Städten, Regionen wieder einzusteigen. Kurz, von Russland geht heute die Botschaft aus, dass die westliche Eigentumsgesellschaft nicht die einzige Antwort auf die Frage ist, wie ein Leben nach dem Ende der sozialistischen Utopie aussehen könnte, das den Menschen nicht nur einen erhöhten Konsum ermöglicht, sondern auch noch eigene Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen ihrer Eigenversorgung belässt.

Zweifellos ist die russische Entwicklung kein Modell, das direkt auf andere Länder übertragbar wäre, vor allem nicht auf solche, in denen Selbstversorgung nur noch als Kriegserinnerung lebt wie in Deutschland oder auf andere Teile der Welt, in denen die Reste lokaler Selbstbewirtschaftung soeben zerstört werden wie in den ehemaligen Kolonien Europas, die heute in die „Moderne“ stürzen. Ja, es ist nicht einmal sicher, wie weit der Pendelschlag der Privatisierung die Zerstörung der traditionellen Gemeinschaftsstrukturen Russlands noch vorantreibt, sicher ist dennoch, dass erstens jedes Pendel umkehrt, wenn sein Schwung ausläuft; das kulturelle Gedächtnis der Menschen, ebenso wie die gewachsenen Strukturen eines Raumes gehen nicht verloren, sie gehen als Element in die zukünftige Entwicklung ein. Das lässt für Russland eine lebendige Symbiose zwischen Industrieproduktion und den lange gewachsenen Traditionen der gemeinschaftlichen Eigenversorgung erwarten. Welche Form diese Symbiose annimmt, wird sich zeigen, sicher aber wird es kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch geben, in dem Fremd- und Eigenversorgung, Individualisierung und Gemeinschaftstradition einander in neuer Gestalt mischen und ergänzen.

Ungeachtet dessen aber, das sei noch einmal betont, geht von der Realität der russischen Transformation schon jetzt die Erkenntnis aus, dass „der Kapitalismus“ mit seiner aggressiven Fremdversorgung nicht das letzte Wort der Geschichte ist, sondern selbst nur ein Übergang in eine Wirtschafts- und Lebensordnung, die nicht nur materielle Grundbedürfnisse befriedigt, sondern auch noch die Chance zur Entfaltung eigener Kräfte im familiären wie im gemeinschaftlichen Rahmen gibt.

In Deutschland, aber auch anderen Orten der Welt hat schon längst eine Bewegung eingesetzt, die Vorstellungen dieser Art sucht und versucht sie in die Praxis umzusetzen. Unterschiedlichste Modelle sind entstanden, die nahezu alle den Bedarf, nicht den Profit um des Profites willen, in den Mittelpunkt rücken – eine Versorgung, die sich nicht nur auf Fertigprodukte stützt, sondern Eigenversorgung mit einbezieht, eine Organisation der Arbeit, die produktive und „überflüssige“ Tätigkeiten gerecht und lebensfördernd verteilt, die Intensivierung der Beziehungen zwischen den Menschen, welche die Menschen emotional, geistig und spirituell fördert. In Ansätzen werden auch lokale und regionale Räume mit in die neue Organisation des Lebens einbezogen.

In all diesen Experimenten wird eine Zukunft sichtbar, in der kein Mensch „überflüssig“ ist, sondern jede Frau, jeder Mann, jedes Kind, gleich ob gesund oder krank, jung oder alt, ob praktisch orientiert oder eher spirituell, ihre oder seine Daseinsberechtigung, Aufgaben, materielle und emotionale Versorgung im gemeinschaftlichen Geschehen hat. Vieles muss hier, besonders in der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, noch ausprobiert werden, und es wäre gut, wenn die Erfahrungen aus der nachsowjetischen, aufbauend auf der russischen Geschichte darin mit eingehen könnten, die leider immer noch verdrängt werden. Die Traumata von Zwangskollektivismus jeglicher Couleur, stalinistischen wie faschistischen, individualistische Irrwege auf der anderen Seite müssen noch erkannt und praktisch überwunden werden. Die neuen Formen des zusammen und doch individuell Arbeitens müssen ausprobiert werden, ohne in Gemeinschafts-Dogmatismus oder individualistische Anarchie zu verfallen. Praktisch sind viele diese Gemeinschaften zudem Probierfelder dafür, ob ein Grundeinkommen den Realitäten einer gemeinsamen Ökonomie standhält.

All dies sind hohe Herausforderungen, die diese Gemeinschaften zu Experimentatoren für eine Lebensweise machen, in der – schlicht gesagt – der Mensch wieder oder vielleicht besser gesagt, endlich im Mittelpunkt steht, jetzt aber nicht nur als Arbeitskraft, die ausgebeutet wird und als Konsument, der den Warenumsatz und damit den Profit garantiert, sondern in seinem Wert als schöpferisches Wesen, das seinen Wert darin hat, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen als solches zu entwickeln. Es ist zu hoffen  und daran zu arbeiten, dass diese Impulse auch die übrige Gesellschaft erreichen.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Dieser Text erschien auch in: Entgegensprechen, Teil 2. Schöpfungskraft Wirtschaft, herausgegeben vom KunstRaumRhein, Edition gesowip, Basel 2011.  Bezug über KunstRaumRhein, Postfach, CH–4005 Basel 5, oder den Buchhandel.