Kategorie: Texte

„Ökonomisch denken – solidarisch handeln? Regionales Wirtschaften durch Grundeinkommen.

Beitrag im Attac-Buch:

Hat die „Arbeitsgesellschaft“ noch eine Zukunft?

Ehrlich gesagt, die Hauptfrage des Buches, ob die „Arbeitsgesellschaft“ noch eine Zukunft habe, ebenso wie die konkrete Themenstellung des Aufsatzes, zu der ich eingeladen wurde und die Sie jetzt lesen, nämlich: „Ökonomisch denken – solidarisch handeln“ halte ich für keine besonders glückliche Formulierung. Jedenfalls fordert sie meinen Widerspruch heraus und ich kann es nicht unterlassen, mit einerkleinen Polemik zu dieser Fragestellung zu beginnen., auch wenn bei dem einen oder der anderen damit offene Türen einrennen sollte, insbesondere natürlich bei den Attac-Freunden, die mich zu diesem Beitrag eingeladen haben. Aber es gibt heute doch so viele Leute im Chor der Grundeinkommens-Befürworter, die allen Ernstes von einem Ende der Arbeit“ sprechen, dass es wohl einen Sinn macht, von dieser Irritation auszugehen und zunächst einmal Klarheit zu schaffen, wovon wir eigentlich sprechen.
Arbeiten muss der Mensch, so lang er lebt – und sei es nur, dass er sich den Tisch deckt, das Bett macht, die Wohnung in Ordnung hält und dergleichen. Eine Existenz wie der letzte Kaiser in China, der sich weder allein ernähren noch selber ankleiden konnte, ist persönlich kaum wünschenswert und gesellschaftlich ist klar, dass es niemals in der Geschichte der Menschheit eine Situation gegeben hat und auch in Zukunft keine geben wird, in der eine ganze Gesellschaft nicht arbeitet – selbst wenn die Bananen reif zum Verzehr auf den Bäumen wachsen. Dann müssen sie doch immer noch heruntergeholt werden.
Auch eine hoch-entwickelte, hoch-automatisierte Industrie-Gesellschaft muß doch wenigstens die Verteilung ihrer Güter organisieren, um die Versorgung ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Selbst die Auszahlung eines Grundeinkommens, wenn dies denn eines Tages als bedingungsloses und allgemeines verwirklicht wird, was ich hoffe und unterstütze, wird nicht ohne die Mühe der Steuereinnahme und der Auszahlung der Unterhaltsbeträge zu haben sein.
Nun könnte man, zugegeben, auch diesen Prozess noch rationalisieren, indem die steuerlichen Einnahmen wie die Auszahlungen des Grundeinkommens nur einmal im Jahr vorgenommen würden, die Organisation weitgehend computerisiert würde usw.; es biebe aber doch selbst in diesem Falle ein Minimum an physikalischer Organisation zu bewältigen, solange man es noch mit einer lebendigen Gesellschaft bestehend aus lebendigen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Wünschen etc. zu tun hat, von anderen Dingen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens wie der Beschaffung von Grundnahrungsmitteln, der Gewinnung und Veredlung von Naturressourcen, der Herstellung von Kleidung, der Gewährleistung von Heizung, Verkehr, der Produktion der banalsten Gegenstände des alltäglichen Lebens wie Teller, Tassen , Löffel  usw., von Toiletten und allgemeiner Müllbereinigung ganz zu schweigen. Völlig außen vor bei dieser kurzen Aufzählung blieben dabei noch die pflegerischen Notwendigkeiten – vom Aufbringen der Kinder über die Ausbildung der Jugend und die Weiterbildung der Erwachsenen bis hin zur Pflege der Kranken, Alten und Sterbenden. Also, kurz und banal: Ohne Arbeit wird es auch in Zukunft nicht abgehen.
Zum Zweiten: „Öknomisch denken – solidarisch handeln?“ Nein! Mit der gleichen Logik könnte man sagen: „Solidarisch denken – ökonomisch handeln.“ Das klänge schon besser, wäre aber im Kern ebenso wenig akzeptabel. Im ersten Fall wäre zu klären, was denn „ökonomisch denken“ bedeuten soll. Von welcher Ökonomie ist die Rede? Ist damit die herrschende Logik der Profitmaximierung gemeint? Wenn ja, dann muss jede Aufforderung „ökonomisch (zu) denken“ und „solidarisch (zu) handeln“ ein frommer Wunsch bleiben, der offen lässt, ob dem „ökonomischen Denken“ entsprechend, in Kritik daran oder gar in Konfrontation dazu gehandelt werden soll. Wie auch immer, läuft die Formulierung auf eine Irreführung hinaus.
Mit der Umkehrung könnte schon eher ein Schuh daraus werden, also „Solidarisch denken – ökonomisch handeln“ – vorausgesetzt allerdings, das solidarische Denken wirkte sich auf die Art und Weise des „ökonomischen Handelns“ aus. Das hieße aber nichts anderes, als Ökonomie und ökonomisches Handeln unter dem Gesichtspunkt der Solidarität neu zu denken. Zu reden wäre dann über eine andere, eben eine solidarische Ökonomie. Aber was ist eine solidarische Ökonomie?
Mit dieser Umstellung der Prioritäten könnten wir schon mitten im Thema sein, wenn da nicht noch eine weitere Anmerkung notwendig wäre, denn auch die Formulierung „Regionales Wirtschaften durch Grundeinkommen“ muss in guter marxistischer Tradition erst vom Kopf auf die Füße gestellt werden, bevor wir weiter fortfahren können. Die jetzige Formulierung legt nämlich nahe, dass regionales Wirtschaften durch ein Grundeinkommen ermöglicht werde. Nun würde ein Grundeinkommen, das bedingunglos an jedes Mitglied einer Gesellschaft ausgegeben würde, zweifellos jedes Wirtschaften erleichtern, aber ein Grundeinkommen ist ebenso wenig V o r a u s s e t z u n g  für eine Änderung regionalen Wirtschaftens, wie „ökonomisches Denken“ ohne Veränderung der herrschenden ökonomischen und sozialen Denk-Gewohnheiten, Vorurteile und Tabus Voraussetzung des „solidarischen Handelns“ sein kann. Eher schon ist regionales Wirtschaften eine Voraussetzung, wenn auch nicht die einzige, für die Entwicklung einer Gesellschaft, die ein Grundeinkommen einführen möchte
Das klingt jetzt weniger plausibel als die vorhergehenden Richtigstellungen in der Priorität von Ökonomie und Solidarität. Es trifft aber im Wesen das gleiche Problem: Grundeinkommen im großen Stil, damit will ich sagen, nicht nur innerhalb einer Familie oder einer überschaubaren Solidargemeinschaft, die ihre Mitglieder ohne Ansehen von deren jeweiliger Tätigkeit Verfassung grundversorgt, sondern bedingungslos und allgemein für jedes Mitglied der Gesellschaft ohne Ansehen ihrer Tätigkeit, körperlichen oder geistigen Verfassung, Rasse, Geschlecht oder Religion, wird nur dann überhaupt möglich sein, wenn es ein regionales, man könnte schon fast sagen, überhaupt wieder ein überschaubares Wirtschaften gibt. Das heißt ja nichts anderes, als dass eine andere Art des Wirtschaftens entwickelt wird, welche die zur Zeit herrschende Form des Wirtschaftens ablöst, zumindest tendenziell zurückdrängt.
Jetzt sind wir endlich da angekommen, wo es um die grundsätzlichen Fragen geht, die mit der Frage der Einführung eines Grundeinkommens verbunden sind, nämlich nicht o b, sondern w i e wir zukünftig arbeiten und w i e wir wirtschaften wollen und können, wenn es unter den zur Zeit herrschenden Verhältnissen nicht mehr möglich ist und wir es auch nicht mehr wollen.
Die zur Zeit herrschenden Verhältnisse – das ist eine privatwirtschaftliche Organisation der Wirtschaft, deren oberstes Ziel nicht die Bedürfnisbefriedigung, sondern die Profitmaximierung und Selbstverwertung des Kapitals ist, eine Wirtschaft in der Menschen auf die „Ware Arbeitskraft“ zum einen und „Kaufkraft“ für die produzierten Waren zum anderen reduziert werden.
Die zur Zeit herrschenden Verhältnisse – das ist weiterhin die Rationalisierung, Konzentration und global orientierte mobile Standortpolitik des Kapitals, welche die Schere zwischen unmittelbarem Produzenten und Konsumenten immer weiter auseinander treibt, die Menschen einerseits vom Produkt der eigenen Arbeit in rasant zunehmendem Maße entfremdet, bzw. sie als Arbeitslose ganz von der Arbeit trennt und damit den Regionen und darin lebenden Menschen die Lebensgrundlage entzieht, so daß sie nur noch als Konsumenten übrigbleiben, andererseits diese Rolle aber ebenfalls nicht mehr wahrnehmen können, da ihnen mit der Entlassung aus Lohnarbeit die Grundlage zum Kauf der Waren fehlt.
In dieser Situation ist aus Sicht des Kapitals die Einführung eines Grundeinkommens die einzige logische Konsequenz, um die Schere zwischen Produktion und Konsum nicht vollkommen aus dem Gelenk schnappen zu lassen: Nur wenn die hiesige Bevölkerung mit Geld versorgt wird,  kann sie die Produkte kaufen, die andernorts produziert werden. Dies ist die Argumentation, wie sie von dem Drogerieketten-Besitzer Götz Werner  vorgebracht wird.
Ich behaupte, er kann das nur, weil – und solange – eine solche Entwicklung objektiv im Interesse des Kapitals liegt. Es würde aber aus einer Einführung eines Grundeinkommens mit diesem Begründungszusammenhang k e i n e s f a l  l s  automatisch eine irgendwie geartete Belebung der regionalen Wirtschaft folgen – im Gegenteil. Der Spagat zwischen ausgelagerter globaler Produktion und lokalem Konsum wird zementiert und verschärft! Das heißt, die herrschende wirtschaftliche Grundorganisation, Selbstverwertung des Kapitals durch zunehmende, bessere Ausbeutung der „Ware Arbeitskraft“ einerseits und bessere Motivierung, um nicht zu sagen Nutzung des Menschen als „Kaufkraft“ auf der anderen Seite wird weiterhin ihrer Klimax entgegengetrieben.
Die Einführung eines Grundeinkommens, so betrachtet, wäre erst einmal nichts Weiteres als eine Notbremse, mit der einsichtige Vertreter des Kapitals das Auseinanderfallen von zunehmend produktiver Produktion einerseits und überblähter Konsumption andererseits, anders gesagt, zunehmender Arbeitslosigkeit und daraus folgender Verelendung einer wachsenden Zahl von Menschen auf der einen Seite und ebenso zunehmender Überschwemmung der globalen Märkte mit Produkten, die immer weniger Menschen sich leisten können, sie weil aus dem Lohnarbeitskreislaf herausfallen, auf der anderen Seite auffangen kann. Hierhin gehört die Argumentation Götz Werners, der unmissverständlich erklärt, dass „die Wirtschaft“ einen mit Grundeinkommen ausgestatteten Konsumenten braucht, wenn sie nicht zusammenbrechen soll. Mit dieser Argumentation ist er  zweifellos k e i n  Revolutionär, schon gar nicht einer sozialistischen Herkommens. Entsprechend grenzt er sich auch klar von allen Versuchen ab, ihn mit Marx, Engels oder sozialistischen Experimenten in Verbindung zu bringen. Mit Sicherheit aber ist er zur Zeit der radikalste Denker seiner Klasse, der ungeschminkt auf den  P u n k t bringt, was die herrschenden Wirtschaft braucht, um nicht abzustürzen, sondern sich weiterentwickeln zu können.
Interessantester Ausdruck dieser Position ist Götz Werners Argumentation, „wir“ hätten uns von früheren Formen der Selbstversorgung zu einer Gesellschaft der Fremdversorgung entwickelt und es müsse nun alles dafür getan werden, einen Rückfall in die Selbstversorgung, die er als rückständig charakterisiert, zu verhindern. Diese Beweisführung scheint unmittelbar einleuchtend, weil niemand hinter die Moderne zurückfallen möchte. Tatsächlich liegt aber genau hier der Knackpunkt, an dem die reale Entwicklung über das hinausgehen wird, was Götz Werner oder auch andere gut meinende und subjektiv durchaus ehrliche Befürworter des Grundeinkommens, die ähnlich argumentieren, mit der Einführung eines Grundeinkommens verbinden.
Selbstverständlich müssen und wollen wir  n i c h t    z u r ü c k    k e h r e n  zu überlebten Formen der vorindustriellen Selbstversorgung. Sehr wohl aber müssen und wollen wir  v o r a n s c h  r e  i t e n  zu neuen Formen der Wiederaneignung von Möglichkeiten und Fähigkeiten einer eigenproduktiven Selbstversorgung auf dem Niveau der technischen Entwicklung von heute, die es erlaubt, sich auf dem Niveau von heute wieder durch Einsatz eigener Arbeit mit den notwendigen Produkten des alltäglichen Lebens, des einfachen, ggflls. auch gehobenen technischen Bedarfs zu versorgen – wenn man das muß, weil man nicht mehr anders an die Waren herankommt oder auch wenn man es aus eigener Entscheidung heraus möchte.
Schon heute praktizieren Menschen auf diese Weise eine  a n d e r e, neue Stufe der Ökonomie. Das geschieht lange  b e v o r  ein allgemeines Grundeinkommen überhaupt im öffentlichen Gespräch war. Es geschieht auf der Basis der heute bestehenden sozialen Netze, die ja eine rudimentäre Form des Grundeinkommens sind.
Meine Vorstellung zu dieser Entwicklung, genauer meine Wahrnehmung dazu ist, dass unsere 100jährige Arbeits- und Lebensorganisation in einem prinzipiellen Wandel begriffen ist, in dessen Zuge sich die heute übliche Lohnarbeit auf bestimmte eingegrenzte Bereiche der Produktion und gesellschaftlicher Tätigkeit konzentriert und noch weiter konzentrieren wird, während viele andere Arbeiten, die bisher noch als Lohnarbeit organisiert waren, in die unterschiedlichsten Formen eigenproduktiver Selbstversorgung übergehen, z. T. auch radikal abgedrängt werden. Das geht vom individuellen Subunternehmer über den softwaregestützten geistigen oder auch handwerklichen Homeworker bis hin zu sich selbst versorgenden Produktions- oder Solidargemeinschaften, die sich selbst erhalten müssen und wollen. In diesem Prozess, in vielen Fällen zunächst von der Not diktiert, deutet sich eine neue Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung an. Sie enthält drei Elemente:
–    hochkonzentrierte, roboterisierte Industrieproduktion, Verwaltungs- und Organisationsarbeit mit schrumpfendem Anteil von Lohnarbeit,
–    gemeinschaftliche eigenproduktive Selbstversorgung im lokalen und regionalen Rahmen
–    Eigentätigkeit, die über Tätigkeiten in diesen beiden Bereichen hinaus wahrgenommen werden kann.
Ich bin weit entfernt davon diese Entwicklung zu romantisieren. Die reale Entwicklung führt durch die Verelendung all derer, die von dem schrumpfenden Lohnarbeitssystem ausgestoßen oder auf der Seite derer, die noch Arbeit haben, noch brutaler ausgebeutet werden. Dennoch liegt hier – ich bin versucht zu sagen – der historische Ansatz für eine neue Organisation der Arbeitsteilung und er ist  untrennbar verbunden mit einer Transformation unserer allgemeinen gesellschaftlichen Organisation. Es ist ein Prozess, der die allgemeine Industrieproduktion, eine eigenproduktive gemeinschaftliche Selbstversorgung auf dem technischen Stand von heute im lokalen und regionalen Maßstab und freibestimmte eigene Tätigkeit auf neue Weise miteinander verbindet.
Wer jetzt Utopie ruft, mag sich nur umsehen: Ansätze, die in diese Richtung weisen, sind allerorten zu sehen, wo die Automation und Konzentration des Kapitals massenweise Arbeitslose schafft, die keine andere Chance haben, als sich selbst zu versorgen, wenn sie nicht von unsicheren Staatszuweisungen abhängig sein oder – im schlimmeren Fall – verelenden und verkommen wollen.
Diese Entwicklung ist, wie gesagt, auch ohne Grundeinkommen möglich, genauer, sie hat auch ohne Grundeinkommen bereits begonnen. Mehr noch: In einer Gesellschaft, die kein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen kennt oder seine Einführung verweigert, ist die Entwicklung von Formen der eigenproduktiven Selbsthilfe der vor Abhängigkeiten, autoritärer Sozialkontrolle und letztlich Hungerkatastrophen oder allgemeinem Blutvergießen schützt. Mit Einführung eines Grundeinkommens ist die Chance für die Entwicklung solcher solidarischer Formen der Ökonomie selbstverständlich größer. Damit sind die Relationen benannt.
Anders gesagt: Niemand muß auf die Einführung eines allgemeinen flächendeckenden Grundeinkommens warten. Er oder sie kann jetzt, hier und sofort, im eigenen Umkreis beginnen, Grundsätze einer solidarischen Ökonomie selbst zu praktizieren, indem er oder sie das Prinzip des Grundeinkommens im kleinen Rahmen der eigenen Solidargemeinschaft, einer Gemeinde, Kommune, Region vorwegnimmt – und somit zugleich die Bedingungen für die allgemeine Einführung  eines Grundeinkommens erprobt und verbessert. Ich nenne diesen Prozess die Entwicklung einer integrierten Gesellschaft, in welcher Lohnarbeit, eigenproduktive gemeinschaftliche Selbstversorgung und freie selbstbestimmte Eigenarbeit der einzelnen Menschen eine dynamische Verbindung miteinander eingehen. Letztlich wird hier auch eine allgemeine Entwicklungslinie deutlich, die geeignet sein kann, die Selbstverwertungsspirale des Kapitals zu durchbrechen, indem Produkte hergestellt werden, die in den lokalen und regionalen Versorgungsgemeinschaften für die Entwicklung einer eigenproduktiven Selbstversorgung gebraucht werden.
Voraussetzung solidarischen Handelns, heißt das alles, ist ein  ökonomisches Denken, in dem die Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens nicht als Befreiung von der Arbeit, sondern als U n t e r s t ü t z u n g  zur Wiedergewinnung der Möglichkeit und Fähigkeit kreativer selbstbestimmter eigener
Arbeit in selbst gewählten Gemeinschaften begriffen wird, wo Arbeit und Konsum nicht mehr den Selbstverwertungsinteressen des Kapitals untergeodnet, sondern dem B e d a r f  orientiert sind.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Mehr zu dem Thema:
Kai Ehlers: „Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“, Pforte, September 2006

Schlüssel Russland?

Im Atomstreit mit dem Iran hat Russland dem Iran angeboten, die umstrittene Urananreicherung künftig in Russland vorzunehmen, um somit dem Verdacht zu entgehen, sein Atomprogramm diene der Herstellung der Atombombe. Iran zeigt sich offen für den Vorschlag, vorausgesetzt, weitere Staaten, insbesondere China würden in diese Abmachung einbezogen. China hat sich bisher nicht dazu geäußert, besteht aber auf einer diplomatischen Lösung des Konfliktes. Damit könnte die Eskalation zunächst einmal auf die Bahnen einer zivilen Konfliktlösung verwiesen sein.
Die westliche Diplomatie bemüht sich jedoch wieder einmal Russland – und auch China – „ins Boot zu holen“ oder wenn das nicht gelingt, auszugrenzen. US-Falke Mc Cain forderte auf der Münchner „NATO-Sicherheitstagung“ sofortige Sanktionen und erklärte, Russland verfolge eine Politik, die „sich mit unseren Interessen nicht verträgt.“ Er warf der russischen Führung eine „sowjetische Geisteshaltung“ vor und forderte die G7-Staaten auf, ihre Teilnahme an dem in St. Petersburg geplanten G7/G8-Gipfel zu überdenken.
Es geht offensichtlich um mehr als die Atomfrage, so wie es auch im Fall des IRAK um mehr als die Massenvernichtungswaffen ging. Das ist natürlich zunächst einmal das Ölgeschäft: Der IRAN verfügt über die drittgrößten fossilen Vorkommen und Reserven nach der OPEC und nach Russland. Der Kampf um die Energie-Rohstoffe wird durch das Hinzutreten Chinas, Indiens und anderer Newcomer, durch den steigenden Bedarf der alten Industrieländer und die zugleich sinkende Verfügbarkeit und die ausgehenden Reserven zum beherrschenden Thema der internationalen Politik. Die politischen Ereignisse der letzten Zeit sind davon geprägt: So die von der russischen Regierung erzwungene Widereingliederung des Öl-Multi YUKOS in den russischen Staatsverband; so der Krieg gegen den IRAK, so der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine, um nur die wichtigsten zu nennen. Auf dem G8-Gipfel sollen diese Fragen Hauptthema sein.
Über all dies hinaus hat die Auseinandersetzung inzwischen jedoch das Stadium des Streites um bloße Aufteilung des unmittelbaren Zugriffs auf die Öl- und Gasquellen bereits hinter sich gelassen. Inzwischen geht es um die Frage, ob die USA die Vorherrschaft des Dollar als Öl-Währung aufrechterhalten können. Kern der Sache ist die vom IRAN für März dieses Jahres angekündigte Absicht, eine asiatische Öl-Börse gründen zu wollen, an der Öl- und Gas nicht mehr in Dollar, sondern auch, sogar vornehmlich in Euro gehandelt werden sollen. Die Einführung dieser Börse würde bedeuten, dass der Dollar seine Funktion als Weltleitwährung verliert. Diese Funktion hat er nicht mehr auf Grund der Wirtschaftskraft der USA, vielmehr wird der wirtschaftliche Niedergang der USA dadurch verdeckt und aufgehalten, dass der Welthandel von Öl und Gas an den Dollar gebunden ist. So ist die Welt gezwungen, Dollarreserven zu halten, auch wenn der Dollar ständig und systematisch, das heißt durch Einsatz der Notenpresse, an Wert verliert.
Die Öl-Bindung des Dollar geht auf eine Abmachung zwischen Saudi-Arabien und den USA aus dem Jahre 1972/3 zurück, dem sich die OPEC anschloss. Spätestens seit Einführung des Euro aber rütteln sowohl Öl fördernde Länder als auch Abnehmerstaaten an dieser Vereinbarung, weil die Dollarbindung des Ölhandels sie zwingt Dollarreserven zu halten, die sie nur mit Verlust weitergeben können, was faktisch auf eine versteckte Abgabeordnung gegenüber den USA hinausläuft. Mit dem Erscheinen des Euro und der Stärkung des chinesischen YEN sind aber Alternativen zum Dollar sichtbar geworden, zumal die meisten Öl fördernden Länder intensivere Handelsbeziehungen mit Europa als mit den USA pflegen. Saddam Hussein war der Erste, der es wagte, den Schritt vom Öl-Dollar zum Öl-Euro faktisch zu vollziehen. Die Antwort der USA ließ nicht auf sich warten. Gleich nach der Intervention wurden das „oil for food“-Programm beendet und die auf Euro laufenden irakischen Konten wieder auf Dollar umgestellt: Von Stund an wurde wieder nur gegen Dollar verkauft. Damit war das Ziel des Irak-Krieges erreicht; George W. Bush konnte sich als Retter des US-Imperiums feiern lassen. Ein Exempel war statuiert.
Lange jedoch währte die Freude nicht: Die Yukos-Affäre endete nicht nur mit einer Wiederaneignung der russischen Ressourcen durch den russischen Staat in der Gestalt des Konzerns GASPROM. Kaum war YUKOS-Chef Chodorkowski rechtskräftig verurteilt, beschloss die russische Staatsduma, in Zukunft die Devisenreserven Russlands nicht mehr nur in Dollar anzulegen, sondern ab sofort zu 30% auch in Euro. In wenigen Jahren soll das Verhältnis auf 50:50% gebracht werden. Darüber hinaus ging Russland wieder zur traditionellen Golddeckung für seine eigene Währung über.
Auch in der OPEC wurde die Bindung des Dollar ans Öl brüchig. Es war Hugo Chavez, der 2002 die Öl fördernden Staaten der OPEC aufforderte, Öl an Entwicklungsländer nicht mehr gegen Dollar, sondern im Bartergeschäft, also im Tausch gegen Ware oder auch gegen Euro zu liefern.
Die skizzierten Entwicklungen bündeln sich in ökonomischen und politischen Bündnissen, die sich in letzter Zeit herausgebildet haben, so dem wirtschaftlichen Interessenverband BRIC, benannt nach seinen Mitgliedern Brasilien, Russland, Indien und China, so in der „Schanghai Gruppe“, die Russland, China, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan verbindet, dazu als „Beobachter“ Pakistan, Indien und Iran. Im Juli 2005 forderte das Bündnis in einem „Appell“ an die USA, dass sie einen Termin setzen sollten, wann sie sich aus Stützpunkten in diesen Ländern zurückzuziehen gedächten.
Aus dieser politischen Gemengelage heraus, deren Speerspitze die Einführung einer asiatischen Öl-Börse wäre, erklärt sich der Kompromissvorschlag Russlands, ebenso wie die hysterische Vorgehensweise der USA. Unklar bleibt, welche Rolle die Europäer sich zumessen wollen. Was Ihnen in dieser Situation am schlechtesten zu Gesicht steht, ist die Rolle des treuen Freundes der USA. Daran wird Frau Merkel zu knacken haben.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sehen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat. Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein, doch hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle ersetzt hat. Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Die für westliche Beobachter z.T. sehr fremden Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind hinlänglich bekannt; sie müssen hier nicht noch einmal erläutert werden.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um eine gigantische Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das gilt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender Kolonialismus“ und schließlich noch der „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.

All dies kann man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation in den „Aufbau des Sozialismus“, Stalin vollendete die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt. Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher kann keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit. Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums heute entgegenarbeitet. Das ist nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese aktuelle russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal vom Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Entstanden sind vielmehr neue Varianten des Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingegangen sind. Viele Analytiker sprechen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Tatjana Saslawskaja charakterisierte die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe.

Tatsache ist: Teile der heutigen russischen Wirtschaft funktionieren nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt.. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man spricht in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltet: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft liegt ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hat wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, hat für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“ geprägt. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgeht. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen.
In der aktuellen Grundkonstellation der gegenseitigen Ergänzung einer zurückgefahrenen Produktion einerseits und der Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft andererseits liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nicht. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend im Sinne neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern bewusst organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur ausgebeutet werden, sondern ihr Gebrauch kultiviert und gemeinschaftlich kontrolliert wird. Unter solchen Umständen bekommt der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin heißt Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin ist die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Die Rede ist von einem Entwicklungsland neuen Typs, das Ansätze für eine neu Wirtschafts- und Sozialordnung zeigt, die eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Das ist auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungs-strukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Hier kommen wir in den Bereich, in dem sich Fragen an die künftige Politik Wladimir Putins und seines Kommandos sowie an politische Klasse Russlands stellen: Sind sie bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?
In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür. Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelt sich seitdem ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Sollte die Regierung über diese Proteste hinweggehen oder sie gar niederschlagen wollen, kann das Ergebnis nur eine soziale Katastrophe sein, an deren Ende sich die Suche nach neuen Beziehungen zwischen Produktion und Selbstversorgung umso dringender wieder einstellen wird, allerdings vermutlich zu schlechteren Bedingungen. Es wäre zu wünschen, dass es ohne diese Umwege ginge.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Europa minus Ukraine?

Die Formel „Russland minus Ukraine“, nach welcher der russische Konzern Gasprom seinen Lieferstop gegenüber der Ukraine betreibt, klingt nach Eskalation: Gasprom beschuldigt die Ukraine, trotz Lieferstop illegal Gas zu entnehmen, die Ukraine bestreitet das. Die westlichen Nachbarn der Ukraine dagegen melden verringerte Gasvolumen. Entsprechend hätte man scharfe Reaktionen seitens der EU erwartet, ähnlich wie seinerzeit zum Fall Chodorkowski; die blieben jedoch aus. Selbst die USA warnten nur vage, es bestehe die Gefahr, dass Energierohstoffe zum politischen Druckmittel würden.
Für die Zurückhaltung besteht guter Grund, wenn die Konflikte nicht aus dem Ruder laufen sollen: Auseinandersetzungen um russische Gaslieferungen an die Ukraine sind nicht neu. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte und in der Hoffnung auf eine Wiederannäherung im Rahmen einer „eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ bestehend aus Kasachstan, Russland, Weißrussland und der Ukraine, lieferte Russland der Ukraine dennoch seit nunmehr fast 15 Jahren Gas zu Sonderkonditionen ohne Gegenleistung. Seit der erklärten Abwendung der Ukraine von der Perspektive einer Union mit Russland, seiner demonstrativen Hinwendung zur EU und zur NATO in und nach der sog. „Orangenen Revolution“ vor einem Jahr ist die Basis für eine Vorzugsbehandlung der Ukraine, die Russland jedes Jahr drei Milliarden Euro kostete, jedoch nicht mehr gegeben. Weißrussland, das die Union mit Russland weiter anstrebt, behält seinen subventionierten Preis.
In der Ukraine stehen zudem neue Wahlen ins Haus. In ihnen sind Aktualisierungen der Auseinandersetzungen um die politische Orientierung des Landes zu erwarten, die zum Sieg der „Orangenen Revolution“ geführt haben. Die Ukraine ist weit davon entfernt, sich demokratisch stabilisiert zu haben: Die Popularitätswerte Juschtschenkos sinken gegen 30%, das Anti-KorruptionsBündnis Jutschtschenko/Timoschenko ist an Korruptionsaffären der neuen Regierung geplatzt. Die Anbindung der Ukraine an die EU ist ein Traum geblieben; bis heute ist die Ukraine für die EU nicht mehr als ein Transitland, über das 80% des aus Russland bezogenen Gases nach Europa kommen. Mit der Ostsee-Pipeline versucht man sich seitens der EU aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Dessen ungeachtet stehen die in- und ausländischen Akteure bereit, die seinerzeit zur Radikalisierung der „Orangenen Revolution“ beitrugen, ihre Interventionen für eine „demokratische“ Ukraine zu wiederholen.
Schließlich sind die Umgruppierungen auf dem russisch-eurasischen Öl- und Gasmarkt, die sich aus dem Verlauf der YUKOS-Chodorkowski Affäre ergeben, keineswegs abgeschlossen, sondern treiben neuen Konflikten zu. Der amerikanische Versuch sich über Yukos-Beteiligungen Zugriff auf die Öl- und Gasressourcen Russlands zu verschaffen, wurde von Russland mit der Zerschlagung von Yukos vorerst abgeschmettert. Gewinner dieser Runde ist der Konzern Gasprom, der seither auf dem Gas- und auf dem Ölmarkt expandiert. Noch wenige Tage vor dem Lieferstop schloß Gasprom mit Turkmenistan einen Vertrag, der eine Erhöhung der turkmenischen Gaslieferungen von bisher sieben auf dreißig Milliarden Kubikmeter vorsieht – nur einen Tag bevor die Ukraine ihrerseits einen Vertrag mit Turkmenistan über die Lieferung von 40 Milliarden Kubikmetern bekannt gab. Gasprom praktiziert jetzt, was russischen Managern von IWF, Weltbank, WTO usw. seit Jahren als zivilisierter Weg gepredigt wird: knallharte Marktwirtschaft, Einflussnahme über wirtschaftlichen Druck statt Subventionen, Diversifizierung des Energiehandels. Das wirft noch ein weiteres Licht auf die geplante Ostsee-Pipeline: Mit ihr will auch Gasprom sich unabhängig von den Transitländern Polen und Ukraine machen. Bleibt schließlich noch daran zu erinnern, dass Russland nach Abschluß des Yukos-Prozesses Ende letzten Jahres erklärte, seine Devisenreserven zukünftig nicht mehr allein in Dollar, sondern zu gleichen Teilen in Euro anlegen zu wollen. Dies alles mag die vorsichtigen Töne im aktuellen Konflikt erklären. Hinter den Kulissen jedoch rumort es heftig.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“

Drei Anmerkungen vorweg:

Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.

Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.
Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.

Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de

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Der Fall YUKOS/Chodorkowski:

Das Verfahren gegen den russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski ist zentraler Ausdruck einer strategischen Auseinandersetzung zwischen der russischen Staatsmacht und dem privaten Kapital, das sich im Zuge der Privatisierung in Russland herausgebildet hat. Es ging um die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die russischen Öl- und Gas-Ressourcen hat, die immerhin zu 40% das russische Staatsbudget füllen und 55 Prozent der Exportgewinne betragen. Mit dem Vorgehen gegen Chodorkowski wurden die Auswüchse der russischen Privatisierung exemplarisch zurück geschnitten und die Verfügungsgewalt des Staates über die Ressourcen des Landes wiederhergestellt. Das war erklärte Politik Wladimir Putins, die sich in der Person des von den USA unterstützten Chodorkowski zugleich gegen den globalen Hegemonialanspruch und die daraus folgende Interventionspolitik der USA wandte. Mit der Auflösung des Konzerns und der Verurteilung des ehemaligen YUKOS-Chefs hat Putin dieses Ziel vorläufig erreicht. Gut 70% der russischen Bevölkerung waren laut Umfragen damit einverstanden. Nach dem Ende des Prozesses beginnt nunmehr eine neue Runde der Auseinandersetzungen

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Wie alles anfing: Chodorkowskis Aufstieg und Fall[1]

Michael Chodorkowski wurde am 26. Juni 1963 in Moskau geboren. Er war aktiv im Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband, der das Sprungbrett seiner Karriere in der freien Wirtschaft wurde insofern die Kommunisten in den meisten Schlüsselpositionen saßen und es war ein Vorteil „Verbindungen“ zu haben. 1987 gründete Chodorkowski auf dieser Grundlage das ”Zentrum für wissenschaftliche und technische Kreativität der Jugend” (HTTM), war bis 1989 Leiter dieses Zentrums. 1988 machte er seinen Abschluss als Chemietechnologe und Finanzierungsexperte an der Moskauer staatlichen Universität. 1987, noch als Student, gründete er die „Innovative Kommerzbank für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“ (später Menatep-Bank), deren Aufsichtsratsvorsitzender er von Mai 1989 bis 1990 war. 1990 kaufte die Bank das HTTM-Zentrum und taufte es in „Menatep Invest Zentrum für branchenüberschreitende wissenschaftliche und technische Programme“ um. 1990/91 war Chodorkowski Generaldirektor der Menatep-Bank. Von August 1991 bis April 1996 hatte er die Funktion eines Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Kredit- und Finanzgesellschaft Menatep inne.
Seine ersten Millionen machte Chodorkowski am Anfang der 90er-Jahre, zu Zeiten der sog. wilden, das heißt noch gesetzlosen Privatisierung unter Gorbatschow, als er Menatep Aktien in privatisierten Betrieben zu teilweise spektakulär niedrigen Preisen kaufte. Seine Verbindungen innerhalb der kommunistischen Partei spielten dabei eine bedeutende Rolle.
Unter Gorbatschows Nachfolger Jelzin ergaben sich größere Chancen für Chodorkowskis Expansionskurs:1992 wurde er mit 29 Jahren Leiter des Investitionsfonds für die Energieindustrie und erhielt durch diese Aufgabe den Status eines russischen Vizeministers für Treibstoff und Energie, gleichzeitig wurde er Berater des Präsidenten. Im März 1993 wurde er offiziell zum Stellvertreter des russischen Ministers für Treibstoff und Energie ernannt – eine vorteilhafte Position zur Förderung seiner privatwirtschaftlichen Geschäfte.
1994 übernahm Chodorkowski zusammen mit Platon Lebedew Aktien des Düngemittelproduzenten APATIT. Später wurde ihnen zur Last gelegt, daß sie das Aktienpaket erschwindelt und die Gesellschaft ausgeplündert hätten, indem sie Dünger zu extrem niedrigen Preisen durch Privatfirmen aufkauften und zu den üblichen Weltmarktpreisen weiter verkauften. Ab September 1995 wurde Chodorkowski zudem noch Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Rosprom, des zentralen russischen Industrie-Entwicklungs-Konzernes.

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Aufstieg von YUKOS

Im Dezember 1995 wurde eine Auktion durchgeführt, in der 45 % der Aktien der Ölfirma YUKOS angeboten wurden. Vermittelt über die Menatep-Bank konnte Chodorkowski die Aktien und die damit verbundenen Investitionsverpflichtungen für 350 Millionen Dollar, freundlich formuliert, zu extrem günstigen Bedingungen an sich bringen. Gleich nach der Übernahme erwarb er über Menatep im Frühling 1996 weitere 7,06 Prozent von YUKOS in einer erneuten Auktion. Im Herbst 1996 erweiterte YUKOS sein Aktienkapital; mit dem Erlös aus den ausgegebenen neuen Aktien wurden die Holdinggesellschaft und ihre Tochtergesellschaften refinanziert.
Jelzins erster Premierminister Jegor Gaidar, der Pate der russischen Privatisierungskampagne und der Einführung der sog. freien Marktwirtschaft unter Jelzin, sagte in einem Interview mit der New York Times über Geschäftsleute, die zu teilweise lächerlichen Preisen russische Staatsbetriebe übernommen hatten: „Selbstverständlich gab es Verletzungen (des Gesetzes). Aber vor allem wegen fehlender Klarheit über diese Gesetze … Es gibt keine reichen Engel in Russland. Alle haben eine Reihe Gesetze gebrochen und eine Menge schlechter Dinge getan um ihr Vermögen aufzubauen. Innerhalb der verschiedenen Industriezweige wurden viele getötet. Die meisten großen Vermögen sind mit Tötungsdelikten verbunden“. Chodorkowski, kommentiert Kreuzenbeck das von ihm vorgestellte Zitat, wurde der reichste und mächtigste der russischen Oligarchen:
Ab April 1996 war Chodorkowski der erste Vizepräsident der Ölgesellschaft YUKOS. Seit Juni 1996 hatte er die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden des wachsenden Konzerns. Im Februar wurde er zusätzlich zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Betriebsgesellschaften Rosprom ernannt. Nach der Neuorganisierung von YUKOS wurde Chodorkowski Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft YUKOS-Moskau. Von November 1999 bis Oktober 2000 war er Mitglied des Aufsichtsrats im Ministerium für Treibstoff und Energie der Russischen Föderation. Ab Oktober 2000 engagierte sich als ein führendes Mitglied in der Russischen Union der Industrieführer und Geschäftsleute. Alles in allem eine nützliche Zusammenführung von Funktionen in einer Person.

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Neuer Wind unter Putin

Die Ablösung Boris Jelzins durch Wladimir Putin im Frühjahr 2000 brachte einen politischen Richtungswechsel in Russland. Wladimir Putin betrat die Arena mit der Ankündigung, eine „Diktatur der Gesetze“ schaffen zu wollen. Das richtete sich unmissverständlich gegen die wilde und zum Teil sogar kriminelle Privatisierung. Sie wurde als „Prichwatisierung“, das heißt Raub, vom Volksmund eindeutig klassifiziert. Während Chodorkowski zu Jelzin und den von ihm eingesetzten Regierungen ein sehr enges Verhältnis hatte, einerseits Jelzins Protegé war, diesem andererseits 1996 mit seinem Kapital zur Wiederwahl verhalf, also eine Hand die andere wusch, entwickelte sich das Verhältnis zu Putin von Anfang an im Konflikt: Chodorkowski unterstützte Parteien, die in Opposition zu Putin standen – neben der kleinen liberalen Partei Yabloko auch die die kommunistische Partei der russischen Föderation, KPRF. Jabloko bestätigte die Unterstützung durch YUKOS öffentlich, während sowohl Chodorkowski als auch die Kommunistische Partei jegliche Verbindung miteinander dementierten. Ein weiterer YUKOS-Großaktionär jedoch, Sergej Muravlenko, war aktiver Unterstützer der KPRF, ohne dass dies dementiert wurde.

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Wende 2003: Chodorkowski verhaftet

Im Jahre 2003 war Chodorkowski einer der reichsten Männer der Welt (Nr. 26 auf der Forbes-Liste, die im folgenden Jahr veröffentlicht wurde). YUKOS war nach der Fusion mit Sibneft die viertgrößte Ölgesellschaft der Welt. „Chodorkowski präsentierte sich in der Öffentlichkeit“, so erzählt Kreuzenbeck, „als moderner Geschäftsmann, der seine Betriebe in einer offenen und westlichen Weise leitete und die Gesetze befolgte, also als zäher, aber gerechter Industriekapitän. Er war der erste Oligarch, der sich in die Bücher schauen ließ – allerdings nur in die der letzten Jahre und offensichtlich nicht in alle. Der ganze Konzern wurde in dieser Weise zurechtgetrimmt, damit er für ausländische Investoren attraktiv würde. Die YUKOS-Führung polierte ihr Englisch, heuerte teure ausländische PR-Firmen an und peppte ihre öffentlichen Statements mit Phrasen wie TRANSPARENCY und WESTERN CORPORATE GOVERNANCE auf.“
Eine ganze Reihe Amerikaner zogen ins oberste Management ein; Teile des Konzern wurden bereits aus New Yorker Büros geführt. Im Frühjahr 2003 schickte Chodorkowski sich an, große Teile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco zu verkaufen. Es ging um eine bis zu 50% Übernahme. Bestandteil der Verhandlungen war auch der Bau eines eigenen Pipeline-Netzes, mit dem das staatliche russische Monopol über die Ölpipeline gebrochen werden sollte, um das Öl am russischen Fiskus vorbei auf den Weltmarkt lenken zu können. Hinzu kam die Einrichtung einer Reihe von ausgelagerten Offshore-Niederlassungen im Ausland, die dem gleichen Zweck dienten. Gigantische Kapitalmengen verließen auf diese Weise das Land. Der Verkauf hätte den Konzern dem Zugriff des russischen Staates faktisch entzogen. Beobachter sprachen damals von einer „Art eigener Außenpolitik“, die Chodorkowski entwickle. Der „Spiegel“ nannte ihn einen, „gehobenen Perspektiv-Agenten“ der USA.

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Erinnerung an den strategischen Hintergrund

Als Hintergrund hierzu muss noch einmal auf die von Zbigniew Brzezinski und anderen formulierten strategischen Zielsetzungen der USA verwiesen werden, die Entscheidungen um die neue Weltordnung auf dem „eurasischen Schachbrett“ zu suchen. Dem entsprach ein taktischer Doppelschritt in der Zeit des ausgehenden kalten Krieges: Der erste Schritt bestand darin, die Sowjetunion in die „Afghanistan Falle“ laufen zu lasen, um sie politisch und wirtschaftlich zu destabilisieren, die zweite zielte darauf – nachdem der erste gelungen war, wie Brzezinski sich später öffentlich rühmte[2] – das nachsowjetische Russland durch „Demokratisierung“ und „Internationalisierung“ der Ölförderung wie auch des Ölhandels von ihrem aus Sowjetzeiten stammenden Monopol auf die eurasischen Ölquellen zu trennen. Mit der Auflösung der Sowjetunion war eine veränderte Weltlage entstanden: Ihr Kern ist die Neuaufteilung des Zugriffs auf die Weltressourcen an fossilen Rohstoffen, die bis zur Auflösung der Sowjetunion unter deren Verfügung standen, des Zugriffs also auf die kaukasischen, zentralasiatischen und auf die russischen Öl-Felder und Gas-Vorkommen. Von ihrer Ausbeutung versprechen sich die Regierungen der Industrienationen, die fossile Brennstoffe heute als Grundlage ihrer zukünftigen Existenz betrachten, eine größere Unabhängigkeit von der OPEC, insonderheit von den Ländern am persischen Golf, bzw. niedrigere Preise durch die erweiterte Konkurrenz wischen den Energie-Rohstoffe produzierenden Ländern. Die neue Geografie der Versorgung wird auf den Karten der Globalstrategen als „strategische Ellipse“ beschrieben. Achtzig Prozent der fossilen Brennstoffe konzentrieren sich in diesem Gebiet, das sich vom persischen Golf über den kaspisch-kaukasischen Raum bis ins mittlere Russland hinein erstreckt.
Anders als die USA, die ihren Anspruch auf den privilegierten Zugriff auf die Weltressourcen, insbesondere auf die neu zugänglichen des eurasischen, also kaspischen, kaukasischen und auch russischen Raums durch ihren Altstrategen Zbigniew Brzezinski unmissverständlich formulierten und in ihrer Politik mit dem Versuch einer systematischen Einkreisung, Neutralisierung und Isolierung Russland seither gezielt umzusetzen bestrebt sind[3], tat Europa sich bisher schwer, eine einheitliche Strategie zu finden. Europa schwankt zwischen einem privilegierten Zusammengehen mit Russland gegen den Verfügungsanspruch der USA und einem Zusammengehen mit den USA gegen das Monopol Russlands, um damit der eigenen Abhängigkeit von den Energielieferungen Russlands entgegenzuwirken: Strategische Partnerschaft von EU und Russland auf der einen Seite, Entwicklung eines Korridors von Europa nach Zentralasien, der Russland bewusst ausgrenzt und von seinen Ressourcen im Kaukasus, in Zentralasien und im Iran trennt, auf der anderen.[4] Kurz gesagt, in der EU-Politik weiß die Linke, die Zusammenarbeit will, offenbar nicht, was die Rechte tut, die auf Konfrontation im Nachtrab zur USA setzt. Man könnte auch vermuten, dass bewusst eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche gefahren wird. Angesichts der Zerstrittenheit der erweiterten EU in der Beziehung zu Russland wäre das aber vermutlich eine Überschätzung der strategischen Fähigkeiten der EU-Bürokratie.
Ergänzend zu all dem der Hinweis: Condoleeza Rice, die heutige Außenministerin des Kabinetts Bush, war vor ihrer Ernennung zur Nationalen Sicherheitsberaterin zehn Jahre lang im Aufsichtsrat von Chevron tätig. US-Vizepräsident Richard Cheney nahm eine Schlüsselposition bei den Verhandlungen um die Neu-Verteilung des Zugriffs auf das kaspische Öl ein; im Caspian Pipeline Consortium spielte Chevron die stärkste Rolle.

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Putins „Kommando“ im Angriff

Als Chodorkowski sich im Frühjahr 2003 auch noch auf die Seite der US-Kriegspläne gegen den IRAK stellte, ging die russische Regierung gegen ihn vor: Im Mai veröffentlichte der „Rat für nationale Sicherheit (SNS) einen Bericht über eine „Verschwörung einiger Oligarchen zur Machtergreifung in Russland“. Wenige Wochen später wurde Alexej Pitschugin, der Sicherheitschef von YUKOS, wegen Anstiftung zum Dopppelmord festgenommen, Anfang Juli dann Platon Lebedew wegen der unrechtmäßigen Aneignung von 283 Millionen Rubel (8 – 9 Millionen Euro) des Chemieunternehmens Apatit. Im September kaufte Chodorkowski die bis dahin liberale Zeitung „Moskowski Nowosti“, um den Angriffen publizistisch entgegenzuwirken. Im Juni 2003 begann der russische General-Staatsanwalt seine Nachforschungen in der YUKOS-Sphäre. Im Oktober wurde Chodorkowski selbst verhaftet und Anklage gegen ihn erhoben.. Die Staatsanwaltschaft legte ihm Gesetzesverstöße in sieben Fällen zur Last begangen als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, unter anderem Unterschlagung, Steuerhinterziehung, betrügerische Übernahme der Apatit-Aktien; außerdem habe er über Offshorefirmen auf betrügerische Weise in die eigene Tasche gewirtschaftet. Die Rechnung, die die Staatsanwalt aufmachte, belief sich auf über einer Milliarde US-Dollar.

Chrystia Freeland, Vize-Herausgeberin der Financial Times, so Kreuzenbeck, schrieb in ihrer Zeitung nach der Verhaftung Chodorkowskis über dessen Eigenschaften als Geschäftsmann: ”Chodorkowski zeigte eine Aggressivität und Raffiniertheit, die selbst jene Geschäftsleute in Erstaunen versetzte, die sich normalerweise durch nichts überraschen lassen. Minoritätsaktionäre wurden mit massiver Ausdünnung ihrer Werte bedroht. Ein komplexes Netz von mysteriösen Offshore-Gesellschaften wurde kreiert. Technische und physische „Straßensperren“ wurden errichtet, um zu verhindern, dass Investoren mit abweichender Meinung auf wichtigen Aktionärsversammlungen ihre Stimme abgeben konnten“.

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Opponent gegen Putin
Chodorkowski als möglicher Präsidentschaftskandidat
und Verteidiger der Freiheit…

Nach seiner Verhaftung wurde Chodorkowski als möglicher Anti-Putin-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2004 aufgebaut. KP-Sekretär Gennadij Zhuganow erklärte, er könne sich eine Kandidatur von Millionären auf der Liste der KP durchaus vorstellen, allerdings ohne Chodorkowski direkt zu nennen. Der Pressesprecher der Kommunisten, Ilja Ponomarjow, der von 1998 bis 2002 eine Führungsposition bei YUKOS innehatte, sah in einer eventuellen Kandidatur Chodorkowkijs eine Möglichkeit für ihn politische Immunität zu erhalten: ”Ist er als Kandidat registriert, wird man ihn freilassen müssen“. Auch der Oligarch Boris Beresowskij äußerte sich aus seinem Londoner Exil positiv über eine mögliche Kandidatur Chodorkowskis.

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Kritik des Liberalismus

Aus Chodorkowskis Kandidatur wurde jedoch nichts. Stattdessen meldete er sich nach der Wahl, die einen starken Machtanstieg Putins gebracht hatte, mit einem radikalen Aufsatz zur „Krise des Liberalismus“, in dem er die Umverteilungspolitik der Liberalen als gescheitert und als Raub am Volksvermögen kritisierte. Die Liberalen hätten 90% der Bevölkerung getäuscht, so Chodorkowski, hätten die Augen vor der russischen Wirklichkeit verschlossen, als sie mit einem Federstrich die Privatisierung beschlossen. Sie hätten keinen Gedanken an die Sparguthaben der Bevölkerung verschwendet, sich nicht um eine Bildungsreform gekümmert, soziale Stabilität und sozialen Frieden außer Acht gelassen. Als einer der größten Sponsoren habe er selbst in der der Wahl 1996 bereits für ein Bündnis der Liberalen mit den Kommunisten plädiert, sei aber nicht gehört worden. Nun komme „die Stunde der Buße“.
Chodorkowski verblüffte die Öffentlichkeit mit einer harschen Selbstkritik: „Für mich ist Russland meine Heimat“, schrieb er: „Hier möchte ich leben und sterben und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit in die Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber spät als nie.“
Chodorkowski forderte eine „neue Strategie der Zusammenarbeit“ von Unternehmern und Staat, er forderte, die „Wahrheit in Russland und nicht im Westen“ zu suchen und „auf(zu)hören, die Legitimität des Präsidenten in Frage zu stellen.“. Die Unternehmer müssten gezwungen werden mit dem Volk zu teilen, die Privatisierung müsse vor der Bevölkerung legitimiert werden, zum Beispiel durch eine „Besteuerung der Rohstoffe und andere Schritte“. Und schließlich erklärte er, ganz Staatsmann: „Es ist besser, derlei Schritte selbst zu unternehmen und sie dadurch zu beeinflussen und steuern zu können, als zum Opfer eines blinden Widerstandes gegen das Unausweichliche zu werden.“
Das Schreiben endete mit der Forderung, dass Geld in echte zivilgesellschaftliche Strukturen investiert werden müsse.

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Linke Wende

Im August 2005 legte Chodorkowski mit einer weiteren Erklärung nach, in welcher er eine linke Wende für Russland prognostizierte. Er prognostizierte, dass in der Bevölkerung Russlands als Reaktion auf die Jahre der räuberischen Privatisierung und der darauf folgenden autoritären Modernisierung putinschen Typs nunmehr eine Linkswendung bevorstehe und rief die verbliebenen Liberalen, Neu- und Alt-Linken dazu auf, unter Führung der National-Linken ‚Rodina’ (Heimat) sowie der Kommunistischen Partei und in Zusammenarbeit mit einer nach links geöffneten vereinigten liberalen Szene eine Front gegen das autoritäre Regime Putins zu bilden. Chodorkowski scheute sich dabei nicht, Oligarchen wie sich selbst, als Räuber und Betrüger zu bezeichnen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion in krimineller Weise auf Kosten des Volkes bereichert hätten und denen nunmehr soziale Verantwortung abzuverlangen sei.
Man mag von Chodorkowski halten, was man will, seine Analyse der russischen Entwicklung ist bemerkenswert: Die von ihm geschilderte räuberische Privatisierung unter Jelzin, danach die autoritäre Modernisierung Putins hat zwar die Linke, ebenso wie die Liberalen bis hin zu deren verheerender Wahlniederlage bei der Wahl zur Duma im Jahr 2004 zur Marginalie werden lassen, in weiten Kreisen der Bevölkerung aber die latente Resistenz gegen die marktorientierte Westwendung in zunehmend offene Proteste verwandelt. Eine soziale und politische Polarisierung der russischen Gesellschaft in eine von der putinschen Büroklatur repräsentierte Mitte und sich radikalisierende Ränder der Gesellschaft sind unübersehbar. Auf der linken Seite sind neue Führungsfiguren wie der national und sozialistisch argumentierende Gennadij Glasjew aufgetaucht; die neue Linke sammelt sich in informellen Zirkeln wie dem russischen „Sozialforum“, Anti-Globalisierungs-Zirkeln usw. Die Liberalen, also die Union Rechter Kräfte (SP) und die Jawlinski-Partei ‚Jabloko’, seit ihrer Gründung 1991 in Rivalitäten zerstritten, haben beschlossen, ihre Streitigkeiten in Zukunft beiseite zu lassen. Ein Komitee des bekannten Schachspielers Garri Gasparow stellt sich als pro-westliche Alternative zu Putin für die Präsidentenwahlen des Jahres 2008 auf.
Die von Michail Chodorkowski prognostizierte Linkswende bleibt allerdings potentiell, solange es der Regierung gelingt, ihre Renten-, Stipendien und sonstigen Fürsorgeansprüche mit den neuerdings wieder einfließenden Öl- und Gas-Dollars zu beschwichtigen. Hier stimmen zwar Chodorkowskis Analysen, seine damit verbundenen Ambitionen beißen sich jedoch ganz mächtig in den eigenen Schwanz, denn diese Politik der Regierung ist nur möglich, weil, seitdem und solange es ihr gelingt, die Einnahmen aus dem Verkauf der Ressourcen, vor allem an Öl und Gas, in die Staatskasse zu lenken, und das heißt vor allem anderen ganz konkret, weil es ihr gelingt, durch ihr Vorgehen gegen den Raub-Privatisierer, Steuerbetrüger und Offshore-Spekulanten Chodorkowski die Ressourcen des Landes ansatzweise wieder in den Griff zu bekommen. Chodorkowskis Aufruf zur Linkswende entpuppt sich damit unversehens als Anklage in eigener Sache, bzw. schlichtweg als widersprüchlich oder wie es die Web-Zeitung ‚russland.ru’ an anderer Stelle formulierte: ‚Seine Überlegungen haben nur den Haken, dass es ihnen an Legitimität fehlt.’

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Das Verfahren

Kein Zweifel, das sei hier deutlich betont, um jedes Missverständnis auszuschließen, die Art und Weise des Verfahrens – angefangen bei der martialischen Verhaftung Chodorkowskis durch vermummte Sonderkommandos bis hin zum drakonischen Urteil von neun Jahren Lagerhaft – entsprach nicht den Menschenrechtstandards der UNO oder dem EU-Wertekanon. Folgerichtig erklärte Amnesty International Chodorkowski nach anfänglicher Weigerung zum politischen Gefangenen.
Bedauerlicher Weise jedoch, am Ende möglicherweise sogar zu Chodorkowskis eigenem Leidwesen, wurde er Objekt einer politischen Kampagne, die Töne des kalten Krieges gegen Russland neu auflegte. Es begann wieder einmal mit einem Artikel Zbigniew Brzezinskis, Unter der Überschrift „Der Moskauer Mussolini“. („The Wall Street Journal, 20.9.2004) verbreitete dieser im September 2004 nach der Wiederwahl Putins zum Präsidenten die Behauptung, Putin versuche in Russland einen Faschismus nach dem Muster Mussolinis aufzubauen; Russland entwickle sich zu einem `faschistischen Erdölstaat`.
Brezinskis Stichwort des „faschistischen“ Russland wurde von Neo-konservativen Amerikas aufgegriffen. Bruce Jackson, Reisender in Sachen „Project on Transsitional Democracies“ griff zusätzlich noch zum Knüppel des Antisemismusvorwurfs: Wörtlich: „Seit Putin gewählt wurde, waren alle führenden Figuren, die wegen Wirtschaftsverbrechen exiliert oder arretiert wurden, jüdisch. In Dollar gerechnet, sind wir Zeugen der größten illegalen Enteignung von jüdischem Kapital seit der Nazi Beschlagnahmung in den 30gern…. „ Und weiter zu Chodorkowski: „Die Inhaftierung eines Mannes hat uns das Signal gegeben, das unsere gut gemeinte Russland Politik gescheitert ist. Wir müssen nun erkennen, das eine massive Unterdrückung von Menschenrechten stattgefunden hat und die Errichtung einer Administration in Moskau vom Typ eines de-facto Kalten Kriegs.“ (Washington Post, 28.10. 2003)
Es folgte der „Offene Brief“ an die Führungen von NATO und EU am 28.9.2004, der von 150 Personen aus Europa und den USA, u.a. der Führung der Grünen, unterzeichnet wurde. Unter Benutzung von Menschrechtsrhetorik griff er direkt in die russische Politik ein und forderte die Unterstützung der „demokratischen Kräfte“ in Russland. Unter den Unterzeichnern waren eine Reihe bekannter neo-konservativer Amerikaner. Am 5. Oktober 2004 legte die Grüne Böllstiftung mit einem weiteren „Aufruf für Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Fall Chodorkowski“ und der Durchführung einer Solidaritätsveranstaltung für Chodorkowski in Berlin nach, ebenfalls mit unterzeichnet und getragen von einer Reihe von US Neo-Konservativen.
Zum besseren Verständnis ist noch einmal daran zu erinnern, dass Chodorkowski, allen patriotischen Beteuerungen zum Trotz, am Beginn des Jahres 2003 drauf und dran war, den Öl-Giganten YUKOS durch die Fusion mit SIBNEFT, CHEVRON und EXXON zu einem Multinationalen Konzern zu erweitern, der sich dem Zugriff der russischen Staatlichkeit zu entziehen anschickte. Seine politischen Verbindungen in die USA hatten sich entsprechend entwickelt: In der International Herald Tribune wurde derzeit berichtet, Chodorkowski versuche mit viel Geld, sich Zutritt zu den geschlossenen Zirkeln Washingtons zu verschaffen. Dafür soll er seit 2001 jedes Jahr 50 Millionen Dollar aufgewendet haben, davon eine Million für die US-Kongressbibliothek und 500.000 Dollar für die Carnegie-Stiftung – die ihrerseits NGOs in Russland davon finanzierte. Chodorkowski verteilte großzügige Spenden an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner eigenen Stiftung „Offenes Russland“ für einflussreiche US-Amerikaner wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Henry Kissinger oder den britischen Bankier Lord Rothschild. Erinnert werden muss auch noch einmal daran, dass er in den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg im Interesse der YUKOS-Expansion gegen die Schröder-Chirac-Putin-Ablehnungs-Front für eine russisch-amerikanische Kriegs-Allianz agierte.

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Berufungsverfahren

Die russische Staatsanwaltschaft ließ sich durch die Kritiken nicht aufhalten. Im Mai 2005 wurde Chodorkowski in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden und zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Jukos wurde die Erstattung der Steuerschulden in einer Höhe auferlegt, die praktisch zur Liquidation des Konzerns führen mussten. Davor rettete ihn nur die Versteigerung eines seiner einträglichsten Zweige, des Yoguskneftegas, der in den Besitz einer bis dahin unbekannten Baikal-Finanz-Gruppe überging. Chodorkowski selbst hatte seinen Platz im Aufsichtsrat von YUKOS schon vorher geräumt. Damit war das YUKOS- Imperium praktisch zerschlagen. Chodorkowskis strengte sofort ein Berufungverfahren an, mit dem er sich zugleich die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Nachwahl zum Unterhaus der russischen Staatsduma und damit Immunität sichern wollte. Doch noch bevor es zur dieser Wahl kommen konnte, wurde das Berufungsverfahren von der Staatsanwaltschaft abgeschmettert. Das Gericht hielt das Urteil wegen Betrug und Steuerhinterziehung aufrecht, nur in einem Punkt, der Veruntreuung von zwei Milliarden Rubel aus dem YUKOS-Vermögen, erklärte es das erstinstanzliche Urteil für nichtig. Die neun Jahre Haft aus der ersten Instanz wurden auf acht reduziert; die allerdings muss Chodorkowski nunmehr im offenen Lagervollzug antreten. Bei guter Führung kann er auf der Hälfte entlassen werden. Seine Anwälte kündigten an, sowohl beim russischen Verfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof noch einmal in die Berufung gehen zu wollen.

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Erneuerung á la Chodorkowski?

Nach seiner Verurteilung meldete Chodorkowski sich aus seiner soeben angetretenen Lagerhaft nahe der sibirischen Stadt Tschita erneut mit einer öffentlichen Erklärung, dieses mal mit einem „Programm der radikalen Modernisierung Russlands bis zum Jahr 2020“ zu Wort. Darin bringt er sich mit Vorschlägen für die Zeit nach Putin in Position.
Angemerkt werden muss an dieser Stelle, daß Chodorkowski entgegen Spekulationen, die man nach dem Prozess lesen, sehen und hören konnte, die russische Regierung wolle ihn nach dem Prozess verschwinden lassen, gleich in den ersten Tagen seiner Einlieferung ins Lager einen dreitägigen Besuch seiner Frau empfing, den ersten seit seiner Inhaftierung vor zwei Jahren. Mit seinen Rechtsanwälten erörterte er ein Berufungsverfahren. Neben einer Arbeit als Näher in der lagereigenen Kleiderproduktion, die er zwei Stunden am Tag ableisten muss, wird er eine Tätigkeit als Lagerdozent ausüben können; er kann TV und Kühlschrank beantragen, Presse abonnieren; von fünfzig Zeitungen ist die Rede, der er sich bestellt habe. Bei guter Führung, ließ die Lagerleitung mitteilen, bestehe die übliche Chance auf frühzeitige Entlassung, kurz, er ist ein ganz normaler, aber prominenter Häftling.
Scharf greift Chodorkowski in seiner Erklärung den Präsidenten Putin an: Der stehe einem Apparat von Schmarotzern vor, die unfähig seien, das Land zu modernisieren. Die einzige Frage, die sie bewege, laute, wie man möglichst schnell etwas vom Staat bekommen könne. Aber dieser parasitäre Ansatz trage nicht mehr; das Land brauche eine neue Elite, welche die Regierung nach Putins Ausscheiden im Jahr 2008 übernehmen könne. Sie müsse ihre Aufgabe in einem langfristigen Aufbau des Landes und nicht wie bisher in der bloßen Umverteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten sehen.
Die neue Elite werde mit einer Reihe objektiver Probleme konfrontiert sein: der demographischen Schrumpfung des Landes, dem Verschleiß der Infrastruktur, dem Zusammenbruch des Maschinenbaues, der Krise des Rüstungskomplexes, dem Verlust der Kontrolle Moskaus über den Kaukasus, dem Zusammenbruch der Streitkräfte usw. Statt einer Politik der „vertikalen Macht“ brauche das Land eine föderale Ordnung, die den Regionen mehr Kompetenzen zubillige und die Selbstverwaltung stärke. Eine „Ökonomie des Wissens “ müsse Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen entwickeln. Der Staat müsse Familien fördern, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuarbeiten, mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben, anstatt sich nur auf seine Energieressourcen zu verlassen. Das größte Problem sieht Chodorkowski im „brain drain“ des Landes, der gestoppt werden müsse. Das Kaderproblem sei aber lösbar: „Schaut, was ich aus YUKOS gemacht habe“, erklärt er selbstbewusst. Die Geschichte von YUKOS zeige doch, dass eine Ausbildung neuer Kader und eine Modernisierung möglich sei.
Zur Finanzierung schlägt Chodorkowski die Einführung einer doppelten Steuer vor. Auf bereits privatisiertes Volksvermögen möchte er eine Privatisierungssteuer erheben. Das werde dem Staat das nötige Geld einbringen, den Zahler zugleich als legitimen Eigentümer ausweisen und damit die Eigentumsverhältnisse des Landes stabilisieren. Zum Zweiten spricht Chodorkowski sich für eine Ressourcensteuer aus, welche die private Ausbeutung und Verschwendung der Ressourcen unterbinde. Aus den Einnahmen beider Steuern könne der Staat die Kosten für die Wiedereinführung der traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie kostenlose medizinische Versorgung, Ausbildung problemlos tragen, bevor die 90% der Armen das in die eigenen Hände nähmen.

Dies alles sieht nach ernsthaften Versuchen des ehemaligen YUKOS-Managers aus, sich aktiv in die Gestaltung der russischen Politik einbringen zu wollen. Vom Vorstand des Unternehmverbandes ist er aus eigenen Stücken mit der Begründung zurückgetreten, er sei nach dem Ausscheiden aus den YUKOS-Aufsichtsräten kein Unternehmer mehr, sondern eine Privatperson und als solche wolle er sich mit ganzen Kräften dem sozialen und demokratischen Aufbau des Landes widmen.
„Mir persönlich hat Russland viel gegeben“, schreibt Chodorkowski, „in den 70er und 80er Jahren bekam ich eine Ausbildung, auf die man stolz sein kann. In den 80er Jahren machte es mich (Laut ‚Forbes’) zum reichsten postsowjetischen Menschen. Im zurückliegenden Jahrzehnt nahm es mir aber das Eigentum weg und steckte mich ins Gefängnis, wo es mir die Möglichkeit bot, eine weitere Ausbildung zu bekommen – dieses mal eine gesamtmenschliche und humanitäre.“
Das klingt prinzipiell: Wurde aus Saulus ein Paulus? Diese Frage muss offen bleiben. Angesichts der Umstände, unter denen er seine bisherigen Positionen gegen den Liberalismus und für eine linke Wende nunmehr in einem politischen Programm konkretisiert, darf man jedoch annehmen, dass er für sich mit einer führenden Position in einem solchen Bündnis rechnet.

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Der neue Stand

Offen ist auch, wie lange Michael Chodorkowski tatsächlich sitzen muss. Sicher ist dagegen, dass die Zerschlagung des YUKOS-Konzerns ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung um die Verfügungsgewalt über die russischen Gas- und Ölressourcen eröffnet hat. Aktuelles Signal dafür ist der, parallel zum Abschluss des Prozesses gegen Chodorkowski, vollzogene Verkauf des Öl-Multis SIBNEFT an den halbstaatlichen Gasgiganten GAZPROM. Mit den beiden Megadeals, YUGANSKNEFTEGAZ noch während des Prozesses, SIBNEFT nach dem Prozess, baute GAZPROM seinen Marktanteil im Ölsektor kontinuierlich aus. Er stieg binnen eines Jahres von rund sechs auf über 30 Prozent. Dafür bezahlte der Staat 22,5 Mrd. Dollar. Im November 2005, gab GAZPROM bekannt, am Aufkauf weiterer Gruppen interessiert zu sein. Dieses mal war es SLAWNET. Mit diesem Kauf würde der Kreml seinen Einfluss im Ölsektor weiter erhöhen; GAZPROM würde mit diesem Schritt etwa 15 Prozent der russischen Ölförderung kontrollieren. Mit dieser Entwicklung wurde Russland hinter Saudiarabien zum zweitgrößten Ölförderer der Welt..

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Punktsieg für Putin

Die Zerschlagung des YOKUS Konzerns und Verurteilung Michail Chodorkowskis, ist, wie immer man die Methoden beurteilen mag, mit denen die Auseinandersetzung geführt wurde, ein Etappensieg für Wladimir Putins erklärtes Ziel, Russland auf dem Weg einer eigenständigen Entwicklung zu re-stabilisieren, und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen konnte Russland mit der Zerschlagung von YUKOS den Versuch des Westens insonderheit der USA zurückweisen, Russland auf dem Umweg über eine „Internationalisierung“ dieses Konzerns die Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen zu entreißen.
In einer bemerkenswerten Analyse der Web-Plattform ‚Saar-Zeitung’ wird darüber hinaus die äußerst pikante Vermutung vorgebracht, Michail Chodorkowski sei – ungeachtet seiner eigenen Motive – nur ein Spielball westlicher Intrigen gewesen. Man habe ihn von dieser Seite jahrelang aufgebaut und in seine illegalen Finanztransfers unterstützt, aber in dem Augenblick der russischen Justiz ausgeliefert, als man sicher zu sein glaubte, durch seine Verhaftung in den Besitz der Konzernmehrheit zu kommen. Grundlage für dieses Vorgehen, so diese durch Geheimdienstdossiers belegte Variante, lägen in den Statuten der Finanzgruppe Menatep, in der die YUKOS-Eigentümer ihren Besitz organisiert hätten. Danach hatte Chodorkowski im Falle seines Todes, einer Entführung, Haftstrafe oder beim Verlust eines wichtigen YUKOS-Teilbetriebes seine Rechte an YUKOS abzugeben, wie die Moskauer Wirtschaftszeitung ‚Wedemosti’ berichtet hatte. Belastendes Material, das gegen Chodorkowski wie gegen alle Oligarchen jederzeit ausreichend vorlag, habe man der russischen Regierung zu einem Zeitpunkt zugespielt, als der Konzern seine größte Ausdehnung gefunden habe. Als Überbringer des „Kompromats“, d.h. der kompromittierenden Dossiers, habe der deutsche BND fungiert. Dadurch habe man die russische Regierung zum Handeln, d.h. eben auch zur Teilenteignung zwingen wollen. Wladimir Putin habe diese Pläne jedoch erkannt und durchkreuzt, indem er die Anklage zwar habe erheben, den Prozess aber so lange habe hinauszögern lassen, dass die russische Regierung Zeit genug finden konnte, den wichtigsten Teilbetrieb von YUKOS, Yuganskneftegas, durch eine fingierte Auktion zu übernehmen, so dass der bei Chodorkowski verbleibende Rest von YUKOS-Anteilen nur noch eine relativ wertlose Hülle blieb. Danach erst sei der Prozess gegen ihn beschleunigt worden. Manches spricht für eine solche Manipulation; wer sich ein genaueres Bild von diesem Global-Krimi machen möchte, lese den ganzen Bericht der ‚Saar-Zeitung’. (www.saar.echo.de)
Aber auch ohne abenteuerliche Konkretisierungen dieser Art sind die Interessen in der YUKOS-Angelegenheit so offenkundig, dass von westlicher Seite heute unisono festgestellt wird, Putin habe die Ressourcen „re-nationalisiert“. Das stimmt allerdings nur in dem Sinne, dass die russische Regierung sich als Mehrheitsaktionär in die russische Öl-Gas-Branche eingekauft hat. Von Re-Nationalisierung im Sinne einer allgemeinen Rückführung der Privatisierung ist nicht die Rede; im Gegenteil erklärt Wladimir Putin bei jeder Gelegenheit, dass die privaten Besitzrechte in Russland heute gewahrt seien und auch in Zukunft gewahrt werden sollen.
Der zweite Effekt des YUKOS-Prozesses ist die faktische Bewältigung der russischen Budgetkrise, indem Russlands Oligarchen durch das Vorgehen gegen YUKOS dahin gebracht wurden, ihre Steuern wenigstens teilweise zu bezahlen und die gigantischen Off-shore Verbindungen aufgedeckt und zum Teil unterbunden wurden, über die die potentiellen Steuergelder der russischen Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken durch Dumpinggeschäfte an der russischen Staatskasse vorbeigeleitet wurden. Im Ergebnis des Prozesses und seiner Wirkung auf die übrigen Oligarchen Russlands verfügt der russische Staat jetzt über ausreichend Gelder, die von ihm vorgenommenen Reformen politisch durch große sowie sozial durch kleine Bestechungsgelder abzufedern und so Proteste zu unterlaufen. Der russische Präsident wies die Regierung sogar an, über eine Amnestie der früheren Steuersünder nachdenken.
Das eine wie das andere, die Wiedereingliederung der russischen Ressourcen in die staatliche Verfügung über GASPROM, ROSNEFT und andere russische Unternehmen mit staatlicher Beteiligung wie auch die Füllung des russischen Budgets richtet sich unmittelbar gegen die Politik der strategischen Schwächung Russlands durch Intervention in die wirtschaftliche und politische Souveränität Russlands, wie sie die von den USA betrieben wird und in abgestuftem Maße auch von der EU, die damit ihre eigene Abhängigkeit von russischen Rohstoffen „sicherheitspolitisch“ kompensieren will.
Statt sich selbst über die „Internationalisierung“ von YUKOS den Zugriff auf die russischen Ressourcen und damit auch den Einfluss auf die innenpolische Situation Russlands verschaffen zu können, mussten die USA nicht nur mit ansehen, wie es Wladimir Putin gelang, dem russischen Staat den verlorenen Zugriff wieder zurückzuholen, sie mussten auch erleben, dass die schnell gegründete Baikal-Finanz-Gruppe, die Yuganskneftegas ersteigerte, mit chinesischen Krediten ausgestattet wurde, wofür sich China privilegierten Zugang zu russischem Erdöl ausbedang. Damit ist Wladimir Putin eine entscheidende Weichenstellung im neuen Spiel um die eurasischen Ressourcen gelungen, die ihm Freiraum gibt, seinen Kurs der autoritären Modernisierung fortsetzen, mit dem er Russland zu einer unabhängigen Kraft zwischen Ost und West machen will

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Aussichten:
Vom Kampf um den materiellen Zugriff aufs Öl
zum Kampf um den ÖL-Dollar

Dies ist aber nur eine Etappe in der aktuellen Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt nach dem Ende der Systemteilung des letzten Jahrhunderts, weitere und möglicherweise schärfere Auseinandersetzungen um den Zugriff auf die eurasischen und andere Ressourcen werden mit Sicherheit folgen.
Die „SAAR-Zeitung“ schrieb dazu:
„Mit dem Schuldspruch gegen Chdorkowski wird deutlich, daß russische Außenpolitik wieder eine eigene Kontur annimmt, Russland beginnt, sein eigenes geopolitisches Konzept durchzusetzen. Gegen den Interventionismus der US Politik – wie er in der Brzezinksi-Doktrin zum Ausdruck kommt – setzte Putin ein Konzept des behutsamen multipolaren Pluralismus, der sowohl Asien als auch Europa einbezieht und Russland als Integrationsknoten einer Multipolaren Ordnung begreift. „Das Urteil gegen Chodorkowski kennzeichnet dabei den sichtbaren Wendepunkt in der russischen Außenpolitik, die plötzlich nicht mehr konzeptionslos erscheint“ Es sieht so aus als könne der „eurasische Spagat“ gelingen.“ (Saarzeitung, 16.05.2005)

Die Ereignisse, die den „Fall“ Chodorkowski begeleiteten, sprechen für sich:
– Der Irak-Krieg und seine Folgen.
– Die beginnende Diversifizierung der weltweiten Leitwährung.
– Die Initiativen für ein „Neues Bretton Woods“, das heißt, für internationale Kontrolle der globalen Kapitalflüsse.
– Die Bildung eines neuen Kräfteschwerpunkts in den Völkerbeziehungen, BRIC mit dem Zentrum der Schanghai Organisation, die Russland, China, Iran und Indien zusammenführt.
– Die Vorschläge im Kreis der Asiatischen und der Amerikanischen Staaten, Öl im Tausch gegen Waren, statt über Dollar oder Euro zu handeln.
– Russlands neue Beziehungen zu Arabischen Staaten und zum Iran.

Ein paar Daten mögen die einzelnen Aspekte noch verdeutlichen:

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Dollar unter Druck

Wenige Tage nach der Verkündung des Urteils gegen Michail Chodorkowski einigten sich Russland und die EU auf eine engere Zusammenarbeit; Moskau sandte gleichzeitig ein entscheidendes Signal in Richtung EU: Russland wird in Zukunft seine Devisenreserven in Dollar herunterfahren, dafür den Euro-Anteil auf 50:50 Prozent erhöhen. Zur Zeit liegt das Verhältnis bei 80: 20; bereits zum Jahresende 2005 soll der Euro-Anteil nicht 20, sondern 30 betragen, danach schnell auf 50 erhöht werden.
Damit machte die russische Regierung wahr, was die „Iswestija“ bereits im März 2004 berichtet hatte, dass Putin nämlich nach der Wahl plane, die Bindung der russischen . Währung an den US-Dollar gegen eine Bindung an den Euro zu verändern.
Eine Reform des Währungssystems war bereits seit längerem im Gespräch: Schon auf der IWF-Jahrestagung von 1994 wurde die Einrichtung eines „Neuen Bretton Woods“ mit einem System fester Wechselwährungen vorgeschlagen. Seit 1998 forderten europäische Politiker eine Kontrolle der Finanzmärkte – allen voran übrigens Oscar Lafontaine, der als deutscher Finanzminister gern „Dompteur der Finanzmärkte“ werden wollte. Auch er schlug eine Erneuerung des zusammengebrochenen „Bretton Woods Systems“ vor, allerdings nicht unter der Leitwährung des Dollar, sondern in einer festen Wertrelation von Dollar, Yen und Euro. Die Einführung des Euro 2002 konkretisierte alle diese Tendenzen; sie relativierte den Dollar als Welt-Reservewährung.
Hindernis gegen ein Abrücken vom Dollar als alleinige Weltleitwährung ist die Bindung des Öl-Handels an den Dollar. Seit 2000 rührt sich auch dagegen Widerstand. Gewünscht, vorgeschlagen, gefordert wird ein Übergang vom Dollar als Öl-Leitwährung auf den Euro oder gar die generelle Abkoppelung des Öl-Handels von einer Leitwährung:
Vorreiter für die Entthronung des Dollars war Saddam Hussein. Er wagte es im November 2000 als Erster laut darüber nachzudenken, den Ölhandel von Dollar auf Euro umzustellen; 2002 riskierte er diesen Schritt. Im Ergebnis wurde der IRAK mit Krieg überzogen. Die USA fürchteten einen Domino-Effekt in der arabischen Welt. Nach der Invasion wurde die Umstellung auf Euro rückgängig gemacht.
Bei einem OPEC-Gipfel im Jahr 2000 schlug Venezuales Präsident Hugo Chavez vor, den Ölhandel der OPEC-Länder mit den Entwicklungsländern im Barter-Verfahren durchzuführen, also Öl gegen Ware zu handeln, um auf diese Weise sowohl Dollar als auch den Euro bei den Geschäften zu meiden.
Ende 2002 ging Nordkorea zum Euro als Devisenrücklage über.
Seit 2003 forderte auch der Iran offiziell Euro-Abrechnungen für Öl, sogar für solches, das vorher zu Dollarpreisen gehandelt worden ist. Schon vorher hatte der Iran seine Währungsreserven auf Euro umgestellt. Die Gründung einer eigenen Börse für den Ölhandel im Iran steht bevor. Dazu ist anzumerken, dass das iranische ÖL 10% der Weltölreserven ausmacht – ein neuer Kriegsgrund für die USA.
Im April 2004 debattierten die Parlamente von Iran und Russland über eine mögliche Übernahme des Euro für Ölverkäufe. Die meisten Länder der OPEC signalisieren seitdem mehr oder weniger offen ein Interesse am Euro als Ölwährung. Saudi-Arianien ist dagegen.
Im Oktober 2004 wurde die Umstellung vom Petro-Dollar auf den Euro im Norwegischen Parlament diskutiert.
Im März 2005 verursachte die Südkoreanische Zentralbank einen Kursverslust des Dollar um 1,5 Prozent innerhalb von zwei Tagen. Grund: Sie hatte angekündigt ihre Diversifizierung auf Euro umstellen zu wollen.
Im März 2005 wurde die Initiative für ein neues Bretton Woods im italienischen Parlament diskutiert.
Am 2.August 2005 erschien im FAZ-Net die Meldung, dass nach Russland nunmehr auch die arabischen Staaten ihre Währungsreserven diversifizieren wollen.

Dies alles bedeutet, dass die Auseinandersetzung um die Ablösung des Dollars als Leit- und Öl-Währung sich zuspitzen. Die USA-Dominanz wird zunehmend bedroht. Wenn jetzt auch Russland in diese Bewegung mit einsteigt, dann ist das für die USA Alarmstufe ROT; nur Saudi-Arabien verhindert bisher die Ablösung des Dollars im OPEC-Geschäft.
Nach der Beendigung Kriegs um die unmittelbaren Zugriff auf russische Ressourcen, heißt das, zeichnet sich nunmehr eine neue russisch-amerikanische Konfrontation ab, dieses mal auf dem Gebiet der internationalen Finanz- und Währungsparketts.

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Zweitens: BRIC

Ebenfalls seit zwei Jahren kristallisieren sich neue Handels-, Wirtschafts- und Bündnisstrukturen heraus, deren Urheber Peking, Moskau, Delhi und neuerdings auch Teheran sind. Ende des Jahres 2002 unterzeichneten sie einen Handels- und Kooperationsvertrag, BRIC genannt, nach den daran beteiligten Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China.
Wenige Stichworte reichen, um die Brisanz dieses Bündnisses zu verdeutlichen:
China: Inzwischen zweitgrößter Öl-Importeuer; 2004 kauft China Jukos-Anteile, kreditiert die Baikal-Finazgruppe für den Kauf von Yuganskneftegas, kauft sich in Kanadas Ölsand-Felder ein, betreibt Öl- und Gas-Projektes mit dem Sudan am Nil. Im November 2004 besucht Chinas Präsident Hu Jintao Brasilien, Argentinien und Venezuela; Hugo Chávez erwidert den Besuch in China. Im Herbst 2004 schließen China und Iran ein Handelsabkommen, insonderheit zu Öllieferungen, das in allen Punkten gegen die US-Sanktionen agiert.
Indien: Der Indische Ministerpräsident bereist im Jahr 2003 China; 2004 gehen China und Indien eine „Kooperation für Energiesicherheit“ ein, zugleich schließt Indien eine „Strategische Allianz mit Russland“. Im Jahr 2004 entsteht ein „Runder Tisch der asiatischen Energieminister“, entwickelt sich ein regionaler asiatischer Petroleummark, wird die Schaffung einer asiatischen Bank für Energiefinanzen beschlossen. 2004 vereinbart Indien Sonderzölle mit den MERCOSUR-Staaten Südamerikas;. 2005 schließt Indien ein Handelsabkommen mit Russland, zeigt Interesse an iranischen Ölfeldern
Am 10. November 2005 schreibt die Zeitung India Daily:
„Der russische Präsident Putin nimmt eine führende Rolle in der mächtigsten Koalition der Regional- und Supermächte unserer zeit ein. Diese Koalition besteht aus Indien, China, Russland und Brasilien und wird die Vorherrschaft der Supermacht Amerika brechen.“
Ausdruck der neuen Stärke des russisch-asiatischen Dreiecks ist die Weiterentwicklung des Shanghaier Bündnisses (Shanghai Cooperation Organisation – SCO) zu einem asiatischen Pakt, in dem China, Russland, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan gemeinsam agieren, Iran ist interessiert.

Auf der anderen Seite des eurasischen Spagats stehen Treffen von Putin und Schröder im September 2004 in Oslo: Schröder bittet Putin um 20% Beteiligung von Wintershall an Gasprom statt der bisher 6%. Wenig später schließen Deutschland und Russland eine Gaspipeline durch die Ostsee. Die Deutsche Ban wird zum größten Finanzier der geplanten Aufkäufe von Öl-Firmen durch GAZPROM. Von der Erneuerung des strategischen Bündnisses zwischen Russland und der EU nach Zerschlagung von YUKOS war schon die Rede. Damit schließt sich der eurasische Kreis.

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Drittens: Gegenwind von Süden

Soeben war die Pleite für das panmerikanische Freihandelsabkommen ALCA zu beobachten, das in Mar el Plata in Kraft treten sollte. US-Präsident Bush war anwesend, konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen rief Hugo Chavez, Präsident von Venezuela dazu auf, anstelle von ALCA eine Alternative Bolivariana (ALBA) zu gründen, so genannt nach Simon Bolivar, der den Norden Südamerikas von spanischer Kolonialherrschaft befreite.
Dazu passt die Durchführung eines Kongress „Kapitalismus reloaded“ in Berlin im Oktober 2005: Siebenhundert Menschen aus Asien, Afrika Lateinamerika nehmen teil. Sie demonstrieren Zustimmung China, Indien, die BRIC-Staaten, zeigen neues Selbstbewusstsein..

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Die arabisch-islamische Karte

Ein herausragendes Zeichen, das auch die letzten Sicherheiten der USA in Bewegung bringen könnte, die diese mit ihrem „antiterroristischen“ Krieg“ unter dem Namen „enduring freedom“ gerade festzuklopfen versuchen, setzte die russische Regierung – ungeachtet des von ihr in Tschetschenien geführten Krieges – mit ihrer seit 2003 betriebenen Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC). Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“ Inzwischen nimmt Russland an den Konferenzen der OIC mit Beobachterstatus teil.
Parallel zur Annäherung Russlands an die OIC fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.
Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem Treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines ‚United Energy Systems’ zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten und vergegenwärtigt man sich die Bewegungen zur Entthronung des Dollar als Leitwährung, der Aktivitäten der BRIC-Staaten, der Entwicklungen im Dreieck zwischen China, Indien und Russland, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem seitens seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein. Was daraus folgt ist offen.

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Nachklänge
NGOs in Russland:
Achtung: Grenzüberschreitung?

Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten zwei Jahre schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein.
Neu wäre darüber hinaus eine Aufteilung zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken.

Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer Intervention hinaus, es käme einer Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention gleich. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.

Kai Ehlers
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NGOs in Russland: Achtung: Grenzüberschreitung?

Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten Jahres schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten.
Vehement protestierten über 1300 Organisationen. Der Menschenrechtsbeauftragte Lukin forderte die Duma auf, von weiteren Lesungen der Gesetzesvorlage abzusehen; ebenso der „Rat für gesellschaftliche Fragen“, der erst nach Beslan als Vermittler zwischen Regierung und zivilgesellschaftlichen Bewegungen geschaffen worden war. Selbstverständlich sorgen sich westliche Regierungen.
In der russischen Regierung sind die Meinungen geteilt, Finanz und Justizministerium tragen den Entwurf. Eine Gruppe von Bürgerrechtlern, die vor der Duma gegen die Entwicklung eines „Polizeistaats Russland“ demonstrierte, wurde festgenommen; ihnen droht ein Verfahren wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“. Das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung jedoch ist gegen die Duma-Initiative. Präsident Putin verteidigte den Dumabeschluss: Politische Tätigkeit des Auslands in Russland, so Putin, müsse stärker kontrolliert werden, erklärte er. Von einer Aushöhlung der Zivilgesellschaft könne nicht die Rede sein. Er selbst werde dafür Sorge tragen. Politische Aktivitäten in Russland müssten für den Staat jedoch transparent sein, das gelte besonders für Finanzierung politischer Aktivitäten durch das Ausland, wenn sie über öffentliche Kanäle anderer Staaten laufe, „und wenn in unserem Land tätige Organisationen als Instrument der Außenpolitik anderer Staaten benutzt werden.“ Ungeachtet der öffentlichen Proteste und solcher putinscher Differenzierungen will die Duma die 2. und 3. Lesung jedoch am 9. Dezember durchführen; zum 1. Januar 2006 soll das Gesetz in Kraft treten.
Die „Heimlichkeit des Vorgehens“, die „Eile im Gesetzgebungsprozess und andere Begleitumstände“, meint Jens Siegert vom Moskauer Büro der Böllstiftung, erinnere an eine „Spezoperazija“, eine Geheimdienstoperation; im selben Zuge berichtet er allerdings, dass der Antrag von allen fünf in der Duma vertretenen Fraktionen gemeinsam eingebracht wurde. Ausgerechnet Abgeordnete der KP, hört man von anderer Seite, hätten besonders die geplanten Einschränkungen für ausländische, bzw. mit ausländischem Geld geförderte NGOs begrüßt.
Ähnlich widersprüchlich sieht es bei den tatsächlichen Änderungen aus, die das Gesetz bringen soll: Für die russischen NGOs, meint Siegert, werde es wohl „zusätzliche Arbeit“ und „erweiterte staatliche Kontrollmöglichkeiten“ bringen, „aber trotz allem nichts grundsätzlich Neues.“ In der Tat, der größte Teil der Bestimmungen findet sich in ähnlicher Form bereits in einer Reihe von Gesetzen, die während der Amtszeit Putins entstanden sind. So der Steuerkodex oder das Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus. Nach den geltenden steuerrechtlichen Bestimmungen muss sich nicht nur jeder Empfänger auf einer nationalen Liste als steuerabzugsberechtigt ausweisen, es muss auch jedes einzelne Projekt vom Geber her als Non-Profit unternehmen erfasst werden. Andernfalls sind auf alle Gelder 24% Steuern, zusätzlich lokaler Sondersteuern zu entrichten. Zusätzlich muss die Zustimmung der örtlichen Behörden eingeholt werden, die die örtliche Aktivität der NGOs als steuerlich unbedenklich anerkennen müssen.
Dem steht die Entwicklung von Bürgerinitiativen gegenüber, die sich in den letzten Jahren in Russland selbst entwickelt haben. Die erste Stiftung dieser Art wurde als „Fonds der örtlichen Gemeinschaft“ 1998 in Togliatti gegründet; 2004 gab es laut einer Studie des deutschen Maecenata-Institutes bereits fünfzehn dieser Initiativen in den verschiedensten Regionen der Föderation. Die „Fonds der örtlichen Gemeinschaft“, so das Institut, verstehen sich als „Stiftungen, die sich fördernd und operativ für das lokale Gemeinwohl einsetzen. Sie verfolgen einen breiten Stiftungszweck und betreiben einen langfristigen Vermögensaufbau. Sie sind in politischer, wirtschaftlicher und konfessioneller Hinsicht unabhängig und werden von einer Vielzahl und Vielfalt von Stiftern und Stifterinnen errichtet und getragen.“ Auch diese Stiftungen, so der Bericht, litten unter dem zunehmenden steuerrechtlichen Würgegriff; durch ihre „lokale und soziale Bezogenheit und ihren unmittelbar einsehbaren Nutzen wie auch durch die Vielfalt der in sie eingehenden lokalen, bzw. regionalen, d.h. also in großem Umfang auch russischen finanziellen und operativen Initiativen“ seien sie aber weniger gefährdet als die von zentralen und ausländischen Geldern abhängigen klassischen NGOs. Offen sei allerdings, was geschehen werde, wenn sich die Bürgersstiftungen politischen Fragen wie Aktivitäten zu Menschenrechten, zum Zivildienst, zum Presseschutz u.ä. zuwenden würden. Diese Anmerkung betraf vor allem die wachsende Zahl von Stiftungen, NGOs und Bewegungen, die aus Geldern der Stiftung „offenes Russland“, also seitens Yukos und seines Chefs Chodorkowski finanziert wurden.
Hier soll das neue Gesetz offenbar ansetzen: Neu wäre eine Aufteilung, da ist Siegbert zu folgen, zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er soeben aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken. Neu wäre zudem noch, dass bisher informell arbeitende Gruppen künftig verpflichtet werden sollen, spätestens ein halbes Jahr nach Beginn Ihrer Aktivitäten die Behörden von ihrer Existenz zu unterrichten, obwohl offen bleibt, wer in diesem Fall konkret meldepflichtig und juristisch verantwortlich sein soll.
Kurz, den russischen NGOs, einschließlich der nur wirtschaftlich orientierten, würde die selbstständige Tätigkeit weiter erschwert; das ist unbezweifelbar. Das erklärt die Opposition aus dem Wirtschaftsressort. Hauptadressat der geplanten Maßnahmen sind jedoch die ausländischen Organisationen. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein. Dies alles läuft auf ein Abwürgen ausländischer NGO-Einsätze hinaus. Auch da gibt es keine Zweifel. Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer NGO-Einsätze hinaus, sondern auf eine Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“

Drei Anmerkungen vorweg:

Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.

Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.

Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.

Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de.

Den gesamten Text können Sie hier herunterladen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Seebeben an der Ostsee?

Seit Anfang Dezember ist die Welt mit einem Vorgang konfrontiert, der die vertrauten politischen Koordinaten nachhaltig verändern könnte: Der Bau einer Gas-Pipeline vom russischen Wyborg zum deutschen Greifswald quer durch die Ostsee wurde offiziell in Angriff genommen. Anwesend waren der neue deutsche Wirtschaftsminister Klos, der Chef des russischen Gas-Konzerns Miller Gasprom sowie weitere Vertreter der von Schröder und Putin eingeleiteten deutsch-russischen Energiepartnerschaft. Das Projekt wird zu 51% von Gasprom, zu je 24,5% von BASF und Ruhrgas/Wintershall getragen, die Dresdner Bank trägt 33% der Kosten per Kredit. Vorsitzender des Aufsichtsrat der „North european Gas Pipeline Company“ soll Gerhard Schröder werden, Generaldirektor wird Matthias Warnig von der Dresdner Bank.
Die Begleitumstände des Projektes sind außerordentlich, dies aber nicht wegen des Wechsels der deutschen Kanzlerschaft; der ändert nichts an der grundsätzlichen Haltung der deutschen Bundesregierung in Bezug auf das „Jahrhundertgeschäft“, wie die stolzen Verlautbarungen des neuen Wirtschaftsministers Klos zeigen. Auch in den Chor derer, die Schröder „Vetternwirtschaft“ und „Heuchelei“ vorhalten, muss man nicht einstimmen. Die Unterwerfung der Politik unter die Ökonomie ist heute Standard; der ist veränderungsbedürftig, aber da macht ein Ex-Kanzler Schröder keine Ausnahme. Im Unterschied zu anderen politischen Funktionsträgern tritt Schröder aber nicht in eine deutsche, westliche oder US-amerikanische, sondern in eine russisch dominierte Firma ein. Das macht den Vorwurf möglich, hier entwickle sich eine neue deutsch-russische Achse.
Damit sind wir bei der ersten Besonderheit dieses Vorgangs, die erhebliche Auswirkungen haben kann: Die Gas-Lieferungen des Ostsee Konsortiums sollen, wie man hört, in Euro abgerechnet werden. Das klingt harmlos, handelt es sich doch um ein deutsch-russisches Abkommen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der Dollar bisher die Währung war, in der Öl- und Gasgeschäfte abgewickelt wurden, diese Funktion des Dollars in den letzten Jahren aber in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird, ist der angekündigte Wechsel von strategischem Gewicht: Seit die USA im großen Deal um Yukos/Chodorkowski zurückstecken mussten, beginnt sich die Auseinandersetzung vom direkten Zugriff auf die Ressourcen auf ein andere Ebene zu verlagern: Gleich nach dem Prozess verkündete die russische Regierung, sie gedenke ab sofort ihre Währungsreserven vom Dollar tendenziell auf eine Parität von Dollar und Euro umzustellen. Schon Ende des Jahres soll ein Verhältnis von 60 Dollar zu 40 Euro erreicht sein, sehr bald 50 zu 50.
Der erste, der solch einen Schritt wagte, war Saddam Hussein. Dafür wurde er abgestraft. Nach der Invasion der USA in den IRAK wurde diese Entscheidung des IRAK rückgängig gemacht. Inzwischen haben aber weitere Länder entsprechende Absichten geäußert, unter anderem Venezuela, der Iran, sogar die Saudis lassen solche Absichten erkennen. Wenn jetzt ein deutsch-russisches Konsortium ebenfalls diesen Weg einschlägt, sind harsche Antworten seitens der USA absehbar. Man darf gespannt sein, wie Frau Merkel mit diesem Erbe ihres Vorgängers im Kanzleramt umgehen wird.
Die zweite Besonderheit des Ostsee-Vorganges liegt in der Kaltschnäuzigkeit, mit der das Geschäft zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der EU-Newcomer durchgezogen wurde. Polen, Letten, Litauer wie auch Estländer hatten gegen die Verlegung der Pipeline quer durch die Off-Shore-Bereiche der Ostsee protestiert. Sie sehen sich wirtschaftlich übergangen, benachteiligt, sogar durch mögliche Gas-Boykotte von Seiten Russland gefährdet. Politisch sehen sie sich an unselige Zeiten erinnert, in denen Polen wie auch die baltischen Staaten für die europäischen Mächte die Funktion eines „cordon sanitaire“ hatten, mit dem Frankreich, Deutschland und andere sich nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Einfluss der bolschewistischen Revolution schützen wollten. Auch die Gespenster des Hitler-Stalin-Paktes kamen wieder hervor, in dessen Verlauf Deutschland und Russland den polnischen und baltischen Raum als ihre Interessensphären untereinander aufgeteilt hatten.
Schröder, seinerzeit noch Bundeskanzler, hatte auf all diese Kritiken nur die Antwort: „Das Projekt richtet sich gegen niemanden.“ Tatsächlich richtet sich das Projekt nicht nur gegen Konkurrenten wie die USA, China oder auch Indien, sondern, wie man der kommentierenden Presse entnehmen kann, auch gegen „mögliche Erpressungsversuche“ durch Polen oder die baltischen Staaten. Das gilt selbstverständlich auch für die Ukraine oder Weißrussland, die bisher die hauptsächlichen Transferländer für russisches Gas nach Deutschland und Europa waren. Erfolgreicher ließ sich der Brandt-Bonus der Verständigung mit Polen und den baltischen Ländern
wohl nicht verspielen. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung der EU dürfte das nicht gerade förderlich sein.
Nachhaltig wird die deutsch-russische Pipeline-Gemeinschaft schließlich weder im Sinne einer dauerhaften Lösung des fossilen Energieproblems, noch für die Entwicklung von weiterführenden Zukunftsperspektiven wirken: Die Pipeline durch die Ostsee erschließt keine neue Gasquelle; sie verteilt nur das vorhandene Gas anders. Sie entwickelt auch keine alternativen Energien, sondern verpulvert unvorstellbare Gelder, die besser für die Erforschung und Entwicklung alternativere Energiequellen eingesetzt würden.

 

Kai Ehlers
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Anmerkungen zum Grundeinkommen?

Der Gedanke eines bedingungslosen Grundeinkommens ist keine neue Erfindung. Schon unsere Vorfahren kannten es: Wer Mitglied des Clans, des Stammes, der Dorfgemeinschaft war, der war schon dadurch grundversorgt, allerdings nicht ohne die Verpflichtung, sich irgendwie nützlich in die Gemeinschaft einzubringen und sei es als Hirte für die auf der Almende gemeinschaftlich gehaltenen Tiere. Nur wer – aus welchen Gründen auch immer – für vogelfrei erklärt wurde, ging damit seiner Grundrechte auf Versorgung verlustig. Die Entwicklung der westlichen bürgerlichen Gesellschaft löste diese Grundordnung zugunsten einer privatrechtlichen Eigenversorgung auf, die den Einzelnen zum Schmied seines Glückes erklärte. Egoismus wurde als Triebkraft des Wirtschaftslebens definiert; das Streben nach persönlicher Bereicherung wurde zum herrschenden Prinzip.
Anders verlief die Geschichte in Russland. Dort wurde die ursprüngliche Grundversorgung der Almende nicht aufgelöst, sondern in der Entwicklung der gemeinwirtschaftlich organisierten Dorfgemeinschaften, in der der einzelne nicht Eigentums-, sondern Nutzungsrechte am Gemeinschaftsvermögen besitzt, zur Grundorganisation der zaristischen und nach deren Sturz der sowjetischen Gesellschaft: In der dorfgemeinschaftlich organisierten, zu Sowjetzeiten dann in der auf Sowchosen, Kolchosen, Betriebs- und Wissenschaftskollektiven aufgebauten Gesellschaft war das Prinzip des Grundeinkommens praktisch verwirklicht, nur lief es nicht über Geldauszahlungen seitens des Staates, sondern über die Grundversorgung, die als geldlose Vergütung auf der Grundlage der agrarischen oder wissenschaftlichen Betriebsfonds ausgegeben wurde. Über die Zugehörigkeit zu einem Betrieb oder auch einem Institut waren die Menschen grundversorgt, zeitweise auf niedrigem Niveau, aber niemand fiel durch dieses Netz.
Wesentlicher Bestandteil dieser Organisation war die familiäre Zusatzversorgung durch den eigenen Hofgarten im Rahmen der Sowchose oder Kolchose, war die eigene Datscha auf dem vom Betrieb gestellten und mit Infrastruktur versorgten Gelände, zumindest das eigene, persönlich bewirtschaftete Stück Land, auf dem man eine familiäre Zusatzwirtschaft für die Abdeckung von Grundbedürfnissen betreiben konnte. Dazu kam die Bereitstellung von Wasser, Strom und Gas, der Betrieb von Kindergärten, die Freizeitmöglichkeiten, der Kulturpalast, die medizinische Versorgung usw. Alles dies war nicht „umsonst“, wie es in der westlichen Diktion immer wieder heißt, sondern unentgeltlich, also vergütet auf der Grundlage der betrieblichen oder institutseigenen Fonds. Kurz, das wirtschaftliche Leben war rundum abgesichert. Niemand musste sich sorgen aus diesem sozialen Netz zu fallen, wie tief es auch zeitweilig und in einzelnen Fällen gehängt sein mochte. Eine andere Sache ist, dass diese aus langer russischer Tradition gewachsene Grundorganisation zur Sowjetzeit vom Staat usurpiert wurde, was bei anwachsenden Produktivkräften sowie wachsender persönlicher Qualifikation und damit verbundenem zunehmendem Freiheitsbedürfnis der Menschen zu der Explosion führen musste, die wir schließlich als Perestroika und als Auseinanderbrechen der Union erlebt haben.
Selbst in den USA war das Thema eines allgemeinen Grundeinkommens soweit herangereift, dass es Mitte der 60er bereits die Form von Kongressvorlagen annahm, bevor die ganze Bewegung für ein Grundeinkommen von der Politik Reagans beiseite gewischt wurde.
Heute erlebt der Gedanke einer allgemeinen Grundversorgung in den Zentren der Industriegesellschaft eine Neuauflage, weil offensichtlich wird, dass die bisherigen Sozialversicherungssysteme, weit entfernt davon, für die in die Krise gekommenen sowjetischen Verhältnisse eine lebensfähige Alternative zu bieten, selbst gewaltig ins Trudeln gekommen sind und weiter kommen: Die Ursache ist in beiden Fällen ein und dieselbe: Das Wachstum der Produktivkräfte, die Steigerung der Produktivität, verlangt mit Macht nach einer Veränderung der veralteten Produktionsverhältnisse, im Besonderen nach einer Veränderung der aus dem letzten Jahrhundert überkommenen Sozialsysteme, in denen die Wohlfahrtsleistungen der Gesellschaften unmittelbar an die Lohnarbeit gekoppelt waren: Der Anteil der zur unmittelbaren stofflichen Versorgung eines Menschen notwendigen Arbeit wird immer geringer während der Anteil frei verfügbarerer Arbeitskraft wächst, die für anderes als den bloßen Lebenserhalt eingesetzt werden kann. Hieraus folgt, dass immer weniger Menschen innerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses tätig sein müssen, um die gleiche oder gar höhere Produktivität zu erreichen. Die übrigen werden aus dem Produktionsprozess ausgestoßen und können, bzw. müssen sich anderen Tätigkeiten zuwenden. Die Abkoppelung der Kosten für eine Grundversorgung der Gesellschaft von der Lohnarbeit und die Einführung eines Grundeinkommens, das die Früchte der Produktivität unabhängig von der Lohnarbeit des Einzelnen, vielmehr abhängig von der Wertschöpfung in der Produktion selbst oder auch über den Konsum auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen verteilt, ist nur konsequent.
Anders gesagt: Was wir heute erleben, ist eine globale Wachstumskrise, die uns neue Möglichkeiten beschert: Ihr erstes Opfer, wenn man es so sagen will, war die festgefahrene Bürokratie der Sowjetunion, die unter dem Stichwort der notwendigen Intensivierung, der Befreiung von Initiative usw. von unten, aus der Peripherie gesprengt wurde. Jetzt ringt man in Russland um neue Formen zwischen den sowjetisierten Strukturen traditionellen gemeineigentümlichen Lebens und dem „kapitalistischen Weg“. Etwas Neues wird dabei heraus kommen, bei dem es mit Sicherheit nicht dabei bleibt, dass die staatliche Bevormundung zerschlagen und durch eine Hyperprivatisierung und Privatversorgung nach westlichem Muster ersetzt werden wird; es wird vielmehr, schon jetzt erkennbar, eine Kombination, eine Symbiose von Industriearbeit und Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung entstehen, die die Grundversorgung auf eine neue, freiwillige, selbst bestimmtere Stufe hebt.
Im Westen entwickelt sich die Wachstumskrise unter anderen Bedingungen: Hier sind die Strukturen traditioneller Grundversorgung, einschließlich der darin enthaltenen Strukturen der Selbstversorgung, so gut wie vernichtet. Die Grundversorgung ist als Arbeitslosengeld, Krankengeld, Sozialhilfe, Rente usw. vollkommen an den Staat übergegangen und dies im Unterschied zur russischen, bzw. sowjetischen Entwicklung nicht über Vergütung, die an unmittelbare Arbeit gekoppelt ist, sondern als individuelle Zuwendung vom Staat. Eine unmittelbare Beziehung der Empfänger oder Empfängerinnen von Sozialleistungen zu einer Gemeinschaft, aus deren Tätigkeit und aus deren Fonds sie ihre Leistungen erhalten, besteht nicht mehr. Das bedeutet, die Einführung eines Grundeinkommens, das den Menschen ohne Bedingungen von staatswegen ausgezahlt wird, entlässt die Menschen in eine Freiheit, die allein durch den Staat als Organisator definiert und kontrolliert wird. Hier sehe ich ein Problem, wenn die Einführung eines Grundeinkommens nicht mit der Entwicklung von neuen Gemeinschaftsstrukturen verbunden wird, die den Einzelnen davor schützen, zum manipulierbaren Objekt eines Staates zu werden, der nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich alle Kräfte der Gesellschaft auf sich konzentriert.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Grosny, Naltschik usw.?

Am 13.10. 2005 wurde die Stadt Naltschik in Südrussland Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen islamistischen Kämpfern und russischen Truppen; Es war der größte Zwischenfall seit der Katastrophe von Beslan, unterschied sich aber von den Ereignissen von Beslan in einem entscheidenden Punkt: Es gab keine Geiselnahme, sondern offene Kämpfe. 50 bis 80 Angreifer lieferten sich Gefechte mit ca. 1000 russischen Uniformierten, Ergebnis: 12 tote Zivilisten, 35 tote Uniformierte, die Angreifer fast aufgerieben. Russische Insider weisen darauf hin, dass die russischen Militärs vorher von dem bevorstehenden Überfall informiert waren, auch Truppen zusammengezogen hatten, aber von der Wucht des Angriffes überrascht waren, der an mehreren Stellen zugleich vorgetragen wurde. Der Angriff war offenbar gut vorbereitet; selbst Handys funktionierten nicht mehr.

Ein Sinn der Aktion nicht zu erkennen. Die Kommentare gehen in alle Richtungen. Die einen erklären, der islamistische Brand habe nach Inguschetien und Dagestan nunmehr auch die kleine Republik Kabardino-Balkarien erreicht. Andere, wie der Leiter des „Zentrums für Strategische Studien“ von Religion und Politik der modernen Welt“ wiegeln ab: Die Kämpfe in Naltschik seien „kein Aufstand von Extremisten, sondern Versuche der örtlichen Eliten, die mit den neuesten Ernennungen in der Republik unzufrieden seien, die Lage zu destabilisieren und auf diese Weise ihre Privilegien wieder zurückzubekommen, bzw. neue zu Erhalten“ (Russland.ru, 14.10.2005) Clanstruktur und extreme Armut seien der Nährboden für den islamischen Radikalismus. Während die Clans gegeneinander kämpften, würden Bombenexplosionen und Morde den Wahabiten zugeschoben. Amtsmissbrauch der moskautreuen „Silowiki“, also der Moskauer Zentralisten, beschere den Islamisten neue Anhänger, die zu den ungeheuerlichsten Terrorakten bereit seien.

Andere Kommentatoren konzentrieren sich schon seit längerem auf einen sich angeblich ausbreitenden „Kampf der Kulturen“ im gesamten Kaukasus. Tatsächlich häufen sich in letzter Zeit, speziell seit der blutigen Geiselnahme in Beslan, Berichte über Zusammenstöße zwischen Volks- und Religionsgruppen, die vorher jahrelang vielleicht nicht gerade freundschaftlich, aber doch ruhig miteinander gelebt haben.

Berichte dieser Art hört man nicht nur aus den Grenzgebieten, sondern auch aus den bisher eher ruhigen Gebieten Südrusslands. Der Tschetschenische Brand, würde das bedeuten, droht sich auf den ganzen Süden Russlands auszubreiten. Berichte über Proteste gegen die Sozialpolitik der russischen Regierung, die die bisherigen Fürsorgeprivilegien durch ein an westlichen Modellen orientiertes System antragspflichtiger Sozialhilfe ersetzen will, und Horrormeldungen von rassistischen Übergriffe aus den Metropolen St. Petersburg, Moskau und anderen Zentren, denen die Staatsmacht nichts entgegensetze, ergänzen dieses tiefschwarze Bild der gegenwärtigen russischen Entwicklung. Das Tschetschenische Geschwür, so einige Kommentatoren, habe die Gesellschaft erfasst. Der kollektive Wahnsinn mache sich breit. Meldungen wie die, das Komitee der „Mütter von Beslan“ habe sich einem Wunderheiler anvertraut, der verspreche, die Toten von Beslan wieder zu erwecken, und dieser Mann finde im Lande rasanten Zuspruch, gehe sogar daran, für die kommende Wahl eine oppositionelle Partei gründen zu wollen, füttern eine solche Sichtweise, nach welcher der tschetschenische Konflikt nur noch als Ausbruch fundamentalistischen Wahnsinns zu begreifen wäre, dem allein mit einem Gegenwahnsinn beizukommen sei.

Auf der anderen Seite stehen jene Kräfte, die den Wahnsinn mit Methode einzudämmen versuchen: am 27.11.2005 soll in Tschetschenien – wieder einmal – gewählt werden. Nach der Wahl soll eine Abgrenzung der Vollmachten zwischen dem Zentrum und der Republik erfolgen. Der derzeitige, nach Moskau orientierte Präsident Alu Alchanow, der dem 2004 ermordeten Vorgänger Kadyrow im Amt folgte, bemüht sich Zuversicht zu verbreiten: Schwere Straftaten, insbesondere Entführungen seien von 2004 auf 2005 um die Hälfte zurückgegangen. Der Leiter des zentralen tschetschenischen Wahlkomitees versprach „offene und ehrliche“ Wahlen und lud die EU zur Wahlbeobachtung ein; 38% der Bevölkerung seien laut neuesten Umfragen für die Wahl, die notwendigen 25% Wahlbeteiligung werde man auf jeden Fall erreichen. 291 Personen haben sich als Direktkandidaten beworben, unter ihnen u.a. auch drei Weggefährten des ersten Präsidenten Dudajew und seines Nachfolgers Machdow. Acht Parteien hatten sich bis Anfang November zur Teilnahme registrieren lassen, u.a. oppositionelle Kräfte wie die „Republikanische Partei“ Wladimir Ryschkows, oder auch „Unsere Wahl“ der radikalliberalen Irina Chakamada. EU-Diplomaten reisten soeben an; zu ihrem Besuchsprogramm gehörte eine Schule, eine Universität und die zentrale Walkommission. Danach trafen sie sich mit der republikanischen Führung.

Es scheint als habe sich die Lage allem täglichen terror zum trotz relativ stabilisieret: Die moskautreue tschetschenische Führung stellte Antrag in den Kreis der wirtschaftlichen Sonderzonen Russlands aufgenommen zu werden, die seit Mitte Juli in eingerichtet wurden. Mit einer Übernahme der Lizenz der Ölfirma Rosneft an die Firma Grosneftegas könnten die Wirtschaftsprobleme gelöst werden, so der Präsident Alu Alchanow: „Das tschetschenische Erdöl bringt jährliche Einnahmen in Höhe von rund 450 Millionen Euro, während Tschetscheniens Etat 300 Millionen Euro beträgt“, erklärte er. Im Jahr 2006 soll der Prozess der die Entschädigungszahlungen für verlorenen Wohnraum abgeschlossen werden. Bis zum 1. Dezember will man eine Liste des zerstörten Wohnraums erstellen. Laut Alchanow gibt es heute 130.000 Anträge auf Entschädigung. Alchanow teilte auch mit, dass bereits im ersten Quartal 2006 der Flugverkehr von Grosny nach Moskau wieder aufgenommen werde. Am 7.11.2005 soll ein Rockfestival unter dem Namen „Phönix, Wiederkehr zum Leben“ in der Stadt Gudermes stattfinden. Die EU versprach im April eine Wirtschaftshilfe von 22,6 Mio Euro. Die UNESCO stellte im Juli 2005 600.000 Dollar für Bildungsprojekte in Tschetschenien bereit.

Die russische Führung versucht Zeichen des guten Willens zu setzen. Erstmals gab ein russischer Regierungsbeamter, der Vorsitzende des pro-russischen tschetschenischen Staatsrates Taus Dschabrailow, die Zahl der Toten in der tschetschenischen Zivilbevölkerung mit 160.000 an, verschwieg auch die mehrere hunderttausend Menschen nicht, die in andere Gebiete geflohen sind und heute in der tschetschenischen Diaspora leben. Der Bombenterror gehöre inzwischen zum Alltag, aber offene Kämpfe gebe es kaum. Die Zahl der Kämpfer gab er mit 1000 an. Der Beauftragte des Kreml für den Kaukasus, Generalgouverneur Kosak, kritisierte seine Untergebenen mit der bemerkenswerten Vorhaltung, Banditen dürfe man nicht mit Methoden des Banditismus bekämpfen. Ein herausragendes Zeichen setzte die russische Regierung mit ihrer Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC), an der sie heute mit Beobachterstatus teilnimmt. Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“

Die Geiselnahme von Beslan ein Jahr später wurde, wie Vertreter des russischen Außenministerium anlässlich des bevorstehenden Jahrestages dieses Ereignisses im Jahre 2005 formulierten, zur „Wasserscheide“ im Prozess der Annäherung Russlands an die OIC, seitdem verstehe die islamische Welt Russlands Position in Tschetschenien besser und man strebe eine „schnellstmögliche gemeinsame politische Lösung“ an. , so u.a. bei einer Konferenz in Saratow im September dieses Jahres.

Wie immer man zur Politik Russlands in der Frage Tschetscheniens steht, auch wenn man die von der jetzt anstehenden Wahl eine ebensolche moskautreue Farce erwartet wie die bisherigen, auch wenn man wie viele russische Kommentatoren der Meinung ist, Wladimir Putin lasse diesen Krieg nur noch führen, weil er sich sonst als starker Mann selbst demontieren müsse, so ist doch eins offensichtlich: In der Hinwendung zur OIC wird in der Tat eine „Wasserscheide“ sichtbar und zwar nicht nur für die russische Innenpolitik, sondern darüber hinaus für die internationalen Beziehungen im großen Spiel der Neuordnung der heutigen globalen Kräfte. Parallel zur Annäherung Russlands an die Organisation Islamischer Staaten fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.

Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines United Energy Systems zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem von seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Von einer gemeinsamen Anti-Terror-Koalition ist spätestens keine Rede mehr, seit der US-Fernsehsenders ABC entgegen Protesten Moskaus im Mai 2005 ein Interview mit dem Terroristenführer Schamil, Bassajew ausgestrahlt hatte und das russische Außenministerium die Sendung als einen „klarer Fall von Beihilfe zur Terrorismus-Propaganda“ kritisierte. Die USA wiesen die Kritik als Eingriff in die Meinungsfreiheit zurück. Dass hier mit Maßstäben gemessen wird, die für die USA selbst nicht gelten, ist offensichtlich. Und klar ist auch, dass sich die Geister hier scheiden: Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland: Erneuerung á la Chodorkowski?

Michail Chodorkowski, für die einen ein Symbol des nach-sowjetischen Raubtier-Kapitalismus, für die anderen ein Märtyrer der Menschenrechte, hat sich aus seiner soeben angetretenen Lagerhaft nahe der sibirischen Stadt Tschita mit einem „Programm der radikalen Modernisierung Russlands bis zum Jahr 2020“ zu Wort gemeldet. Bei aufmerksamem Lesen der russischen Presse kann man zugleich erfahren, daß Chodorkowski entgegen Spekulationen, die russische Regierung wolle ihn nach dem Prozess verschwinden lassen, in den ersten Tagen seiner Einlieferung ins Lager einen dreitägigen Besuch seiner Frau empfing, den ersten seit seiner Inhaftierung vor zwei Jahren. Mit seinen Rechtsanwälten erörterte er ein Berufungsverfahren. Neben einer Arbeit als Näher in der lagereigenen Kleiderproduktion, die er zwei Stunden am Tag ableisten muss, wird er eine Tätigkeit als Lagerdozent ausüben können; er kann TV und Kühlschrank beantragen, Presse abonnieren; von fünfzig Zeitungen ist die Rede, der er sich bestellt habe. Bei guter Führung, ließ die Lagerleitung mitteilen, bestehe die übliche Chance auf frühzeitige Entlassung, kurz, er ist ein ganz normaler, aber prominenter Häftling.
Scharf greift Chodorkowski in seiner Veröffentlichung den jetzigen Präsidenten Russlands an: Putin stehe einem Apparat von Schmarotzern vor, die unfähig seien, das Land zu modernisieren. Die einzige Frage, die sie bewege, laute, wie man möglichst schnell etwas vom Staat bekommen könne. Aber dieser parasitäre Ansatz trage nicht mehr; das Land brauche eine neue Elite, welche die Regierung nach Putins Ausscheiden im Jahr 2008 übernehmen könne. Sie müsse ihre Aufgabe in einem langfristigen Aufbau des Landes und nicht wie bisher in der bloßen Umverteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten sehen.
Die neue Elite werde mit einer Reihe objektiver Probleme konfrontiert sein: der demographischen Schrumpfung des Landes, dem Verschleiß der Infrastruktur, dem Zusammenbruch des Maschinenbaues, der Krise des Rüstungskomplexes, dem Verlust der Kontrolle Moskaus über den Kaukasus, dem Zusammenbruch der Streitkräfte usw. Statt einer Politik der „vertikalen Macht“ brauche das Land eine föderale Ordnung, die den Regionen mehr Kompetenzen zubillige und die Selbstverwaltung stärke. Eine „Ökonomie des Wissens “ müsse Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen entwickeln. Der Staat müsse Familien fördern, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuarbeiten, mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben, anstatt sich nur auf seine Energieressourcen zu verlassen. Das größte Problem sieht Chodorkowski im „brain drain“ des Landes, der gestoppt werden müsse. Das Kaderproblem sei aber lösbar: „Schaut, was ich aus Yukos gemacht habe“, erklärt er selbstbewusst. Die Geschichte von Yukos zeige doch, dass eine Modernisierung möglich sei.
Zur Finanzierung schlägt Chodorkowski die Einführung einer doppelten Steuer vor. Auf bereits privatisiertes Volksvermögen möchte er eine Privatisierungssteuer erheben. Das werde dem Staat das nötige Geld einbringen, den Zahler zugleich als legitimen Eigentümer ausweisen und damit die Eigentumsverhältnisse des Landes stabilisieren. Zum Zweiten spricht Chodorkowski sich für eine Ressourcensteuer aus, welche die private Ausbeutung und Verschwendung der Ressourcen unterbinde. Aus den Einnahmen beider Steuern könne der Staat die Kosten für die Widereinführung der traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie kostenlose medizinische Versorgung, Ausbildung problemlos tragen, bevor die 90% der Armen das in die eigenen Hände nähmen.
Dies alles sieht nach ernsthaften Versuchen des ehemaligen Yukos-Managers aus, sich aktiv in die Gestaltung der russischen Politik einbringen zu wollen. Vom Vorstand des Unternehmverbandes ist er aus eigenen Stücken mit der Begründung zurückgetreten, er sei nach dem Ausscheiden aus den Yukos-Aufsichtsräten kein Unternehmer mehr, sondern eine Privatperson und als solche wolle er sich mit ganzen Kräften dem sozialen und demokratischen Aufbau des Landes widmen.
„Mir persönlich hat Russland viel gegeben“, schreibt Chodorkowski, „in den 70er und 80er Jahren bekam ich eine Ausbildung, auf die man stolz sein kann. In den 80er Jahren machte es mich (Laut ‚Forbes’) zum reichsten postsowjetischen Menschen. Im zurückliegenden Jahrzehnt nahm es mir aber das Eigentum weg und steckte mich ins Gefängnis, wo es mir die Möglichkeit bot, eine weitere Ausbildung zu bekommen – dieses mal eine gesamtmenschliche und humanitäre.“
Das klingt prinzipiell: Wurde aus Saulus ein Paulus?
Man erinnere sich: Ein Jahr zuvor, schon in Haft, hatte Chodorkowski öffentlich mit dem Liberalismus der Jelzin-Ära abgerechnet: „Für viele, wenn auch nicht für alle Unternehmer, die in den neunziger Jahren ihr Vermögen gemacht haben, ist Russland nicht ihre Heimat, sondern ein unbeschränkter Jagdgrund“, schrieb Chodorkowski damals zum Erstaunen aller, die ihn als den effektivsten unter diesen Jägern erlebt hatten, „ihre Hauptinteressen und Lebensstrategien sind dabei mit dem Westen verknüpft. Für mich ist Russland meine Heimat. Hier möchte ich leben, arbeiten und sterben, und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und auf mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit, in Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber zu spät als nie.“
Nur ein Jahr später im September 2005 prognostizierte Chodorkowski für Russland eine linke Wende. Bei „ehrlichen Wahlen“, werde die Linke „unausweichlich“ gewinnen. Chodorkowski riet den oppositionellen Kräften von den Ultra-Liberalen bis hin zur vaterländischen Linken sich zu einer sozialdemokratischen Koalition unter Führung der KP zusammenzufinden. Angesichts der Umstände, unter denen Chodorkowski seine Positionen nunmehr konkretisiert, darf man annehmen, dass er für sich mit einer führenden Position in einem solchen Bündnis rechnet.

 

 

Kai Ehlers

Organisation und Verteilung in der Grundeinkommensgesellschaft oder auch: Begriffe neu denken

Die Debatte um die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft hat eine neue Intensität erreicht. Dabei rückt die Forderung nach Einführung eines Grundeinkommens als mögliche Lösung des Problems zunehmend in den Vordergrund. Der Kongress, der im Oktober 2005 in Wien zu diesem Thema stattfand, hat Menschen aus verschiedenen Lagern zusammengeführt. Das wundert nicht, ist die Aktualität des Themas Grundeinkommen doch so offensichtlich wie die dahinter stehende Krise der Gesellschaft und die daraus resultierende aktuelle Regierungskrise . Auch zur ökonomischen Machbarkeit des Grundeinkommens und den aus seiner Einführung zu erhoffenden Impulse der Entbürokratisierung sind bereits reichlich Anstöße gegeben worden, nicht zuletzt der interessante Vorschlag, das benötigte Finanzvolumen aus einer einzigen, nämlich der Konsumsteuer zu gewinnen. Das muss an dieser Stelle nicht alles wiederholt werden Das Gleiche gilt für Kritiken, die die Forderungen nach einer Einführung des Grundeinkommens als „falschen Traum vom Schlaraffenland“ verwerfen. Ohne Umschweife kann dieser Text sich daher auf die Frage konzentrieren, unter welchen Umständen die Einführung eines Grundeinkommens einen Sinn hätte, wie eine Gesellschaft mit eingeführtem Grundeinkommen konkret aussehen könnte und wie dorthin zu gelangen wäre.

Konkret zu werden heißt natürlich nicht konkretistisch zu werden, deshalb sei trotz scheinbarer Klarheit doch noch Einiges vorausgeschickt: Armutsbekämpfung in der gegenwärtigen Situation des Sozial-Abbaus ist wichtig, unerlässlich und schon aus Gründen der Solidarität geboten, aber Armutsbekämpfung allein, selbst der Kampf für Umverteilung, wenn sie bei der bloßen Forderung nach gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums stehen bliebe, wäre dazu verurteilt, die Verhältnisse zu stabilisieren, die für die Krise ursächlich sind. Die Rede ist von der so genannten Wachstumsgesellschaft, die heute allseits als Ausweg aus der Krise beschworen wird, denn klar ist ja, dass sich hinter der Ideologie von der Wachstumsgesellschaft nichts anderes verbirgt als die ungebremste Selbstverwertung des Kapitals. In dieser Gesellschaft dient die Produktion nicht mehr der Befriedung von Bedürfnissen, sondern Bedürfnisse werden produziert, um die Selbstverwertung des Kapitals zu ermöglichen, während eine zunehmende Anzahl von Menschen als überflüssig aus dem Produktionsprozess und damit aus der Gesellschaft hinaus gedrängt werden. Der Staat, seit der französischen Revolution ohnehin mehr und mehr zum geschäftsführenden Ausschuss der Wirtschaft geworden, wird heute in zunehmenden Maße zum bloßen Handlanger dieses Prozesses. Das viel beschworene Wachstum, weit entfernt davon eine Lösung der Krise sein zu können, erweist sich als deren Quelle. Wir befinden uns in einer Wachstumskrise. Eine Überwindung dieser Krise, die zu einem zukunftsfähigen sozialen Organismus führen soll, resultiert daher nicht aus einer staatlich garantierten Grundsicherung allein, mag sie nun Mindestlohn, Bürgergeld oder bedingungsloses Grundeinkommen genannt werden. Eine zukunftsfähige Lösung muss die Diktatur der Selbstverwertung des Kapitals mit seiner Ideologie des Wachstums um des Wachstums willen grundsätzlich hinter sich lassen, wenn sie nicht zu einer allgemeinen Almosenzuteilung verkommen soll, die die bestehenden Verhältnisse fixiert, statt sie zu verändern. Eine soziale Struktur muss entstehen, die die Schere zwischen dem Anwachsen der Produktivität in der industriellen Produktion und einer relativ dazu sinkenden Zahl bezahlter Arbeitsplätze so organisiert, dass die frei werdenden Kapazitäten der Arbeit mehr und nicht weniger Freiheit und Lebensqualität bringen und zwar für die gesamte Gesellschaft nicht nur für einzelne ihrer Glieder. Eine solche Entwicklung aber geht über bloßes Wachstum, wie es von den herrschenden Kreisen heute gepredigt wird, hinaus; sie zielt auf Verhältnisse, in welcher Staat und Gesellschaft nicht mehr identisch sind mit einer Produktion, welche die materiellen Grundlagen und traditionellen Fähigkeiten zur Selbstversorgung zerstört und sie durch industrielle Produkte ersetzt, sondern in der auf dem Niveau des heutigen technologischen Standes eine neue Symbiose von Produktion und gemeinschaftlicher Selbstversorgung sowie deren Vermittlung miteinander entsteht und bewusst gefördert wird. Damit knüpft die heutige Entwicklung an vorindustriellen Verhältnissen an, die sie auf dem Niveau der technisch entwickelten Moderne wieder aufgreift. Generell gesprochen, verwirklicht sich darin die ökologische Orientierung unserer Zeit.
Konkret werden in der Frage der möglichen Einführung eines Grundeinkommens bedeutet deshalb zunächst einmal die Beziehung von Wirtschaft, Staat und geistiger Orientierung neu zu denken, zweitens bedeutet es, gezielt nach Keimen von Alternativen zu suchen und drittens mögliche Schritte jetzt und hier gemeinsam setzen.

Begriffe neu denken

Zunächst ein paar Klarstellungen zur Wirtschaft, die noch einmal benennen, was eigentlich schon längst bekannt ist, aber doch immer wieder übersehen wird: Die Krise der Lohnarbeit ist kein Betriebsunfall des Kapitalismus; Lohnarbeitslosigkeit ist dem Kapitalismus immanent; sie ist eine Bedingung seines Funktionierens, insofern die Lohnarbeitslosen als industrielle Reservearmee den Preis der Arbeitskraft als Ware drücken. Die neuere Entwicklung in Deutschland stellt zunächst nur diesen Normalzustand des Kapitalismus wieder her, der durch die deutsch-deutsche Ausnahmesituation verdeckt war. Darüber hinaus jedoch ist das aktuelle Ausmaß der Lohnarbeitskrise ein Signal dafür, dass die Entwicklung des Kapitalismus ein neues Stadium erreicht hat. Sie lässt erkennen, dass durch die Zunahme der Produktivität über die notwendige Arbeit hinaus frei verfügbare Arbeits-Potenzen entstehen, die für die soziale und moralische Entwicklung der Gesellschaft genutzt werden können – wenn die Lohnarbeitslosen nicht als Gefangene gehalten, sondern frei gelassen werden. Man mache sich doch noch einmal klar: Unsere deutsche Gesellschaft ist heute in der Lage, sich fünf, die statistisch versteckten mitgerechnet, sieben Millionen Lohnarbeitslose zu leisten, ohne dabei zusammenzubrechen, nicht gerechnet diejenigen, die ohnehin auf den Arbeitsämtern nicht erfasst sind wie Hausfrauen, Alte, Kinder usw. Das ist ein ungeheueres Potential, das der Gesellschaft in pflegerischer, sozialer und kultureller Weise zugute kommen, auch in den notwendigen ökologischen Umbau und in aktive internationale Projekte eingehen könnte, wenn die Gesellschaft, heute repräsentiert durch den Staat, bereit wäre, die Lohnarbeitslosen frei zu lassen. Die Forderung nach der Einrichtung eines Grundeinkommens für alle weist in die richtige Richtung; es muss aber klar gesagt werden, dass die damit verbundene Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf eine zwar tendenzielle, aber doch grundsätzliche Umwälzung der gesellschaftlichen Organisation hinausläuft. Darüber hinaus muss der Empfang eines Grundeinkommens mit einer Anbindung des Einzelnen an einen sozialen Körper gekoppelt sein, über die Grundabsicherung sich mit der nach wie vor notwendigen Lohnarbeit, mit den neu zu entwickelnden Elementen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und der Versorgung anderer in sozialer Verantwortung verbinden kann. Dafür braucht es eine andere soziale Grundorganisation als die heute herrschende.

Im Kern bedeutet das, den Staat neu zu denken: Dabei geht es nicht nur um weniger Staat, wie es sich bei Einführung eines Grundeinkommens aus dem Abbau der gegenwärtigen Reglementierung der sozial Bedürftigen, insbesondere der Lohnarbeitslosen, aus der Vereinfachung des Steuersystems usw. erwartungsgemäß ergeben könnte, vielmehr geht es um einen anderen Staat. Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft ist ja zugleich die Krise des Sozialstaates, der die Versorgung seiner Mitglieder nicht mehr garantieren kann, obwohl die Produktivität des Wirtschaftslebens es mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit erlauben würde; stattdessen wandelt sich der Staat zunehmend zum Instrument einer privilegierten Minderheit, die das Leben einer wachsenden Zahl von Menschen einschränkt, illegalisiert und sogar existenziell gefährdet. Statt eines Rückzuges des Staates, der durchaus zu begrüßen wäre, wenn es darum ginge, autoritäre Auswüchse des Fürsorgestaates bismarckscher, faschistischer oder auch sowjetischer Prägung weiter abzubauen, erleben wir den Ausbau des Staates zu einem sich tendenziell totalisierenden Sicherheitsstaat, der privilegierte Minderheiten vor dem Protest einer marginalisierten und unterprivilegierten Mehrheit im nationalen, im europäischen und globalen Rahmen schützen soll. Der Forderung nach einem allgemeinen Grundeinkommen muss daher der ergänzende Einsatz für einen Funktionswandel des Staates zur Seite stehen. Zu fordern ist eine Entstaatlichung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Abbau repressiver Kontrollen, Dezentralisierung und Förderung von Selbstorganisation, Unterstützung von Selbstbestimmung und Selbstversorgung. Am Ende eines langen Weges kann so ein anderer Staat stehen, auch wenn die zur Zeit herrschenden Kräfte dies mit Gewalt zu verhindern trachten werden.

Damit sind wir beim dritten Element, das es neu zu denken gilt, dem ethischen Um- und Aufbruch: Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft und die Krise des Sozialstaats verbinden sich in der Sinnkrise der modernen Gesellschaft, die sich daraus ergibt, dass viele traditionelle ethische Grundsätze keine Verbindlichkeit mehr haben und noch vorhandene ethische Schutzräume durch die Globalisierung der Kommunikation aufgerissen werden. Der aktuelle Terrorismus – antistaatlicher wie staatlicher – ist der schärfste Ausdruck dieser Entwicklung. Er fordert durch sein wütendes Bestehen auf Vorhandenem, herkömmlichen Traditionen wie herrschenden Verhältnissen, eine ethische Neubesinnung heraus, die von bisherigen Leitsätzen der Art: ‚Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst’ zu einem ‚Liebe Deinen Nächsten und die Welt um Dich herum wie Dich selbst’ fortschreitet. Das neue Verständnis entspricht dem Stand des heutigen globalen Bewusstseins von der Erde als lebendigem Teil der kosmischen Ordnung. Für die Einbeziehung solcher ethischer Fragestellungen in die Suche nach Alternativen muss man heute öffentlich eintreten, um die in der Erziehung, in der Bildung, in der Wissenschaft, ebenso wie in der Politik geltenden staatsideologischen Tabus und die heute übliche platte Ökonomisierung des Lebens aufzubrechen und den wirtschaftlichen sowie den staatlichen Kategorien die ethischen gleichberechtigt zur Seite zu stellen.

In der Konsequenz bedeutet dies alles, dass Wirtschaft, Staat und geistige Orientierung der Gesellschaft wie die des Einzelnen in eine neue Beziehung zueinander gebracht werden müssen. Es darf nicht einem dieser drei Elemente gesellschaftlichen Seins die Priorität vor den anderen beiden eingeräumt werden, bzw. weiter eingeräumt bleiben, wie es sich in unseren heutigen Gesellschaften darstellt, die entweder von der Wirtschaft oder vom Staat oder vom Klerus in hierarchischer, autoritärer, nicht selten diktatorischer Weise dominiert werden. Es muss vielmehr einer Entwicklung zum Durchbruch verholfen werden, in der die drei genannten Elemente in einen gleichberechtigten Austausch bei gegenseitiger Kontrolle kommen – wobei klar ist, dass keins der drei Elemente – Wirtschaft, Staat, geistige Orientierung – in reiner Form existiert. Elemente des einen sind immer auch in den anderen enthalten, aber es muss ein gesellschaftlicher Organismus angestrebt werden, in dem sich die drei Elemente in einem dynamischen Gleichgewicht halten.
Die Form, in der dieses Gleichgewicht an der Basis der Gesellschaft EINGEÜBT werden kann, ist die selbst gewählte Versorgungsgemeinschaft, in welcher industrielle Produktion und gemeinschaftliche Selbstversorgung, Lohnarbeit und frei bestimmte eigene Tätigkeit, Geld- und Tauschverkehr, individuelle und gemeinschaftliche Emanzipation auf dem Niveau der heutigen technischen Entwicklung eine Symbiose eingehen und sich im Konsens der Mitglieder der Gemeinschaft miteinander ausgleichen können. Die Versorgungsgemeinschaft schließt dabei alle bisher entwickelten Formen des Zusammenlebens ein und hebt sie auf die Ebene einer arbeitsteilig organisierten gemeinsamen Versorgungs- und Lebensbasis. Das schließt Beziehungen zwischen Stadt- und Landbewohnern mit ein, ebenso wie die pflegerischen, die kulturellen, die künstlerischen und die wissenschaftlichen Arbeiten, die unter solchen Umständen nicht mehr dem Lohndiktat allein und tendenziell überhaupt nicht mehr unterworfen sind, sondern in wachsendem Umfang aus der Kapazität frei verfügbarer Arbeitskraft einer Gemeinschaft entwickelt werden können. Form und Größe der Versorgungsgemeinschaften können sehr unterschiedlich sein; es gibt Unter- und Obergrenzen. Darüber ist gesondert zu reden. Letztlich sind sie experimentell zu ermitteln; das gilt auch für die Netzwerke, in denen die Gemeinschaften sich miteinander organisieren.

An den heutigen Staat ist die Forderung zu stellen, die Bildung solcher selbst gewählter Versorgungsgemeinschaften zu unterstützen, indem die Auszahlung des personengebundenen Grundeinkommens über die gemeinsame Ökonomie der Versorgungsgemeinschaften abgewickelt wird statt – wie jetzt – das Zusammenleben mit Partnerinnen oder Partnern, die Lohneinkommen haben, zum Grund eines Ausschlusses aus der sozialen Unterstützung zu machen und die Bürokratie zum Kontrolleur über die Einhaltung dieser Bestimmungen zu ermächtigen. Über die Forderung nach aktiver Unterstützung von Gemeinschaften kann auf eine schrittweise Verwandlung des Staates in Richtung seiner neuen Funktionen als Förderer eines Netzwerkes von kleinen und größeren Versorgungsgemeinschaften hingewirkt werden. Wer keiner Versorgungsgemeinschaft angehören möchte, muss sich selbst um die Auszahlung seines Grundeigentums kümmern. Niemand soll jedoch zur Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft gezwungen werden, nur weil er sonst vom Bezug eines Grundeinkommens ausgeschlossen wäre; es ist aber offensichtlich, dass eine Versorgungsgemeinschaft mit der Summe der Grundeinkommen aller ihrer Mitglieder wirtschaftlich und von der Lebensqualität her besser dasteht als eine Einzelperson.

Ergänzend zur finanziellen Form des Grundeinkommens wäre jedem Mitglied der Gesellschaft im Übrigen ein unkündbares Nutzungsrecht an Grund und Boden bei der Geburt mitzugeben, das gegen Grund und Boden an anderen Orten (in anderen Gemeinschaften oder zur Bildung von Gemeinschaften, auch Stadt-Land-Beziehungen) getauscht, aber nicht gegen Geld oder Ware veräußert werden kann. Einzelpersonen werden nie mehr Land zur Verfügung haben als ihr ursprüngliches Nutzungsrecht ihnen mitgibt; ihr Grundrecht befähigt sie zur Unterhaltung eines Stadtgartens oder einer gärtnerischen Parzelle auf dem Lande; landwirtschaftlich nutzbare Großflächen ergeben sich dann aus der Bildung von Gemeinschaften, wobei die Form der Gemeinschaft sehr variabel, auch ortsübergreifend (z.B. Stadt/Land) sein kann. Entscheidend ist allein, dass die Versorgungsgemeinschaft eine Symbiose aus Lohnarbeit und kollektiver Selbstversorgung herstellt, die sich im Rahmen der Gemeinschaft so ausgleichen, dass die entstehenden freien Kapazitäten den Einzelnen wie der Gemeinschaft zugute kommen.

Nach Keimen von Alternativen bewusst und gezielt suchen

Keime des oben skizzierten sozialen Organismus sind heute bereits allseits erkennbar. Sie können sich zu zukunftsfähigen Strukturen entwickeln, wenn der spontane Prozess bewusst ergriffen und gefördert wird. Mehrere Entwicklungsschübe sind bereits zu unterscheiden:
– In der ersten großen Krise nach dem 2. Weltkrieg (zwischen 1960 und 1970) entstanden neue kommunale Lebensformen im Zuge der aus den USA kommenden New age, danach in der europäischen APO- und Kommunebewegung. Nicht wenige der damaligen Kommunen haben physisch bis heute überlebt: ihr eigentliches historisches Ergebnis war aber vor allem der geistige Impuls für eine andere Lebensweise. Dies war interessanterweise nicht nur in im Westen so, sondern hatte seine Entsprechung auch im „sowjetischen Frühling“.
– In der zweiten Krise, die aus dem Zusammenbruch, besser gesagt, der Öffnung des sozialistischen Innenraums, noch genauer des sowjet-sozialistischen Fürsorgestaates resultierte, ging ein weiterer Impuls der Erneuerung für die globale Gemeinschaftsbildung aus. Widersprüchlich in sich selbst ging dieser Impuls zunächst als Liberalisierungs-, Individualisierungs- und Privatisierungsschub um die Welt und tut dies immer noch. In seinem Gefolge fördert er jedoch zunächst im russischen Raum, aber darüber hinaus überall in der Welt die Bildung von Überlebens- und Notgemeinschaften, die jenseits von Sozialismus oder Kapitalismus eine Symbiose von Produktion und Selbstversorgung herausbilden. Die heutige russische Entwicklung bietet die anschaulichsten Beispiele für diese Entwicklung.
– Inzwischen kommen wir in die dritte Phase, in der der Sozialstaat westlichen Typs in einen Sicherheitsstaat überzugehen droht, der die Welt aufteilt in die, die von ihm versorgt und die, die von ihm ausgegrenzt werden. (siehe Hartz IV, Nordafrika etc. pp.) Im Gegenzug entstehen Ansätze zu Not- und Überlebensgemeinschaften, die nach alternativen Wegen der Versorgung und des Zusammenlebens suchen.

Die drei genannten Bereiche sind historisch voneinander getrennt; die Trennung hat zu eingeschränkter Wahrnehmung der Generationen voneinander und auch der Gruppen innerhalb der Generationen geführt. In der Folge existieren Notgemeinschaften, Kommunen, Versorgungsgemeinschaften aus den drei Phasen und aus verschiedenen Gegenden und Ländern unverbunden neben- und nacheinander – in Deutschland, in Europa wie auch global. Zum Einen ist das Ausdruck ihres basisorientierten, informellen, nicht-staatlichen Charakters und insofern gut und richtig, weil es dem herkömmlichen Staatsverständnis eine plurale Realität der Selbstorganisation von neuen Gemeinschaften entgegensetzt, andererseits ist die neue soziale Realität, die sich in den Gemeinschaftsbildungen andeutet, als eine die Zukunft gestaltende Kraft noch nicht zum öffentlichen Bewusstsein gekommen. Dieser Schritt steht jetzt an; die aktuelle Krise fordert dazu auf.
Ein wesentliches Element aktueller Aktivitäten dürfte die bewusste Wahrnehmung der spontan sich entwickelnden Ansätze, deren gezielte Vernetzung miteinander und die Darstellung in der deutschen, der europäischen und darüber hinaus in der internationalen Öffentlichkeit sein. Die Debatte um die mögliche Einführung eines Grundeinkommens gewinnt in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung. Ohne diesen Zusammenhang, der ja auch beinhaltet, dass bisherige Abhängigkeiten vom repressiven Fürsorgestaat in operativer Weise Schritt für Schritt durch selbst bestimmtes Handeln abgebaut werden, besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft durch die Einführung eines Grundeinkommen in eine Ansammlung von passiven Individuen zerfällt, die nur noch durch den Empfang der Staatsknete zusammengehalten werden. Das aber liefe auf eine Fortsetzung der jetzigen Verhältnisse unter wachsender staatlicher Kontrolle hinaus, in der sich wirtschaftliche, staatliche und politisch-ideologische Definitionsmacht, genereller gesprochen geistige Führung zu einem Monstrum der Herrschaft verbänden, hinter dem Orwells Großer Bruder als Zwerg zurückbliebe.

Eine besondere Rolle, dies sei zum Schluss noch einmal ausdrücklich betont, spielen die nach-sozialistischen, insbesondere die russischen Formen von Gemeinschaftsbildung, weil sie – im Maßstab eines ganzes Landes, genauer, der Hälfte der vorher systemgeteilten Welt – nicht mehr sozialistisch, aber auch nicht mehr kapitalistisch sind – sondern über diese Polarisierung hinausgehen. Dabei können sie zudem noch auf Gemeinschaftsstrukturen zurückgreifen, die über hunderte von Jahren gewachsen sind. In der daraus resultierenden Entwicklung zeigt sich die entstehende neue Symbiose von Industrieproduktion und modernen Formen der Selbstversorgung am klarsten; in ihr wird ein Zukunftspotential erkennbar, das sich in anderen Ländern erst andeutet, weil dort die Zerstörung der traditionellen Selbstversorgungsstrukturen weiter, teils bis zur fast vollständigen Vernichtung vorangeschritten ist.

Konkrete Schritte

Zum Abschluss vor allem eins: Die Entwicklung der oben skizzierten Gesellschaft ist kein einmaliger gewaltsamer Akt der Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse nach dem Muster früherer Revolutionen. Ein solcher Akt würde nur die Vorzeichen vor den weiter bestehenden Grundverhältnissen ändern. Die Entwicklung vollzieht sich vielmehr als Ergebnis eines grundsätzlichen kulturellen Umdenkens und konkreter Schritte an der Basis des alltäglichen Lebens. Wahrnehmung der spontanen Ansätze zu Alternativen, Learning by doing, Erweiterung der Voraussetzungen durch die Praxis, ständige Überprüfung der Entwicklung durch systematische Analyse des Erreichten bezeichnen dabei die Hauptlinie, an der die Entwicklung sich notwendigerweise ausrichten muss. Im Vordergrund muss dabei die Kritik des Wachstumsdiktats und die sachliche Beweisführung stehen, dass andere als die zur Zeit üblichen Wege der Versorgung und der Organisation des Lebens auf Grundlage der heute gegebenen Produktivität unserer technisch-industriellen Zivilisation möglich sind. Marxistisch gesprochen ist nachzuweisen, dass der erreichte Stand der Entwicklung der Produktivkräfte andere als die bisher geltenden Produktionsverhältnisse nicht nur ermöglicht, sondern sogar fordert; man muss ihnen nur zum Leben verhelfen, dann werden Entwicklungen möglich, die unter der Fessel der alten Verhältnisse undenkbar schienen. Das gilt vor allem für die neue Symbiose von Produktion und Selbstversorgung und die damit verbundene Weiterentwicklung der Beziehungen von Wirtschaft, Staat und geistiger Orientierung des Einzelnen in der Gesellschaft.
Unbedingter Bestandteil dieser Orientierung ist daher, im eigenen Handeln die Entflechtung, wie auch die gegenseitige Befruchtung und Kontrolle von Wirtschaft, Staat und geistiger Führung experimentell anzulegen, auszuprobieren und vorzuleben, das heißt, sich selbst auf allen Ebenen, auf denen sich Möglichkeiten dazu bieten, zu Versorgungsgemeinschaften der unterschiedlichsten Art zusammenzufinden, die Symbiose von Lohnarbeit und gemeinschaftlicher Selbstversorgung aktiv zu entwickeln, die entstehenden Gemeinschaften zu vernetzen und Förderungen für die Entwicklung von Gemeinschaften aus den jetzigen staatlichen Strukturen einzuholen.
Die Forderung nach Einführung eines Grundeinkommen muss zudem mit einer unmissverständlichen Kampagne gegen die Illegalisierung der Lohnarbeitslosen verbunden, die Einführung einer ökologisch orientierten Gemeinschaftsethik als Unterrichtsfach in Schulen, Universitäten und sonstigen Bildungsstätten gefordert und gefördert werden. Ignoranz, Diffamierungen, Behinderungen, Störungen, Gegenmaßnahmen, aktive und auch gewaltsame Versuche der Unterbindung der skizzierten Entwicklung seitens der Nutznießer der gegenwärtigen Verhältnisse werden nicht ausbleiben. Antworten darauf müssen, soweit irgend möglich, aus der ethischen Orientierung, durch sachliche, sprich ökonomisch vorführbare Überzeugung und durch die Demonstration von Lebensqualität gegeben werden, die sich aus einer anderen, ökologisch orientierten Organisation des Lebens ergibt, wenn diese andere Organisation glaubhaft werden und die Zahl der Opfer auf dem Weg dorthin so niedrig wie möglich gehalten werden soll. Es gibt noch viel, was konkretisiert werden muss, aber das muss einem nächsten mal überlassen bleiben, wenn einiges schon wieder klarer geworden ist.

Neue Bücher von Kai Ehlers zum Thema:

Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung – Gespräche und Impressionen
Verlag Pforte, 100 Seiten, erscheint im April 2005, Preis: 9,50 €

Erotik des Informellen –
Impulse für eine andere Globalisierung
aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus
Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation
Alternativen für eine andere Welt, „edition 8“/ Zürich, ISBN 3-85990-049-8 192 Seiten, Preis: 17 Euro

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Weiterungen zur Frage des Grundeinkommens

Anmerkungen zu einem Text von Katja Kipping und Ronald Blaschke (in Sozialismus Heft 10/2005)

Vielen Dank an Katja Kipping und Ronald Blaschke für ihre Klarstellungen in dem Artikel: „Und es geht doch um… Das Gespenst des Grundeinkommens.“ Was sie gegen die Positionen von Jörg Schindler und Kolja Möller vorbringen, scheint mir weitgehend klar zu sein. Die Debatte um ein „Ende der Arbeit“ ist zwar nicht ganz „selbst erfunden“, wie sie sagen, man findet immer wieder verkürzte Positionen, die schlicht vom Ende der Arbeit sprechen. Es geht aber natürlich nicht um ein Ende der Arbeit, sondern um ein Ende der Lohnarbeit, wie wir sie heute kennen. Das machen sie dankenswerter Weise sehr klar. Angenehme Klarheit schafft auch ihr Rekurs auf die Definition der Arbeit durch Karl Marx, aus der die Differenzierung von Arbeit als stofflichem Austausch mit der Natur und als immateriellem Anteil der Arbeit, die „free activity“ und schließlich die einfache Tatsache hervorgeht, daß der Sinn der Arbeit letztlich darin besteht, den stofflichen Anteil der notwendigen, oft sinnentleerten Arbeit gegenüber der freiwilligen, sinnvollen, auf kulturelle Entwicklung gerichteten so weit wie möglich zu reduzieren, so wie es Götz Werner in seinem Interview in der Stuttgarter Zeitung vom 2.7.2005 aus der Sicht einer Unternehmers paradox, aber klar formulierte, als er sagte, „Aufgabe der Wirtschaft (sei) es, die Menschen von der Arbeit zu befreien.“ Klar ist, daß auch er hier den Teil des stofflichen Austausches, also, die heute übliche Lohnarbeit meint.

Aus all diesen Voraussetzungen folgt, auch darin ist Katja Kipping und Ronald Blasche zuzustimmen, daß eine emanzipatorische Reformpolitik unbedingt in die Richtung einer Reduktion der notwendigen Arbeit, in Richtung auf eine weitgehende Befreiung aller Individuen von der fremdbestimmten Lohn-/Erwerbsarbeit und auf ein Recht aller auf free activity zielt – natürlich, wie sie schreiben, auf der Grundlage des unbedingten Rechts auf die Teilhabe am materiellen gesellschaftlichen Reichtum. Alles klar – die Produktivität wächst, die Zahl der benötigten Arbeitskräfte sinkt, wie Jeremy Rifkin es formuliert; anders gesagt, eine abnehmende Zahl von Lohnarbeitsplätzen kann eine wachsende Zahl von Menschen versorgen.

Zu ergänzen ist dabei natürlich, um keine Nebenfronten aufzumachen, zugleich aber schon hier auf ein bisher im Rahmen der Debatte um das Grundeinkommen meiner Kenntnis nach nicht erörtertes Problem aufmerksam zu machen, daß die Zahl der Arbeitskräfte relativ zur steigenden Produktivität fällt, nicht etwa absolut. Angesichts der exponentialen Zuwachsrate der Weltbevölkerung nimmt die Zahl der Lohnarbeiter weiterhin absolut zu. Die Tatsache, dass ein Lohnarbeits-, man könnte auch sagen Maschinenplatz, eine wachsende Zahl von Menschen versorgen kann, ist eine ebenso absolute Tatsache. Ob. wann, unter welchen Bedingungen und mit welchem Ergebnis es soweit kommt, daß die Produktivität auch das absolute Wachstum der Zahl der Lohnarbeiter übersteigt, wo sich also Produktivität und Wachstum der Weltbevölkerung absolut überschneiden, ist aber bisher nicht absehbar. Aus dieser Unsicherheit resultieren eine Reihe von Fragen, die später noch erörtert werden sollen.

Richtig ist, dass das Märchen von der Vollbeschäftigung nur eine Illusion ist, sie war eine vorübergehende Ausnahmerscheinung des geteilten Deutschland. Dabei müssen West- und Ost-Deutschland noch einer gesonderten Betrachtung unterzogen werden, denn im Westen bricht eine andere Illusion zusammen als im Osten. Nach Beendigung der Sondersituation aber treten die Grundgesetze kapitalistischer Entwicklung auch in Deutschland wieder in Erscheinung und dies auf Grund der vorherigen Sondersituation mit besonderter Schärfe: Jetzt müssen Lohnarbeit und soziale Versorgung neu organisiert werden, so dass weniger Lohnarbeit auf mehr Menschen verteilt wird, anders gesagt, so dass der einzelne Mensch mit weniger Lohnarbeit trotzdem versorgt ist und Zeit gewinnt für andere, freiere Formen der Arbeit als die des unmittelbaren Stoffwechsels mit der Natur.

Das Stichwort: staatlich garantiertes Grundeinkommen ist eine logische Konsequenz aus dieser Entwicklung. Entsprechend hoch ist die Zustimmung, die dieser Gedanke zur Zeit findet. Aber reicht der Ruf nach staatlicher Versorgung? Ökonomisch gesehen, bedeutet die beschriebene Entwicklung ja erst einmal nicht mehr als ein Fortschreiten vom individuellen zum kollektiven Lohnarbeiter, wenn man den stofflichen Arbeitsprozess betrachtet, der an einem Werkzeug, bei weiterer Entwicklung einer Maschine nicht von einem, sondern von zwei, drei oder noch mehr Menschen durchgeführt wird. Das bedeutet, mehrere Menschen, deren Arbeitskraft in die Produktivität einer Maschine eingeht, können sich das Produkt, bzw. den Gewinn aus dem Produkt teilen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Sicht schließt Management, Verwaltung und Verkauf mit ein, deren Anteil am Zustandekommen des Endgewinns anteilig gerechnet werden muss. Es wird also ein Verteiler gebraucht, der diese gemeinschaftliche, aber in sich trotzdem nach Arbeitseinsatz, Qualifikation usw, dennoch differenzierte kollektive Lohnarbeit gerecht unter die Leute bringt. Ist „der Staat“, der Steuern einzieht und dann gleichermaßen an alle auszahlt, das einzige denkbare Modell? Wer ist der Staat? Wird der Staat mit diesem Modell nicht in eine Position derAllmacht gehoben?

Mir scheint, die Frage des Grundeigentums kann nicht erörtert werden. ohne auch die Frage des Staates neu aufzuwerfen. Gebraucht wird eine Organisation des zukünftigen Wirtschaftslebens, die die Menschen nicht nur tendenziell unabhängiger von der Lohnsklaverei macht, sondern zugleich auch von seiner Abhängigkeit durch den Staat. In den bisherigen Vorschlägen zum staatlich garantierten Grundeinkommen wird argumentiert, dass diese Grundregelung zu einem Abbau der bisher bestehenden aufgeblähten sozialfürsorgerischen Bürokratie, des fiskalischen Apparates etc. pp. führe. Das ist nicht von der Hand zu weisen und mit Sicherheit ein begrüßenswerter Effekt einer solchen möglichen Regelung, es bleibt aber die Gefahr, daß „der Staat“ über das Machtmonopol hinaus auch noch das Monopol als wirtschaftlicher Volksversorger erhält. Wer kann einen solchen Moloch noch kontrollieren?

Was geschieht, wenn das Grundeinkommen des Staates (sei es aus Einkommenssteuern, Konsum- oder sonstigen Steuern) nicht ausreicht? Wer bestimmt die Höhe des Grundeinkommens? Was geschieht, wenn der Staat das Grundeinkommen für alle nicht auszahlen kann?
Wer das Leztere für eine nur hypothetische theoretische Frage hält, erinnere sich bitte an die weiter vorne getroffene Feststellung, dass die Produktivität heute zwar relativ zur Zahl der Lohnarbeiter wächst, aber nicht absolut. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass eine Grundannahme im Modell der staatlich garantierten Grundeinkommens, wie es bisher vorliegt, nicht ausreichend durchdacht und überprüft worden ist, nämlich die Tatsache, dass die Versorgung der wachsenden Zahl der Weltbevölkerung aller steigenden Produktivität zum Trotz nicht gewährleistet sein könnte, ja, grundsätzlicher, dass die Werte, an denen das Wachstum der Produktivität bei uns heute gemessen wird, nicht zukunftsfähig sein könnten.

Die Hochrechnung der gegenwärtigen Produktivität – wie Jeremy Rifkin sie z.B. vornimmt – geht von der stillschweigenden Prämisse aus, dass die heute übliche Art der Produktion sich in die Zukunft hinein fortsetzt. Angesichts sich ankündigender globaler Überproduktionskrisen, Verheizung der natürlichen Ressourcen und Zerstörung der Selbstversorgungsfähigkeiten der Menschen und Völker, der damit verbundenen ökologischen Einbrüche und eines explodierenden Wachstums der Weltbevölkerung ist dies aber, schlicht gesagt, sehr unwahrscheinlich. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass wir zu neuen, reduzierten Formen der Produktion, zu sozialen, statt bloß ökonomischen Formen des Wachstums, zu neuen Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kommen müssen und werden. Industrieproduktion und Selbstversorgung müssen ein neues Bündnis miteinander eingehen, global, regional, lokal, damit die Menschen überleben und neue Formen des Zusammenlebens entwickeln können.

Dies alles, was ich hier nur andeuten will, geht in die Frage ein, wie die industrielle Arbeit in Zukunft organisiert wird und wie ihre Produkte verteilt werden können. Zu einem grundsätzlich neuen Schritt in der Organisation der Arbeit gehört ein ebenso grundsätzlich neuer Schritt in der Organisation des Zusammenlebens, anders gesagt, es geht nicht nur um eine Emanzipation vom stofflichen Zwang der Ökonomie, sondern auch vom Staat als dessen Repräsentant. So wie die Lohnarbeit sich zur Arbeit hin emanzipiert, so muss der Staat von einem patriarchalen Fürsorgestaat zu einem Förderer der Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung entwickelt werden. Der Impuls, der aus der Krise der Lohnarbeitsgesellschaft hervorgeht, das Leben gemeinschaftlich zu organisieren, darf nicht auf eine Aufblähung des Staates, sondern muss in die Förderung von neuen Gemeinschaftsformen gelenkt werden, welche die notwendige Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung von der Basis der Gesellschaft her bestimmen. Meinetwegen kann man auch sagen; die wirtschaftlichen Voraussetzungen erlauben einen Entwicklungsschub in Richtung direkter Demokratie; erstrebenswert ist die Entstehung von Versorgungsgemeinschaften unterschiedlichster Art, die Lohnarbeit, Selbstversorgung und Fremdversorgung zusammenführen und in sich ausgleichen.

Nur in solchen Strukturen, das sei schließlich noch angefügt, lässt sich das Problem der unterschiedlichen Interessen an der Arbeit, banaler, das Problem des Faulen und des Fleißigen lösen, das immer wieder als Argument gegen die Einführung des Grundeinkommens vorgebracht wird: In der Versorgungsgemeinschaft, wo Lohnarbeit, Selbstversorgung und Fremdversorgung im Konsens miteinander organisiert und ausgeglichen werden können, kommt zum bloß finanziellen Anreiz, die eine oder andere Arbeit zu übernehmen, der soziale hinzu. Er ergibt sich aus der inneren Dynamik der jeweiligen Gemeinschaft. Damit wird sie zu dem sozialen Körper, in dem sich die Minimierung der Lohnarbeit mit der Maximierung freier, selbst bestimmter Arbeit und sozialer Verantwortung verbinden kann. Ansätze zu einer solchen Entwicklung sind in den nach-sowjetischen Ländern zu erkennen, insbesondere in Russland, wo ein Weg jenseits der alten sowjetischen, aber auch über die westlichen Formen des Kapitalismus hinaus gesucht wird. Deutschland spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, weil in ihm ehemals sowjetische und heutige westliche Strukturen direkt aufeinander prallen, woraus sich eine besondere Schärfe der System- Problematik ergibt, eine besondere Notwendigkeit., aber auch eine besondere Chance zu einer Lösung zu finden.

Unterm Strich formuliert: Die Propagierung eines staatlich garantierten Grundeinkommens halte ich dann für sinnvoll, wenn sie verbunden wird mit einer Abkehr von der Vorstellung eines allmächtigen Fürsorgestaates und stattdessen aktiver Förderung von Gemeinschaftsstrukturen, die die dringend notwendige Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung als Grundlage eines neuen Verständnisses von Gesellschaft organisieren.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Aus der Not eine Tugend machen. Exemplarische Entwicklungsimpulse aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus

Die Tatsachen sind schon tausende Male benannt: Idee und Praxis des auf Lohnarbeit aufgebauten Sozialstaates befinden sich in einer existenziellen Krise. Widerstand gegen materielle und geistige Verelendung ist notwendig. Alternativen müssen her. Aber welche? Vor allem: Wie sieht die soziale Form aus, in der sie entwickelt werden können? Alle immanenten Auswege sind verstellt: Die Verteidigung des Sozialstaats durch traditionelle gewerkschaftliche Lohn- und Tarifkämpfe führt nur tiefer in die Krise der Lohnarbeitsordnung, wenn dabei, wie es geschieht, die Lohnarbeitslosen ausgegrenzt oder gar illegalisiert werden, sei es im eigenen Lande, sei es im globalen Maßstab. Das Glücksversprechen der modernen Industriegesellschaft, wie es nach dem Offenbarungseid der sowjet-sozialistischen Utopie von der „einzig verbliebenen Weltmacht“ und ihren Parteigängerinnen im Namen des Kapitalismus noch einmal in die Welt hinausposaunt wurde, ist für viele nicht einlösbar. Stattdessen entwickelt sich eine weltweite soziale Differenzierung, traditionell formuliert: eine neue Klassenbildung, die über jene Teilung von Kapital und Arbeit hinausgeht, die von Karl Marx und Friedrich Engels im kommunistischen Manifest als letzte zu erwartende Klassenteilung der Geschichte definiert wurde.

Heute zeichnet sich eine neue Klassenlinie zwischen Verwaltern und Inhaberinnen von Arbeitsplätzen auf der einen, und Menschen, die aus der Lohnarbeit abgedrängt werden auf der anderen Seite ab. Millionen Menschen, die von einem wuchernden, nur auf Selbstvermehrung orientierten Kapital auf diese Weise marginalisiert werden, haben keine andere Wahl, als sich vom Staat versorgen zu lassen. Das wird für sie in dem Maße zur existenziellen Bedrohung, als auch die nationalen Staaten auf Grund der globalen Konzentration des Kapitals immer weniger eigene Mittel zur Verfügung haben. Wollen die Menschen weder von den Sparprogrammen ihrer Staaten niedergehalten werden, noch verelenden oder verhungern, dann haben sie nur eine Alternative: aus der Not der Marginalisierung eine Tugend zu machen, das heißt, sich in Ergänzung zur oder gänzlich unabhängig von der Lohnarbeit die notwendigen Bedingungen für eine eigene Versorgung selbst neu zu schaffen. Dies gilt für die materiellen Mittel des Lebens ebenso wie für die generelle Lebensperspektive.

Sich unabhängig von der Lohnarbeit und dem heute daran gekoppelten sozialen Versorgungs-System zu machen, bedeutet aber, aus dem herrschenden Paradigma der Lohnarbeits-Gesellschaft, das heißt, aus dem Kreislauf von Produktion für mehr Produktion, Geld für mehr Geld, Haben für mehr Haben auszusteigen, neue Formen der Arbeitsteilung, neue Beziehungen von produktiver und nicht-produktiver Arbeit, genauer, von Arbeit als Teil der industriellen Produktion und Arbeit außerhalb davon, von Produktion und Konsumtion, also prinzipiell neue Versorgungsstrukturen zu entwickeln. Es bedeutet neben einer ethischen Neuorientierung schließlich auch, die sozialen Strukturen zu entwickeln, in denen sich eine allseitige Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten verwirklichen lässt. Ohne den Aufbau solcher Strukturen werden mögliche Perspektiven bis in alle Ewigkeit nur unverwirklichte Möglichkeiten bleiben.

Der Charakter der Krise

Ein Aufbruch zu dieser Reise setzt allerdings die Einsicht in den finalen Charakter der heutigen Krise, und damit in die Unvermeidlichkeit des grundlegenden Umbruchs der heutigen Verhältnisse voraus, der daran deutlich wird, wie die Organisation der Grundversorgung der Menschen mit Lebensmitteln sich im Laufe der Geschichte von einem Aufbruch mit unendlichen Möglichkeiten zu einer die Existenz der Menschheit in Frage stellenden globalen Krise entwickelte. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, möchte ich drei wesentliche Phasen dieses Prozesses skizzieren, in dessen dritte wir gerade eintreten:

Da ist erstens die Phase unterschiedlichster Formen der individuellen oder auch der gemeinschaftlichen Selbstversorgung, die sich über Jahrtausende herausgebildet haben. Beschaffung von Lebensmitteln und Lebenszweck, Produktion und Konsumtion standen in den Gesellschaften dieser Phase noch in einem engen Zusammenhang. Auch heute gibt es solche Gesellschaften noch; ihre Existenz ist jedoch durch die weltweite Industrialisierung bedroht.

Da ist zweitens die Phase der Entwicklung der industriellen Lohnarbeit seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Ergebnis der Fremdversorgung der Lohnarbeitenden, die als solche keine eigenbestimmte Beziehung mehr zu ihren Produkten haben, in dem Maße, wie jene Produkte zunehmend nicht mehr der Versorgung, sondern allein der Erhaltung und Steigerung der Produktion dienen.

Da ist drittens die Krise der Lohnarbeitsordnung, wie wir sie heute erleben, also die Verwandlung der Lohnarbeit in Beteiligungsgehälter derer, die in einer sich konzentrierenden Produktion (noch) Beschäftigung finden, bei gleichzeitiger Zurückdrängung einer lohnarbeitslosen Mehrheit der Weltbevölkerung in die Selbstversorgung – dies aber geschieht, nachdem die früheren Grundlagen und die traditionelle Vielfalt der Selbstversorgung weitgehend zerstört sind, materiell wie auch mental.

Was wir heute erleben, eröffnet also nicht etwa einen Weg zurück in eine vor-industrielle bäuerliche, nomadische, handwerkliche oder irgendwie naturhafte Romantik, sondern zwingt uns voran auf den Weg einer Symbiose von entwickelter industrieller Groß-Produktion und Selbstversorgung im individuellen wie im kommunalen Bereich. Symbiose bedeutet dabei nicht etwa Verschmelzung, sondern gemeinsame Existenz durch gegenseitiges Aufeinander-Angewiesen-Sein, durch wechselseitige Ergänzung und Unterstützung auf Basis von Gegenseitigkeit.

Die skizzierte Entwicklung war begleitet von einer schrittweisen Entfremdung der Menschen vom Bauerntum, vom nomadischen Leben, vom Handwerk, von der individuellen und lokal begrenzten Nutzung von Naturenergien wie der von Tieren, wie Wind, Wasser usw. Der Übergang von der Pferdestärke zur Dampfmaschine, zur Elektrizität, zur Automobilisierung und neuerdings zur Computerisierung beschleunigte diesen Prozess. Er führte zu einer Teilung der Gesellschaft in atomisierte Arbeitsprozesse und zu einer Reduzierung des Menschen auf seine Arbeitskraft als Ware. Dies alles ist schon zu Beginn dieser Entwicklung von Marx, Engels und anderen ausreichend analysiert worden. Wir können und müssen dem heute allerdings die Erkenntnis hinzufügen, wie dies geschah; nämlich durch den ersatzlosen Raubbau, durch schlichte Verbrennung der fossilen Rohstoffe Kohle, Öl, Gas, während die sich selbst versorgenden unmittelbar Produzierenden gleichzeitig in von der Basis der Selbstversorgung vollkommen losgelöste Konsumierende von industrieller Massenware verwandelt und diese Basis zerstört wurde. Ergebnis dieser Entwicklung ist die tendenzielle Vernichtung aller natürlichen Versorgungsgrundlagen der Menschheit.

Ihr aktueller Stand ist die Aussicht auf eine Krise der fossilen Energieversorgung, die sich aus dem absehbaren Ende abbaufähiger Öl-, Gas- und Kohlevorkommen in ca. 30 bis 40 Jahren wie auch durch die Aufheizung der Atmosphäre durch vom Menschen produzierte Treibhaus-Gase ergibt. Diese Krise verlangt kategorisch nach einem Übergang zu alternativen Wegen der Energieversorgung. Das Vordringen zu einer Nutzung von erneuerbaren Naturenergien auf zeitgemäßer technischer Basis ist heute eine Überlebensfrage der Menschheit. Das entscheidende Stichwort dafür ist seit der Klimakonvention von Rio de Janeiro 1992 gegeben. Es lautet: „solare Revolution“.

Der Begriff der „solaren Revolution“ lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf die sozialen Strukturen, die mit den zuvor skizzierten Phasen der Versorgungsgeschichte verbunden sind, insofern die Nutzung von solaren Energien dezentrale Strukturen der individuellen und kommunalen Eigenversorgung mit Energie auf dem Niveau der heutigen technischen Entwicklung nach sich zieht.

Für die Phase der Selbstversorgung sind das die Dorfgemeinschaft, die Allmende und die nomadische Zeltgemeinschaft, allerdings auch die frühe städtische Kommune, wo die Verbindung der Menschen untereinander im Wesentlichen noch durch Gemeineigentum und unmittelbaren Tausch und erst in Ansätzen durch Geld vermittelt ist.

Für die zweite Phase der so genannten Moderne ist die bestimmende Sozialstruktur der Markt der industriellen Massenproduktion, auf dem die Lohnarbeiter/innen und Gehaltsempfänger/innen als individuelle Käufer/innen einem anonymen Verkäufer gegenüberstehen, ohne direkte Beziehungen mit ihm oder miteinander einzugehen.

Unter dem Druck einer wachsenden Lohnarbeitslosigkeit zeichnet sich heute schließlich die Entstehung von Versorgungsgemeinschaften ab, deren Lebensprinzip die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung, von geldvermitteltem Markt und unmittelbarem Tausch ist.

Kurz gesagt: Die so genannte industrielle Revolution mit ihrer Teilung der Gesellschaft in Kapital und Arbeit erweist sich als eine Übergangserscheinung, die im Zuge ihrer Entwicklung die Grundlagen der Selbstversorgung ebenso wie die fossilen Ressourcen einem vernichtenden Verbrauch zuführte und dies zur Zeit noch weiter beschleunigt. Diese Feststellungen gelten für den „Kapitalismus“ ebenso wie für den „Sozialismus“. Diese Entwicklung steigert sich in einer Spirale der puren Selbstverwertung des Kapitals, das am Ende auch die in diesen Prozess hineingezogenen Arbeitskräfte wieder in die Selbstversorgung zurückschickt; allerdings nachdem es diese aller eigenen Versorgungsmöglichkeiten und -kenntnisse beraubt und die natürlichen Ressourcen vernichtet hat. In dieser Lage vermögen die solcherart auf sich selbst Reduzierten jedoch nicht mehr zu existieren – es sei denn, sie können auf traditionelle Erfahrungen und noch bestehende soziale Strukturen jenseits eines vom Geld regulierten Marktes zurückgreifen, um sich in Anknüpfung daran auf dem Niveau der heutigen wissenschaftlich-technischen Entwicklung neue Möglichkeiten der Selbstversorgung zu eröffnen.

Was auf diese Weise entsteht, muss sich von der jetzt herrschenden Gesellschaftsordnung notwendigerweise prinzipiell unterscheiden. Die Natur kann in ihr nicht Gegenstand hemmungslosen, vernichtenden Verbrauchs sein, sondern muss zur Partnerin werden, um deren ständige Erneuerung die Menschen sich im eigenen Interesse bemühen müssen; Arbeit kann darin nicht nur der für einen Lohnempfang notwendige Verkauf von genormten und verkrüppelten Teiltätigkeiten sein, sondern muss die variable Entfaltung der gesamten Schaffenskraft der Menschen bedeuten. Dass dies nicht nur eine andere Arbeits- und Sozialordnung als die jetzt herrschende, sondern auch prinzipiell andere ethische Kategorien beinhaltet, versteht sich – fast – von selbst. Erich Fromm forderte bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts den Übergang von einer Gesellschaft des „Habens“ zu einer des „Seins“. „Sein statt Haben“ lautete die von ihm entwickelte ethische Linie für eine über den Industrialismus hinausweisende Gesellschaft. In der rauen Wirklichkeit der heutigen Umwälzungen könnte sich das noch etwas realitätsferne „Haben oder Sein“ auch in einer leichter realisierbaren Form, nämlich als ein „Haben durch Sein“ verwirklichen.

Die Voraussetzungen für eine solche, sprechen wir es aus: ökologische Annäherung an die Versorgungsprobleme der Menschheit sind im Schoße der industriellen Gesellschaft herangereift, ähnlich wie seinerzeit das Proletariat im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft herangereift war. Die wachsende Zahl unversorgter Menschen lässt einen existenziellen Druck zur Entwicklung von Selbsthilfe entstehen, lokal und global. Er mündet in Resignation oder hilflosen Terrorismus, wo er keine Organisationsmöglichkeiten findet. Wo er sie aber findet, und sich mit den Ideen einer ökologisch orientierten Versorgung verbinden kann, entstehen Impulse für eine gesellschaftliche Erneuerung, die über das bisherige „Kapitalismus oder Sozialismus“ hinausweisen. Das gilt für die westliche ebenso wie für die sowjetische Variante der Industriegesellschaft und ihre ehemaligen Einflussgebiete. Die sowjetische Variante, die den Anspruch erhob, eine Alternative zum Kapitalismus zu sein, praktisch aber dessen staatskapitalistisches Spiegelbild wurde, hinterlässt in der heutigen Krise des Industrialismus jedoch neben dem bloßen Einschwenken auf den Kapitalismus auch noch einen zukunftsweisenden Impuls, nämlich eine Hinwendung zur Selbstversorgung auf breiter Front.

Das Beispiel und die Rolle Russlands

Am Beispiel des nach-sowjetischen Russland kann die soziale Struktur, die sich in der heutigen Übergangssituation zeigt, besonders deutlich beobachtet und studiert werden. Das Ende der Sowjetunion hat ja nicht nur die sozialen und politischen Strukturen des eigenen Landes aufgebrochen und eine Situation von „nicht mehr sozialistisch, aber noch nicht kapitalistisch“ hinterlassen, wie es häufig skizziert wird, sondern es hat die Stagnation der bi-polaren Ordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg eingestellt hatte, insgesamt beendet. Das Ende des sowjetischen Modells zieht eine generelle Neubewertung des Sozialen, des Sozial-Demokratischen, des Sozialistischen überall in der Welt, eine neue Organisation der Arbeitsteilung, eine Erneuerung der Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft nach sich; schließlich, aber nicht zuletzt ergibt sich aus ihm auch ein mächtiger Impuls für eine neuerliche Hinwendung zu einem Leben aus der Selbstversorgung und für einen neuen Umgang mit den natürlichen Reichtümern der Erde. Das gilt für Russland selbst, aber auch darüber hinaus. Aufs Ganze gesehen aktualisierte und konkretisierte die Auflösung der Sowjetunion die schon 1972 vom Club of Rome vorgelegten Erkenntnisse über die „Grenzen des Wachstums“, deren allgemeine Wahrnehmung in den Jahren zuvor noch an den Grenzen der Systemkonkurrenz hängen geblieben war.

Aber weshalb soll gerade das transformationskranke Russland beispielhaft für die heutige Übergangssituation, ja gar für sich möglicherweise entwickelnde Alternativen sein? Die Antwort auf diese Frage ist so einfach, dass sie oft übersehen wird: weil in Russland die Utopie des wissenschaftlich-technisch planbaren Fortschritts einer egalitären Gesellschaft in der Gestalt des autoritären Fürsorgestaates ins höchste Extrem getrieben wurde – und dort am tiefsten stürzte.

Hinzu kommt, dass der Versuch, die nach-sowjetische russische Krise durch die Einführung des Kapitalismus zu heilen, nach wenigen chaotischen Jahren eingestellt werden musste. An der unheilbar krisenhaften, das heißt, nicht nach westlichen Modellen kapitalisierbaren nach-sowjetischen Entwicklung wurde deutlich, dass Kapitalismus keine Alternative zum Sowjetismus ist, sondern nur die andere Seite desselben Industrialismus, der sich seinerseits in der Krise befindet, und dass es ebenso wenig „den“ Kapitalismus gibt, wie es „den“ Sozialismus gab.

Auf diese Weise tritt drittens die Transformation unserer heutigen globalen Gesellschaft in Russland besonders deutlich, besonders schroff, in starken Polaritäten und mit enormer Geschwindigkeit zutage, sodass die sozialen Mischformen, die daraus hervorgehen, unmittelbar im Zustand des Entstehens beobachtet, analysiert und als Erfahrung andernorts genutzt werden können. Dabei gibt es Rückfälle ebenso wie mögliche Alternativen. Russland ist unfreiwilliger Pionier der weltweit anstehenden sozialen Neuorientierung. Für die russischen Menschen ist dies streckenweise mehr als unangenehm. Russische Nationalistinnen und Nationalisten sprechen deshalb auch davon, es werde „wieder einmal auf dem Rücken Russlands experimentiert“. Nur wissen sie den Leiter des Experimentes nicht zu nennen. Tatsache ist vielmehr, dass der Konflikt zwischen industrieller Wachstumsgesellschaft und einem ökologisch ausgeglichenen Leben von und mit den natürlichen Reichtümern der Erde in Russland am schärfsten ausgetragen wird, weil sich hier die hoch gefahrene Industrialisierung und eine ebenso hoch entwickelte Selbstversorgung, verbunden mit einer über Jahrhunderte gewachsenen Gewöhnung an die Unerschöpflichkeit natürlicher Ressourcen des Landes, für deren Nutzung es anscheinend keiner besonderen industriellen Anstrengung bedarf, in extremer Polarität gegenüberstehen. Bis zur Oktoberrevolution von 1917 war die Mehrheit der Bevölkerung, also ca. 80% der russischen Menschen, in gemeinwirtschaftlichen Dorfgemeinden organisiert. Sie lebten von dem, was ihnen nach Abgaben an ihre Herrschaften bzw. seit der Bauernbefreiung von 1861 abzüglich der Zinsleistungen an Banken und individuelle Geldverleiher aus der ergänzenden Familienwirtschaft blieb. Die stürmische Industrialisierung Russlands in den Jahren von der Bauernbefreiung 1861 bis zu den Revolutionen von 1905 und 1917, die danach einsetzende, teils mit militärischen Mitteln durchgesetzte Zwangsindustrialisierung, die dabei vollzogene Verwandlung der bäuerlichen Gemeinschaften in industrielle Agrar-Kollektive und die Ausweitung der kollektiven Arbeitsorganisation auf die entstehenden Produktionsbetriebe führten zwar zu extremen Konflikten zwischen diesen traditionellen Formen der Selbstversorgung und dem Anspruch auf Durchsetzung der industriellen Lohnarbeit als Norm. Doch dies alles geschah, ohne die soziale Grundstruktur der Dorfgemeinschaft, also die Gemeinwirtschaft mitsamt ihrer familienwirtschaftlichen Ergänzung aufzuheben. Im Gegenteil: Hofgarten ebenso wie Datscha, also ein Stück Land, das den Städtern als Schrebergarten und den Dorfbewohner/innen zur eigenproduktiven Zusatz-Versorgung hinter dem von ihnen bewohnten Haus zur Verfügung stand, entwickelten sich unter dem Zwang der staatlichen Kollektivierung zum individuellen und familiären Ventil gegenüber dem wirtschaftlichen und politischen Druck von oben. Im Hofgarten wie auf der Datscha hatte man sein eigenes Reich, jedenfalls einen Ansatz dazu. Alle Versuche der sowjetischen Führung, den „Anarchismus“ der so genannten ergänzenden Familienwirtschaft unter Kontrolle zu bekommen, schlugen letztlich fehl: Hofgarten und Datscha waren der private Fluchtweg aus der kollektiven Bewirtschaftung der Sowjetunion, materiell wie ideell. Man war öffentlich arm, privat aber gut versorgt. Schwieg man in der Öffentlichkeit, so blühte in den Familienküchen und der Datscha eine „zweite Kultur der Kommunikation“. Nicht zuletzt aus den Hofgärten, den Datschen und den mit ihnen verbundenen Küchen speiste sich jene soziale Dynamik, die in den 1970er und 1980er Jahren eine Perestroika, das heißt die von Gorbatschow eingeleitete Befreiung persönlicher Initiative möglich machte.

Auch in der industriell organisierten Sowchose , ja selbst in den großen Industrie-Betrieben blieb die Lohnarbeit immer einem System direkter Vergütung untergeordnet. Die sowjetischen Gemeinschaftsbetriebe (Sowchosen ebenso wie große und kleine Industriebetriebe) bildeten eine Pyramide kollektiver Wirtschaft, in der der Geldverkehr nur einen Bruchteil des Wirtschaftsablaufes bestimmte. Der größte Anteil des Wirtschaftslebens einschließlich der Vergütung von innerhalb der Betriebstore geleisteten Arbeiten blieb – einem Eisberg im Wasser ähnlich – unterhalb der Geldgrenze: Die in Familienverbänden lebenden Mitglieder einer Sowchose, Kolchose oder auch eines Industriebetriebes erhielten Hof (im Dorf), Wohnung (in der Stadt), Garten oder Datscha, Heizung, Gas, Wasser, Straßennetz und andere infrastrukturelle Leistungen, soziale Versorgung, Kindergarten, kulturelle Aktivitäten, Begräbnis etc. aus dem Vergütungsfonds des Betriebes, in dem sie ihre Arbeitskraft einsetzten. Der Betrieb war das Zentrum des sozialen Lebens. Sie erhielten die Leistungen aber nicht etwa „umsonst“; dieses Wort spiegelt nur das westliche, von der Geldwirtschaft geprägte Unverständnis für die Organisation des Lebens in der Sowjetunion. Die Menschen erhielten ihren Anteil am Wirtschaftsergebnis nur eben nicht in Geld, sondern vielmehr in Sach- und Versorgungsleistungen. Nur ein geringer Teil wurde auch in Geldform abgegolten. Ältere bzw. junge Mitglieder der Familie, die nicht in Lohnarbeit standen, konnten ihre Kräfte – soweit nicht durch öffentliche Aufgaben beansprucht – der privaten Zusatzversorgung widmen; das bedeutete Arbeit im Hofgarten, auf der Datscha oder im Rahmen diverser Nebentätigkeiten. Bei der Auflösung der Sowjetunion und beim Versuch der Privatisierung der sowjetischen Lebens- und Wirtschaftsstrukturen blieben daher die unterschiedlichsten Formen von privater Nebenwirtschaft als Ansätze für eine sich breit entwickelnde Subsistenzwirtschaft zurück. Nicht etwa eine private Bauernschaft, wie von den russischen Reformern und ihren westlichen Beratern 1990/91 erträumt, kein Volk von Kleinkapitalistinnen und -kapitalisten, wie von ihnen versprochen, waren das entscheidende Ergebnis der Privatisierung, sondern – abgesehen von der Verteilung der Großbetriebe unter wenige Oligarchen – eine boomende, das ganze Land erfassende Hof-, Datschen- und Kleinstgartenkultur, die bis heute gut 60% des Nahrungsbedarfs der russischen Bevölkerung deckt.

Warum Russland nicht verhungert

Angesichts der existenziellen Krise der nach-sowjetischen Transformation, die nach den Absichten der Radikal-Reformer seit 1991 zunächst keinen Stein der alten Gesellschaft auf dem anderen lassen, sondern die Wirtschaft durch Liquidierung der kollektiven Strukturen effektivieren sollte, stellte sich den Auslandsbeobachterinnen und -beobachtern die Frage, wieso die russische Gesellschaft angesichts der durch die Reformen entstandenen Desorganisation der Wirtschaft nicht im allgemeinen Chaos versank und keine Hungerkatastrophen ausbrachen.

Der Grund für diese erstaunliche Überlebensfähigkeit der russischen Gesellschaft liegt eben in der besonderen Geschichte und der Aktualität ihrer Gemeinschaftsstrukturen: der traditionellen gemeinwirtschaftlich organisierten Bauerngemeinschaft (russisch: Obschtschina; im Deutschen der Allmende vergleichbar). Vom Zarismus wurde sie über Jahrhunderte als Grundeinheit der Reichsorganisation aufgebaut, besaß aber zugleich das Recht der Selbstverwaltung. Trotz wiederholter Versuche, diese Strukturen zugunsten privater Bauernwirtschaften aufzulösen, hat sich die traditionelle russische Bauerngemeinschaft über die Oktobberrevolution von 1917 hinaus erhalten. Mehr noch: Durch die Oktoberrevolution, endgültig dann durch Stalin, wurde die Obschtschina zur Grundeinheit der sowjetischen Arbeits-, Lebens- und Staatsorganisation. Heute feiert sie als geschlossene Aktiengesellschaft, als Genossenschaft oder auch ohne besonderes Organisationsstatut ihre Wiederentstehung als marktorientierte Versorgungsgemeinschaft. Diese Gemeinschaften sind – wie einst die traditionelle Obschtschina und später die Sowchose – auch heute nur zu einem kleinen Teil, sozusagen lediglich an ihrer Spitze, mit der allgemeinen Geldwirtschaft verbunden. Der größte Teil der Wirtschaft vollzieht sich als selbstorganisierter, unmittelbarer Austausch von Arbeit und Vergütung innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft; mitunter sogar zwischen den Gemeinschaften. Obwohl die Gemeinschaften in ihren Spitzen in der Regel über Geldverkehr verbunden sind, kommt es doch auch hier recht häufig zu produktgebundenen Austauschbeziehungen.

Keineswegs alle ehemaligen agrarischen oder industriellen Arbeitskollektive haben die Privatisierung in dieser Weise überstanden. Es mag ein Drittel sein, das auf diese Weise nicht nur funktioniert, sondern ihren Mitgliedern ein ausreichend akzeptables Leben sichert; ein weiteres Drittel kränkelt halb desorganisiert, halb individualisiert vor sich hin, der Rest ist gänzlich aufgelöst und versinkt im unorganisierten „Sich-Irgendwie-Durchschlagen“. Doch selbst dieses „Sich-Irgendwie-Durchschlagen“ folgt noch den gleichen Gesetzen der Gemeinschafts-Tradition. Denn das Überleben von Familien und anderer Gemeinschaften beruht auch in diesen Fällen auf Gegenseitigkeit, auf Tauschbeziehungen zwischen Land- und Stadtbewohnern. Diese – im Fall funktionierender Aktiengesellschaften gut, im Fall der bankrottierenden oder gänzlich aufgelösten Kollektive und Betriebe schlecht bis gar nicht organisierte – Form der Selbstversorgung ist die Basis des Überlebens für eine Bevölkerung, deren Geldkreislauf (der Produktion, Lohn und Konsum umfasst) nicht in der im Westen bekannten Weise entwickelt ist, anders gesagt: innerhalb derer die Struktur der Lohnarbeitsgesellschaft nur nominell entwickelt wurde.

Die herrschende westliche und die am westlichen Fortschrittsverständnis orientierte russische Politökonomie – sogar in ihrer sowjetischen Ausprägung – konnte diese Tatsache bisher nur als Rückständigkeit begreifen. Die russische Politik hatte ja in den zurückliegenden beiden Jahrhunderten die westliche Entwicklung in immer neuen Modernisierungsschüben einzuholen versucht. Den letzten großen Versuch dieser Art machten die Bolschewiki und der darauf folgende sowjetische Staat. Faktisch ist der Umstand, dass Russland die gemeinwirtschaftlich organisierte Vergütungswirtschaft, auf deren Basis die Sowjetunion dann die betriebszentrierte Gemeinschafts- und Planwirtschaft entwickelte, aber keineswegs nur eine Frage der Rückständigkeit, sondern Ausdruck eines anderen historischen Entwicklungsweges. In dessen Verlauf wurde die Allmende nicht aufgelöst, sondern über mehrere Wandlungsstufen zum Zentrum des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens entwickelt. Hieraus resultiert sowohl die Krassheit wie auch der exemplarische Charakter der heutigen russischen Krise. Denn diese gewachsenen Gemeinschaftsstrukturen können weder bruchlos noch vollständig in eine Marktwirtschaft westlichen Typs umgewandelt werden, auf dem die Menschen im Wesentlichen nur noch über das Geld miteinander verbunden wären. Angesichts der weltweiten Krise des Industrialismus stellt sich zudem die dringende Frage, ob eine Umwandlung in „pure Marktwirtschaft“ überhaupt wünschenswert wäre.

Über mehrere Jahre entzogen sich die heute neu entstehenden sozialen Mischformen der polit-ökonomischen Definition. Lange Zeit galten sie allenfalls als Notbehelfe, die sich normalisieren würden, wenn die Krise vorbei sei, wobei unter „Normalisierung“ das Einschwenken auf den westlichen Weg einer „entwickelten kapitalistischen Gesellschaft“ verstanden wurde und von vielen auch noch immer so verstanden wird. Rund zwanzig Jahre nach den ersten Maßnahmen Gorbatschows von 1984/1985 haben sich inzwischen jedoch familiäre wie auch größere Notgemeinschaften als Dauereinrichtungen etabliert und Teile der Produktion stabilisiert. Es gibt mittlerweile auch Ansätze, diese Entwicklung begrifflich zu erfassen. Einen solchen Ansatz verfolgt etwa Theodor Schanin, Professor der Ökonomie in Manchester und Rektor einer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau, der für die in Russland zu beobachtenden Lebensformen den Begriff der „extrapolaren Ökonomie“ geprägt hat. Extrapolar bedeutet schlicht, dass sich die Definition dieser Wirtschaftsweise den gängigen Alternativstellungen von „Sozialismus oder Kapitalismus“ und von „Liberalismus oder Dirigismus“ entzieht. Kern der Betrachtungen Theodor Schanins ist die Familienwirtschaft, die sich im Rahmen einer mehr oder weniger großen Gemeinschaft, in einer Mischung von Geld- und Tauschwirtschaft und in Ergänzung zur Großproduktion vollzieht. Alexander Nikulin , Leiter von Forschungsprogrammen der genannten „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“, konkretisiert die heute zu beobachtenden sozialen Strukturen begrifflich als eine Symbiose zwischen dem Großen und dem Kleinen, zwischen der Gemeinschaftsproduktion und der individuellen Familienwirtschaft. Sie stützen und ergänzen sich gegenseitig, indem die Gemeinschaftsproduktion den Rahmen für die Familienwirtschaft abgibt und die Subsistenzproduktion der Familienwirtschaft die Gemeinschaftswirtschaft von überflüssigem Geldverkehr entlastet.

Neue Arbeitsteilung:
Von der Familie zur selbst gewählten Gemeinschaft

Die wichtige Rolle der Familie in der Vermittlung zwischen Eigenversorgung und kollektiver bzw. industrieller Produktion wirft die Frage nach dem zukünftigen Charakter der Familie, nach einer neuen Arbeitsteilung zwischen Alten und Jungen, zwischen Kopf- und Handarbeiterinnen, insbesondere aber natürlich zwischen Männern und Frauen auf. Von ihrer Entwicklung hängt letztlich ab, ob die bisherigen Verhältnisse sich restaurieren, gar verfestigen oder tatsächlich tief greifend verändern können.

Erste Elemente einer neuen Entwicklung können wir heute erkennen. Die äußeren Anzeichen erscheinen eher banal: Der Eintritt der Frauen in die industrielle Produktion als Ergebnis des Ersten und des Zweiten Weltkrieges hat sie zwischen Herd und Arbeitsplatz gestellt. Das führte zu einer nachhaltigen Lockerung traditioneller Familienstrukturen, insbesondere jener der familiären Eigenversorgung und der traditionellen Frauenrolle darin. Heute schicken sich die Frauen an, die Männer in ihrer Rolle als Familienernährer abzulösen, oder jedenfalls mit ihnen gleich zu ziehen.

Nicht von ungefähr stoßen diese von den Industrieländern des Westens ausgehenden Lebensformen in traditionellen Gesellschaften und auch in traditionell orientierten Gesellschaftsschichten jener Industrieländer, in denen der Lebensunterhalt der Familien trotz aller Tendenzen zu einer Durchkapitalisierung der Gesellschaft noch zu größeren Teilen aus der Selbstversorgung gewonnen wird, auf Ablehnung. Es ist aber unübersehbar, dass die Veränderung der Familienstrukturen in Richtung auf offene Lebens- und Versorgungsgemeinschaften auch diese sozialen Schichten erreicht hat. Das geschah zunächst in der wenig erfreulichen Form einer Vernichtung der traditionellen Basis der Selbstversorgung durch Einführung billiger industrieller Produkte und Herstellung von Lohnabhängigkeit, was zunächst in den heutigen Industrieländern geschah, später aber in wachsendem Maße auch durch Export in die so genannten Entwicklungsländer. Männer und zunehmend auch Frauen zogen in die Städte, um dort Arbeit zu suchen. Ergebnis war die Zerstörung der traditionellen Familienstrukturen, die nicht zuletzt auf der in aller Regel von den Frauen getragenen Subsistenztätigkeit begründet waren.

Eine halbe Emanzipation könnte man diesen Vorgang nennen, der mehr und mehr Frauen in die industrielle Produktion zog, sie aber gleichzeitig der sozio-ökonomischen Basis beraubte, die ihnen ihr traditioneller Platz in der Familie gegeben hatte. Die jetzige Situation unterscheidet sich, wie gezeigt, diametral von der Ausgangslage jener halben Emanzipation: Inzwischen sind die Strukturen, Ressourcen und Kenntnisse der früheren Selbstversorgungswirtschaft weitgehend zerstört. Im Prozess der Neubewertung der Arbeit und einer Neuorganisation der Arbeitsteilung, der heute im globalen Maßstab stattfindet, wird die auf halbem Wege stecken gebliebene Emanzipation gewaltsam zurückgeführt, indem die Menschen – vor allem die Frauen – wieder in die Selbstversorgung gedrückt werden, ohne dass deren Basis wiederhergestellt wäre. Die Alternative dazu lautet: Die halbe Emanzipation muss sich zu einer ganzen entwickeln. Das würde nichts anderes bedeuten, als den Bereich der Selbstversorgung bewusst neu zu entwickeln, dies aber nicht auf Basis der ehemaligen Rollenverteilung, sondern ausgehend von jener Stellung der Frau, die sie durch die Industrialisierung erhalten hat.

Das ist keine Utopie, sondern harte Realität. Denn für jene Art von Arbeit, welche die Industrie und Wirtschaft heute zunehmend anbietet – Feinmechanik, Elektronik, Computertechnologie, chemische und biologische Produktion, Technologie der Kommunikation usw. – sind häufig so genannte weibliche Fähigkeiten gefordert, sodass es auch die Frauen sein können, die den Lohn in die Familie bringen. Statistische Angaben, wonach die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern sich in Deutschland auf über 50% gesteigert hat , und Modelle einer „doppelten Berufskarriere“ oder Formen von gemeinsamer Teilzeitarbeit bzw. „Job-Sharing“ an die Stelle der klassischen Arbeitsteilung von berufstätigem Mann und kinderbetreuender Frau treten , belegen diese Entwicklung. Im Zuge der weiteren Intensivierung industrieller Produktion und der Minimalisierung von Industrieprodukten wird diese Tendenz noch zunehmen. Dass „weibliche“ Fähigkeiten gefordert sind, heißt nicht unbedingt, dass allein Frauen diese Tätigkeiten ausführen müssen. Es bedeutet aber zum einen, dass sie es können und zum anderen, dass die Männer solche Fähigkeiten entwickeln müssen, wenn sie auf gleichem beruflichem Niveau wie bisher bleiben wollen.

Für die Familie – in welcher Form auch immer – bedeutet die heutige Situation, dass erstens nicht mehr alle arbeitsfähigen Familienmitglieder auch Lohnempfänger sind, dass zweitens im Zweifelsfall nicht unbedingt die Männer der Familie die Ernährer sind, und dass drittens innerhalb der Familie in gemeinsamer Beratung entschieden werden muss und auch entschieden werden kann, wer am effektivsten den Part der Lohnarbeit übernimmt, wer sich um die Eigenversorgung kümmert, wie lange diese interne Regelung erhalten bleibt, ob man sich ablöst, wechseln kann. Sie führt zur Frage, in welchem Verhältnis und in welchen Rhythmen Lohnarbeit und Arbeit für die Eigenversorgung bzw. für die soziale und kulturelle Gestaltung in der jeweils gegebenen Lebensgemeinschaft aufgeteilt werden.

Historisch gesehen bedeutet das, dass die am Privateigentum organisierte patriarchale Familie, in welcher der Mann als Eigentümer oder Lohnempfänger das Haupt der Familie war, in eine gemeineigentümlich organisierte übergehen wird. In ihr haben Männer keine Vorrechte auf Grund der bestehenden Eigentums- bzw. Einkommensverhältnisse, sondern müssen sich mit den Frauen je nach ihren Lebensumständen absprechen. Eine solche Gemeinschaft sprengt zwangsläufig auch den Rahmen der heute üblichen Kleinfamilie. Sie organisiert sich vielmehr als selbst gewählte Versorgungsgemeinschaft. Man könnte sie auch als Wahlfamilie bezeichnen.

In Russland, wo die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen heute so radikal in Frage gestellt werden, dass kein Stein auf dem anderen bleibt, und wo sich die Familie in nur einem Jahrhundert von der traditionellen Großfamilie über die radikale Emanzipation der „freien Liebe“ zur Dogmatisierung der Kleinfamilie als Zelle des Staates bis zur Wiedergeburt der Großfamilie in Gestalt der jetzigen Not- und Versorgungsgemeinschaften entwickelte, lässt sich der Wandel, dem die Familie heute weltweit unterworfen ist, besonders gut beobachten. Denn auch dieser Wandel vollzieht sich dort in extremen Formen und sozusagen im Schnellkurs.

Russlands Sonderrolle beendet?

Man könnte meinen, mit dem Ende der Sowjetunion sei die Sonderrolle Russlands ausgespielt und alles könne nun seinen „kapitalistischen Weg“ gehen, auf dem auch Russland sich einfinden werde, „wie alle zivilisierten Staaten“. Der Einwand liegt nahe, ist üblich und verständlich, nur hält er der geschichtlichen Dialektik nicht stand: Zweifellos wird Russland selbst wohl noch lange mit einer Dynamik der Individualisierung konfrontiert sein, denn trotz der heute dort entstehenden Mischformen ist die während der letzten siebzig Jahre mit Gewalt erzwungene Verstaatlichung und die damit einhergehende Diskreditierung der kollektiven Traditionen nicht einfach abzuschütteln. Ebenso zweifellos aber bringen die westlichen Gesellschaften durch ihre schon seit langem fortschreitende ökonomische Atomisierung und soziale Anonymisierung eine aktuelle wirtschaftliche Notwendigkeit und ein tiefes kulturelles wie mentales Bedürfnis nach Zusammenschluss, nach gegenseitiger Hilfe der aus dem Produktionsprozess Ausgestoßenen, das heißt nach Wiederanschluss an einen gemeinschaftlichen Prozess der Herstellung der Lebensgrundlagen hervor. Der globale Privatisierungsschub, der dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie dem Zerfall der westlichen linken und im weiteren Sinne sozialdemokratischen Bewegungen folgte, verstärkt diese Tendenz. Gleichzeitig entfiel der immerhin über mehrere Generationen bestehende Zwang zur Abgrenzung vom sowjetischen Modell. Dies alles führte in den letzten Jahren in ehemals dem globalen „Westen“ zugeordneten Gesellschaften zu einem Boom von Gemeinschaftsbildungen der vielfältigsten Art. Diese Entwicklung hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht.

Auch die Gegenbewegungen in Russland selbst sind sehr komplexer Natur: Während von Staats wegen ein Privatisierungskurs gefahren wird, äußert sich in der sozio-ökonomischen Substanz von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eine an die kollektiven Traditionen gebundene Resistenz gegen dessen praktische Konsequenzen, die faktisch zu einer Stabilisierung gemeinwirtschaftlicher Strukturen führt. Ganz abgesehen davon, dass das russische Budget heute zu 60% aus den Einnahmen der endlichen Rohstoffe Gas und Öl resultiert und die Ernährung der Bevölkerung, wie schon erwähnt, zu ebenfalls 60% auf der regenerativen familiären Zusatzwirtschaft basiert. Diese Tatsachen lassen erkennen, wohin Russland sich – ungeachtet des ideologischen Drangs nach westlichen Formen der Modernisierung – auf Dauer bewegt.

Zweifellos ist dieser zeitliche Übergangsbereich nicht auf den geografischen Raum der ehemaligen Sowjetunion beschränkt und sicherlich vollzieht sich dieser Prozess nicht geradlinig. Keineswegs sind alle sozio-ökonomischen Zwischenformen, die wir in Russland oder anderswo heute entstehen sehen, gleich auch gelungene Zukunftsentwürfe. Es wird viele Experimente und manche Irrwege geben, die lediglich Altes wieder aufwärmen und über kurz oder lang verworfen werden. Man muss schon sehr genau hinschauen, um zukunftsfähige Gemeinschafts-Ansätze von vorübergehenden Gelegenheitszusammenschlüssen, bloßen Ellbogen-Vereinigungen oder gar rechten Pressure-Groups unterscheiden zu können.

Der Spielraum der Versorgungsgemeinschaft

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, lautet die Essenz in Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Ich denke, Emanzipation von der Lohnarbeitsgesellschaft ist da erreicht, wo dieser Satz ohne Diskriminierung ausgesprochen und auch gelebt werden darf. Den Raum dafür muss die Versorgungsgemeinschaft schaffen.

Letztlich ist die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft als Chance zu begreifen, endlich zu einem Zusammenleben zu gelangen, wie nicht nur Schiller es sich erträumt hat. Ansätze, Möglichkeiten und lebendige Beispiele gibt es allerorten. Dies ist mit der Aufforderung gemeint, aus der Not eine Tugend zu machen. Heute geht es nicht mehr darum, neue Utopien zu formulieren, sondern zu konkretisieren, was lange schon als notwendig erkannt ist, und die vielen Ansätze, die es zu dessen Verwirklichung bereits gibt, ins öffentliche Bewusstsein zu heben. Um auch jene aufzurütteln, die den Ernst der Lage noch nicht verstanden haben und denen Mut zu machen, die glauben, sie könnten nichts ändern, weil sie allein stünden. Dieser Weg ist – wie Elmar Altvater richtig formuliert hat – kein „Sturm auf den Winterpalast“ , er ist vielmehr ein lang andauernder Prozess der kulturellen Umbewertung und Umwälzung. Dazu gibt es aber keine Alternative. Der Gewinn liegt in einer unmittelbaren Erhöhung der Lebensqualität, jedenfalls sofern man darunter etwas anderes versteht, als einen sich selbst auf immer höherer Stufenleiter reproduzierenden Konsum, nämlich Freude am eigenen Leben und an der Lebensfreude anderer.

Erscheint als Buch
Herausgegeben von Attac Österreich im Herbst 2005

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Zurück zum Sozialismus? Nein, vorwärts zum sozialen Staat

Die Wahl zum deutschen Bundestag 2005 hat eine historische Zäsur sichtbar werden lassen, die sich lange vorbereitet hatte. Dem entfesselten Kapitalismus, der sich seit der Auflösung der Sowjetunion im Namen der Globalisierung natürliche und menschliche Ressourcen in brutalster Weise unterwirft, ist in Deutschland ein Stoppschild entgegengestellt worden, das seine Vertreter nicht ohne Folgen überfahren können. Das gilt für die Vertreter des Kapitals selbst, für unser Land, für die EU und über sie hinaus.

Die Entstehung einer linken Opposition jenseits der SPD ist nicht der erste und nicht der einzige Versuch, der Brutalität des von den Fesseln seines sowjetischen Gegners befreiten Kapitalismus entgegenzuwirken, aber der für uns sichtbarste. Vorher gab es stille Widerstände in den Ländern der Sowjetunion selbst, deren Bevölkerung sich zu großen Teilen der einfachen Übernahme des westlichen Systems verweigerte und dies auch weiterhin tut; es gab den Widerstand der islamischen Welt, die sich gegen die westliche Technokratie wehrt bis hin zu deren terroristischen Ausläufern, die zum Kreuzzug gegen den Westen aufrufen, es gab die französische Abstimmung gegen die EU-Verfassung, der sich gegen eine imperiale Ausrichtung der EU richtete; in Deutschland gab es Bewegungen gegen den Rückwärtsgang in der AKW-Frage, gegen Privatisierungen von Kommunal-Eigentum, gegen Sozialabbau, aber es blieben isolierte Bewegungen, die immer noch als ständische Interessengruppen (Gewerkschaften, Greenpeace, Attac, Verbraucherproteste etc.), als Randgruppen mit Partikularinteressen oder wie die PDS als Stimme frustrierter Verlierer abgetan werden konnten. Jetzt sind die Rinnsale dieser Kritik, die bisher einzeln flossen, erstmals seit dem Ende der Sowjetunion zu einem oppositionellen Fluss zusammengekommen, der nicht mehr übersehen werden kann.

Das bürgerliche Lager ist nicht willens, die neue Opposition zu akzeptieren, sondern grenzt sie aus, während man selber nach neuen Koalitionen sucht, mit denen die linke Opposition aus dem politischen Spiel gehalten werden kann. Unterm Strich bedeutet das, dass die Rechtsentwicklung, die unter der Decke sozialdemokratischer Politik in den letzten Jahren stattfand, ebenso wie die dagegen gewachsene Opposition nunmehr offen zutage tritt. Was ist der Kern der Entwicklung?

1. Der nach-kommunistische, nach-sowjetische Konsens des vereinigten Deutschland ist geplatzt, die verdrängte soziale Frage, einschließlich ihrer definierten sozialistischen Perspektive kehrt auf neuem Niveau in die Gesellschaft und in die Politik zurück.
2. Die Nicht-Beachtung der sozialen Frage wie auch genereller sozialistischer Perspektiven verwandelt sich in dem Moment in Ausgrenzung, in dem die linke Opposition auf Augenhöhe auftaucht und Gleichbehandlung verlangt, das heißt, sie führt über die Aufkündigung des anti-sozialistischen Tabus hinaus zu einem Bruch des demokratischen Konsenses der BRD.
3. Die Ausgrenzung bedient sich des einfachen Tricks, die neue Opposition als Ewiggestrige zu diffamieren, die zum „Sozialismus“, gemeint, dem autoritären Sozialstaat sowjetischer Prägung zurückkehren wollen. Sie bedient sich dabei der Tatsache, dass große Teile der linken Opposition, besonders ihre gewerkschaftlichen Kräfte, nicht nur zur Verteidigung des Sozialstaates klassischer Prägung, also des paternalistischen Fürsorgestaates aufrufen, sondern mit ihrem Einsatz für staatliche Grundversorgung, Bürgergeld usw. dessen weiteren Ausbau fordern, bevor sie das klassische sozialdemokratische Verständnis vom Sozialstaat einer erkennbaren Kritik unterzogen zu haben.
4. In dem Bemühen um Ausgrenzung der neu entstandenen linken Opposition sind sich alle bürgerlichen Kräfte – von der CSU über die CDU, die SPD, bis zur FDP und den GRÜNEN – ohne Abstriche einig und es spielt nur eine untergeordnete Rolle, in welcher Koalition sie sich zusammenfinden werden – sie wird sich immer gegen die linke Opposition richten.
5. Eine schnelle Integration der neuen linken Opposition in die SPD oder in irgendeine wie auch immer geartete Koalition ist nicht zu erwarten; ihre Entstehung ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines Gärungsprozesses, der schon vor dem Ende der Sowjetunion einsetze, mit deren Ende beschleunigt wurde und seitdem mit zunehmender Dringlichkeit seinen Ausdruck suchte.

Wenn die linke Opposition sich jetzt allerdings in ihrer Argumentation auf die Verteidigung und den weiteren Ausbau des Sozialstaates beschränkt, ohne sich von dem Modell des autoritären Sozialstaats Bismarckscher Prägung abgesetzt und ein neues Verständnis eines sozial agierenden Staates öffentlich entwickelt zu haben, sich wenigstens erkennbar um dessen Entwicklung zu bemühen, kann die Ausgrenzung der linken Kritiker als Ewiggestrige bei der Mehrheit der Bevölkerung verfangen. Bei den einen wird die Forderung nach der Verteidigung des Sozialstaates alte Erwartungshaltungen der staatlichen Fürsorgementalität bedienen, denen der nationale Staat aber angesichts seiner neuen Rolle in einem globalisierenden Kapital nicht mehr nachkommen kann, auf der anderen Seite wird er den bürgerlichen Gegnern eben dadurch doppelte Munition der Art liefern, dass die „Ewiggestrigen“ mit ihrer „Rückorientierung auf Rezepte von Gestern“ und „nicht einhaltbaren Versprechungen“ den Fortschritt aufhielten. Die Linke, besser gesagt, die Kritiker und Kritikerinnen der neo-liberalen Expansions- und Wachstumspolitik und der daraus folgenden sozialen Missstände, haben dann eine Zukunft, wenn sie den Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit auffangen und in der Kritik am autoritären Modell des Sozialstaates stattdessen ein neues Staatsverständnis entwickeln, das den Übergang aus der Lohnarbeitsgesellschaft in neue soziale Strukturen und damit die Entwicklung von Lebensperspektiven zulässt, die über die kriselnde Industriegesellschaft hinausführen.

Im Zentrum dieser Orientierung steht eine neue Rolle von Staat und Familie für die Organisation der Versorgung und des Zusammenlebens der Menschen. Statt individuell dem Diktat der Lohnarbeit ausgesetzt zu sein, sei es auf der Seite des Überausgebeuteten, sei es auf der Seite dessen, der keine Lohnarbeit findet, wird es in Zukunft den kollektiven Lohnarbeiter geben, der innerhalb seiner sozialen Struktur Lohnarbeit und neue Formen der Selbstversorgung auszugleichen imstande ist. Der kollektive Lohnarbeiter führt notwendigerweise zu einer neuen Form der Familie, in der sowohl die traditionelle Großfamilie als auch die heute übliche Kleinfamilie wie ebenso die Single-Bewegung in einer neuen selbstgewählten Gemeinschaftsform aufgehoben werden, deren Zusammenhalt nicht mehr allein von Blutsbanden hergeleitet ist wie die traditionelle Familie, die aber auch nicht von partiellen ökonomischen Interessen bestimmt ist wie eine GmbH oder sonstige heute übliche ökonomische Organisationsformen, sondern die sich um die existenzielle Grundversorgung des selbstgewählten Kollektivs herum bildet, das auf diese Weise geburtsbestimmte und selbstgewählte Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbindet.

Historische Ansätze zu solchen sozialen Strukturen, praktisch wie denkerisch, hat es immer wieder gegeben: das sind zum einen die klassischen Formen der russischen Bauerngemeinschaft, der Òbschtschina, in der Sowjetzeit übergegangen in Sowchose und Kolchose, in denen sich durch die Jahrhunderte eine andere Gemeinschaftsform entwickelt hat als im Westen. Das sind nomadische Weidegemeinschaften, die seit Jahrtausenden als Wahlkollektive auf verwandtschaftlicher Basis gebildet wurden und immer noch werden, das sind aktuelle diverse Lebens-Gemeinschaften, die sich unter dem Druck der Verhältnisse in Deutschland, in Europa, ja weltweit in den letzten Jahren gebildet haben und sich weiter bilden. In ihnen hat sich die neue Zeit bereits real angekündigt.

Nicht zurück zum Sozialismus also, sondern vorwärts zu einer Überwindung des entfesselten Kapitalismus, den man angesichts seiner krisenhaften Entwicklung, der erkennbaren Lohnarbeits- und Versorgungskrise vielleicht sogar besser einen gefesselten Kapitalismus nennen sollte, lautet der Ruf, unter den die Entwicklung von Alternativen heute gestellt werden muss, vorwärts zu neuen Formen des menschlichen Zusammenlebens und der Beziehung der Menschen zur Natur. Dazu gehört auch, den Ruf „Zurück zur Natur“ durch die Aufforderung zu ersetzen, auf heutigem technischen, wissenschaftlichem und ethischem Niveau aufs Neue voran zur Natur zu gehen.

Die Zukunft liegt in einer Überwindung des autoritären Fürsorgestaates Bismarckscher- wie auch sowjetischer Prägung, in der Entwicklung von individueller Eigenverantwortung in der selbstgewählten Gemeinschaft; eine Entstaatlichung ist also zu fordern – aber dies nicht in dem Sinne, dass der Staat, wie er jetzt ist, sich aus der sozialen Verantwortung zieht, sondern indem der Staat zur gezielten Förderung von kollektiven Versorgungsstrukturen veranlasst wird, in deren Rahmen die Menschen Lohnarbeit und Selbstversorgung, die durch die Folgen der Lohnarbeitskrise heute wieder neu gemischt werden, miteinander ausgleichen können.

Wenn der Staat diese Aufgabe übernimmt, wächst er in die Funktion hinein, die er in Zukunft haben sollte, nämlich den Rechts-Verkehr zwischen den Versorgungsgemeinschaften zu regeln, während Wirtschaft und geistiges Leben davon unabhängige Organisationsformen finden, so dass dieser den Verkehr regelnde Staat, eine unabhängige Wirtschaft und ein ebenso unabhängiges geistiges Leben sich gegenseitig kontrollieren; die soziale Grundeinheit, auf deren Basis das geschieht, wird die genannte Versorgungsgemeinschaft sein. Ansätze für eine solche Entwicklung sind heute erkennbar, nicht zuletzt in den Ländern, die nach dem Ende des Sowjet-Sozialismus nicht einfach zum Kapitalismus übergehen konnten wie Russland. Aber auch Deutschland trägt das sozialistische Erbe, insonderheit nach der deutsch-deutschen Vereinigung, in einer Weise in sich, die ihm die Chancen gibt, Avantgarde eines Impulses für eine neue soziale Ordnung zu werden. Der Weg dahin muss Schritt für Schritt gefunden werden. Gewaltenteilung, das sei klar gesagt, muss es auch bei dieser Reise geben, aber sie muss nicht innerhalb des Staates verbleiben, sondern die staatliche Organisation muss selbst ein Teil davon sein, so wie Körper, Geist und Seele sich gegenseitig ergänzen und kontrollieren. Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution folgt dem gleichen Gedanken. Es ist Zeit ihn zu verwirklichen.

 

 

Kai Ehlers
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Russland-Politik der EU: Vorne lächeln, hinten zündeln.

Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes wurde allenthalben Frieden und Partnerschaft beschworen. US-Präsident Bush, ebenso wie Gerhard Schröder eilten zur Siegesfreier nach Moskau. Die Siegesparade auf dem roten Platz stand demonstrativ unter dem Zeichen der Versöhnung. Der russische Präsident Putin durfte vom Roten Platz aus unwidersprochen der Opfer gedenken, die die sowjetische Bevölkerung für die Befreiung Europas vom Faschismus brachte und die Verdienste hervorheben, welche die Sowjetunion an der Niederschlagung des Faschismus hatte. Es war eine erhebende Feier, die nur den kleinen Schönheitsfehler hatte, dass die Moskau Bevölkerung dafür die Innenstadt räumen musste.

Auf dem anschließenden EU-Russland-Gipfel in Moskau setzte sich diese Linie fort: langfristige Zusammenarbeit, sogar gemeinsame Konfliktlösungen im Kaukasus wurden verkündet. Deutsche Medien wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ konstatierten die „einfache Erkenntnis“, dass man einander brauche. Besonders deutlich zeige sich die gegenseitige Abhängigkeit in der Energiefrage: Russland besitze große Energiereserven an Öl und Gas, ohne die die Energieversorgung der EU langfristig nicht gesichert werden könne. Andererseits sei Russlands Aufschwung in den letzten Jahren fast ausschließlich von dem Rohstoffexport nach Europa getragen worden. In den Wochen zuvor hatte Russlands Präsident schon erklärt, er wolle die Zusammenarbeit Russlands mit der NATO verstärken, sogar die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, also den Zusammenschluss von zentralasiatischen GUS-Staaten und Russland in Verbindung mit dem NATO-Rusland-Rat bringen.

Bei so viel Einigkeit könnte man die kleinen Unstimmigkeiten, die diese Demonstrationen des guten Willens begleiteten, fast übersehen, wenn – ja, wenn sie nicht so penetrant hervorstechen würden wie der Besuch George W. Bushs in Lettland, wo er einen Tag vor seiner Teilnahme an der Moskauer Siegesfeier betonte, dass Amerika niemals die „Besetzung und kommunistische Unterdrückung“ der Balten vergessen werde. Er hob Litauen, Estland und Lettland als Symbole dafür hervor, dass die Liebe zur Freiheit stärker sei als der Wille eines Imperiums und ließ es sich schließlich nicht nehmen zu prophezeien, dass auch Russland von der Verbreitung demokratischer Werte profitieren werde.

Provokativer konnte die Antwort auf Putins wenige Tage zuvor bei seiner Rede an die Nation getroffene Feststellung, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sei, nicht ausfallen.

Nicht weniger penetrant war der Auftritt der frisch gekürten US-Außenministerin Condoleeza Rice, die im Vorfeld des Bush-Besuches in Vilnius die Weißrussische Bevölkerung dazu aufrief, bei der nächsten Wahl im kommenden Jahr gegen Lukaschenko aufzubegehren. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Azerbeidschan, Georgien und der Ukraine ist das ein unverhüllter Aufruf zum Umsturz in Weißrussland selbst und zur Fortsetzung der gegen Moskaus Einfluss gerichteten sog. demokratischen Revolutionen vor den Grenzen Russlands.

Das bemerkenswerteste Ereignis in dieser Reihe allerdings war ein Gipfel-Treffen der sog. GUAM-Staaten im moldauischen Chisinau nur wenige Tage vor den großen Einigkeitsfeiern. Auf diesem Treffen beschlossen die Anwesenden, dieses bisher eher unbedeutende Spaltprodukt der G.U.S. zu einem Instrument aufzuwerten, das in Zukunft die Interessen seiner Mitglieder gegenüber Moskau stärker zur Geltung bringen solle. Bei ihrer Gründung 1996/7 gehörten der GUAM die Staaten Georgien, Ukraine, Azerbeidschan und Moldawien an, 1999 kann nominell noch Usbekistan dazu. Seinen Namen erhielt das Bündnis von den Anfangsbuchstaben dieser Staaten. Die GUAM beschränkte sich faktisch auf die Bildung eines Transportkorridors für Azerbeidschanisches Öl und auf die Beteiligung am Geschäft mit diesem Öl. Jetzt wurde die Zurückkämpfung des „von Russland unterstützten Separatismus“ zum gemeinsamen Ziel erklärt.

Von Seiten Juschtschenkos, des neuen ukrainischen Präsidenten, besteht seit seiner Wahl sogar das Angebot, die russischen Friedenstruppen in den georgischen Krisengebieten Abchasien und Südossetien durch ukrainische zu ersetzen. Offensichtlich strebt die Ukraine eine Ordnungsfunktion in dem Gebiet an, mit der sie Russland ersetzen will. Die Abchasen und Süd-Osseten, die Russland als Schutzmacht für ihre Autonomie begreifen, protestierten umgehend.

Zur Stabilisierung des Kaukasus trägt ein solches Angebot der Ukraine mit Sicherheit nicht bei; im Gegenteil, es ermutigt Versuche der georgischen Regierung, die Konflikte um die autonomen Gebiete Süd-Ossetien und Abchasien aggressiv anzugehen. Beredt ist in diesem Zusammenhang eine der Öffentlichkeit weitgehend verborgen gebliebene Initiative des Europarates in Strassburg, der sich Anfang Februar dieses Jahres veranlasst sah, die Machtfülle des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili zu kritisieren. Der Rat bemängelte die fehlende Unabhängigkeit der Justiz, prangerte die nicht funktionierende Gewaltenteilung an und wies auf eine praktisch nicht vorhandene Opposition hin. Das Straßburger Abgeordnetenhaus forderte von Tiflis die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer in den Regionen, gemeint sind vor allem Südossetien und Abchasien, und ermahnte die georgische Regierung, bei der Lösung der Konflikte nicht auf Gewalt, sondern auf friedliche Lösungen zu setzen. Aus diesem Grunde wurde das „Überwachungsverfahren“ gegenüber Georgien erst einmal bis zum Herbst 2005 verlängert – wobei hier nicht untersucht werden soll, auf welcher Basis und mit welchem Recht der Straßburger Europarat ein „Überwachungsverfahren“ gegenüber Georgien unterhält. Es ist aber sicher eine gesonderte Untersuchung wert.

Man könnte diese Vorstöße der Ukraine, Georgiens wie auch die Wiederbelebung der GUAM insgesamt getrost als Ereignisse am Rande vorbei ziehen lassen, wenn nicht auf dem GUAM-Gipfel erstmalig auch interessante ausländische Gäste vertreten gewesen und darüber hinaus direkte Signale in Richtung Weißrusslands ausgesandt worden wären. Besonders erwähnenswert sind unter den Anwesenden über den rumänischen Staatspräsidenten Basesku hinaus vor allem der litauische Staatspräsident Adamkus, der OSZE-Generaldirektor Kubis und – last not least – eine namentlich nicht genannte Regierungsdelegation aus Washington. Aus Chisinau kam zudem der Vorschlag, das Bündnis umzubenennen und offen zu halten für weitere Mitglieder. Von dem georgischen Präsidenten Saakaschwili wird in diesem Zusammenhang der Satz zitiert: „Wir haben unsere Feinde in Georgien, der Ukraine und Kirgistan besiegt. Und wir haben doch ein Land auf unserer Liste.“ Es bedarf keiner weiteren Interpretation, dass mit diesem Hinweis Weißrussland gemeint ist und wie man sich die möglichen Interventionen vorzustellen hat.

Man habe sich bemüht, hieß es aus Chisinau, nicht anti-russisch zu erscheinen. Nichts desto weniger wird das neue Selbstverständnis der GUAM mit den unmissverständlichen Worten beschrieben, es bilde sich ein Gegenlager zu der auf einem Status-quo- mit Russland dahindümpelnden G.U.S. unter der Führung Georgiens, der Ukraine und Moldawiens heraus. Die neue GUAM werde, so der georgische Präsident Saakaschwili, „zu einer Organisation demokratischer Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetuinion.“

Mit diesem Gipfel, durchgeführt unter Beteiligung von US-Offiziellen, schließt sich der Kreis zum baltischen Auftritt von Condoleeza Rice und US-Präsident George W. Bush: Entgegen allem anderen Anschein ist US-Politik nach wie vor auf die Einkreisung und Eindämmung Russlands gerichtet, wie es in der Reihe der blumigen und farbigen „Revolutionen“ von Aszerbeidschan über Georgien, die Ukraine bis hin zu dem etwas verunglückten Einsatz „westlicher Beobachter“ in Kirgisien angelegt ist. Mit der Rede, die er gleich nach den Feierlichkeiten des 9. Mai in Tiflis hielt, bekräftigte George W. Bush diesen Willen der USA ein weiteres Mal. Die nächsten Züge in diesem Spiel, gedeckt durch die Unterstützung aus den GUAM-Staaten. sind auf Moldawien, Weißrussland und Kaliningrad gerichtet, Die Strategie dieses Spieles, von Vordenkern wie Brzezinksi ausformuliert, in der Russland nach wie vor als Gegner verstanden wird, der klein gehalten werden müsse, soll hier nicht noch einmal ausgeführt werden. Sie sind inzwischen hinreichend bekannt. Zu bemerken ist nur, dass die Bush-Regierung sich mit Condoleeza Rice ein neues Gesicht für die nächste Spielrunde zugelegt hat, lächelnd, auf Unterlaufen der Kritik an der US-Politik angelegt, im Kern jedoch nicht weniger aggressiv. Es bleibt abzuwarten, ob irgendjemand sich davon täuschen lässt.

Aber wie erklärt sich die Beteiligung des OSZE-Generaldirektors Kubis an diesem Treffen? Wie verträgt sich seine Teilnahme an dem Unternehmen in Chisinau mit dem erklärten und soeben noch einmal bekräftigten Willen der EU zur strategischen Partnerschaft mit Russland? Könnte es sein, dass die EU über keine einheitliche Strategie gegenüber Russland, bzw. gegenüber den Staaten des ehemaligen sowjetischen Raumes verfügt?

Aus aktuellen Verlautbarungen der EU ist dazu keine Aufklärung zu gewinnen. Das zwingt den Blick auf Grundsatzstudien zur EU-Strategie: Dem sog. „Greenpaper zur Versorgungssicherheit der EU“ von 2002 ist zu entnehmen, dass die EU ein Groß-Europa unter strategischem Einschluss von Russland anstrebt. Einzelne Stimmen im EU-Konzert wie der tschechische Präsident Vaclaf Klaus beziehen sogar Kasachstan mit ein. Diese Strategie, wenn sie denn verwirklicht werden soll, beinhaltet eine Opposition gegenüber den US-Bestrebungen, russisches Öl und russisches Gas aus dem sibirisch-zentral-asiatischen und kaukasischen Raum aus Russland abzuziehen, genauer, Russlands Verfügungsgewalt zu entziehen und sich auf dem Weg über die Türkei direkt zuzuführen.

Die von Gerhard Schröder und Wladimir Putin gerade jetzt so demonstrativ vorgetragene deutsch-russische Freundschaft, ebenso wie der soeben in Moskau durchgeführte EU-Russland-Gipfel liegen auf dieser Linie „gemeinsamer Interessen“. Sie beinhalten eine Stabilisierung Russlands als integrierender Faktor des euroasiatischen Raumes und unersetzbarer Energie-Lieferant, ja, mehr noch, als Retter Europas aus absehbarer zukünftiger Energieknappheit. Das europäische Öl-Gas-Konsortium INOGATE (die Abkürzung steht für: Interstate Oil and Gas Transport to Europa) gibt in ihren im März 2004 vorgelegten umfangreichen strategischen Studien dieser Orientierung der EU-Aussenpolitik den Vorzug vor einer anderen, die in derselben Studie die „imperiale Variante“ genannt wird, erklärt aber zugleich, dass sie sich unter dem Druck sehe, dieser von den USA ausgehenden „imperialen Variante“ folgen zu müssen, sofern die USA durch ihre militärische Interventionspolitik globale Prioritäten setzten.
Einen weiteren Hinweis auf die europäische Strategie gegenüber Russland, dem Kaukasus und Zentralasien liefern die technischen Entwicklungsprogramme der Europäischen Union, die unter dem Kürzel TACIS (Technical Assistance for the Commonwealth on Independent States) laufen. Besonders zu erwähnen ist hier das TRACECA-Programm (Transport Corridor Europe Caucasus Central Asia) dessen Hauptzweck darin besteht, einen Transport-Korridor für Ressourcen aller Art, vor allem aber für Öl und Gas von Europa nach Asien zu entwickeln, der die bisherigen auf Moskau zentrierten Transportwege Euroasiens durch Querverbindungen zwischen Osten und Westen unter dem sog. Bauch Russlands hindurch unterläuft. Neue Pipelines, Neue Bahnlinien, neue Ost-West-Trassen, neue Häfen am kaspischen und schwarzen Meer sollen die eingefahrenen Transportwege, die bisher über Moskau nach Europa führten, ersetzen. Mitglieder dieses TRACECA-Programms sind alle zentralasiatischen und kaukasischen Staaten, einschließlich der Türkei und Chinas.

Es liegt auf der Hand, dass Russland kein Mitglied ist – dies aber nicht nur aus eigenem Verzicht heraus, sondern auch deswegen, weil die Mitgliedsländer von TRACECA sich ausdrücklich gegen eine Mitgliedschaft Russlands ausgesprochen haben. Dass die Programme von TRACECA und INOGATE nicht zusammen passen, ist offensichtlich, wird von ihren Vertretern neuerdings auch öffentlich beklagt; sie fordern eine einheitliche Strategie der Europäischen Union in der Energiepolitik. Mit der Herstellung der neuen Nachbarschaftsverhältnisse zu den Staaten im Vorfeld Russlands als Folge der Erweiterung der Europäischen Union hat diese Auseinandersetzung eine neue Schärfe gewonnen. Der unscheinbare Gipfel in Chisinau ist ein Ausdruck davon.

Kai Ehlers

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Umsturz in Kirgisien: Keine Rosen, keine Tulpen..

Das Muster des Umsturzes in Kirgisien schien das Gleiche zu sein wie zuvor in Georgien und danach in der Ukraine: OSZE-Beobachter erklären einen ersten Wahldurchgang der Parlamentswahlen vom 27. Februar für nicht fair, einen zweiten kritisiert die EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner als Manipulation, die kirgisische Opposition sieht sich gestärkt.
Aber dann läuft alles ein bisschen anders als nach dem erprobten Schema: Keine wochenlangen Demonstrationen einer friedlichen Opposition, keine mit westlicher Unterstützung lange aufgebauten Führer, stattdessen Sturz des Präsidenten Akajew innerhalb eines Tages durch eine außer Kontrolle geratene plündernde Menge, keine pro oder contra Eingriffe vom Ausland, keine erkennbaren diplomatischen Spannungen zwischen den Hauptkontrahenten der Weltpolitik in diesem Raum, vielmehr beruhigende Worte von allen Seiten: Präsident Putin sichert der neuen Übergangsregierung seine Unterstützung zu, während er dem gestürzten Präsidenten Akajew gleichzeitig Asyl gewährt, die USA lässt durch ihre neue Außenministerin Rice erklären, man hoffe auf eine baldige Beruhigung der Lage, der gegenwärtige Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und slowenische Außenminister Dimitrij Rupel ruft die Konfliktparteien zur Mäßigung und zum Dialog auf. Der deutsche Außenminister zeigt sich „besorgt“. Nur zart erhebt sich dazwischen eine milde Zurechtweisung von Seiten des russischen Außenministeriums an die Adresse der OSZE, ihre Wahlbeobachter hätten zur Entstehung der Unruhen beigetragen.

Wieso wird dieses Mal nicht gezündelt wie vorher in Georgien oder in der Ukraine? Ist Kirgisien ein so unbedeutender Stein auf dem eurasischen Schachbrett? Es könnte so scheinen. Als eines der ärmsten Länder, zudem ohne bedeutende eigene Öl- oder Gasvorkommen ist Kirgisien zweifellos nur ein Bauer im eurasischen Spiel – in seiner Lage an der chinesischen Grenze und seiner Nachbarschaft zu Tadschikistan und Afghanistan und den übrigen zentral-asiatischen Staaten aber offenbar doch ein Bauer in strategischer Position. US-Vordenker Zbigniew Brzezinksi zählte Kirgisien zu den Ländern des „ethnischen Hexenkessels“ des von ihm so genannten „eurasischen Balkans“, deren innere Instabilität das „Verlangen ihrer mächtigeren und von Großmachtphantasien getriebenen Nachbarn“ wecke, „diese Situation auszuschlachten.“ Gemeint sind Russland und China.
Vor dem Hintergrund der Öl- und Gasressourcen des Gesamtraumes formulierte er das amerikanische Interesse so: „Die USA sind zwar weit weg, haben aber starkes Interesse an der Erhaltung eines geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Eurasien.“
Und noch klarer: „Amerikas primäres Interesse muss folglich sein, mit dafür zu sorgen, dass keine einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erlangt und dass die Weltgemeinschaft ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihr hat.“

Für Russland gehört der GUS-Raum zu seinen „außenpolitischen Prioritäten“. „Im GUS-Raum, erklärte Außenminister Lawrow „leben Millionen unserer Landsleute. Da sind unsere Lebensinteressen im Bereich der Wirtschaft, Verteidigung, Sicherheit konzentriert.“
Kirgisien war in diesem Raum bis zum heutigen Zeitpunkt Russlands uneingeschränkter Partner. Die russische Minderheit, die im Übrigen mehrheitlich die Regierung Akajews unterstützte, stellt in Kirgisien 12% der Bevölkerung. Russisch war von Akajew zur zweiten Amtsprache erhoben worden. Kirgisien ist in die zentralasiatische Bündnisstrategie Russlands neben Kasachstan am engsten eingebunden: Es ist Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, zu der außerdem Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien, Russland und Tadschikistan gehören; eine Zollunion dieser Länder ist geplant. Kirgisen ist Mitglied der Schanghaier Organisation für Kooperation, der neben Russland und China sämtliche mittelasiatischen Staaten angehören und es hat den Vertrag über kollektive Sicherheit unterschrieben, zu dem Armenien, Weißrussland, Kasachstan und Tadschikistan gehören.

Russland wie auch die USA unterhalten heute gleichermaßen Militärbasen in Kirgisien; 10% des nationalen Budgets Kirgisiens werden nach Schätzungen von Wirtschaftsbeobachtern durch Einnahmen aus dem Betrieb der russischen und amerikanischen Basen finanziert. Die Russen betreiben neben einer Luftwaffenbasis in Kant, ein Testgelände für Torpedos am Gebirgssee Issyk-Kul und eine Messstation, die weltweit Atomtests registriert. Für die USA ist der Militärstützpunkt Manas in Kirgisien neben ihren Basen in Usbekistan einer der wichtigsten Stützpunkte für ihre Einsätze in Afghanistan. Von Manas aus, wo inzwischen über 2.000 Soldaten stationiert sind, werden die Truppen in Afghanistan versorgt.
Für China wie für die EU ist Kirgisien wichtiger Teil des Transport-Korridors am Bauch Russlands, bestehend aus neuen Pipelines für Öl und Gas, neuen Trassen und Bahnanlagen, die den Westen und den Osten quer durch Zentralasien und den Kaukasus unter Umgehung Russlands verbinden sollen. Die zentralen strategischen Bemühungen der EU wie auch Chinas sind seit 1992/3 auf diese Projekte gerichtet, mit denen sie ihre jeweilige Energieversorgung sichern wollen.

Was auf diese Weise in Kirgisien entstand, kann man nicht anders als ein geopolitisches Patt bezeichnen. Wichtiger als eine „demokratische Revolution“ ist für die „global player“ unter solchen Umständen offensichtlich, die Stabilität des Raumes und das dort zur Zeit herrschende Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten und einen Dominoeffekt auf die übrigen zentralasiatischen autoritären Regime zu verhindern. Insbesondere geht es ihnen auch um die Unterbindung islamistischer Bewegungen. Von Förderung der Demokratie oder gar einer demokratischen Revolution ist jedenfalls nicht die Rede. Das war vor dem Sturz von Akajew so, als sich die „internationale Gemeinschaft“ mit Kritiken an dem autoritären Charakter des Akajew-Regimes zurückhielt und ihn zur Niederhaltung der islamistischen Hisb-ut-Tahir errmutigte; das wird auch jetzt vermutlich nicht anders sein.

Bleibt schließlich nur noch anzumerken, dass Kirgisien auch Mitglied des Antiterroristische Zentrum der GUS ist, das nach dem 11.9.2001 geschaffen wurde. In ihm laufen die Interessen aller Großmächte, die an dem eurasischen Spiel beteiligt sind, trotz aller Differenzen soweit zusammen, dass sie an Unruhen in diesem Gebiet der Welt zur Zeit nicht interessiert sind.

Kai Ehlers
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Ukraine nach der Wahl: Halbzeit an den kaukasischen Front

Die erste Schlacht ist geschlagen. Der westorientierte Kandidat Viktor Juschtschenko konnte die Nachwahl mit 52,02 % für sich entscheiden; sein Konkurrent Viktor Janukowitsch blieb mit 44,16 Stimmen zurück. Ein Plus für beide und für die politische Kultur im Lande: die Wahl fand ohne bemerkenswerte Zwischenfälle statt Nach kurzem Zögern erkannte auch Janukowitsch das Ergebnis faktisch an, indem er von seinem bisherigen Amt als Regierungschef zurücktrat und damit den Weg für eine Regierungsneubildung durch Janutschenko freigab. Alle weiteren möglichen Versuche nachzukarten – wie etwa eine Revision der vor der Wahl zwischen den Parteien vereinbarten Verfassungsreformen – sind bereits Vorgriffe auf den zukünftig zu erwartenden innenpolitischen Kleinkrieg um die Frage, welchen weg die Ukraine nunmehr zwischen Russland, der Europäischen Union und ihrem großen Bruder USA einschlagen wird. Dabei ist schon nicht mehr klar, in welcher Fragmentierung der ukrainischen Gesellschaft und in welcher taktischen Konstellation der beteiligten aussenpolitischen Mächte sich dieser Krieg abspielen wird.
Der Sieger Juschtschenko hat in einem Spiegel-Gespräch gleich nach der Wahl erklärt; Russland bleibe strategischer Partner der Ukraine, einzige Bedingung sei, „dass Putin unseren Weg der Ukraine in die EU nicht blockiert“. Das heißt: Der Spagat zwischen Russland und der Europäischen Union wird zum Programm.. Eine „Regierung des nationalen Vertrauens“ soll den Spagat möglich machen und zwar auf der Grundlage, so Juschtschenko, „die wir mit unseren Partnern vereinbart haben“. Welche Vereinbarungen das sind, lässt er offen.
Sehr Vertrauen erweckend klingt das nicht, wenn die beabsichtigte Revision der vereinbarten Verfassungsreform schon jetzt die „moralische Zustimmung“ des neue gewählten Präsidenten findet. Einiges wird dennoch schon jetzt sichtbar: So erklärt Juschtschenko, dass er „keine Rückkehr zur Zeit der Privatisierung“ wolle, um gleich darauf zu präzisieren, von Renationalisierung halte er nichts. Er wolle Stabilität und klare Rechtsverhältnisse; die Unternehmer müssten vor ungerechtfertigten Verfolgungen geschützt werden, Verfolgungen des früheren Präsidenten und seiner Familie werde es nicht geben; andererseits müsse ab dem 26. Dezember 2004 jeder in der Ukraine Steuern bezahlen; die Schattenwirtschaft müsse beendet werden. Dies alles liest sich – verwunderlich aber wahr – wie die verspätete regionale Variante der Verlautbarungen, mit denen Wladimir Putin Anfang 2001 seinen Vorgänger Boris Jelzin ablöste: Keine Verfolgung der Jelzinschen Familie, Stabilität, Rechtssicherheit, Steuergerechtigkeit, kurz, Absicherung der durch die Schock-Privatisierung erreichten Eigentumsverhältnisse ungeachtet der Wege, auf denen sie zustande kamen. Der besondere Ukrainische Weg Juschtschenkos reduziert sich darauf, die Absicherung des Erreichten, die Stabilität und die Reintegration nicht wie Putin zwischen Asien und Europa, sondern zwischen Russland und der Europäischen Union erreichen zu wollen. Eine Entscheidung für die eine oder andere Option ist das nicht! Das strategische Tauziehen wird also weitergehen. Nach wie vor offen ist die Position der Ukraine zwischen den Wirtschaftsräumen der von der russischen Politik gewünschten „slawischen Union“ aus Russland, Weissrussland und der Ukraine, bzw. deren aktueller Form der Wirtschaftsgemeinschaft von Russland, Kasachstan, der Ukraine und Weissrussland und auf der der anderen Seite der Europäischen Union. Das betrifft insbesondere die schwer-industriellen Industrie- und Rüstungskomplexe im Osten der Ukraine, die engstens mit Russland verflochten sind. Konfliktträchtig ist zudem die Rolle der Ukraine als Durchgangsraum für den Energietransfer aus dem kaspischen Raum nach Europa – bzw. in die USA, die bisher mit Russland verbunden sind. In der strategischen Auseinandersetzung um die Kontrolle des kaspischen und von dort ausgehend des gesamten euroasiatischen Raumes nimmt die Ukraine eine zentrale Stellung im Ringen der Großmächte ein. „Ohne die Ukraine“, an diesen Ausspruch des US-Strategen Brzezinski, daran sei hier nur noch einmal erinnert, „ist Russland kein Imperium mehr.“
Vor diesem Hintergrund kommt der Einrichtung eines „Dialogforums“ zwischen Russland und Deutschland zur Lösung des tschetschenischen Konfliktes und zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Kaukasus, wie sie zwischen Wladimir Putin und Gerhard Schröder bei ihrem letzten Treffen in Hamburg zum Ende des alten Jahres vereinbart wurde, die Funktion zu, die nächste Etappe des strategischen Ringens zu eröffnen. Man darf gespannt sein, wie die USA auf den Versuch Russlands, seine Isolierung durch eine besondere Annäherung an Deutschland und über Deutschland an die EU zu durchbrechen, reagieren werden. Eine Antwort wird nicht lange auf sich warten lasen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Jukos-Versteigerung – wem gehört Russland und wer benutzt Chodorkowski?

Am Wochenende wurde der russische Öl-Konzern Yukos zwangsversteigert, genauer sein ertragreichster Teil Yuganskneftgas. Er wurde für ca. sieben Milliarden Euro von einer bisher unbekannten Baikal Finance Group übernommen.
Große Bewegungen sind diesem Ereignis vorhergegangen: Die russische Regierung erklärte, so die Steuerschulden des Konzerns eintreiben zu müssen. US-Gerichte dagegen hatten die Versteigerung auf Antrag von US-amerikanischen Jukos-Eignern mit einem Verbot belegt, das sie mit „Gläubigerschutz“ und „Rechtssicherheit“ begründeten. Westlichen Großbanken, welche die Transaktion durch Kredite ermöglichen wollten, hatten sie im Falle ihrer Teilnahme an der Aktion mit Sanktionen gedroht. Unter diesen Banken befand sich die Deutsche und die Dresdener Bank, dazu die französiche BNP und Credite agricole, die niederländische ABN Amro und JP Morgan aus den USA.
Die Banken wichen vor dem US-Druck zurück; die russische Regierung musste ihrer Staatsbank Sondergenehmigungen zuweisen, um einem potentiellen Bieter die notwendigen Kredite für den Kauf zur Verfügung stellen zu können. Der hat sich nun offenbar in Gestalt der Baikal-Gruppe gefunden.
Derweil sitzt der ehemalige Chef von Yukos, Chodorkowski, weiter in Haft. Von dort aus ließ er erklären, er könne die Konzernleitung von Yukos nicht dafür verurteilen, dass sie sich an ein amerikanisches Gericht gewandt hätte, um die Zwangsversteigerung verbieten zulassen. Das sei sie ihrer persönlichen Reputation vor den Aktionären schuldig, nachdem sie alles andere versucht hätte, den Konzern vor dem Ruin zu retten. Er könne auch die Exekutive verstehen, erklärt Chodorkowski sibyllinisch, nicht allerdings die Machthaber des Landes, die den Konzern und damit den Aktienmarkt zu einem Zeitpunkt beachtlicher wirtschaftlicher Bedingungen zerstörten hätten.
Wie vor Monaten das Drama in Beslan, wie vor wenigen Wochen die Vorgänge in der Ukraine waren auch die Ereignisse um Yukos wieder von Wellen der Empörung über den russischen Präsidenten Putin begleitet, der in einer „konzertierte Aktion“ von Staatsorganen und Steuerbehören nicht nur die demokratische Entwicklung Russlands zurückdrehe, sondern nun auch dazu übergehe, privates Unternehmertum zu zerschlagen und erneut sowjetische Verhältnisse herstellen wolle.
Die russischen Liberalen richteten über den „Allrussischen Bürger-Kongress“ einen Appell an „Amnesty international“, Michail Chodorkowski als politischen Gefangenen einzustufen. Die deutschen GRÜNEN, unterstützt von der Heinrich-Böll-Stiftung, forderten die russische Regierung in einem offenen Brief auf, im Prozess gegen Michail Chodorkowski rechtstaatliche Prinzipien einzuhalten und „wie überall auf der Welt üblich“ von der Unschuldvermutung des Angeklagten auszugehen. Sechsundvierzig Unterschriften europäischer Politiker/innen brachten sie dafür zusammen – neben drei US-Amerikanischen Neo-Konservativen unter ihnen ausgerechnet Robert Kagan, einer der bekanntesten US-Scharfmacher. Am Wochenende traf man sich auf Einladung der Böll-Stiftung in geschlossener Gesellschaft zu einer Solidaritätsveranstaltung für Michail Chodorkowski in Berlin.
Auf der anderen Seite stehen scharfe Erklärungen des russischen Außenministers Lawrow, der den US-Richterspruch als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands“ zurückwies. Er gab der Vermutung Ausdruck, jemand wolle die Stimmung anheizen und versicherte, die Lösung des Falles Yukos werde „ausschließlich nach russischen Gesetzen“ geregelt. Ein Sprecher von Gasprom bezeichnete die Auslassungen der US-Gerichte als Schmutzkampagne gegen den russischen staatlichen Multi und andere mögliche Bieter.
Was spielt sich ab? Was sind die Nachrichten hinter den Nachrichten, die man wissen sollte? Erinnern wir uns:
Yukos entstand wie viele andere der oligarchischen Unternehmen Russlands Mitte der Neunziger Jahre aus den Zwängen der schnellen Privatisierung, aus der Ungeduld und Not der russischen Reformer, die a) den Systemwandel unumgänglich machen wollten, b) die leere Staatskasse auffüllen mussten, c) ihre Betriebe aber trotz allem lieber an russische Käufer als an Ausländer abgeben wollten. Auf diese Weise kamen die späteren Oligarchen zu Dumpingpreisen und unter undurchsichtigen bis kriminellen Umständen an die Verfügung über das frühere Volksvermögen und an Nutzungsrechte für Öl-, Gas- und sonstigen Ressourcen und das alles, ohne dafür steuerlich einstehen zu müssen.
Yukos wurde zum größten innerrussischen Monopolisten, der Staat und Regierung seine Bedingungen diktieren konnte, aber dabei blieb es nicht: Michail Chodorkowski setzte auch dazu an, große Teile des Konzerns an den größten westlichen Öl-Multi Exxon zu verkaufen; von bis zu 40% war die Rede. Auch ein zweiter Öl-Riese, die Chevron Texaco Corporation war im Gespräch. Vordem Hintergrund weiterer US-Beteiligungen an anderen Gruppen hätte bedeutet, dass russisches Öl und Gas nicht nur in privaten Händen gelegen hätte,
was sich für die russische Regierung bereits als Problem erwiesen hatte, sondern auf dem Umweg über Yukos tendenziell unter den Zugriff von US-Firmen zu kommen drohte.
Schließlich, in Fortsetzung dieser Linie, führte die Verhaftung Chodorkowskis im Jahre 2003 und seine lang andauernde Inhaftierung dazu, dass nahezu sämtliche Führungsposten des Konzerns von Managern mit US-amerikanischen Pässen besetzt wurden nd der Konzern praktisch von den USA aus geführt wurde, obwohl nur 15% der Aktien in amerikanischem Besitz sind. Diese Leute waren es jetzt auch, die amerikanische Gerichte angerufen haben.
Die US-Richterinnen, sowohl die Konkurs- wie auch die prüfende Bezirks-Richterin, die sich anmaßten, eine von der russischen Regierung verfügte Zwangsvollstreckung zu verbieten, sind also nicht etwa nur durchgeknallte oder geltungssüchtige US-Provinzfiguren. Ihr Spruch ist vielmehr Ausdruck einer systematischen US-Politik, die versucht, ihre Hand auf russisches Öl und Gas zu legen und dabei zugleich den Europäern den privilegierten Zugriff zu verwehren.
Man muss dabei nicht einmal in die Untiefen der neokonservativen Lobby einsteigen, wie es der britische Journalist John Laughland versucht, der die personellen Verbindungen zwischen der „Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden“, die von Yukos zur Finanzierung von NGOs in Russland gegründet wurde, und bekannten Neokonservativen der USA und Englands nachzuzeichnen versucht. Es reicht darauf hinzuweisen, dass Exxon und andere US-dominierte Konzerne nach wie vor kaufbereit sind und es reicht, daran zu erinnern, dass und nicht zuletzt wie die USA versuchen, sich weltweit den Zugriff auf die Ölressourcen zu sichern, um die Preise für sich niedrig zu halten.
Seitdem der Versuch, dies durch eine schnelle Kolonisierung des IRAK zu erreichen, nicht gelang, der Ölpreis stattdessen ins Unermessliche stieg, tritt nunmehr die zweite Option der USA in den Vordergrund, nämlich, die Kontrolle der russischen Ölquellen. Das sind über die kaukasischen hinaus insbesondere auch die noch nicht erschlossenen sibirischen Felder. Entsprechende Studien wurden vom CIA in seinem Report „Global Trends 2015“ im April 2004 veröffentlicht.
Interessant dürfte in diesem Zusammenhang die Mitteilung John Laughlands sein, dass ausgerechnet Michail Chodorkowski ihn in einem Gespräch im September 2002 darauf aufmerksam gemacht habe, es bestehe die Gefahr, dass die USA, wenn sie die Kontrolle über die Irakischen Ölfelder bekämen, den Preis auf zwölf Dollar für den Barrel drücken könnten und das dies die russische Öl-Industrie und schließlich Russland selbst zerstören würde.
Die unerwartete Verlauf des Irak-Krieges hat dazu geführt, dass diese Befürchtungen Chodorkowskis nicht eintrafen, in dem Verlauf des Krieges liegt aber auch der Grund für die neue Anti-Putinsche Politik, die seitdem von Washington aus gefahren wird. Auf dieser strategischen Linie ist auch Chodorkowski nur noch ein Ball, der hin und her gespielt wird.
Vor diesem Hintergrund fragt man sich, welcher Teufel die Europäerinnen und Europäer reitet, bzw. welche Erwartung diejenigen haben, die sich vor den Karren dieser US-Politik spannen lassen, indem sie einen „offenen Brief“ nach dem anderen unterzeichnen, indem sie für einen russischen Oligarchen noch dann eine „Unschuldvermutung“ einklagen, nachdem dieser selbst schon längst öffentlich erklärt hat, sich schuldig gemacht zu haben und selbst auf Wiedergutmachung durch Rückzahlungen an Staat und Aktionäre drängt. Geht es überhaupt noch um Chodorkowski? Oder ist er auch in dieser Solidaritätskampagne nur Spielball? Unternehmen anderer Branchen fühlen sich jedenfalls durch die Verhaftung Chodorkowskis in keiner Weise behindert. Eher das Gegenteil: Zeitungen wie „Ost-West-Contact“ und anderen Plattformen des Marktes ist entnehmen, dass man in Unternehmenskreisen den Fall Chodorkowski eher als Verbesserung des „Rechtsstandards, auch für Oligarchen“ betrachtet. So war es von Andrea von Knoop Ende November dieses Jahres zu hören, der Chefin des „Verbandes der deutschen Wirtschaft in Russland“, wofür sie prompt den „Orden der Freundschaft“ von Putin verliehen bekam. Eine Kampagne für Menschenrechte, Demokratie und Zivilgesellschaft, so scheint es, muss offenbar mehr leisten als nur Unschuldvermutungen für einen Oligarchen zu fordern.

Kai Ehlers

Überrascht von Putins Offenheit?

Konkrete Beschlüsse über eine kaukasische Krisen-Versammlung, über russische Truppenabzüge aus Tschetschenien, Rücknahme von NATO-Posten in Aserbeidschan, Georgien oder der Ukraine, gar über die Einrichtung einer UN-Schutz- oder Entwicklungszone in Tschetschenien wird man vergeblich auf dem Kommuniqué der deutsch-russischen Verhandlungen suchen.
Und doch ist die Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis zu verstehen, die sich überrascht von Putins Offenheit zeigte. Putins demonstrativ erklärte Bereitschaft, die „Berliner Vorschläge für ein deutsch-russisches Dialogprojekt zur Stabilisierung des Kaukasus“ als Grundlage für eine gemeinsame Kaukasus-Politik zu übernehmen, insbesondere dass tschetschenische Problem sowie die Entwicklung in der Ukraine gemeinsam angehen zu wollen, ist ein Signal, das aufhorchen lässt.
Aufhorchen werden vor allem die USA, von denen die Krisenherde im Kaukasus in letzter Zeit – um es vorsichtig auszudrücken – zunehmend benutzt werden, eine anti-putinsche Linie durchzusetzen, deren Ziel offensichtlich ist, Russland auf einen Lieferanten von Öl, Gas und anderen Ressourcen zu reduzieren und dies möglichst zu Preisen, die sie diktieren,. Der zunehmend außer russischer Kontrolle geratende Krieg in Tschetschenien, die „Revolution“ in Georgien, danach in der Ukraine, die unüberhörbaren Drohungen, dass auch in Weißrussland keine Diktatur geduldet werden dürfe, schließlich der Versuch, der USA, die Yukos-Affäre zu einer Angelegenheit amerikanischer Gerichtsbarkeit zu erklären, alle diese Vorgänge haben die russische Führung offenbar davon überzeugt, dass sie sich Bündnispartner in Europa muss. Wer liegt da näher als Deutschland? Deutschland hängt zu 40% von russischen Gas-Lieferungen ab; die Versorgungslinien führen von Azerbeidschan durch Tschetschenien und durch die Ukraine. Deutschland will privilegierte Pipelines nach Norden in die Ostsee zusammen mit Russland bauen. Die deutsche Wirtschaft verspricht sich von Russland den expandierenden Markt, der ihr zuhause wegschrumpft. Diese Aufzählung lässt sich fortsetzen. Vor diesem Hintergrund kommt Putins Offenheit überraschend, ist aber nur folgerichtig, wenn er der weiteren US-Umklammerung entkommen möchte. Man darf gespannt sein, welche Antwort dazu aus Washington kommt. Dass eine kommt, und zwar kräftig, dürfte sicher sein.

Kai Ehlers

Ukraine: Sieg der Demokratie?

Es scheint vollbracht. Die Genugtuung ist nicht zu überhören. Der ukrainische Präsident Kutschma erkennt das Urteil des obersten Gerichtes an, die Stichwahl zu wiederholen. Die streitenden Parteien haben sich darauf geeinigt, im Parlament über ein Paket von Forderungen beider Seiten abzustimmen. Juschtschenkos erwartet die Entlassung der Regierung Janukowitschs sowie eine Neubesetzung des Landeswahlausschusses und eine Änderung des Wahlrechtes noch vor dem genannten Termin für die Neuwahl. Präsident Kutschma will, dass die Opposition einer Verfassungsänderung zustimmt, die vorsieht, die Rechte des Präsidenten u.a. bei der Wahl von Gouverneuren zugunsten des Parlamentes und des Ministerpräsidenten zu beschneiden. Die OSZE will an die 2000 Wahlbeobachter ins Land zu schicken, um eine Spaltung des Landes zu verhindern, der russische Präsident Putin rügt den Westen für „koloniale Methoden der Einmischung“, erklärt sich aber bereit, den Ausgang der Wahl anzuerkennen. Alles gut also? Wieder ein Dominosteinchen für ein demokratisches Haus Europa aufgestellt? Mitnichten, fürchte ich; schauen wir genau hin:
Erstens: Was hat das oberste Gericht beschlossen? Das Gericht kritisiert die Wahlkommission dafür, dass sie die Ergebnisse schon bekannt gegeben habe, als noch Klagen anhängig waren, weiter, dass „ein und derselbe Bürger mehr als einmal in die Listen aufgenommen wurde“, dass der Umgang mit den Wahlberechtigungsscheinen die „Anforderungen verletzte“, dass der „Wahlkampf in den Medien ohne Kontrolle über gleichmäßigen Zugang“ durchgeführt wurde und schließlich, dass das „Verbot der Einmischung von Angehörigen der Exekutive und von Beamten örtlicher Behörden in den Wahlkampf“ nicht erfüllt worden sei. Unter diesen Umständen kam das Gericht nicht etwa zu dem Schluss, Juschtschenko sei betrogen worden und müsse als Wahlsieger anerkannt werden, sondern es erklärte, „dass es unmöglich (sei), den wirklichen Wählerwillen festzustellen“ und daher die Wahl zu wiederholen sei.
Zweitens: Welche Änderungen des Wahlgesetzes verlangt die Opposition? Sie verlangt, dass in Zukunft nicht mehr stellvertretende Stimmen abgegeben werden dürften und dass es keine mobilen Wahllokale mehr geben solle. Wenn man weiß, wie Wahlen traditioneller Weise im vor-sowjetischen und sowjetischen Raum wie auch danach noch stattfanden, nämlich im patriarchalen Konsens, sprich gemeinschaftlich organisiert, dann bedeutet dies – vom materiellen Gehalt her gesehen – nicht mehr und nicht weniger, als dass die Beeinflussung der Wählerinnen und Wähler in Zukunft nicht mehr unmittelbar in ihren jeweiligen Kollektiven oder auch noch direkt vor der Wahl geschieht, sondern auf einen Wahlkampf vorverlagert wird. Dies kann man als einen Fortschritt an formaler Demokratie betrachten; ob er automatisch zu mehr Demokratie im Sinne einer freiheitlichen Selbstbestimmung führt, das kann man nicht nur, das muss man bezweifeln, wenn man sich die Wahlvorgänge in entwickelten Demokratien, zuletzt zum Beispiel in den USA anschaut.
Drittens: Was beinhaltet die Zustimmung der Opposition zur Verfassungsänderung? Der materielle Gehalt der Änderung läge darin, Präsidialbürokratie, Provinzbarone und die mit ihnen verflochtenen Oligarchen der ukrainischen Olikratur kontrollierbar zu machen. Käme es so, wäre das sicher ein Gewinn für gesellschaftliche Transparenz in der Ukraine. Aber erstens soll – gleich wer gewählt wird – die Verfassungsänderung erst ab September 2005 in Kraft treten; bis dahin ist viel Wasser den Dnepr hinuntergeflossen. Ein Blick auf die Akteure im Hintergrund lässt zudem erkennen, dass auch eine von der Opposition gestellte Präsidentschaft und Regierung Spielball der Olikratur bliebe. Bezeichnend ist beispielsweise die Rolle, die Pintschuk, Schwiegersohn von Kutschma, jetzt spielte. Er ist einer der einflussreichsten Oligarchen auch im Osten des Landes. Das hat nicht daran gehindert, die „orangene Revolution“ kräftig zu sponsorn und bekannte US-Größen wie Kissinger, Soros, Brzezinksi vor der Wahl ins Land einzuladen. Er hat, wie der Spiegel in Anlehnumg an eine volkstümliche Beurteilung des Oligarchen es ausdrückt „Eier in jedes Körbchen gelegt“.
Bleibt schließlich noch anzumerken, dass selbst zweitausend Wahlbeobachter der OSZE nichts an der Tatsache ändern können, dass auch das sauberste formaldemokratische Wahlritual nicht die tatsächlichen Hindernisse für eine Selbstbestimmung der ukrainischen Bevölkerung beseitigt, nämlich die Lage ihres Landes zwischen einem um seinen Bestand kämpfenden Russland und einer sich ausweitenden Europäischen Union. Dieses Problem wird nicht durch die Wahl des einen oder des anderen Kandidaten entschieden, sondern einzig allein durch deren Kooperation, auf welchen politischen Ebenen diese sich auch immer entwickeln mag. Diese Kooperation wird ohne aktive Beteiligung Russlands und der EU und darüber hinaus der internationalen Staatengemeinschaft jedoch nicht zustande kommen. So verstanden, kann die Ukraine zum Testfall einer globalen Demokratisierung werden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Ukraine –schon wieder Putin?

Die Wahl in der Ukraine brachte nicht den Mann ins Präsidentenamt, den der Westen und die west-orientierte Opposition erwartet hatte: Statt des
Liberalen Juschtschenko rief die zentrale Wahlkommission den konservativen Janukowitsch zum Wahlsieger aus, den Wladimir Putin zuvor mit zwei persönlichen Besuchen in Kiew als seinen Wunschkandidaten unterstützt hatte und dem er noch vor der amtlichen Bestätigung zu seinem Wahlsieg gratulierte. Statistische Hochrechnungen hatten vor der Wahl eine klare Mehrheit für Juschtschenko erwarten lassen, um so weniger konnten die Parteigänger Juschtschjenkos dessen unerwartete Niederlage akzeptieren. Sie klagen Wahlfälschung an und erklären, die Straße erst verlassen zu wollen, wenn ihr Kandidat als Präsident vereidigt worden ist.

In diesen Vorwürfen werden sie durch die Bush-Regierung, die euro-päischen Union wie durch Wahlbeobachter der OSZE bestärkt, die Russland, insbesondere Wladimir Putin, massive Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates vorwerfen, mit der er eine demokratische Entwicklung in der Ukraine und einen davon ausgehenden demokratisierenden Dominoeffekt in Weißrussland und in kaukasischen Staaten verhindern wolle. Wieder einmal steht der „Neo-Imperialist“ Putin am Pranger – und mit ihm pikanterweise zugleich auch sein Freund Gerhard Schröder, der ihn wenige Tagen zuvor in einer Talkshow zum „lupenreinen Demokraten“ erklärt hatte.

Man muss kein Mitglied der putin-nahen Partei „Einheitliches Russland“ und
kein rechter SPD-ler sein, um in diesen Bewertungen dasselbe Muster zu
erkennen, mit dem eine Gruppe von „internationalen Persönlichkeiten“ nach
den Ereignissen von Beslan auf Initiative US-amerikanischer Konservativer in einem “Offenen Brief“ an die NATO und EU eine Korrektur der bisherigen
kooperativen Russlandpolitik forderte und es muss darauf im Wesentlichen
dieselbe Antwort gegeben werden: Ja, es wurde manipuliert, allerdings von
beiden Seiten, so wie üblicherweise in den nachsowjetischen Staaten
manipuliert wird, wo bisher keine formaldemokratischen Wahlabläufe eingeübt sind, sondern nach patriarchalen Vorgaben gewählt wird. Aber müssen sich gerade die USA zur Kritikern aufwerfen, nachdem die Welt soeben ihre chaotischen Wahlverfahren mit ansehen musste? Und weiter: Ja, Putin hat sich eingemischt, Russland hat Interesse an einer autoritären Stabilisierung der Ukraine und mit dem Eingreifen wird die Entwicklung gestoppt, zumindest behindert, die gemeinhin als Demokratisierung bezeichnet wird.

Aber was ist das für eine Demokratisierung, die die Ukraine seit dem Ende
der Sowjetunion Schritt für Schritt an die NATO, an Europa bindet, sie aber
zugleich von einer Mitgliedschaft einer europäischen Wirtschafts-gemeinschaft ausschließt? Faktisch wurde die Ukraine zum Armenhaus, zum Frontstaat, zum Aufmarschgebiet zwischen Russland und der „einzig verbliebenen Weltmacht“ USA, die seit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan systematisch daran arbeiten, Russland auf einen Kernbestand zu reduzieren, um die öl-haltigen „Filetstücke“, die Gas- und sonstigen Ressourcen Euroasiens neu verteilen zu können. Wer es nicht glaubt, lese Zbigniew Brzezinksis „Einzige Weltmacht“ und vergleichbare Äußerungen von konservativen US-Strategen, die gerade die Abspaltung der Ukraine aus dem ehemaligen russischen Verband als besonders dringlich bezeichnen.

Die EU-Strategen, weniger offen, aber nicht weniger begehrlich, sprechen verschämt von der „strategischen Ellipse“, die Objekt einer gezielten europäischen Sicherheitspolitik sein müsse. Diese „Ellipse“ ziehen sie von Saudi-Arabien, dem Iran, Afghanistan über die kaspische Region, den Kaukasus bis nach Nord-Russland. Die Ukraine ist Teil davon. Wer
auch dieses nicht glaubt, nehme sich die neuesten Veröffentlichungen der
regierungsnahen Zeitschrift „Osteuropa“ zur Hand, die soeben unter dem Titel „Europa unter Spannung –Energiepolitik zwischen Ost- und West“ erschienen sind.

Ins Niemandsland zwischen NATO, EU und Russland gedrückt, ist die Ukraine zum politischen Spielball zwischen den Blöcken geworden. Der Ausgang der jetzigen Wahlen, wie sehr im Detail auch manipuliert worden sein mag, ist daher nicht in erster Linie Ergebnis von äußeren Eingriffen, weder russischer, noch westlicher, auch nicht von Manipulationen, sondern mit seinem faktisch unentschiedenen Ergebnis authentischer Ausdruck dieser Situation: Die Ukraine ist ein geteiltes, ein gespaltenes Land, das zur Zeit nicht weiß, ob seine Zukunft in einer Wirtschaftsunion mit Russland liegt, die 2004 mit Aussicht auf eine Zollunion unter Einschluss von Kasachstan, Weißrussland und Moldawien gebildet wurde, oder ob sie einen Mitgliedschaft in der EU anstreben soll, die jedoch in unerreichbarer Ferne liegt.

Wladimir Putins Eintritt für seinen Wunschkandidaten Janukowitsch ist unter diesen Umständen nicht mehr und nicht weniger zu kritisieren als die politischen Aufmunterungen aus Washington, die finanziellen Zuwendungen für die liberale Opposition oder die Ausbildungsprogramme der NATO. Beides ist Ausdruck schlichter Machtpolitik, die auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland: Ein Entwicklungsland neuen Typs? Eine Betrachtung zu Russlands Wachstumskräften

Seit zwanzig Jahren befindet sich Russland in der Krise.
Von Europa wird es als kranker Mann der Globalisierung wahrgenommen. Wie seinerzeit Oswald Spengler vom „Untergang des Abendlandes“ sprechen manche Leute in und außerhalb Russlands heute gern vom „Untergang Russlands“, wobei unklar bleibt, was damit gemeint ist: das sowjetische Russland, das zaristische, das gegenwärtige – oder überhaupt Russland? Ich möchte dem die Beobachtung entgegensetzen, dass in Russland neue Kräfte entstehen, dass die russische Krise als Wachstumskrise zu verstehen ist und Russland die Chance hat, zum Impulsgeber von Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft zu werden, die über die aktuelle Krisenbewältigung in Russland und auch über Russland hinaus Bedeutung haben.

Beginnen wir mit den Fakten:
Die nackten Daten sind natürlich bedrückend:
26% der russischen Bevölkerung leben heute unter dem Existenzminimum , die demografische Entwicklung ist rückläufig; von 1990 bis heute hat Russland trotz Zuwanderung aus früheren sowjetischen Siedlungsgebieten 4,7 Millionen Menschen verloren; bis zum Jahr 2015 wird ein weiterer Rückgang der Bevölkerung um 8,5 Millionen Menschen erwartet. Städte, ganze Regionen schrumpfen (im Gegensatz zu Moskau und einigen wenigen Metropolen, in die jene Menschen drängen, die vor der Armut flüchten); die Bevölkerung lebt zu 60% von der Datscha, dem Hofgarten oder dem eigenen Feldstückchen vor der Stadt. Das Staatsbudget stützt sich im Wesentlichen auf die Einnahmen aus dem Export der natürlichen Ressourcen Öl, Gas, Holz usw.: Deindustrialisierung, Dequalifizierung, Depopularisierung, Demoralisierung und Atomisierung sind die Schlagworte für diese Entwicklung.

Sie entspricht den Prognosen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) bei Einsetzen der Perestroika vorbrachte; ja, genauer, sie entspricht den Zielen, die der IWF Ende der 80er Jahre für eine Gesundung der seiner Ansicht nach aufgeblähten Sowjet-Wirtschaft vorgab: Schrumpfung lautete das entscheidende Stichwort in dem Bericht, den der IWF und die Weltbank 1989 anfertigten und den sie 1991 gemeinsam vorlegten. Der Bericht war die Grundlage, auf der Jegor Gaidar und Boris Jelzin 1991 ihre Strategie der „Schocktherapie“ aufbauten. Teile des IWF-Berichtes gingen wörtlich in das Privatisierungsprogramm der Regierung Gaidars ein. Kern des Programms war die Entkollektivierung, insofern IWF und Gaidar die Sowjet- und Kolchosstruktur der Produktion wie der Agrarwirtschaft Russlands als Haupthindernis einer effektiven Produktionsentwicklung betrachteten. Damit knüpften sie zugleich an den Positionen Pjotr Stolypins vom Anfang des Jahrhunderts an. Die Ergebnisse der Gaidarschen Gewaltkur brachten jedoch, wie die Zahlen zeigen, das Gegenteil des Erhofften: Russland, könnte man sagen und viele sagen es, ist auf den Stand eines Entwicklungslandes zurückgefallen.

Und dennoch: Trotz scharfer Versorgungsengpässe Ende der achtziger und Anfang der 90er, trotz der Schießereien am Weißen Haus `93 und selbst, wenn man den Krieg in Tschetschenien bedenkt, führte die Krise bisher zu keiner Hungerkatastrophe, das Land verfiel nicht in einen Bürgerkrieg und es nahm keine Zuflucht zu neuen imperialen Abenteuern. Schritt für Schritt ging es stattdessen den schweren Weg der Transformation. Unter Gorbatschow, wenn ich daran erinnern darf, bedeutete das: Rückzug aus Afghanistan als äußeres Zeichen für die Beendigung der expansiven Phase Russlands, Grenze des quantitativen Wachstums, Stichwort: Intensivierung statt Tonnenideologie. Unter Jelzin bedeutete es: Imitation westlicher Modelle, insonderheit der neo-liberalen Wachstumsideologie; faktisch führte dieser Weg zur unkontrollierten Ausplünderung des Landes durch einheimische und ausländische Privatisierer. Unter Putin heißt es heute: Rückbesinnung auf die eigene Kraft, die – bei aller notwendigen Kritik an dem autoritären Führungsstil des jüngsten Präsidenten und berechtigten Warnungen vor dessen möglichen Folgen – in den Jahren seit seinem Amtsantritt zu erkennen ist.

Rückbesinnung auf die eigene Kraft – damit meine ich nicht etwa, um es unmissverständlich zu sagen, die Wiederkehr von Expansionismus, diktatorischem Zentralismus, Militarismus und dergleichen als angeblich für Russland nicht anders mögliche Existenzweisen von Staat und Gesellschaft – nein, damit meine ich die Rückbesinnung auf die historisch gewachsenen Überlebenskräfte der russischen Bevölkerung, allgemein gesprochen, die gemeinschaftliche Selbstversorgung auf der Basis der Naturreichtümer und der reichen Geschichte des Landes. Diese Strukturen konnten sich, aller Erwartung zum Trotz, in den ersten Jahren der Präsidentschaft Putins erholen.

Die wichtigsten Aspekte des russischen Reichtums und seiner Kraftreserven möchte ich kurz benennen:

– Die geografische Weite Russlands
– Seine natürlichen Ressourcen an Land und Bodenschätzen
– Seine ethnische, d.h. auch genetische Vielfalt
– Seine historischen Wurzeln aus drei Kulturkreisen: Wikinger, Hunnen/Mongolen, Byzantiner, die sich auf dem Boden der slawischen Bauerngesellschaft zu einer geschichtsbildenden eigenen Kultur verbunden haben.
– Seine starke Bauernschaft
– Die historische Dynamik als Integrationsknoten zwischen Asien und Europa
– Die besonderen sozial-ökonomischen Strukturen des russischen Raumes, die sich aus der Wechselwirkung zwischen all diesen Elementen entwickelten: Die Dualität von höfischem Zentralismus zum einen und Dorf zum anderen in der Zeit des Zarismus; die zentral gesteuerte Industrialisierung in enger Verbindung mit Selbstversorgung auf Grundlage der agrarischen Gemeinschaftsstrukturen in der Zeit nach der Revolution.

Im Modernisierungstaumel der Reformer Ende der 80er, besonders Anfang der 90er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts wurden diese Voraussetzungen missachtet, die Reichtümer vergeudet, zerstört und reduziert. Unter Boris Jelzin wurde wieder einmal eine Phase der nachholenden Imitation eingeleitet, in der Russland sich ausschließlich auf den Westen orientierte: Russlands Rolle als Integrationsknoten wurde aufgegeben, seine Ressourcen der privaten Ausbeutung übereignet und, was das Wichtigste ist, die kollektive Lebens- und Arbeitsorganisation als rückschrittlich und uneffektiv angegriffen und bis an die Grenze der Zerstörung der Produktion und besonders auch der agrarischen Grundlagen des Landes desorganisiert.
Darin glich die Phase der „Schocktherapie“ und das sich daran anschließende Chaos früheren Phasen der Modernisierung, die immer mit einer Auflösung der gewachsenen Gemeinschaftsstrukturen und Einführung westlicher Lebensnormen begannen. Ich denke hier an die Zwangs-Modernisierung Peters I., im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, an die Bauernbefreiung durch Alexander II., 1862, an die Stolypinschen Reformen vor dem ersten Weltkrieg, an die Zwangsindustrialisierung der Bauern mit anschließender Kollektivierung durch Stalin. Alle diese Ansätze endeten nach einer vorübergehenden Krise stets mit erneuter Formierung der historisch gewachsenen Strukturen, das heißt, sowohl der dörflichen und regionalen Gemeinschaften als auch des Moskauer Zentralismus.
Der Grund ist klar und wird selbst von Kritikern dieser Strukturen immer wieder bestätigt: Die Grundorganisation der russischen Gesellschaft und des russischen Staatswesens, das heißt, allmächtiges Zentrum auf der einen, sich selbst versorgendes, selbstverwaltetes Dorf auf der anderen, hat sich allen einseitigen Fehlentwicklungen zum Trotz (Despotie des Zentrums oder Anarchie des Dorfes) als die für diesen geografischen Raum und diese ethnische und kulturelle Vielfalt optimale Form des Lebens und in Zeiten der Bedrohung auch des Überlebens herausgebildet. Sie hat sich in einer mehr als tausendjährigen Geschichte in die sozioökonomische Struktur des russischen Raumes materiell und mental eingeschrieben. Die viel beschworene russische Selbstgenügsamkeit hat hier ihre Wurzeln. Sie resultiert aus der Möglichkeit, auf der Basis gemeinschaftlicher Selbstversorgung schwerste Krisen relativ lange zu überstehen – und sei es auf dem niedrigsten Niveau einer jahrelangen Smuta.

Nicht anders war es jetzt bei dem neuesten Modernisierungsanlauf: Zwar wurde das Volksvermögen privatisiert, zwar wurden die Sowchosen- und Kolchosen zu Aktiengemeinschaften erklärt, zwar folgten gut 400.000 Familien anfangs dem Ruf, eine private Bauernwirtschaft zu gründen, eine produzierende Mittelschicht entstand daraus jedoch ebenso wenig wie ein privat wirtschaftendes Bauerntum, vielmehr eine Differenzierung in wenige Reiche, die sich den Zugriff auf die nationalen Reichtümer sicherten, und eine faktisch enteignete, desorganisierte und verarmende Mehrheit der Bevölkerung.
Im Westen, wo die Grundlagen der Selbstversorgung durch die Industrialisierung längst zerstört sind, wäre eine solche Entwicklung gleichbedeutend mit einer Katastrophe. In Russland konnte sich die verarmende Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Datschen und Gärten zurückziehen – in der dörflichen Gemeinschaft, in der Datschenge-meinschaft und selbst in der desolaten Form der individuellen Versorgung zerstörter und verfallener Sowchosen, Kolchosen oder Dörfer. So überlebten die Menschen die Versorgungskrise Ende der 80er und Mitte der 90er Jahre und so leben sie bis heute, indem sie die ausbleibenden oder bis heute dürftigen Löhne, Gehälter, Stipendien und Pensionen mit den Produkten ihrer Selbstversorgung kompensieren. Nicht anders als Wirtschaft und Staat insgesamt, die nur durch die hohen Preise für Öl, Gas, Wald usw. überleben. In diesem Zustand kann die russische Wirtschaft und Gesellschaft zwar keine Effektivität im Sinne der heute geltenden neo-liberalen Wachstumskriterien entwickeln, aber sie kann sehr lange überleben, länger jedenfalls als das die westlichen Ökonomien könnten, die bei Ausbleiben industriell gefertigter Lebensmittel oder beim Wegfall von Zulieferungen aus agrarischen Ländern sehr schnell zusammenbrechen würden.
Von der Minderheit der gut Verdienenden bis Superreichen muss man in diesem Zusammenhang nicht reden. Sie bilden nur die bekannte Ausnahme zur Regel, zumal sie in vielen Fällen nur aus den Überschüssen leben, die sie aus dem Export der Ressourcen erzielen.

In dieser aktuellen Grundkonstellation der gegenseitigen Ergänzung einer zurückgefahrenen Produktion einerseits und der Natural-, bzw. Selbstversorgung andererseits liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Nicht Marktwirtschaft, wie von den Reformern in Ost und West erwartet, ist an die Stelle der früheren sowjetischen Planwirtschaft getreten, sondern etwas Neues, bisher noch Unbekanntes, noch nicht ausreichend Untersuchtes, eine Mischung, eine Synthese, welche die bisherigen Polaritäten von Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, von Kapitalismus oder Sozialismus, Industrieproduktion oder Selbstversorgung hinter sich lässt: Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nicht. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also notwendigerweise auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend im Sinne neo-liberaler Wachstumsorientierung, födernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.
Voraussetzung für die Weiterentwicklung der entstandenen Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, sondern die Selbstversorgung bewusst organisiert und gefördert wird, die Ressourcen nicht nur ausgebeutet werden, sondern ihr Gebrauch kultiviert und gemeinschaftlich kontrolliert wird. Unter solchen Umständen bekommt der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung. Darin bedeutet Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin ist die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Die Rede ist von einem Entwicklungsland neuen Typs, das Ansätze für eine Wirtschafts- und Sozialordnung von morgen zeigt, deren Entwicklung nicht nur für Russland, sondern für die Welt insgesamt von Bedeutung ist.

In Russlands Reichtum, in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt aber auch seine große Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.
Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, aus meiner Sicht, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert.

Hier kommen wir in den Bereich, in dem sich Fragen an die künftige Politik Wladimir Putins und seines Kommandos sowie an die sog. russische Elite stellen: Sind sie bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?
In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein Kommando sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür. Wenn dies tatsächlich so durchgezogen wird, wie es nach den Wahlen 2004 begonnen wurde, sind schwere innere Konflikte für Russland unvermeidbar, denn dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Das Ergebnis dieser Versuche, davon bin ich überzeugt, kann nur eine soziale Katastrophe sein, an deren Ende sich die Suche nach neuen Beziehungen zwischen Produktion und Selbstversorgung umso dringender einstellt als jetzt, allerdings vermutlich zu schlechteren Bedingungen. Ich würde mir wünschen, dass es ohne diese Umwege ginge.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Dieser Text basiert auf einem Referat für ein Seminar in der „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ am 4./5.2004 in Moskau unter dem Thema: „Russland wohin?“ Das Seminar wurde von der Rosa Luxemburg Stiftung unterstützt.

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Aktuelle Veröffentlichungen des Autors zum Thema sind:
· „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;
· „Wofür steht Russland? Wohin geht es? – Reform oder Kriegserklärung gegen das eigene Volk? Anatomie der neo-liberalen Modernisierung am Beispiel Russlands. Modelle einer anderen Modernisierung. Ansätze für Alternativen in Russland und Deutschland. – Erweitertes Tagebuch einer Bestandsaufnahme vom Sommer 2004 in der Reihe „Themenhefte“, Nr. 15/16, September 2004, zu beziehen über den Autor: info@kai-ehlers.de
· Im Februar 2005 erscheint der Dialogband: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs“ im Verlag Entwürfe Pforte

 

  Kai Ehlers. Publizist,

Nach Beslan: Russlands Medienwächter: Mit oder ohne Putin?

Die Katastrophe von Beslan brachte an den Tag, was Russlands Medienwächter schon lange beklagen: Die Medien des Landes waren nicht in der Lage, die Ereignisse angemessen zu erfassen. Die lange eingefahrene Mischung aus Selbstzensur und bürokratischer Behinderung ließ nicht nur ein regierungsfrommes, sondern ein falsches, ja, provokativ verlogenes Bild der Vorgänge entstehen, das nicht unwesentlich zur Katastrophe mit beigetragen hat. Erst Wochen nach den Ereignissen bekommt es aus einzelnen Berichten, die unabhängig voneinander hier und dort auftauchen, allmählich Konturen. Vier Aktionsfelder, die natürlich ineinander greifen, sind dabei zu unterscheiden:
Das Erste: Kreml und örtliche Machthaber waren offensichtlich an einer Transparenz ihrer Entscheidungen nicht interessiert. Ein Lagezentrum, das die Öffentlichkeit mit überprüfbaren Informationen versorgt hätte, wurde nicht eingerichtet. Stattdessen wurde systematische Desinformation durch Verschweigen und Verfälschen betrieben. Dies Verhalten war nicht überraschend; es entspricht der Linie, die mit dem „Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus“ von 1998, der „Antiterroristische Konvention“ nach dem Anschlag auf Moskauer Theater 2002 und den „Bestimmungen über die innere Sicherheit“ von 2003 eingeschlagen wurde, wonach jede Berichterstattung, die der Inneren Sicherheit Russlands schaden könnte, von den Staatsorganen unterbunden werden kann.
Die zentralen Medien, wesentlich die Fernsehanstalten, aber auch die größeren Zeitungen, seit langem auf die Linie eines starken Russland eingeschworen, hielten sich an das vom Kreml ausgehende Schweigen. Das ist das Zweite. Das Schweigen zu brechen und die Öffentlichkeit zu informieren übernahmen die kleineren Zeitungen, Radiosender und das Internet. Die Entlassung des Chefredakteurs der „Neuen Iswestija“ gehört in diesen Zusammenhang. Auch diese Vorgänge kamen für aufmerksame Beobachter nicht überraschend.
Eine neue Qualität erreicht die Medienpolitik des Kreml allerdings, das ist das Dritte, mit der direkten Behinderung der Berichterstattung, nicht zuletzt eben dieser Medien, die den staatlichen Organen bisher die Mühe der direkten Intervention nicht wert waren. Die Reihe der Vorkommnisse ist lang: Der bekannte Kriegsreporter von Radio Liberty, Andrej Babitzky wurde am Flughafen unter fadenscheinigen Vorwänden festgehalten. Die Reporterin der Nowaja Gasjeta, Anna Politkowskaja, wurde von Unbekannten auf dem Anflug nach Beslan vergiftet. Eine Gruppe ausländischer Journalisten, von der polnischen Zeitung „Gasjeta Wyborcza“, von „Liberation“ und „Guardian“ wurden am Flughafen von Mineralniy Wodi über mehrere Stunden festgehalten, durchsucht und verhört. Nach dem Sturm auf die Schule am 3.September, wurden Kassetten von TV-Teams des ZDF, der ARD, des amerikanischen APTV und des georgischen Rustavi-2 konfisziert. Die georgischen Journalisten Nana Lezhava und ihr Kameramann Levan Tetladze wurden am 4.9. wegen illegalen Überschreiten der Grenze festgenommen, obwohl ein Abkommen besteht, dass im grenznahen Gebiet eine Grenzüberschreitung für zehn Tage ermöglicht. Erst am 8.9. wurden sie freigelassen. Noch am 6.9. wurde der Leiter des arabischen Büros des arabischen Satellitenprogramms AL Arabia , Amr Abdul Hamid am Flughafen von Mineralny Wodi festgenommen, weil angeblich Patronen für eine Kalschnikow in seinem Gepäck gefunden wurden. Und noch am 7. September wurde ein nord-ossetisches TV-Team des Landes verwiesen.
Viele Journalisten sahen sich willkürlichen Passkontrollen, Kontrollen der Akkreditierungen, vorübergehenden Festnahmen ausgesetzt. Der Korrespondent der Moscow Times“ wurde in ein Dorf in Nord-Ossetien verbracht. Bei all diesen Aktivitäten scheute sich der Geheimdienst FSB nicht, neben verdeckten Aktionen wie im Fall Babitskys oder Politkowskajas offen in Erscheinung zu treten.
Eine neue Erfahrung machten die in Beslan anwesenden Journalisten schließlich, viertens, auch mit der Reaktion der lokalen Bevölkerung: Verbittert durch die falsche bis fehlende Berichterstattung, insbesondere durch die falsche Angabe zur Zahl der Geiseln, die die Geiselnehmer provozierte und wesentlich zur Verschärfung der Lage beitrug, verprügelten örtliche Anwohner mehrere Journalisten, so den Moskauer Korrespondenten der Komsomolskaja Prawda, den sie direkt verantwortlich machten für falsche Angaben, so Kollegen der polnischen Gazjeta Wybcza, so das russische Fernseh-Team TVTs. Auch ein französischer Journalist und ein schwedischer Kameramann wurden geschlagen; den Mitgliedern des russischen Ren-TV wurden die Kassetten von Zivilisten weggenommen. Diese Aktionen mischten sich ununterscheidbar mit den verdeckten Einsätzen der diversen Sonderkommandos. „Niemand weiß, wer sie waren“, schrieb „Moskowski Komsomelez“ anschließend über die militanten Zivilisten.
In den westlichen Medien erschien dies alles unter dem Stichwort der Einschränkung der Pressefreiheit durch Wladimir Putin und seinen Stab. So unübersehbar und nötig zu kritisieren die Einschränkungen der Pressefreiheit in und um Beslan sind, geht es doch um mehr: Solche Maßnahmen von oben durchzuführen setzt ja die Fähigkeit zur praktischen Durchsetzung eines politischen Willens voraus; es ist aber, wenn man es recht betrachtet, viel schlimmer: Die Prügelszenen ebenso wie die willkürlichen Schikanen, die Behinderungen, die Verhaftungen durch Spezialagenten an Flughäfen oder auch in Beslan und Umgebung selbst sind Ausdruck einer aus dem Ruder laufenden gesellschaftlichen Ordnung – Willkür, Chaos, Ohnmacht der Staatsorgane auf der einen, vorauseilender Gehorsam zur Erhaltung der Staatsräson auf der anderen Seite.
Selbst die Absetzung des Chefredakteurs der „Neuen Iswestija“ ist kein einfacher Fall der Zensur. Es habe Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben, erklärte Raf Schakirow, ob es journalistisch zulässig sei, Bilder der Kinder von Beslan über die ganze Seite der Zeitung zu vergrößern, wie er es veranlasst habe. Der Verleger habe dies als „zu emotionalisierend“ abgelehnt. Tatsächlich, so Schakirow selbstkritisch, sei das ja auch sehr unüblich im Journalismus. Von direktem Eingreifen des Kreml ist bei ihm nicht die Rede.
So kommt ein Bericht der OECD zu dem interessanten Urteil, die Pressefreiheit sei „erhalten geblieben“, aber „einige beunruhigende Entwicklungen zwischen Regierung und den Medien“ hätten die Aufmerksamkeit örtlicher und internationaler Experten und Menschenrechtler erregt, nämlich: „Eine dreifache Glaubwürdigkeitslücke hat sich aufgetan zwischen der Regierung und den Medien, zwischen den Medien und den Bürgern, und zwischen der Regierung und der Bevölkerung.“ Darin liege ein ernsthafter Rückschlag für die Demokratie.
Damit ist das Wesentliche benannt; anders formuliert: Der übermächtige Präsident Russlands hat keine Rückkoppelung zur Bevölkerung mehr, weder durch eine politische Opposition, noch durch die Presse noch durch Stimmen aus der Bevölkerung selbst. Die Medien – weit entfernt davon vierte Macht im Staate zu sein – sind nicht einmal mehr Vermittler. Die Funktion des Vermittlers hat an ihrer Stelle der FSB übernommen.
Dies ist, verfolgt man die Analysen der russischen Medienwächter, nicht über Nacht so gekommen, es ist in den letzten Jahren herangewachsen; mit der triumphalen Wiederwahl Putins im März 2004 wurde es besiegelt, mit Beslan wurde es offensichtlich. Die martialischen Ankündigungen Wladimir Putins und seines Stabes nach den Ereignissen von Beslan von mehr Befugnissen des Zentrums, insonderheit auch der Organe des FSB, sind nicht geeignet, diese Situation zu ändern, sie lassen sie nur umso deutlicher hervortreten.

Das Echo der russischen Gesellschaft auf diese Situation ist geteilt. Beispielhaft dafür sind die Positionen der beiden wichtigsten NGOs, die sich heute um die Freiheit der Presse kümmern. Entstanden aus einem gemeinsamen Ansatz, dem „Fond zum Schutze von Glasnost“, der sich seit 1991 aktiv für die Entwicklung der Pressefreiheit in Russland einsetzte, stehen sich der immer noch bestehende „Fonds“ und das aus ihm vor vier Jahren abgespaltene „Zentrum für extremen Journalismus“ heute mit unterschiedlichen Ansätzen gegenüber. Obwohl beide das gleiche Ziel angeben – eine freie Presse in einer selbstbestimmten Bürgergesellschaft, obwohl beide sich mit den gleichen Fragen in der gleichen Form befassen – Berichte zur Lage der Presse, Monitoring, Herausgabe von periodischen Berichten, Rechtshilfe, Ausbildung – unterscheiden sie sich doch inzwischen in einem: Kooperation mit dem Staatapparat oder Hilfe zur Selbsthilfe? Mit oder ohne, wenn nicht gar gegen Putin? In dieser Polarität stehen sie zugleich exemplarisch für Zerrissenheit hunderter anderer NGOs die gegenwärtig in Russland tätig sind, wie generell der gesamten Gesellschaft.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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Gespräch mit Oleg Panfilow,
Zentrum für extremen Journalismus:
Hilfe zur Selbsthilfe

Stagnation wie nach zehn Jahren Breschnejew kennzeichnet nach Ansicht von Oleg Panfilow die nach der Wiederwahl Putins entstandene Lage. Chauvinismus und Rassismus breite sich im Lande aus, fürchtet er. Die zentralen elektronischen Medien befänden sich zu 100% in den Händen des Staates, die Presse zu 87%, vor allem in den Regionen sei die Lage katastrophal. Dort gebe es für Journalisten überhaupt keinen Schutz, nicht einmal den der ausländischen Botschaften. Lediglich das Internet sei noch unkontrolliert, allerdings nur, solange es aus wirtschaftlichen und sprachlichen Gründen nur von einem sehr eingegrenzten Kreis nutzbar und daher für die Macht vernachlässigenswert sei.

Kai Ehlers: Was tun Sie in dieser Situation?

Oleg Panfilow: Wir haben uns von der Methode losgesagt, die in anderen Rechtsschutzorganisationen besteht, wo die Journalisten aufgefordert werden, anzurufen, wenn es bei ihnen Probleme gibt, und wo die Organisation dann antwortet: Wir werden Dich beschützen. Wir denken dagegen, dass mit diesen ersten Konflikten die Journalisten selbst sich auseinandersetzen können. Das heißt, wenn es bei ihnen einen Gerichtsfall gibt oder auch sonst kleinere Konflikte. Wir meinen, man muss diese Journalisten unterrichten, sie lehren, wie sie sich selbst schützen, sich selbst helfen können. Wenn der Konflikt dann ernst wird und die Journalisten sich selbst nicht mehr helfen können, dann sind wir dran. Dann befassen wir uns vor aller Augen mit dem Skandal. Aber solange russische Journalisten mit den in Russland bestehenden Gesetzen ihre Rechte selbst verteidigen können, bringen wir ihnen bei, wie man das macht. Das tun wir, damit Russland sich allmählich in eine bürgerliche Gesellschaft verwandelt.

Kai Ehlers: Sie agitieren?

Oleg Panfilow: Nein, wir selbst nicht. Wir unterrichten nur. Nun, manchmal helfen wir, wenn Journalisten nicht wissen, wie sie es anstellen sollen zu protestieren, dann sagen wir so und so. Aktivität der Gesellschaft beginnt da, wo man seinen Kollegen beibringt, dass man nicht schweigen muss. Wir haben ja nicht die Absicht, Nichtstuer zu erziehen. Wenn ein Journalist, der Probleme hat, die Möglichkeit hat, eine Erklärung an die Staatsanwaltschaft zu schreiben, vor Gericht zu gehen, dann soll er das machen. Warum sollte das das Zentrum für extremen Journalismus für ihn tun? Die Journalisten haben doch das volle Recht, das selber zu tun und sie sollten es tun. Wenn wir das für sie tun, wird es niemals eine bürgerliche Gesellschaft geben, das wird eine bürgerliche Gesellschaft auf dem Territorium von zwanzig Quadratmetern.

Förderungen, erklärt Oleg Panfilow noch, nehme das Zentrum im Interesse seiner Unabhängigkeit weder vom russischen Staat noch von der russischen Wirtschaft entgegen. Man bemühe sich stattdessen um Gelder amerikanischer Fonds und in letzter Zeit der deutschen Botschaft.

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Gespräch mit Ruslan Gorewoi,
Fonds zum Schutze von Glasnost:
Man muss kooperieren

Ruslan Gorewoi, Vize-Direktor im „Fonds zum Schutz von Glasnost“, charakterisiert die für die Medien entstandene Lage mit den Worten, die Situation werde sich nicht verschlechtern, „weil sie sich schon gar nicht mehr verschlechtern kann.“ Sie könne sich nur noch verbessern. Wesentliche Ansätze sieht Ruslan Gorewoi in den Regionen, in denen sich trotz des Moskauer Drucks Medienvielfalt halte; insbesondere das Internet werde in den nächsten Jahren einen Boom in den Regionen erleben. Zu dieser Verbesserung, gerade in den Regionen, wolle der Fonds durch die neue Ausrichtung beitragen, die er in den letzten zwei, drei Jahren entwickelt habe.

Ruslan Gorewoi: Die Stiftung hat ihr Gesicht in den letzten Jahren direkt seinen Auftraggebern und dem Wohle der Journalisten zugewandt. Die Programme der Stiftung sind direkt darauf ausgerichtet, den Journalisten zu helfen, in der gegenwärtigen Zeit zu überleben, sie helfen ihnen sich zu stabilisieren und juristische und moralische Unterstützung zu bekommen. Bei uns ist ein juristischer Dienst tätig, der den Journalisten direkt bei Gerichtssachen hilft, der begleitet die juristischen Angelegenheiten. Es gibt einen Dienst für Monitoring, der sämtliche Konflikte in ganz Russland sammelt.
Wir haben in den letzten zwei Jahren unsere Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft stabilisiert, wir übermitteln ihnen unsere Ergebnisse und erhalten ihre Beschlüsse, ihre Mitarbeiter gehen unseren, sagen wir, Spannungspunkten nach, manchmal unternehmen wir auch gemeinsame Missionen mit ihnen. Außerdem gibt es bei unseren Korrespondentenstellen spezielle Missionen für die Stiftung zum Schutz von Glasnost, wenn z.B. Mitarbeiter des Fonds mit analytisch-informatorischen Vorträgen auftreten, diese Vorträge übergeben wir natürlich auch der Presse und der Staatsanwaltschat. Und auf dieser Grundlage führen wir verschiedene gemeinsame Aktionen durch.
Auf der anderen Seite müssen wir unanhängig bleiben von der Macht; deshalb entfernen wir uns davon, Förderung von ihr anzunehmen. Wir bemühen uns stattdessen um Förderung aus den Kreisen unserer russischen Wirtschaft, wie es mit JUKOS war. Außerdem genießen wir seit langem die Unterstützung des amerikanischen Fonds Mac Arthur und neuerdings auch der Ford-Stiftung. Wir werden unsere Arbeit weiter strukturieren und mit der Ford-Stiftung in den nächsten Jahren arbeiten.

Zur Situation den Regionen erklärt er:

Ruslan Gorewoi: Im Zentrum gibt es keine Opposition, in den Regionen aber sehr wohl. Die Sache ist so: Wir sprechen von einem einheitlichen Russland, ja? Von einem zentralen Russland. Aber häufig gehen in den Regionen die Kommunisten mit Jabloko zusammen. Können Sie sich vorstellen wie in Moskau Jawlinski und Suganow zusammen auftreten? Nein, kann man nicht. In den Regionen ist das normal. Der politische Kampf, den wir im Zentrum beobachten, besser gesagt, die politische Stille, die wir hier haben, ist in den Regionen nicht vorhanden, das ist dort nicht real, denn dort gibt es Vertreter unterschiedlicher finanzieller Gruppen, sogar in Tatarstan, wo die Situation vollkommen blockiert erschien. Trotzdem kommen immer wieder Leute, die Politik machen wollen. Und so oder so machen sie sie auch. Und Opposition? Nun, ich kann natürlich sagen, es gibt ein Dutzend Republiken, in denen keine Opposition existiert, wo sie niedergedrückt ist und unwirksam. Aber selbst in Kalmückien gibt es eine SPS (die ultraliberale Union rechter Kräfte – K.E.), die dort eine Zeitung verbreitet. Also, es verbietet sich zu sagen, dass alles überall niedergeschlagen sei, es ist nur ein einem sehr schlechten Zustand. Nehmen Sie das Beispiel eines deutschen Autos: Kaufen Sie einen zehn Jahre alten Mercedes; der ist natürlich problematisch, da und dort funktioniert irgendetwas nicht, aber es ist doch immer noch ein Mercedes. So ist es mit der russischen Presse: Alles schlecht, aber noch fährt sie.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Kein starker Staat – keine gemeinsame Front

Putins Kriegserklärung gegen den internationalen Terrorismus ist nicht, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint: Sie ist kein Akt der Stärke, weder innen-, noch außenpolitisch. Sie ist Ausdruck einer gefährlichen Schwäche Russlands, das sich auf den verzweifelten Alleingang eines isolationistischen Weges begibt.
In seiner TV-Rede zu Beslan, deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Die Umsetzung dieser Forderung – präventive Mobilisierung gegen „den“ Terrorismus, Abschaffung der Wahl der Gouverneure, Abschaffung des Mehrheitswahlrechts, das neben den Parteivertretern bisher, die inzwischen mehrheitlich auf Putin-Linie sind, immer noch unabhängige Kadidaten in die Duma brachte, weitere Einschränkung der Freizügigkeit, mehr Vollmachten für den FSB (KGB) usw., lässt allerdings noch weniger innere Entwicklung zu als bisher. Der bloß bürokratische Würgegriff, in dessen Rahmen sich Putins autoritäre Herrschaft bisher trotz zunehmender Durchsetzung durch Geheimdienstkader noch niederschlug, wandelt sich zum offenen geheimdienstlichen, der die Gesellschaft an der Basis zu ersticken droht: Die von Putin beabsichtigten Maßnahmen für einen starken Staat schaffen keine Bürgergesellschaft, nicht einmal eine von oben organisierte, sie verhindern sie und schwächen die Innovationskraft der russischen Gesellschaft auf Dauer. Die von Putin in Aussicht gestellte Kommission, in der Bürger die Arbeit der Geheimdienste kontrollieren sollen, ist angesichts der gleichzeitigen massiven Einschränkung der Rechte im Lande ein Hohn. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus versetzt die russische Gesellschaft ideologisch in den Kriegszustand, der angesichts der zugleich wachsenden antiwestlichen Ressentiments faktisch auf einen isolationistischen nationalistischen Kurs hinausläuft. Die Einfrierung der Bankkonten von Jukos, die im Schatten der Beslan-Erschütterung durchgezogen wurde, als die Öffentlichkeit davon keine Kenntnis nahm, ergänzt diesen Kurs auf wirtschaftlichen, bzw. strukturpolitischem Gebiet. Die Einschränkung der Arbeit westlich finanzierter und orientierter NGOs, die nach der Erklärung Putins, man werde jeder kleinsten Unterstützung des Terrors nachgehen, zu erwarten ist, transportiert ihn in den russischen Alltag. Nationalisten wie der berüchtigte Geostratege Alexander Dugin, die seit langem einen schärferen nationalen Kurs fordern, frohlocken.
Mit der Kriegserklärung gegenüber dem internationalen Terrorismus ist der tschetschenische Konflikt über die Dimension eines inneren Konfliktes, als den Putin ihn immer behandeln und ersticken wollte, endgültig hinausgewachsen.
Tatsache ist natürlich, dass dieser Konflikt nie eine bloß innere Angelegenheit von Russland war, insofern ein Kolonialkrieg eben kein „innerer Konflikt“ ist. Selbst rechtlich war die Situation nach der Deklaration der Unabhängigkeit von Seiten Dudajews usw. nicht eindeutig, zumal Tschetschenien – anders als andere „nationale“ Republiken wie etwa Tatarstan oder andere Wolgarepubliken nicht innerhalb des russischen Territoriums, sondern am Rande liegt.
Russland kann aber „Hilfen“ vom Westen, speziell von Seiten der USA in der Tschetschenienfrage nicht zulassen, weil dies vor dem Hintergrund der strategischen Konkurrenz um die Vorherrschaft im Kaukasus geschieht. Es gibt keine gemeinsame Front: Die Brzezinski Doktrin, nach der die USA Weltmacht Nr. 1. sind, welche jetzt auch Eurasien kontrollieren müsse, indem die russische Vorherrschaft untergraben und destabilisiert wird, ist heute herrschende Linie der US-Politik. Brzezinski rühmt sich öffentlich, maßgeblich verantwortlich gewesen zu sein für den von den USA unterstützten afghanischen Djihad gegen die Sowjetunion. Heute ist er Vorsitzender des 1999 gegründeten „American Committee for Peace in Chechnya“. Und man betrachte die aktuelle Situation: Der einzige Nutznießer von Unruhen im Kaukasus sind die USA, der einzige, dem die Tragödie von Beslan nützt, ist der Wahlkämpfer George W. Bush.
Vor diesem Hintergrund kommen aktuelle Reaktionen der deutschen Politik, ruppig vorgetragen durch Kanzler Schröder, in bedenkliche Falten gelegt durch Außenminister Fischer – also, keine Kritik an der Tschetschenienlinie Putins, gemeinsame Präventionslinie gegen den Internationalen Terrorismus mit der Begründung, man habe gemeinsame strategische Ziele, eine Destabilisierung des Kaukasus sei weder für Russland noch für Deutschland von Interesse – einer strategischen Frontbildung gleich, die nichts Gutes erwarten lässt.
Einziger Ausweg aus dieser Lage sind Verhandlungen mit dem ehemals legitim gewählten Präsidenten Tschetscheniens, Maschadow, der nur so aus seiner Zwangsgemeinschaft mit Leuten wie dem Terroristen Bassajew und anderen gelöst werden kann. Mit beteiligt werden müssen andere Kaukaus-Anrainer und direkte Nachbarn, die ein Interesse daran haben, der Destabilisierung des Kaukasus Einhalt zu gebieten und stattdessen einen kontrollierbaren Rechtsraum herzustellen, der von einem transparenten internationalen Übergangsgremium garantiert wird. Das wäre kein Protektorat von irgendjemand – Russland, USA, Türkei u. ä. – das wäre eine Schutz.- und Entwicklungszone unter UN-Aufsicht. Das hieße: Blauhelmpräsenz statt unilateraler Truppenaufmärsche.
Eine solche Entwicklung schlösse „innenpolitische“ Gesten Wladimir Putins wie die volle Rehabilitierung der tschetschenischen Bevölkerung, die Entschuldigung für einen fast vollzogenen Genozid ebenso mit ein wie die öffentliche und vertragliche Distanzierung aller Beteiligten von gewaltsamen Formen der Konfliktlösungen im Kaukasus. Wenn dies versucht würde, könnte die Chance bestehen, das tschetschenische Geschwür nicht zum Ausgangspunkt eines eurasischen Krieges werden zu lassen. Wenn stattdessen ideologisch und militärisch aufgerüstet, der autoritäre Präventionsstaat national und international, zum Glaubenssatz erhoben werden, darf man sich bereits Gedanken darüber machen, was nach Putin kommt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de