Schlagwort: Autarkie

Angst vor Russland, warum? Der genauere Blick auf die Putinschelte

Wird der Westen von Russland bedroht? Glaubt man den Kommentaren, die gegenwärtig rund um den `Fall Skripal‘ wieder einmal Konjunktur haben, dann müsste man das annehmen. Man kann allerdings auch die Frage stellen, die sich hinter all dem Getöse erhebt: Woher diese Angst? Wovor fürchten sich die USA – obwohl doch die ‚einzige Weltmacht‘? Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der ‚höchsten zivilisatorischen Werte‘? Wovor fürchten sich all diese beflissenen medialen Brandbeschleuniger?

 

Russlands Autarkie

Die Antwort ist  umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie.

Die russische Autarkie ist dreifach begründet: Das sind zum einen die natürlichen Ressourcen in der Weite Russlands: Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw.; es sind zum zweiten die sozio-ökonomischen Ressourcen, die aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung und den damit verbundenen, ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen folgen. Das ist zum dritten die Vielfalt des Völkerorganismus, aus der dem Land – bei allem unvermeidlichen Zentralismus – starke Kräfte zufließen.

 Zu sprechen ist von einem außerordentlichen natürlichen und menschlichen Reichtum, einer strukturell begründeten potentiellen Autarkie, die keine andere Gesellschaft auf der Erde in dieser konzentrierten Art und Weise ihr Eigen nennen kann. Sie gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – unabhängig von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als andere Länder es könnten. Dreimal versetzte diese strukturelle Autarkie Russland im Lauf  der jüngeren Geschichte bereits in die Lage, westlichen, konkret europäischen Eroberungsversuchen zu trotzen, sie zumindest zu überstehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939.

Heute ist es wieder so: Trotz technischen Nachholbedarfs, trotz Dauer-Transformation seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bis heute schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt auch nach 1991 wieder, nicht nur zu überleben, sondern, zwar noch geschwächt, aber doch mit neuer Stärke aus der Krise hervorzugehen.

 

Stabilisierung innen und außen

Wladimir Putins Wirken und seine Auftritte spiegeln diese Tatsachen: Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht. Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte – soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung.

Nach außen ist es der Widerstand gegen den hegemonialen Anspruch der USA. Die Stichworte dazu sind, um nur an die wichtigsten Stationen zu erinnern: Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin  2002 nach dem Niedergang in den 90ern, Auftritt gegen die Militarisierungspolitik der USA bei der Münchner Sicherheitstagung 2007, im Anschluss daran eine – so kann man es in Erinnerung an vordergründige westliche Kritiken nennen, die dem nachsowjetischen Russland Unentschiedenheit vorwarfen – konsequent opportunistische Politik Russlands zwischen Ost und West, zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. In ihrer Folge wurde Russland zum Impulsgeber einer sich aus der Dominanz der USA und des Westens allmählich lösenden multipolaren  neuen Welt,  während die ehemals ‚Neue Welt‘, die USA, sich in dem Versuch, die ihr 1991 zugefallene Weltherrschaft zu behaupten, in Kriege verstrickte und immer verstrickt und am Verfall ihrer moralischen wie auch politischen Autorität krankt.

Wird Putins Politik unter diesen Gesichtspunkten sachlich überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, der Russland wieder auf den Weg zu sich selbst und als Großmacht wieder ins globale Spiel gebracht hat. 

In dieser sich abzeichnenden Wende liegt die Ursache für die Angst des Westens, dessen herrschende politische Schichten meinten, Russland im Kalten Krieg geschlagen zu haben und die nun mehr und mehr erkennen müssen, dass die Geschichte keineswegs beendet ist, weil auf dem Höhepunkt der amerikanischen Weltordnung angekommen, sondern das sie auf ganz neue, von ihnen nicht erwartete und nicht erwünschte Weise neu angestoßen werden könnte.

 

Great game – neu aufgelegt

Diese Kräftelage macht deutlich, worum es bei dem neuaufgelegten „Great Game“ geht, soweit es Russland betrifft: Es geht zunächst darum Russland von der Verfügungsgewalt über seine natürlichen Ressourcen zu trennen. Das trifft sogar dann noch zu, wenn nicht nur über Gas und Öl, sondern auch über erneuerbare Energien oder Energien aus Naturkräften wie Wind, Wasser, Sonne gesprochen wird. Selbst neue Verfahren der Energiegewinnung, wie OPV (Organische Photovoltaik), die heute am Horizont auftauchen, sind in diese Perspektive mit eingeschlossen, solange auch dafür eine Kunststoffbasis beruhend auf Öl gebraucht wird.

 Es geht dem Westen des Weiteren um politische Interventionen, die Russland daran hindern sollen, vom Impulsgeber der sich ausbildenden multipolaren Ordnung zu deren globaler Bezugsgröße zu werden. Konkret geht  es darum, Putin nicht weiter Statur als globaler Stabilisator und Krisenmanager gewinnen zu lassen. Dem dient die Dämonisierung Putins als neuer Hitler, neuer Stalin, als Aggressor usw., nach dem Motto: „Irgendetwas bleibt immer hängen“.

 

Schlechte Karten für den Westen

Unter all diesen Bedingungen haben die Westmächte, wenn sie Russland klein halten wollen, statt ein starkes Russland als Chance für einen zukünftigen Weltfrieden zu begreifen, nur wenige Optionen: Sie können versuchen Russland über Sanktionen zu schwächen; sie können versuchen Russland in einen Rüstungswettlauf  zu treiben, sie können versuchen Russland in Kriege an seinen Grenzen zu verwickelt. Sie könnten davon träumen, Russland unter Ausnutzung von Widersprüchen in seinem Vielvölkergefüge nach dem Muster der Ukraine in einen Regimechange zu treiben oder schließlich gar direkt mit Krieg zu überziehen.

Letztlich ist keine dieser  Optionen realistisch, solange politische Vernunft das strategische Handeln bestimmt: Eine erneute Destabilisierung Russlands auf dem jetzigen Niveau wäre gleichbedeutend mit einer Destabilisierung des Weltmarktes und der internationalen Beziehungen. Ein direkter militärische Angriff auf Russland, der mehr bewirken sollte als eine zeitweise Lähmung des Landes auf dem Niveau der Selbstversorgung, wäre angesichts atomarer Bewaffnung der möglichen Kontrahenten gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Welt. Daran können selbst größenwahnsinnige Noch-Hegemonisten kein Interesse haben. Was außerhalb rationaler Interessen geschieht, wenn sich die Feindpropaganda an ihren eigenen Ängsten hochzieht, ist eine andere Frage, über die zu spekulieren keinen Sinn macht.

 

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

 

Siehe auch die umfangreichere Analyse zur gleichen Frage aus dem Jahre 2008 auf der WEBsite des Autors. Darin  werden historischen Grundlagen und Entwicklung der russischen Autarkie ausführlich dargelegt.   

Russland – Weltmacht im Wartestand. Oder auch: Angst vor Russland, warum?

Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin

Auf: https://test.kai-ehlers.de/?s=Angst+vor+Russland%2C+warum%3F++

 

Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes

Ungeachtet des angekündigten Kuschelkurses zwischen Donald Trump und Wladimir Putin, ungeachtet aller Beteuerungen aus Kreisen der EU wie auch der politischen Etagen Deutschlands, man wolle sich um ein gutes Verhältnis zu Russland bemühen, ungeachtet der von niemandem zur Zeit mehr bestrittenen Tatsache, dass das Schlachten in Syrien durch das Hinzutreten von Russland in einen – zumindest vorläufigen – Waffenstillstand übergegangen ist, also, ungeachtet all dieser Signale, ist das Verhältnis zwischen den Weltmächten doch nach wie vor das bekannte: die soeben zurückliegende „Sicherheitskonferenz“ in München brachte es unmissverständlich an den Tag: dort hat, wie die  „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es treffend zusammenfasste, die neue amerikanische Regierung in der Person des US-Vize-Präsident Mike Pence den Europäern „Bündnistreue in der NATO und eine Kritische Haltung gegenüber der russischen Aggression zugesichert.“ US-Präsident Trump twitterte gar in Abwesenheit, er sei ein „NATO-Fan“. Continue reading “Hybrid Russland? – Ein Angebot zur Entdämonisierung eines Feindbildes” »

Wladimir Putins Botschaft an den Westen: Ein Zeitfenster für Alternativen (so aktuell wie nie)

Wladimir Putins Rede auf dem Waldai-Forum in Sotchi am 24. Oktober 2014 war wohl der bisherige Höhepunkt verbalen Kräftemessens im Angesicht der gegenwärtigen globalen Krise. (1) Es war ein beachtlicher Auftritt mit dem Anspruch, eine globale Waldai Forum Putin RedeAlternative zu präsentieren.

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Sanktionen und Russlands Autarkie – hintergründige Betrachtungen statt vordergründiger Polemik

Sanktionen und Russlands Autarkie –

hintergründige Betrachtungen statt vordergründiger Polemik

Was geschieht, was bedeutet es, wenn Russland sich nicht mehr dafür entschuldigt, die seit der Auflösung der Sowjetunion bestehende Weltordnung verändern zu wollen, sondern demonstrativ Veränderungen fordert  und bewirkt – und dafür Anklagen, Kritik, propagandistische Anfeindungen, und nicht nur das, sondern auch Versuche des Westens erntet, Russland zu isolieren und im Sanktionskrieg zu schwächen?

 

Konkret: Hat Russland die Kraft diesen Konflikt zu bestehen? Worin könnte diese Kraft liegen? Nacheinander sind dazu drei Elemente zu betrachten:

  1. Die Rolle der Vielvölkerrealität Russlands?
  2. Die Rolle der traditionellen Selbstversorgungskultur Russlands.
  3. Russlands Reichtum an Ressourcen.

Die Überlegungen zu diesen Fragen sind als Annäherungen gedacht, die zur Diskussion stehen. Zustimmende oder auch gereizte Reaktionen sind erwünscht.

 

Vielvölkerrealität:

Die Vielvölkerrealität ist Russlands Reichtum Nummer Eins. Anders als die aus der Geschichte übriggebliebenen großen Vielvölkerreiche der Neuzeit, die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich, überstand der russische Vielvölkerorganismus nicht nur den ersten und den zweiten Weltkrieg, sondern ging in Gestalt der Sowjetunion gestärkt und sogar noch erweitert daraus hervor. Während das Habsburger Vielvölkergebilde wie auch das Osmanische Reich im Zuge dieser Entwicklung in eine Vielzahl von Nationalstaaten  zerfiel, die sich untereinander bekämpften und in ethnischen Säuberungen zerfleischten, ging das Zarenreich in eine föderale Ordnung von Unionsrepubliken, autonomen Regionen und Bezirken über. Das  mag man gut oder schlecht finden, man mag die später von Stalin betriebene „Sowjetisierung“, konkret Deportation ganzer Völker nach Sibirien dagegen halten, es war aber vom Ansatz her, wie ihn Lenin, selbst Stalin in der Gründungsphase der Union verfolgte, ein Schritt, der die traditionelle autokratische Herrschaftsstruktur in die Moderne einer föderal organisierten Pluralität von Völkern verwandelte, wenn auch unter Führung Moskaus.

Mit dem Zerfall der Union hat sich diese Struktur, soweit es die Sowjetunion betraf, in unabhängige Gebiete aufgelöst, die unter dem Druck einer nachholenden Nationenbildung ihre Identität suchen. Zu welchen Konflikten das geführt hat, konnte man die letzten zwanzig Jahre über an den Rändern der ehemaligen Sowjetunion beobachten. Aktuell sind wir immer noch Zeugen dieses Vorgangs, diesmal in der Ukraine und hier auf Grund der besonderen Bedingungen der Ukraine als traditionellem Durchgangsraum besonders heftig.

Für Russland konnte Wladimir Putins Politik der autoritären Konsensbildung einen auch auf den Kernbestand Russlands übergreifenden Zerfall aufhalten, mit dem Ansatz zur Entwicklung einer Eurasischen Union sogar eine Gegenbewegung einleiten. Oder anders, einmal von der katastrophischen Seite aus betrachtet: Wenn es der russischen Regierung nach dem anarchischen Auseinanderdriften der russischen Regionen und Völker unter Jelzin nicht gelungen wäre, dem von Jelzin 1991 ausgegebenen Motto: „Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ eine Restauration der Zentralmacht entgegenzusetzen, dann – sagen wir es so – wäre es nicht bei den tschetschenischen Absetzbewegungen geblieben. Eurasien wäre in eine lange Phase nationalistischer, separatistischer Kämpfe und ethnischer „Säuberungen“ eingetaucht.  Umgekehrt geht aus dem Erhalt der föderativen Gliederung der Vielvölkerrealität eine starke Kraft für Russland und auch für die Stabilität Eurasiens hervor  – wenn sie gefördert wird. Diese Kraft wirkt nicht nur in Russland selbst, sondern wirkt zugleich als Impuls für die von Russland, konkret jetzt Putin vertretenen Perspektiven einer multipolaren Weltordnung.

Westliche Beobachter sollten begreifen, dass diese russische Ordnung nach anderen Gesetzen als denen des aus dem Westen bekannten nationalen Einheitsstaates lebt. Im russischen „Patriotismus“ ist lokaler Stolz und Zugehörigkeit zum russländischen Ganzen in einer Weise verflochten, die sich einfachen „nationalistischen“ Deutungsmustern entzieht. Ein Mensch Russlands, der oder die sich als „Patriot“ bezeichnet, ist noch lange kein „Nationalist“. „Patriotismus“ ist in Russland etwa mit Heimatverbundenheit zu übersetzen, einschließlich deren, wenn nötig auch bewaffneter Verteidigung, „Nationalismus“ definiert sich dagegen als eine Haltung, die anderen aggressiv die eigene Identität überstülpen will.

Ausgesprochen fad wird es, wenn der Chef der Moskauer Böllstiftung Jens Siegert („Russlandanalysen“, Heft 251, 8.2.2013)) ausgerechnet die Vielvölkerrealität Russlands zu dem erklärt, wovon heute die besondere Aggressivität Russlands ausgehe, da man nicht wisse, wo sie ende und diese Gefahr nur überwunden werden könne, wenn auch Russland seine nachholende Nationenbildung erfolgreich durchführe. Wie blind muss man sein, um nicht zu erkennen, dass eine solche Nationenbildung ein tiefer historischer Rückfall hinter die föderalen Strukturen Russlands wäre und nur in einer Atomisierung Russlands und einer Chaotisierung Eurasiens enden könnte? Eine andere Sache wäre es, den föderalen Aufbau in Richtung einer Kooperation autonomer Regionen zu stärken.

 

Traditionelle Selbstversorgungsstruktur Russlands

Wer es aus der Geschichte noch nicht wusste, auch aus der aktuelleren, der oder die erlebt es jetzt unter den Bedingungen des vom Westen gegen Russland entfesselten Sanktionskrieges. Die Sanktionen sollen die russische Wirtschaft nicht nur schwächen, sie schwächen sie auch tatsächlich: der Rubel entwertet, die Preise steigen, der Ölpreis sinkt, Fabriken fahren ihre Produktion wegen nicht gelieferter Zwischenbauteile runter usw. usf., aber gleichzeitig scharen sich Olga und Iwan, aber auch die Tschuwaschen Aidar und Elfi und Mitglieder anderer russländischer Ethnien um Wladimir Putin und die von ihm zur Zeit repräsentierte Politik der Verteidigung Russlands gegen die als vollkommen ungerechtfertigt erlebten Angriffe von außen. Gleichzeitig mobilisieren die Sanktionen die traditionellen Fähigkeiten der Selbstversorgung im kollektiven und im individuellen Maßstab: Jetzt werden Pläne für die Re-kultivierung lange brachliegender Felder, für die zeitweilig halb stillgelegten in Russland so genannten familiären Zusatzproduktionen auf den Datschen und Hofgärten in Angriff genommen, der Konsum leichter Industrieware wird auf eigene russische Produkte  umgelenkt und die  Produktion effektiv umgestellt usw. usf.

Das alles verhindert nicht, dass die russische Wirtschaft kurzfristig in den Keller geht – längerfristig ruft es die Entwicklungskräfte wach, die unter der Decke des bequemen West-Konsums in den letzten Jahren geschlafen haben. Die russische Wirtschaft besitzt eine traditionelle Doppelstruktur, in der sich industrielle Produktion auf Basis von Privateigentum (bzw. Staatseigentum) an Produktionsmitteln  und Lohnarbeit und andererseits kollektive Produktion auf Basis selbstversorgerischer Nutzungsstrukturen zu einer hybriden Ökonomie verbinden, die Marx seinerzeit asiatische Produktionsweise nannte. Hintergrund ist die aus der russischen Geschichte in die Neuzeit herüberwachsende Gemeinschaftstradition der sog. Óbtschschina, der Bauern-, Produktions- und Lebensgemeinschaft. Der heutige russische Wirtschaftswissenschaftler  Theodor Schanin hat dafür den Begriff der „expolaren Wirtschaft“  gefunden, einer Wirtschaft, die sich nicht in die theoretisch sauberen Kategorien von „kapitalistischer“ oder „sozialistischer“ Wirtschaft einordnen lässt.  Aus einer ganz anderen Sicht, nämlich aus jener der US- Ökonomin Elenor Ostrom, Nobelpreisträgerin für die von ihr über Jahrzehnte betriebene Commons-Forschung, könnte man von einer besonderen „sozialökonomischen Potenz“ sprechen, die in der russischen Bevölkerung bis in die konkreten Lebensstrukturen und die Topographie des Landes hinein veranlagt ist.

Zweifellos hat die Politik der russischen Reformer – von Michail Gorbatschow über Jelzin einschließlich Putins – in den letzten Jahren einen harten Kampf der „Kapitalisierung“, der „Monetarisierung“, also der „Modernisierung“ gegen diese für uneffizient und dem gewünschten „Wachstum“ hinderlichen Strukturen der russischen Volkswirtschaft geführt,  nichtsdestoweniger hat die russische Regierung sich in allen zurückliegenden Krisen der letzten Zeit auf eben diese Strukturen gestützt. Ohne diese Basis der traditionellen kollektiven und individuellen Selbstversorgungsstrukturen hätte die russische Bevölkerung weder die „Schocktherapie“ Ende der 80er und in der ersten Hälfte der 90er ohne Hungerkatastrophen überlebt, noch den „Default“ von 1998, als die kurze russische Scheinblüte der Privatisierungsgewinne zusammenbrach, noch die schwere internationale Krise von 2008/2009.

Immer sind es die sozio-ökonomischen Kompetenzen der informellen „expolaren“ Wirtschaft, die die Krise auffangen, während die Krise zugleich dazu führt die eigenen Aufbaukräfte  gegenüber den importierten zu stärken. Dieser sozio-ökonomische Reflex ist umso stärker, je mehr die Krise durch Angriffe von außen  verursacht ist. Das ist eine russische Wahrheit, fast eine Banalität. Man muss aber wohl doch darauf hinweisen, weil manche Menschen dazu neigen, historischen Tatsachen wie die zu verdrängen, dass weder Napoleon, noch Hitler in der Lage waren, dieses Land in die Knie zu zwingen.

 

Ressourcen

Zu den Ressourcen halten wir uns kurz. Öl, Gas, Kohle, Metalle, Wald, Flüsse und riesige Flächen kultivierbaren Landes sind ein ungeheurer Vorrat an materiellem Gut, der natürlich doppelten Charakter trägt – zum einen als Grundlage eines großen Reichtums, zum anderen als Ursache für das, was die „holländische Krankheit“ genannt wird, also dafür, die wirtschaftliche Aktivität zu lähmen, „weil wir ja alles im Überfluss haben.“ Das dies variable Faktoren sind, das heißt, Bedingungen, die unterschiedliche Wirkung auf  die Arbeitsmoral der Bevölkerung haben, je nachdem in welcher Lage sie sich findet, liegt  auf der Hand. Gearbeitet wird auch in Russland,  versteht sich – aber nur in dem Maße, in dem es sich als wirklich notwendig erweist. Das macht die russische Bevölkerung für viele Ausländer so unverständlich, aber sympathisch – von denen abgesehen, die genau dies verurteilen.

Das Gespräch mündet hier in die Frage, wie wir wirklich leben wollen. Von dort kehrt  es notwendigerweise zu der Frage zurück, wie wir wirklich leben – und von dort ganz hart an den brennenden Fragen der Gegenwart – wie wir  n i c h t  leben wollen. Vermutlich macht es mehr Sinn, über solche Dinge miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen, als uns gegenseitig mit Sanktionen zu traktieren.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                               20. November 2014

 

Hierzu zwei Buchempfehlungen:

. Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer, Horlemann, 2010

. Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte, 2009

Aspekte zur Frage der russischen Autarkie

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

Bericht vom 40. „Forum integrierte Gesellschaft“  am Samstag, 15.11.2014

Thema: Sanktionen und Russlands Autarkie

 

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, liebe Interessierte,

Unser letzter Bericht endete mit der Frage, was geschieht, was bedeutet es, wenn Russland sich nicht mehr dafür entschuldigt, die seit der Auflösung der Sowjetunion bestehende Weltordnung verändern zu wollen, sondern demonstrativ Veränderungen fordert  und bewirkt – und dafür Anklagen, Kritik, propagandistische Anfeindungen, und nicht nur das, sondern auch den Versuch des Westens erntet, Russland zu isolieren und im Sanktionskrieg zu schwächen.

 

Konkret: Hat Russland die Kraft diesen Konflikt zu bestehen? Worin könnte diese Kraft liegen? Das war das Thema unserer letzten Forums-Runde.

 

Nacheinander haben wir dazu drei Elemente betrachtet:

  1. Die Rolle der Vielvölkerrealität Russlands?
  2. Die Rolle der traditionellen Selbstversorgungskultur Russlands.
  3. Russlands Reichtum an Ressourcen.

Unsere Überlegungen zu diesen Fragen verstehen wir als Annäherungen, die wir zur Diskussion stellen. Reaktionen sind uns willkommen.

 

Vielvölkerrealität:

Die Vielvölkerrealität ist Russlands Reichtum Nummer Eins. Anders als die aus der Geschichte übriggebliebenen großen Vielvölkerreiche der Neuzeit, die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich, überstand der russische Vielvölkerorganismus nicht nur den ersten und den zweiten Weltkrieg, sondern ging in Gestalt der Sowjetunion gestärkt und sogar noch erweitert daraus hervor. Während das Habsburger Vielvölkergebilde wie auch das osmanische Reich im Zuge dieser Entwicklung in eine Vielzahl von Nationalstaaten  zerfiel, die sich untereinander bekämpften und in ethnischen Säuberungen zerfleischten, ging das Zarenreich in eine föderale Ordnung von Unionsrepubliken, autonomen Regionen und Bezirken über. Das  mag man gut oder schlecht finden, man mag die später von Stalin betriebene „Sowjetisierung“, konkret Deportation ganze Völker nach Sibirien dagegen halten, es war aber vom Ansatz her, wie ihn Lenin, selbst Stalin in der Gründungsphase der Union verfolgte, ein Schritt, der die traditionelle autokratische Herrschaftsstruktur in die Moderne einer föderal organisierten Pluralität von Völkern verwandelte, wenn auch unter Führung Moskaus.

Mit dem Zerfall der Union hat sich diese Struktur, soweit es die Sowjetunion betraf, in unabhängige Gebiete aufgelöst, die unter dem Druck einer nachholenden Nationenbildung ihre Identität suchen. Zu welchen Konflikten das geführt hat, konnte man die letzten zwanzig Jahre über an den Rändern der ehemaligen Sowjetunion beobachten. Aktuell sind wir immer noch Zeugen dieses Vorgangs, diesmal in der Ukraine und hier auf Grund der besonderen Bedingungen der Ukraine als traditionellem Durchgangsraum besonders heftig.

Für Russland konnte Wladimir Putins Politik der autoritären Konsensbildung einen auch auf den Kernbestand Russlands übergreifenden Zerfall aufhalten, mit dem Ansatz zur Entwicklung einer Eurasischen Union sogar eine Gegenbewegung einleiten. Oder anders, einmal von der katastrophischen Seite aus betrachtet: Wenn es der russischen Regierung nach dem anarchischen Auseinanderdriften der russischen Regionen und Völker unter Jelzin nicht gelungen wäre, dem von Jelzin 1991 ausgegebenen Motto: „Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ eine Restauration der Zentralmacht entgegenzusetzen, dann – sagen wir es so – wäre es nicht bei den tschetschenischen Absetzbewegungen geblieben. Eurasien wäre in eine lange Phase nationalistischer, separatistischer Kämpfe und ethnischer „Säuberungen“ eingetaucht.  Umgekehrt geht aus dem Erhalt der föderativen Gliederung der Vielvölkerrealität eine starke Kraft für Russland und auch für die Stabilität Eurasiens hervor  – wenn sie gefördert wird. Diese Kraft wirkt nicht nur in Russland selbst, sondern wirkt zugleich als Impuls für die von Russland, konkret jetzt Putin vertretenen Perspektiven einer multipolaren Weltordnung.

Westliche Beobachter sollten begreifen, dass diese russische Ordnung nach anderen Gesetzen als denen des aus dem Westen bekannten nationalen Einheitsstaates lebt. Im russischen „Patriotismus“ ist lokaler Stolz und Zugehörigkeit zum russländischen Ganzen in einer Weise verflochten, die sich einfachen „nationalistischen“ Deutungsmustern entzieht. Ein Mensch Russlands, der oder die sich als „Patriot“ bezeichnet, ist noch lange kein „Nationalist“. „Patriotismus“ ist in Russland etwa mit Heimatverbundenheit zu übersetzen, einschließlich deren, wenn nötig auch bewaffneter Verteidigung, „Nationalismus“ definiert sich dagegen als eine Haltung, die anderen aggressiv die eigene Identität überstülpen will.

Ausgesprochen fad wird es, wenn der Chef der Moskauer Böllstiftung (in den aktuellen „Russlandanalysen“) ausgerechnet die Vielvölkerrealität Russlands zu dem erklärt, wovon heute die besondere Aggressivität Russlands ausgehe, da man nicht wisse, wo sie ende und diese Gefahr nur überwunden werden könne, wenn auch Russland seine nachholende Nationenbildung erfolgreich durchführe. Wie blind muss man sein, um nicht zu erkennen, dass eine solche Nationenbildung ein tiefer historischer Rückfall hinter die föderalen Strukturen Russlands wäre und nur in einer Atomisierung Russlands und einer Chaotisierung Eurasiens enden könnte? Eine andere Sache wäre es, den föderalen Aufbau in Richtung einer Kooperation autonomer Regionen zu stärken.

 

Traditionelle Selbstversorgungsstruktur Russlands

Wer es aus der Geschichte noch nicht wusste, auch aus der aktuelleren, der oder die erlebt es jetzt unter den Bedingungen des vom Westen gegen Russland entfesselten Sanktionskrieges. Die Sanktionen sollen die russische Wirtschaft nicht nur schwächen, sie schwächen sie auch tatsächlich: der Rubel entwertet, die Preise steigen, der Ölpreis sinkt, Fabriken fahren ihre Produktion wegen nicht gelieferter Zwischenbauteile runter usw. usf., aber gleichzeitig scharen sich Olga und Iwan, aber auch die Tschuwaschen Aidar und Elfi und Mitglieder anderer russländischer Ethnien um Wladimir Putin und die von ihm zur Zeit repräsentierte Politik der Verteidigung Russlands gegen die als vollkommen ungerechtfertigt erlebten Angriffe von außen. Gleichzeitig mobilisieren die Sanktionen die traditionellen Fähigkeiten der Selbstversorgung im kollektiven und im individuellen Maßstab: Jetzt werden Pläne für die Re-kultivierung lange brachliegender Felder, für die zeitweilig halb stillgelegten in Russland so genannten familiären Zusatzproduktionen auf den Datschen und Hofgärten in Angriff genommen, der Konsum leichter Industrieware wird auf eigene russische Produkte  umgelenkt und die  Produktion effektiv umgestellt usw. usf.

Das alles verhindert nicht, dass die russische Wirtschaft kurzfristig in den Keller geht – längerfristig ruft es die Entwicklungskräfte wach, die unter der Decke des bequemen West-Konsums in den letzten Jahren geschlafen haben. Die russische Wirtschaft besitzt eine traditionelle Doppelstruktur, in der sich industrielle Produktion auf Basis von Privateigentum (bzw. Staatseigentum) an Produktionsmitteln  und Lohnarbeit und andererseits kollektive Produktion auf Basis selbstversorgerischer Nutzungsstrukturen zu einer hybriden Ökonomie verbinden, die Marx seinerzeit asiatische Produktionsweise nannte. Hintergrund ist die aus der russischen Geschichte in die Neuzeit herüberwachsende Gemeinschaftstradition der sog. Óbtschschina, der Bauern-, Produktions- und Lebensgemeinschaft. Der heutige russische Wirtschaftswissenschaftler  Theodor Schanin hat dafür den Begriff der „expolaren Wirtschaft“  gefunden, einer Wirtschaft, die sich nicht in die theoretisch sauberen Kategorien von „kapitalistischer“ oder „sozialistischer“ Wirtschaft einordnen lässt.  Aus einer ganz anderen Sicht, nämlich aus jener der US- Ökonomin Elenor Ostrom, Nobelpreisträgerin für die von ihr über Jahrzehnte betriebene Commons-Forschung, könnte man von einer besonderen „sozialökonomischen Potenz“ sprechen, die in der russischen Bevölkerung bis in die konkreten Lebensstrukturen und die Topographie des Landes hinein veranlagt ist.

Zweifellos hat die Politik der russischen Reformer – von Michail Gorbatschow über Jelzin einschließlich Putins – in den letzten Jahren einen harten Kampf der „Kapitalisierung“, der „Monetarisierung“, also der „Modernisierung“ gegen diese für uneffizient und dem gewünschten „Wachstum“ hinderlichen Strukturen der russischen Volkswirtschaft geführt,  nichtsdestoweniger hat die russische Regierung sich in allen zurückliegenden Krisen der letzten Zeit auf eben diese Strukturen gestützt. Ohne diese Basis der traditionellen kollektiven und individuellen Selbstversorgungsstrukturen hätte die russische Bevölkerung weder die „Schocktherapie“ Ende der 80er und in der ersten Hälfte der 90er ohne Hungerkatastrophen überlebt, noch den „Default“ von 1998, als die kurze russische Scheinblüte der Privatisierungsgewinne zusammenbrach, noch die schwere internationale Krise von 2008/2009.

Immer sind es die sozio-ökonomischen Kompetenzen der informellen „expolaren“ Wirtschaft, die die Krise auffangen, während die Krise zugleich dazu führt die eigenen Aufbaukräfte  gegenüber den importierten zu stärken. Dieser sozio-ökonomische Reflex ist umso stärker, je mehr die Krise durch Angriffe von außen  verursacht ist. Das ist eine russische Wahrheit, fast eine Banalität. Man muss aber wohl doch darauf hinweisen, weil manche Menschen dazu neigen, historischen Tatsachen wie die zu verdrängen, dass weder Napoleon, noch Hitler in der Lage waren, dieses Land in die Knie zu zwingen.

 

Ressourcen

Zu den Ressourcen halten wir uns kurz. Öl, Gas, Kohle, Metalle, Wald, Flüsse und riesige Flächen kultivierbaren Landes sind ein ungeheurer Vorrat an materiellem Gut, der natürlich doppelten Charakter trägt – zum einen als Grundlage eines großen Reichtums, zum anderen als Ursache für das, was die „holländische Krankheit“ genannt wird, also dafür, die wirtschaftliche Aktivität zu lähmen, „weil wir ja alles im Überfluss haben.“ Das dies variable Faktoren sind, das heißt, Bedingungen, die unterschiedliche Wirkung auf  die Arbeitsmoral der Bevölkerung haben, je nachdem in welcher Lage sie sich findet, liegt  auf der Hand. Gearbeitet wird auch in Russland,  versteht sich – aber nur in dem Maße, in dem es sich als wirklich notwendig erweist. Das macht die russische Bevölkerung für viele Ausländer so unverständlich, aber sympathisch – von denen abgesehen, die genau dies verurteilen.

Unser Gespräch, liebe Freundinnen, liebe Freunde wandte sich an dieser Stelle längeren Erörterungen zu, wie wir wirklich leben wollen. Von da kehrte sie zu der Frage zurück, wie wir wirklich leben – und von dort ganz hart am Thema – wie wir  n i c h t  leben wollen.

Diesen Fragen wollen wir beim kommenden Treffen unter dem Thema nachgehen:

Thema:

Die Soziale Revolte in der Ukraine – was ist ihr Kern und wofür steht sie?

 

Am Sonntag, d. 21.12.2014 um 16.00 Uhr in der Jurte am bekannten Ort.

 

Bitte anmelden: info@kai-ehlers.de  Tel: 040 64 789 791 mob: 0170 27 32 482

Wer den Ort nicht kennt, bekommt ihn dann mitgeteilt. Und wie immer bitten wir darum eine Kleinigkeit zum Knabbern mitzubringen.

 

Seid gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner,

im Namen des Forums integrierte Gesellschaft