Schlagwort: Antifaschismus

Antifaschistische Moral statt Politik? Über die Notwendigkeit, den eigenen Kopf zu gebrauchen:

Der Zusammenbruch des realen Sozialismus, insonderheit der Bankrott der SED, lässt auch in der hiesigen Linken, einschließlich KB, Untergangsstimmung aufkommen. Statt die Diskussion auf die Unterstützung des Demokratisierungsprozesses und die Erarbeitung einer neuen sozialistischen Perspektive zu konzentrieren, flüchtet man sich unter der Parole „kein Viertes Reich“ in traditionelle Warnungen vor einem drohenden Faschismus und drohenden Kriegsabsichten der imperialistischen Länder, besonders eines möglicherweise wiedervereinigten Deutschland. Was unter anderen Umständen nur ein Irrtum war, wird durch die besinnungslose Wiederholung in der jetzigen Situation zur restaurativen Farce, bzw. zum moralischen Rührstück. Mit antifaschistischem Rigorismus kann man vielleicht kurzfristig Stimmungen einer verunsicherten Linken einfangen, die VVN oder die SED wiederbeleben. Eine neue politische Glaubwürdigkeit kann man so nicht gewinnen.
Ich will versuchen, einige Bestimmungsstücke zu nennen, die in eine rationale Debatte um eine neue sozialistische Perspektive eingehen müssten.

Kai

1. Der Zerfall der ersten historischen Initiative für eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus bestimmt zurzeit die Dynamik der Geschichte durch die von ihm ausgehende Destabilisierung der herrschenden Weltordnung. Gorbatschows Programm der Perestroika ist keine sozialistische Erneuerung, sondern ein Notprogramm zur Liquidierung des realen Sozialismus. Gorbatschows Aufgabe bestand und besteht darin, die historisch unvermeidliche und überreife Liquidation des realen Sozialismus und dessen Überführung in kapitalistische Bahnen so kontrolliert wie möglich und mit geringst möglichem Einbruch an Stabilität innerhalb der UdSSR und im internationalen Rahmen zu vollziehen. Gorbatschows Kritiker haben ihrerseits keine Alternative, sondern bestenfalls eine Beschleunigung seines Programms anzubieten. Ob und wie lange es Gorbatschow unter dem Druck der wachsenden Widersprüche gelingt, den Übergang kontrolliert zu entwickeln, ist offen. Darin liegt z. Zt. die größte Gefahr für den Weltfrieden: Selbst ein auf das Territorium der UdSSR beschränkter Bürgerkrieg würde bereits Krieg auf einem Sechstel des Globus bedeuten. Seine Auswirkungen bis hin zum möglichen Zusammenbruch der Zentralmacht dieses Raumes auf die übrige Welt sind nicht kalkulierbar. Andererseits liegen in der von Gorbatschow angestrebten Dezentralisierung auch Keime zur Überwindung der aus der Systemkonfrontation resultierenden Stagnation und für ein neues Zusammenleben der Völker, wenn es der Völkergemeinschaft gelingt, den von Gorbatschow angestrebten kontrollierten Übergang von der alten zur neuen Ordnung erfolgreich zu unterstützen und krisengewinnlerische Alleingänge einzelner Staaten oder Völker zu unterbinden.

2. Der Zerfall des realsozialistischen Blocks setzt eine Wandlung der Nachkriegsordnung insonderheit in Europa, aber nicht nur dort, auf den Plan. Er beseitigt aber weder die Ursachen noch die Realitäten der deutschen Teilung. Schon die BRD allein hat sich zur Führungsmacht in Europa entwickelt. Ein vereinigtes Deutschland wäre sicher das Aus für das Gleichgewicht eines multistaatlichen Europa der vielen Völker, wie es gegenwärtig von allen Seiten angestrebt  wird. Besonders für die Völker Europas, einschließlich die der Sowjetunion, aber auch für die übrige Welt ist die Gefahr eines übermächtigen Deutschland im Zentrum Europas aus der Erfahrung der beiden Weltkriege und des deutschen Faschismus durchaus sehr lebendig und wird auch entsprechend als Bremse westdeutscher Vereinigungswünsche ins Spiel gebracht. Die herrschende westdeutsche Politik ist sich dessen bewusst und wird dadurch effektiv gebunden, wenn sie sich nicht rundum isolieren will.
3. Das atomare Patt ist von der neuen Entwicklung bisher ebenfalls nicht berührt. Nach wie vor ist selbst ein begrenzter Krieg gegen die Sowjetunion für jeden potentiellen Aggressor mit dem unkalkulierbaren Risiko des atomaren Schlagabtausches verbunden. Mehr noch: In einer UdSSR, die von den imperialistischen Ländern in die Enge getrieben würde, müsste und würde sich nach aller geschichtlichen Logik und angesichts der bedrängten Lage Gorbatschows aus reinem Selbsterhaltungstrieb die militärische Fraktion gegenüber der politischen
durchsetzen und zur Politik der Systemkonfrontation unter gewandelten Prämissen zurückkehren. Die Risiken einer solchen Situation sind für die imperialistischen Staaten unkalkulierbar.

4. Nur unter der Annahme einer absolut irrationalen Zuspitzung des globalen politischen Klimas ist eine solche Variante denkbar, dass sich „Falken“ in der NATO mit der Meinung durchsetzen könnten, dem bereits strauchelnden Gegner jetzt noch militärisch nachsetzen zu müssen. Sehr viel wahrscheinlicher ist der Versuch, das notwendige Krisenmanagement unter Führung und zum wirtschaftlichen Nutzen der imperialistischen Staaten zu betreiben, d.h. den strategischen Schwerpunkt von der militärischen auf die der kontrollierten politischen Liquidation des bisherigen sozialistischen Blocks unter Mithilfe Gorbatschows zu verlagern. Das neue NATO-Schlagwort, eines „high intensity peace“ anstelle des bisherigen „low intensity war“, deutet dieses strategische Verständnis an. Die Gefahr für den Weltfrieden liegt z. Zt. weniger in der gezielten Destabilisierung des bisherigen sozialistischen Blocks durch die imperialistischen Länder, als  darin, dass dieses Krisenmanagement auf Grund der inneren Dynamik des Zerfallsprozesses des bisher sozialistischen Lagers nicht gelingt.

5. Die ideologische Destabilisierung reicht weiter als bis zu den Ergebnissen des 2. Weltkriegs, sie reicht bis in die Anfänge des Jahrhunderts zurück. Die historische Initiative des realen Sozialismus, eine Alternative zum Kapitalismus schaffen zu wollen, ist nicht nur durch ihren ökonomischen und politischen, sondern auch durch ihren geistigen Zusammenbruch als Alternative zum Kapitalismus in den Augen der Völker inzwischen bis auf die geistigen Grundlagen diskreditiert. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der Entwicklung des realen Sozialismus wird sich nicht nur mit Lenins Umsetzung der Einsichten von Marx und Engels, sondern auch mit den Analysen, Prognosen und dem Menschenbild der Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus auseinanderzusetzen haben. In den Ländern des realen Sozialismus hat diese Debatte begonnen. Es gilt, sie aufmerksam zu verfolgen.

6. Aus dem Scheitern des ersten Versuchs einer historischen Alternative zum Kapitalismus folgt das Verlangen der Menschen dieser Länder, die zur Zeit unübersehbaren Vorteile des kapitalistischen Systems und der Lebensweise der westlichen Demokratien für sich in Anspruch zu nehmen. In der Befreiung der persönlichen Initiative vom pädagogischen Dirigismus eines Überstaats durch Wiederzulassung von Privateigentum, Markt und Mehrparteiensystem liegt zurzeit die historische Dynamik und einzige Chance für die Entwicklung dieser Länder. Das Scheitern des realen Sozialismus ist aber keineswegs der Beweis für die Richtigkeit eines naturwüchsigen Kapitalismus, sondern lediglich für den folgenreichen historischen Irrtum, Konkurrenz und unterschiedliche Klasseninteressen, denen der Kapitalismus der Jahrhundertwende freie Bahn ließ, per Dekret, gar Zwang und pädagogisierender Propagierung eines neuen Menschen abschaffen zu können, statt demokratische Wege für deren sozial gerechtere Austragung zu finden.

7. Der Kapitalismus in seinen höchstentwickelten demokratischen Formen wie in Schweden, wie in der BRD, der heute den Liquidatoren des realen Sozialismus, selbst den sog. Linken,  als Vorbild dient, ist trotz der hohen Lebensqualität, die er seinen jeweiligen Bürgern bieten kann, auch nicht das Modell der zukünftigen Gesellschaft. Der für ihn erhobene Anspruch einer „sozialen Marktwirtschaft“ schließt zum einen die realen sozialen Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und materiellen und psychischen Elendsverhältnissen der Menschen bis hin zu sog. repressiven Zwei-Drittel-Gesellschaften in den kapitalistischen Kernländern selbst mit ein. Er war und ist zum zweiten nur auf der Grundlage der brutalen, z.T. blutigen Ausbeutung der übrigen Weltbevölkerung möglich, einschließlich der sich zuspitzenden ökologischen Zerstörungen des gesamten Globus.

8. Kapitalismus wie realer Sozialismus sind zwei Ausdrücke derselben Wirklichkeit, nämlich der modernen Industriegesellschaft. Die Entwicklung der Industriegesellschaft ist heute an die Grenze zur Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit gekommen. Der Zusammenbruch des Versuchs einer ersten historischen Alternative zum Kapitalismus, insbesondere auch das von ihm hinterlassene ökologische Desaster, das jenes des Kapitalismus um vieles übersteigt und aus eigenen Kräften der realsozialistischen Länder mit Sicherheit nicht zu lösen ist, macht die Aufgabe, eine über Kapitalismus und realen Sozialismus hinausweisende Alternative zu entwickeln, jetzt praktisch vor aller Augen zu einer Frage der historischen Tagesordnung.

9. Die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs der realsozialistischen Welt, einschließlich der Folgen für die sozialistischen Gruppen und Parteien in den kapitalistischen Ländern und den Ländern der sog. 3. Welt, ist tatsächlich beängstigend. Es ist aber sinnlos, den Führern, noch sinnloser, den Bevölkerungen der realsozialistischen Länder Verrat am Sozialismus und Gefährdung der Nachkriegsstabilität vorzuwerfen, wie das zur Zeit in der Linken der BRD und auch im KB Mode wird, statt zu begreifen, dass diese zum einen die schwere Last einer historischen Trümmerbeseitigung zu tragen haben, bei der man sie nach Kräften dabei unterstützen sollte, dass dies auf demokratischem Wege gelingt, zum zweiten angesichts der krisenhaften Zuspitzung des Zusammenbruchs zunächst überhaupt keine andere Alternative haben, als Hilfe, Rettung und Vorbilder im Westen zu suchen.

1o. Wenn die Menschen, die sich als Staatssklaven des Sozialismus erlebt haben, das Recht auf Selbstbestimmung und Demokratie nach westlichem Muster fordern, dann muss mensch das ernst nehmen, auch wenn unsereins die Erfahrung gemacht hat, dass Freiheit im Kapitalismus durch die Gewaltverhältnisse des Geldes begrenzt wird. Wenn die Menschen, die keinen Markt, sondern nur Zuteilung kennen, in der die Initiative erstickt, jetzt Markt fordern, dann brauchen sie Markt. Den Menschen, die vierzig oder mehr Jahre Erfahrung mit dem realen Sozialismus hinter sich haben, angesichts ihrer Wünsche nach Marktfreiheit und Selbstbestimmung mit erhobenem Zeigefinger Verrat am Sozialismus vorzuwerfen, geht an der Wirklichkeit mit fliegendem roten Fähnchen vorbei: Gerade der als Staatsdoktrin seit vierzig oder siebzig Jahren allgegenwärtige moralinsaure pädagogische Dirigismus ist das, was diese Menschen hinter sich lassen wollen und müssen. Sie brauchen keine linken Pastoren aus dem Westen, die der realen Erfahrung mit dem realen Sozialismus Durchhalteparolen für die Erhaltung des Kommunismus entgegenstellen. Das haben sie bereits im Pionierlager, als Komsomolzen und im militärischen „Friedensdienst“ aus den Kochgeschirren gelöffelt. Das trieft seit Jahrzehnten aus der Parteipresse auf sie nieder. Sie brauchen die reale Erfahrung des Kapitalismus, um ihn überwinden zu können, so wie die westliche Linke den realen Zusammenbruch des realen Sozialismus brauchte, um über Alternativen jenseits von Kapitalismus und realem Sozialismus nachzudenken.

11. Trotz aller bisherigen Kritiken des realen Sozialismus auf der einen und des Kapitalismus auf der anderen Seite gilt offenbar auch in diesem Fall, dass das Kriterium der Wahrheit die Praxis ist. Der tatsächliche Zusammenbruch des realen Sozialismus offenbart mehr und wirkt nachhaltiger als jede noch so geschliffene theoretische Kritik es je vorher vermochte. Das gilt auch für die Linke, die erst jetzt vor den wirklichen Dimensionen der politischen und menschlichen Deformationen erschrickt, zu der die Entwicklung des realen Sozialismus geführt hat. Ebenso werden die Grenzen des Kapitalismus und westlicher Demokratie erst dann erfahrbar, wenn sie sich als Alternative bewähren sollen.

12. Noch sinnloser ist es, den Verlust des bisherigen Weltbildes und den Zusammenbruch der gewohnten ideologischen und politischen Stabilität durch hysterische Flucht in ideologische Notprogramme ausgleichen, indem man jetzt mangels anderer Alternativen den Kampf gegen ein „Viertes Reich“ zum Dreh und Angelpunkt der zukünftigen Politik erklärt und wieder einmal das Gespenst der imperialistischen Kriegsabsichten  an die Wand malt, statt gerade angesichts der aufgeputschten Gefühle zu einer rationalen Befassung mit den wirklichen Problemen beizutragen, es mindestens zu versuchen.

13. Tatsache ist, dass im Bereich des bisherigen sozialistischen Blocks starke Sprengkräfte entstehen. Sie reichen von der einseitigen Aufkündigung des RGW, über nationale Sonderwege sowjetischer Republiken, die Ablösung der Einparteienherrschaft der Kommunistischen Parteien bis hin zu scharfen Klassendifferenzierungen der seit Jahrzehnten geleugneten Klassenrealität in den einzelnen Ländern. Im historischen Pendelschlag scheint die staatssozialistische Zwangseinheit in staatliche, nationale, klassenmäßige und gar individualistische Elemente auseinanderzufallen, die sich in der Konfrontation mit den Beharrungskräften von berechtigten Forderungen nach Selbstbestimmung bis hin zu Nationalismus und bewaffneten Kämpfen steigern. Im Gegenzug formiert sich eine auf Stabilität orientierte rechte Massenbewegung, die den Boden für restaurative staatliche Manöver abgeben kann. Diese Entwicklung setzt gefährliche restaurative, chauvinistische und rassistische Kräfte frei.

14. Die imperialistischen Länder verlieren durch den Zusammenbruch ihres Systemsfeindes zwar eine wesentliche Grundlage zur Legitimation ihrer Politik, d.h. auch sie verlieren an ideologischer Einheit, mit der sie untereinander und in ihren eigenen Grenzen gegen den Systemfeind verbunden waren. Das bedeutet auch hier eine Lockerung lang gewachsener Bindungen, auch hier die Gefahr nationaler Sonderwege und politischer Extravaganzen. Entscheidender als das aber ist der Spielraum, den sie durch die ökonomische, politische und geistige Öffnung des bisher verschlossenen Raums z. Zt. gewinnen. Es ist eine Invasion ohne Kanonen. Faschistische, einfach gesprochen, gewaltsame Lösungsversuche zur Bewältigung der neuen Entwicklung sind in den Herrschaftsetagen der bürgerlichen Regierungen angesichts der Tatsache, dass die Länder des realen Sozialismus sich ihnen z. Zt. freiwillig zur Ausbeutung anbieten und mit fliegenden Fahnen zur bürgerlichen Demokratie überwechseln, sowenig in Sicht wie ein von ihnen beabsichtigter Krieg gegen die Länder des realen Sozialismus. Eine solche Politik wäre, um es ganz klar zu sagen, für die imperialistischen Länder zurzeit absolut kontraproduktiv. Die neuen Spielräume erlauben ihnen im Gegenteil auch noch, ihre seit Jahren entwickelte Befriedungspolitik auf Kosten der Länder des realen Sozialismus weiter zu stabilisieren.

15. In dieser Situation ist es zwar richtig, gegen den Rückfall in nationalistische Sonderwege gleich wo auf der Welt und insbesondere im eigenen Land wachsam zu sein. Das ist immer richtig. Aber der traditionelle Anti-Nationalismus, Anti-Faschismus, Anti-Militarismus, Anti-Imperialismus und als Steigerung die Bildung einer Anti-Widervereinigungsfront gegen die Gefahr eines „Vierten Reiches“ sind kein Programm, das die gegenwärtige Entwicklung erfasst. Gerade angesichts der durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Länder erweiterten Spielräume der imperialistischen Staaten führt die Beschwörung eines angeblichen nationalistischen und faschistischen Katastrophenkurses der imperialistischen Länder, insbesondere eines drohenden „Vierten Reiches“ der Deutschen in die Irre. Sie mag augenblicklichen Massenstimmungen, besonders der Stimmung einer heillos verängstigten und verwirrten Linken entsprechen, aber zur Beschreibung der Wirklichkeit und der Entwicklung einer sozialistischen Alternative taugt sie rein gar nichts!

16. Sinnvoller als diese alten Klischees aufzuwärmen, in denen „Sozialismus“ und „Kommunismus“ auf einen, noch nicht einmal sachlich, sondern rein moralisch begründeten Antifaschismus reduziert werden, ist es erstens, die Bemühungen um demokratische Lösungen des Wandels in den realsozialistischen Ländern mit allen Kräften zu unterstützen, auch wenn einem deren Orientierung an den westlichen Demokratien nicht passt und zweitens die Arbeit für die Entwicklung einer neuen sozialistischen Alternative zu organisieren, die die Erfahrungen aus dem Bankrott der ersten historischen Alternative zum Kapitalismus in sich aufnimmt und über die Grenzen des jetzigen Kapitalismus und seiner verschiedenen zur Zeit entstehenden sozialdemokratisch-sozialistischen Mischformen hinausführt.

17. Sowohl zur Unterstützung der Demokratisierung als auch zur Erarbeitung eines solchen Entwurfs bedarf es aber mehr als moralischer Appelle gegen ein „Viertes Reich“ und mehr als der Verurteilung der Konsumgeilheit der aus dem realen Sozialismus entlassenen Menschen. Dazu muss mensch zunächst die Totalität des Scheiterns dieses ersten sozialistischen Versuchs und die daraus folgende historische Dynamik der Dezentralisierung, Pluralisierung und Demokratisierung als realitätsbildende Kraft begreifen, die zum Durchbruch drängt, deren Erfolg aber alles andere als eine ausgemachte Sache ist. Man muss den Menschen zuhören, welche Erfahrungen sie mit ihrem Sozialismus gemacht haben und auf welche Grenzen sie bei ihrem jetzigen Eintritt in den Kapitalismus stoßen und ihnen unsere Erfahrung mit der heutigen bürgerlichen Demokratie zur Verfügung stellen, positiv wie negativ. Nicht mehr und nicht weniger.

18. Eine längerfristige Alternative ergibt sich daraus allein noch nicht. Es ergibt sich daraus erst einmal nur der endgültige Beweis, dass weder bisheriger Kapitalismus, noch realer Sozialismus die Utopien von Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit verwirklichen konnten, die am Beginn des Industriezeitalters standen. Diesen Beweis erbracht zu haben, ist die historische Bedeutung des Zusammenbruchs des realen Sozialismus, nachdem der Faschismus der 30er Jahre dies für die kapitalistische Welt bereits nachhaltig geleistet hat. Es bleibt also keine andere Wahl, als den eigenen Kopf zu benutzen, um die Grenzen der Industriegesellschaft in ihren kapitalistischen und sozialistischen Varianten zu analysieren. So lassen sich vielleicht Konturen einer zukünftigen sozial gerechteren, demokratischeren und ökologisch bewußteren Gesellschaft und ein Weg zu ihrer Verwirklichung herausarbeiten, die über die bloße Hoffnung vom Zusammenwachsen der Systeme, bei uns konkret BRD und DDR, zu konkreten Bestimmungsstücken einer zukünftigen Gesellschafts- und Völkerordnung hinausführt. Billiger wird es nicht zu haben sein.

19. Einige Ansatzpunkte lassen sich schon erkennen. Nehmen wir die Hauptfragen, die in den Forderungskatalogen der Systemopposition in den bisher sozialistischen Ländern vorgetragen werden. :
– Wie soll das Eigentum organisiert werden? Soll es Privateigentum an Produktionsmitteln, soll es Kollektiveigentum, Staatseigentum oder offene Konkurrenz unterschiedlichster Eigentumsformen geben? Sind Beteiligungsmodelle nach schwedischem Vorbild uä. mögliche Lösungswege? Welche Rolle soll und darf der Staat in der Kontrolle des Eigentums und als Regulator sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit übernehmen?
– In welchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen ist individuelle und politische Selbstbestimmung optimal zu entwickeln? Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen der bisherigen Systeme in Ost und West? Welche neuen Formen sind erstrebenswert? Rätesystem, Parteienpluralismus, Mischformen? Föderale und nationale staatliche Strukturen statt Zentralstaatssystemen? Demokratische Vielvölkerbündnisse statt Block- und Systemkonfrontation?
– Wie können menschenwürdige Lebensbedingungen im Widerspruch zwischen Entwicklung der Produktion und Schonung der menschlichen und materiellen Ressourcen gestaltet werden?  Das heißt im Kern: Wie kann die Selbstverwertungsspirale des Kapitals einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen werden, ohne das Interesse der Kapitaleigner oder -verwalter an seiner Weiterentwicklung und die persönliche Initiative zu ersticken?
– Wie sollen die Vorstellungen politisch umgesetzt werden? Evolutionär demokratisch? Revolutionär. Was bedeutet das eine, was das andere für die hochentwickelten Industriegesellschaften, gerade auch im Verhältnis zu weniger industrialisierten Teilen der Welt, speziell auch innerhalb der jetzigen der UdSSR?
Ohne die Lösung dieser Fragen wird es keine neuen sozialistischen Perspektiven geben.

20. Zur sog. Deutschen Frage müssen über die Formulierung von Ängsten hinaus positive politische Standpunkte entwickelt werden, wenn man nicht völlig im politischen Abseits verschwinden möchte:
Erstens: Der Fall der Mauer ist uneingeschränkt zu bejahen und die weitere Demokratisierung mit allen Mitteln zu unterstützen. Das beinhaltet nicht etwa die opportunistische Anpassung an nationale Stimmungen und dergl., ist aber die Voraussetzung für jedes ernsthafte Gespräch mit den Menschen hier wie dort.
Zweitens: Selbstverständlich hat die DDR-Bevölkerung ein Recht auf nationale und jede sonstige Selbstbestimmung. Wer sollte sie ihnen verweigern – wenn nicht, im historischen Rückgriff, die Alliierten?
Drittens: Die „Deutsche Frage“ kann nur im Zuge der Herausbildung einer europäischen Föderation gelöst werden, wo sich die beiden deutschen Staaten mit anderen Staaten des deutschen und des nichtdeutschen europäischen Kultur- und Geschichtsraums auf föderal-kooperativer Basis eines demokratischen Staatenbündnisses, statt als staatliche Einheit treffen. Nichts spricht für die staatliche Einheit der beiden deutschen Staaten. Im Gegenteil: die Erfahrungen der Geschichte, die Notwendigkeit eines Kräftegleichgewichts in Europa, die Entwicklung einer demokratischen Weltordnung sprechen dagegen. Aber mensch braucht keineswegs nur in der Anti-Haltung zu argumentieren: Das Eintreten für eine demokratische europäische Föderation im Zuge einer demokratischen neuen Weltordnung, darin die DDR und die BRD, vielleicht sogar noch eine freie Stadt Berlin, als gleichberechtigte souveräne Staaten, darf man getrost als eigenes positives Programm gegen das Gerede von der Wiedervereinigung in BRD und DDR wie gegen jeden erneuten Versuch einer Zwangsvereinigung Europas von oben stellen.

Mit leichten Überarbeitungen als Anhang übernommen in das Buch:

Kai Ehlers,

Gorbatschow ist kein Programm. Begegnungen mit Kritikern der Perestroika

konkret Literatur Verlag 1990