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Putins Rochade

Überraschend, ohne vorhergehende Kritik an dem amtierenden Ministerpräsidenten Michail Fradkow, trat in der letzten Woche Russlands Regierung zurück. Russlands Präsident Putin ernannte umgehend Viktor Subkow zum neuen Ministerpräsidenten; die Duma stimmte der Ernennung innerhalb von zwei Tagen mit großer Mehrheit zu. Subkow selbst kündigte an, er werde sich hauptsächlich dem Kampf gegen Korruption wie der „Stärkung der sozialen Sphäre“ widmen. Einige Minister des früheren Kabinetts unter ihnen der Wirtschaftsliberale German Gref müssen mit Ablösungen rechnen.

Soweit so klar – und so unspektakulär könnte man sagen; jedenfalls entbehrte dieser Vorgang offenbar des Stoffes für die in letzter Zeit üblichen wilden Kritiken an Wladimir Putin, innerhalb wie auch außerhalb des Landes. Lediglich die Kommunistische Partei beklagte eine mangelnde demokratische Kultur, die sich darin zeige, dass die Duma dem Wechsel in der Regierungsspitze ohne jegliche politische Debatte zugestimmt habe.
Im Gegenteil, russische wie auch nicht-russische Kommentare sind sich darin einig, dass Wladimir Putin ein optimaler Schachzug gelungen sei, um den im Herbst 2007 und Frühjahr 2008 bevorstehenden Machtübergang ruhig zu gestalten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mag sogar nicht ausschließen, dass der Westen Putin für sein erfolgreiches Management der Nachfolge nach dem Motto, Stabilität habe Vorrang, am Ende sogar loben werde.

Diese Sicht, die auch dem allgemeinen Tenor der russischen Kommentare entspricht, stützt sich vor allem anderen auf die bisherige Tätigkeit des neuen Regierungschefs als Leiter der Finanzaufsichtsbehörde, deren wesentliche Aufgabe in den letzten Jahren darin bestand, die russischen Finanzflüsse wieder unter Kontrolle des Staates zu bringen, indem Kapitalflucht und Geldwäsche gestoppt und die Zahlung von Steuern erzwungen wurde. Man erinnere sich an Michail Chodorkowski. Subkow, wird vermutet, verfüge aus seiner Tätigkeit über genügend Wissen, um mögliche Störenfriede während und nach den Wahlen ruhig zu halten.
Auch diese Sicht entbehrt nicht einer gewissen Realität, denn aus den zurückliegenden Wahlkämpfen zu Duma- wie zu Präsidentenwahlen, aber auch aus Regionalwahlen ist bekannt, welche Rolle sog. „Kompromate“ für das Ausschalten von Konkurrenten, missliebigen Kandidaten oder auch ganzen Organisationen in Russland bisher gespielt haben. Daran waren sowohl Regierung wie auch die Kandidaten selbst beteiligt. Mit Subkow an der Spitze verfügt die Regierung nun über das Monopol an „Komprimaten.“

Das könnte einer Stabilisierung oben durchaus dienlich sein. Über diese offensichtlichen Tatsachen hinaus weiß jedoch niemand etwas Genaues; und so wird umso freier über den „Putin Plan der Machtübergabe“ spekuliert: Die einen glauben, Putin habe auf diese Weise den bisher als „Kronprinzen“ gehandelten, erst kürzlich beide zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannten, Sergej Iwanow und Sergej Medwedew einen „Dämpfer verpasst“, insofern sie nun durch das Hinzutreten von Subkow als möglicher weiterer Kandidat in die Reihe zurückgedrängt worden seien. Andere sehen vor allem Sergei Iwanow gestärkt. Das werde unter anderem daraus klar, dass Subkow als einen der Programmpunkte, für die er einstehen werde, auch die Stärkung der Rüstungsindustrie genannt habe, mehr noch aber durch die Politik der Stärke, die Putin in letzter Zeit bis hin zur Detonation einer „Vacuumbombe“ kurz vor dem Regierungswechsel demonstriert habe.

Dritte frischen die in letzter Zeit etwas farblos gewordene Spekulation wieder auf, dass Putin eine weitere Amtszeit anstrebe, nur jetzt nicht mehr direkt durch eine Verfassungsänderung vor den Wahlen, sondern durch die Inthronisierung eines Übergangskandidaten. Als ‚Präsident im Rentenalter’ könne der jetzt 66jährige Subkow in angemessener Zeit nach der Wahl abdanken und den Platz für ein Come-back Putins frei machen. Die russische Verfassung, die nur zwei Amtzeiten hintereinander erlaube, werde dann nicht mehr verletzt. Iwanow, Medwjedew und mögliche weitere Kandidaten werden in diese Sicht gleich mit eingeschlossen.

Eine Variante ist so gut möglich wie die anderen; entscheidend ist aber wohl nicht, ob ein Übergang von Putin zu Putin oder doch zu einem anderen Namen geschafft wird, sondern ob es Russland gelingt aus der Phase der putinschen Restauration in eine Entwicklung überzugehen, in der Russlands neu gewonnene Stärke sich in einer den Menschen zugewandten Sozialpolitik fortsetzt. Für diesen Schritt ist eine ruhige, zumindest formaldemokratisch korrekte Ablösung Putins bei den anstehenden Wahlen die unausweichliche Bedingung, unabhängig davon, ob, wo und wie er selbst in der Politik bleibt oder nicht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Gezielter Todesschuß – für wen?

Mit den „klassischen Mitteln der Polizei“, erklärte der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble im Juli diesen Jahres, sei die Bekämpfung des internationalen Terrorismus nicht mehr zu meistern. Die Möglichkeit des „gezielten Todesschusses“ müsse daher im Grundgesetz verankert werden. Eine kleine Welle offizieller Empörung antwortete diesem Vorstoß; wogegen richtet sich die Empörung? Gegen die Legitimierung des Todesschussses? Wohl kaum; der gezielte Todesschuß wurde 1973 als „finaler Rettungsschuß“ im Zuge des sog. Musterentwurfes für ein neues Polizeigesetz in die deutsche Rechtsprechung eingeführt. Zwölf der 16 Bundesländer haben die Regelung seitdem in ihren Landespolizeigesetzen verankert. Die Unantastbarkeit des Lebens, die Notrechtsklausel, die Verhältnismäßigkeit der Mittel sind längst durch geltendes Polizeirecht relativiert, ganz zu schweigen von der Praxis.
Erinnern wir uns: Der Musterentwurf war Bestandteil des „Programms Innere Sicherheit“ mit dem die SPD-Bundesregierung 1971 auf die außerparlamentarische Opposition (APO) der Jahre 1966 bis 70 und die daraus folgende Entwicklung einer neuen ebenfalls außerparlamentarischen bundesrepublikanischen Linken antwortete. Entgegen der Märchen, die heute vielfach über diese Zeit erzählt werden, war es aber nicht die „Rote Armee Fraktion“ (RAF), auf welche die Aufrüstung des Staates antwortete, die RAF war vielmehr eine Antwort – wenn auch eine ungeeignete – auf die Verwandlung der kriegsmüden und neudemokratischen west-deutschen Nachkriegsordnung in eine „wehrhafte Demokratie“.
„Startschuß“ der neuen Polizeipraktiken war die Erschießung Benno Ohnesorgs bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin 1967. Dem Polizeischützen Kurras wurde „putativ Notwehr“ bestätigt. Im Zuge der APO-Proteste und der einsetzenden Fahndungen nach der RAF stieg die Zahl polizeilicher „Notwehr“-Situationen drastisch an. 1971 wurden Petra Schelm und Georg von Rauch auf der Straße gestellt und erschossen. Weitere Tote im Zuge der RAF-Fahndungen folgten. Das soll hier nicht weiter aufgelistet werden. Die Verfolgung der RAF war nur die Spitze des Eisbergs; allein 1971 starben außerdem 18 Menschen durch Polizeikugeln, bis 1978 waren es über 80 erschossene Menschen.
Ein markantes Zeichen für die damaligen Vorgänge in der Republik war die Erschießung des Bankräubers Georg Rammelmayr und seiner Geisel Ingrid Reppel im August 1971 in München. Dieser Vorfall glich einer öffentlichen Hinrichtung: Als Rammelmayr, die Waffe auf seine Geisel gerichtet, von der Bank zu einem bereitgestellten Fluchtauto ging, eröffneten Scharfschützen der Polizei das Feuer auf die beiden. Rammelmyr schoß zurück. Bei dem Feuergefecht wurden mehr als 200 Schüsse abgegeben; das Fluchtauto wurde buchstäblich durchsiebt. Hunderte von Schaulustigen waren anwesend; alles wurde direkt im Fernsehen übertragen. Von einem Urteil gegen die Scharfschützen wurde nichts bekannt. Zu den Konsequenzen, die aus dem Überfall gezogen werden müssten zählte der damalige Münchner Polizeipräsident Schreiber eine Intensivierung von Spezialtrupps und eine Überarbeitung der Polizeigesetze, bei denen zu fragen sei, ob sie Masseneinsätzen noch gerecht würden. (FAZ,, 12.8.71) Ingrid Reppel wäre nicht getötet worden“ schrieb die Welt (7.8.71), „wenn die Anordnung an die Scharfschützen gelautet hätte, den Gangster zu erschießen.“
Drei Jahre später wurde ein vergleichbarer Fall in Hamburg, der Überfall einer Commerzbankfiliale durch den Columbianer Emilio Gonzales vom „Mobilen Einsatz Kommando (MEK) durch gezielte Erschießung des Geiselnehmers beendet. Die Tötung geschah auf Weisung. „Viel Lob für Hamburg“ und „Glückliches Hamburg“ lauteten die offiziellen Reaktionen.
Neben den getöteten RAF-Verdächtigen, neben Fällen wie Rammelmayr oder Gonzales werden in den Jahren von 1971 bis 78, in dem Zeitraum, der in einer Materialsammlung des „Kommunistischen Bundes“ (1) zur Vorlage beim „Russel-Tribunal gegen Repression der BRD“ dokumentiert wurde, auch einfache Kriminelle, Verkehrsssünder oder jugendliche „Ruhestörer“ in wachsendem Maße Opfer polizeilicher Schießwut.
Greifen wir zwei heraus:
Am 1.3. 1972 wurde der Lehrling Richard Epple von polizeilichem Maschinengewehrfeuer in seinem PKW getötet. Er war der Besatzung eines Streifenwagens aufgefallen, weil ein Rücklicht seines Wagens nicht brannte. Die Aufforderung zu halten brachte ihn in Panik. Er flüchtete, weil er ohne Führerschein unterwegs war. Er raste durch Tübingen, überfuhr mehrfach rote Ampeln, durchbrach eine Polizeisprerre. Polizeimeister H.J. Geigis schoß das ganze Magazin seiner MP auf das flüchtende Auto leer, wobei er nicht auf Einzelfeuer einstellte; dreizehn Schüsse trafen das Auto und „zersiebten“ den Jungen. Die Strafanzeige der Familie Epple und der Initiative „Schutzbund für Staatsbürgerrechte“ wurde abgewiesen.
Die ganze Reihe ähnlicher Fälle soll hier nicht weiter aufgezählt werden. Als besonders exemplarisch sei nur noch die Erschießung des 14jährigen Peter Lichtenberg am 6.2.1977 erwähnt. Er wurde getötet, nachdem Anwohner die Polizei benachrichtigt hatten, weil Jugendliche in einer Neubauruine nebenan lautstark feierten. Die anrückende Polizei schoß auf den unbewaffneten Jungen. Dieser Vorfall ging unter der Frage, die der sterbende Junge noch gestellt hatte: „Darf man denn auf Kinder schießen?“ breit durch die Presse. Für ein Verfahren gegen den Todesschützen bestand nach Aussage des Oberlandesgerichtes dennoch „kein Anlass“.
Mehr als 142 Fälle unmittelbarer Gewaltanwendung durch die Polizei oder verwandte Staatsorgane mit 154 Toten wurden dem Russell-Tribunal für den Zeitraum 1970 bis 1978 vorgelegt, davon 14 im Zusammenhang mit der RAF, 51 einfache Kriminelle, 13 Verkehrssünder, 18 Tote bei Verfolgungsfahrten, die restlichen Opfer wurden, so die Dokumentation, erschlagen, erwürgt, in Arrestzellen tot aufgefunden, von Polizeiwagen überfahren usw. In einigen Fällen konnte Gewaltanwendung seitens der Polizei oder anderer Staatsorgane nicht nachgewiesen, habe aber auf Grund vergleichbarer Fälle der Zeit als wahrscheinlich angenommen werden müssen.
Strafen gegen die jeweils beteiligten Beamten wurden nicht ausgesprochen. Wo es wegen öffentlicher Proteste geboten schien, wurde, solange der „finale Todesschuß“ noch nicht legitimiert war, wie im Fall Kurras auf „Notwehr, „putativ Notwehr, oder wie im Fall Peter Lichtenbergs auf „bedauerlichen Irrtum“ erkannt. Kritiker der Vorfälle wurden diffamiert wie der Müncher Staranwalt Bossi, der anlässlich der Erschießung des Jugendlichen Wiesneth, ebenfalls Opfer einer Verkehrskontrolle, erklärt hatte, jeder könne der Nächste sein. Bossi wurde aus dem Müncher Polizeipräsidium als „unwürdig“ für den Beruf eines Anwaltes bezeichnet. Weniger prominente Kritiker wurden wegen Beamtenbeleidigung oder gar Staatsverleumdung verfolgt. In der juristischen Debatte um die Legalisierung des Todesschusses kamen zudem Töne auf, die an die Nazizeit erinnerten. So erklärte ein V. Winterfeldt in der „Juristischen Wochenzeitschrift“ 42/3, “daß der Träger unantastbarer Würde nur ein Individuum sein kann, dessen personale Existenz die Grundwerte staatlicher Ordnung achtet.“ Seit Übernahme der Legitimation aus dem Musterentwurf ist von Verfahren überhaupt nichts mehr zu hören.
Wenn Wolfgang Schäuble heute erklärt, mit dem „klassischen Instrumentarium“ der Polizei sei der Terrorismus nicht mehr zu meistern und nach der Legitimation des „gezielten Todesschusses“ ruft, dann kann das angesichts der tatsächlich erreichten Legitimation des Gezielten Todesschusses nur bedeuten, dass er über die „klassische“ polizeiliche, d.h. zivile Legitimation hinaus dessen Legitimation für alle „Sicherheitsorgane“ erreichen will. Das würde bedeuten auch der Bundeswehr die Möglichkeit zu Todesschüssen zu geben, wenn sie, wie Schäuble bekanntlich ebenfalls fordert, in Zukunft auch im Inneren eingesetzt werden soll. Im Unterschied zur Polizei, die trotz allem immer noch die Hürde der zivilen, individuellen Entscheidung nehmen muss, wäre der Todesschuss dann weisungsgebunden, Befehlssache im Interesse einer Freiheit, die bekanntlich heute am Hindukusch verteidigt wird. Es ist eben so, wie auch Kanzlerin Merkel es sagte: „Wir müssen Sicherheit heute ganz neu denken.“

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(1) Antifaschistische Russel-Reihe 4, „Jeder kann der nächste sein“, Dokumentation der polizeilichen Todesschüsse seit 1971 und ihre Legitimation, Antifaschismus Kommission des KB, Reents Vlg, 1978

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Notizen über mich selbst „Gesättigt und versorgt träumten wir von einer konsumfreien Welt“,

in: Alles schien möglich, 60 Sechziger über die 60ziger Jagre und was aus ihnen wurde., Der grüne Zweig 252, Herausgegeben von Werner Pieper.

Wenn ich gebeten werde zu erzählen, wie es damals – in den 60ern – war, komme ich immer in Verlegenheit: Womit beginnen? Es gibt so viele Türen, durch die man gehen kann. Es gibt so viele Arten, wie man erzählen kann. Soll ich mit den Träumen beginnen? Vielleicht besser mit dem Zorn? Oder einfach nur erzählen, wie mein Leben in der Zeit zwischen dem fünfzehnten und dem dreißigsten Lebensjahr ausgesehen hat? Das alles liegt lange zurück und ist doch gegenwärtig. Was damals Träume waren, das sind auch heute noch Träume, nämlich die nach einer gerechteren und wärmeren Gesellschaft, nach Gemeinschaft, die frei lässt und zugleich beflügelt, nach Schönheit statt Krieg. Aber heute weiß ich, wie teuer unsere Träume erkauft werden müssen und der Zorn hat sich immer noch nicht gelegt. Der Traum ist eine Funktion des Zorns, Traum und Zorn bedingen einander, ohne Traum kein Zorn, aber ohne Zorn bleiben auch die Träume gestaltlos. Wenn ich nun mit dem Zorn beginne, dann muss ich weit ausholen, um meinen damaligen Zustand von dem meines heute sechzehnjährigen Sohnes und dem meiner zwanzigjährigen Tochter zu unterscheiden. Sie sind heute genau so zornig, wie ich es damals war. Vieles ist identisch, obwohl die Welt sich seitdem um fünfzig Jahre gedreht hat. Oft weiß ich nicht, ob wir damals mehr Grund hatten zornig zu sein, als wir es heute haben – wenn ich mich zu dem „wir“ noch dazu zählen darf.
Bei mir war es damals der Zorn über eine Umgebung, die sich nicht einmischen wollte, die sich heraushalten wollte, die sich verstecken und ihre Vergangenheit verleugnen, aber auch keine Verantwortung für die Gegenwart übernehmen wollte. Von meiner Mutter erfuhr ich nichts über die Kriegsjahre und die Zeit der Nazis. Die Vergangenheit war nur ein großes schwarzes Loch. Da war kein Vater, keine Geschichte, kein Staat, mit dem ich mich identifizieren konnte. Als ich, sechzehnjährig, durch England trampte, musste ich Fragen beantworten, auf die mich vorher niemand vorbereitet hatte. Kisia, die junge polnisch-stämmige Engländerin, die ich in Cambridge kennen lernte, während ich unter einem der imposanten Portale Schutz vor dem englischen Regen suchte, erklärte mir ihre Sympathie mit der Feststellung, ich sei, obwohl Deutscher, nicht so „pig-headed“, wie sie es von einem Deutschen erwartet hätte. Später, in der Provence, musste man sich vom „cochon“ emanzipieren.
Wie soll ich sagen? Goethe oder Hitler? Die Deutschen ein Dichtervolk oder Verbrecher? Hatte die Geschichte 1945 neu begonnen oder war nur ein Schleier darüber gezogen worden, unter dem alles weiter ging wie zuvor? Wie oft bin ich in meinem Leben gefragt worden, welchen Vorbildern ich folgte? Ich konnte nie eine Antwort darauf geben. Schon gar nicht damals. Es gab keine Vorbilder, keine Idole und auch keine Ideale. Was es gab, waren die quälenden Pole: Hitler und Goethe, Kulturvolk und Nazis, abgemildert allein durch die Mittelmäßigkeit, mit denen beide in der Schule behandelt wurden.
Der Spießer Höss, KZ-Kommandant von Auschwitz, tagsüber lässt er Juden vergasen, nach Feierabend; um fünf Uhr nachmittags; erwartet ihn seine Frau im trauten Heim, das auf dem Gelände des KZs errichtet ist, zur Hausmusik und zu Lesungen deutscher Dichter. War das meine Kultur?
Es gab nur mich – und keine Antworten.
Ich lebte damals in einer Kleinstadt von 10.000 Einwohnern bei Osnabrück. Melle. Schöne Gegend. Satte Menschen. Neugebautes Gymnasium, an dem es ordentlich zuging. Mein Protest äußerte sich in der Weigerung, mir die Haare auf Kragenlänge schneiden zu lassen; zum Outfit gehörte ein Snowcoat aus dem US-American-Stock, direkt aus Vietnam importiert. Ich ging barfuss in die Schule, soweit die Witterung es erlaubte. Was es außer den mittelmäßigen Mitteilungen über Goethe und Hitler noch Interessantes zu hören, zu lesen und zu tun gab, musste ich mir selbst organisieren: Schulsprecher, Schulzeitung, private AGs zu literarischen, philosophischen und politischen Fragen. Gute Bürger riefen mir, in dem Versuch mich zu beschimpfen, „Jesus, Jesus“ nach, was lästig war, weil ich mit Jesus rein gar nichts am Hut hatte. Mich interessierte asiatisches Denken. Stundenlang lief ich allein durch Felder, Wiesen und Wälder, um den Gespenstern des Vietnam-Krieges zu entkommen. Es gelang mir nicht. Die Berichte über Folter holten mich mitten im Wald ein. Ich erinnere mich besonders an einen Bericht, in dem geschildert wurde, wie GIs ihre Gefangenen mit Stecknadeln quälten, die sie ihnen unter die Fingernägel trieben. Ich konnte diese Bilder nicht loswerden. Je länger der Krieg dauerte, um so stärker besetzten sie meine Vorstellungen.
Man musste etwas tun. Aber was? Aktionen der Selbstorganisation als Schulsprecher, wie gesagt, überregionale Schülertreffen, Texte und Gedichte in der selbst herausgegebenen Schulzeitung, in der letzten Schulklasse ein heftig geschriebener, nie veröffentlichter Roman über „Holzen und die Männer daneben“; das war meine Auseinandersetzung mit dem deutschen Spießer, der geschehen ließ, was geschah. Schließlich die Abrechnung mit all dem in der Abschlussrede zum Abitur – und dann nichts wie weg aus dem provinziellen Muff. Endlich Freiheit! Endlich Welt! Endlich Leben! Frankreich, Italien. Dann das Erwachen an der Uni: Ende der Freiheit. Ende der Welt. Ende des Lebens. Der Muff von tausend Jahren unter den Talaren! Unerträgliche Frontal-Vorlesungen statt geistiger Auseinandersetzung. Selbst in der Publizistik und in den politischen Wissenschaften, auf die ich auszuweichen versuchte, nur trockene Dogmatik. Als Ausweg bot sich die Literatur. In kleinen Kreisen lasen junge Dichter sich ihre Werke vor. Ich hielt auch das nicht lange durch; auch diese Treffen erschienen mir schal: Literatur um der Literatur willen, kein Inhalt, keine Identität, keine Antworten auf die Frage wohin. Mir erschien das nicht besser als der Konsum um des Konsums willen, den unsere Eltern uns vorlebten. Gut, man verstand es: Die Eltern waren die Generation des Wiederaufbaus, sie mussten die Wunden des Krieges ausheilen. Die Narben waren hässlich, sie zeigten sie nicht gern. Aber so weitermachen? Selber so werden? Nein. Es war unvermeidlich aus diesem Butterpanzer auszubrechen. Wir wollten die Narben sehen und die noch offenen Wunden verbinden – jedoch, und dieses ist wichtig und ich wiederhole es bei jeder sich bietenden Gelegenheit, es war auch möglich. Die Zukunft war offen. Aufbruch war angesagt. Gemeinsam war man stark. Von Arbeitsplatzmangel, von „no future“, von saurem Regen, Ozonloch, schwarzem, weil verrußtem Schnee, Aids, Vogelgrippe usw. keine Rede. Die Warnungen des „Club of Rome“, die heute allgegenwärtige ökologische Bedrängnis war noch nicht ins Bewusstsein der Gesellschaft eingedrungen. Mehr noch: Die Naturbegeisterung meiner Mutter: Wandern, Reformhaus, FKK, sofern ich sie unter den chaotischen Zuständen unseres zerrissenen Familienlebens direkt erleben konnte, war mir suspekt; sie ließ Vorstellungen an Pionier-Romantik der Nazis in mir hochsteigen. Zu Unrecht, wie ich heute weiß, denn meine Mutter war nie von diesen Organisationen erfasst, aber zu dicht lagen die Nazi-Nebel noch auf allem, was mit Blut und mit Boden auch nur entfernt zu tun haben konnte. Selbst der „Monte Veritas“, das Wahrzeichen der Lebensreformbewegung der zwanziger Jahre und der Wandervogelbewegung, schimmerte nur als braune Silhouette durch diesen Dunst. Erst sehr viel später traten seine ursprünglichen Konturen für mich aus den düsteren Nebeln hervor.
Unter all diesen Umständen entschied ich mich, mein Studium abzubrechen und in die polit-journalistische Praxis zu gehen. Das war kein Abbruch für mich, es war die konsequente Verwirklichung einer Perspektive: Ich wollte die Welt neu erleben und durch das Leben neu gestalten. Es war eine Orientierung auf die Praxis, auf das Jetzt und Hier. Viele junge Leute trafen damals solche Entscheidungen; manche sind später reumütig in den Universitätsbetrieb und in die Institutionen zurückgekehrt. Sei´s drum. Das ändert nichts an dem Bewusstsein, eine offene Zukunft vor sich zu haben, mit dem die Generation damals aufbrach, um die Gesellschaft umzustülpen. Zwei Slogans erfassten die ganze Bewegung: „Kampf dem Konsumterror“ war der eine, „Vogliamo tuto i subito!“, wir wollen alles und zwar jetzt, der andere. Hintergrund war der Aufbruch Deutschlands aus seiner Nachkriegsgeschichte, der heute selbst Konservative, die uns damals als Gammler, Chaoten usw. beschimpften, dazu veranlasst, sich als Achtundsechziger zu bezeichnen.
Es gibt so viel zu erzählen für den, der sich erinnert. Vielleicht sollte ich ein bisschen strukturieren? Da ist der Wechsel von meinem ersten Studienplatz in Göttingen nach Berlin. Eine individuelle Entscheidung meiner Biografie, versteht sich, aber wohl doch symptomatisch für die Zeit. Ich wollte, wie schon angedeutet, der literarischen Gemütlichkeit des akademischen Ghettos entkommen, obwohl mir das Gartenhäuschen, in dem ich damals für 30 DM monatlich oberhalb der Stadt am Hang wohnen konnte, viele gute, intensive Stunden, viel Zeit für Liebe und Inspirationen, für Geschichten, Gedichte und den Entwurf eines weiteren, später von mir vernichteten Romanes gönnte. Doch der Druck des Muffs und der Zug nach Veränderung war stärker! Berlin war die Herausforderung. Berlin kochte. Frontstadt zwischen Ost und West. Anlaufstelle für Unangepasste, für Studenten, die dem Wehrdienst entkommen wollten, für innovative Intelligenz und eine unüberschaubare „Szene“ bekannter und unbekannter, erfolgreicher wie gescheiterter Künstler, die sich unter den Sonderbedingungen der Stadt ansammeln konnte. Kreuzberg – ein Synonym für einen sozialen Hochofen ohnegleichen. Ich stürzte mich mitten hinein – mehr in Kreuzberg als an der Universität. In Kreuzberger Trümmerwohnungen bildeten wir erste Kommunen. Möbel lieferte die Stadt aus ihren Altbeständen. Wer sich die Mühe machte zu Sperrmülltagen an den richtigen Orten zu sein, konnte ganze Etagen mit ausgesuchtestem Mobiliar ausstatten, wahlweise antik oder auch modern. Ein besonderes Problem der Stadt war zu der Zeit die hohe Zahl der Rentner und Rentnerinnen, die starben, ohne Verwandte zu hinterlassen. Wir kauften uns einen klapprigen alten VW-Kleinbus und boten uns zum Ausräumen verlassener Wohnungen an. Davon konnten wir zeitweilig existieren, Dann kamen sehr schnell die professionellen Händler.
In Kreuzberg lebten wir direkt an der Mauer, Schlesisches Tor, fünfter Hinterhof. Romantisch? Ja, aber sehr rau – immer jedoch getragen durch die gemeinsame Bewegung, die als Athmosphäre des Aufbruchs, des Savoir-Vivre, des Bohème etc. eine Kraft ausströmte, in der zu leben gut war. Einfache Lust am Dasein. Nachts jobbte ich in Kreuzberger Künstlerkneipen – tagsüber versuchte ich es doch noch einmal mit dem Studium. Aber ehrlich gesagt: Das Leben – und auch das Schreiben – war interessanter.
Noch interessanter wurde die Politik. Da war der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der an der Ecke Kurfüstendamm / Joachimstalerstr. ein leer stehendes Eckhaus zum Zentrum umfunktioniert hatte. Hier wurden in dichtem Qualm der Pfeifen und Zigaretten die Theorien der anti-autoritären Studentenrevolte geboren. Rudi Dutschke war die führende Gestalt. Für mich war die Happening-Kultur der Kommune I interessanter, deren Anti-Spießer-Aktionen auch vor der politischen Kultur des SDS nicht haltmachten. Nicht weniger interessant war die Kommune 2, die sich selbst zum Objekt pädagogischer Experimente machte. Gruppen wie diese bildeten den Körper, schafften die emotionalen Impulse, zu dem der SDS die Theorien lieferte. Eine unabgesprochene, spontane Arbeitsteilung war das, welche die Akteure mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zusammenführte.
Es war eine offene Szene, in der sich Spitzel wie Peter Urbach unerkannt tummeln konnten. Peter war Mädchen für alles, hatte immer alles zur Hand, was gebraucht wurde, war bei jeder kitzligen Aktion mit dabei. Ganz anders, aber ebenso rührig, der später bekannt gewordene Andreas Baader, der sich abenteuernd durch diese Szene bewegte. Ich selbst hielt es für richtig, mit einem Freund zusammen die große Vietnam-Demo, zu der 30.000 Menschen in Berlin zusammenkamen, von einem Hotelfenster aus mit einem Lautsprecher-Happening in Bewegung zu versetzen, indem wir schrilles Sirenengeheul auf den unten vorbeiziehenden Zug der Demonstranten niedergehen ließen.
Aber schließlich erwischte mich die Klaustrophobie – persönlich wie auch politisch. Meine persönlichen Verhältnisse wurden eng. Kein Geld. Beziehungsknatsch. Die KI wechselte vom provozierenden Polit-Happening zur Strategie der Subkultur, als sie eine alte Fabrikhalle mietete, in deren Etage sie vor allem anderen ein gewaltiges gemeinsames Matratzenlager einrichtete. War die „Zweierbeziehung“ schon vorher prinzipiell in Frage gestellt, so wurde sie nun praktisch behindert. Rainer Kunzelmanns Babyphon wachte über verdächtige Aktivitäten. Real liefen die Dinge anders als in der Ideologie: Rainer Langhans verliebte sich in das Fotomodell Uschi Obermeier aus München. Uschi zog in die Kommune. Es kam zu heftigen Spannungen um Kunzelmanns Kontrollen. Für mich deutete sich hier der Irrweg eines Gemeinschaftsterrors an, den ich nicht mitgehen wollte. Rainer Langhans erklärte mir daraufhin, ich hätte eben nicht das rechte Verständnis für das mythische Erlebnis der Kollektivität.
Hatte ich in der Tat nicht. Mir wurde klar: Für mich war mein ganzes Leben geprägt von der Suche nach neuen Gemeinschaftsformen. Ich suchte nach neuen Wegen ihrer Verwirklichung, aber der Weg, den die KI mit ihrem Subkulturzentrum eingeschlagen hatte, war dabei sich in den einer Zwangsgemeinschaft verkehren, in der ihre Mitglieder sich gegenseitig mit ihren uneingelösten Ansprüchen terrorisieren mussten. Ähnliche Symptome zeigten sich an der KII, in der die überzogenen Ansprüche an die Ent-Konditionierung der vorgegebenen sexuellen Sozialisationen, sprich der Gewohnheiten, Liebe in Zweierbeziehungen, Ehe und Familie zu erleben, ebenfalls zu unerträglichen psychischen Spannungen führte Die bekamen auch dadurch keinen Modellcharakter, dass sie als höchst interessanter Erfahrungsbericht, der tiefe Einblicke in die herrschenden Strukturen unserer Gesellschaft vermittelt, in Form eines Buches herausgesetzt wurden. Auch das politische Klima in der Stadt wurde eng: Bei Demonstrationen, auf denen die Interessen der Arbeiterschaft auf den Plakaten mitgeführt wurden, schütteten uns die Frauen der Kollegen kübelweise Wasser aus den oberen Stockwerken auf die Kopfe. Auf die Dauer zeichnete sich eine Überhitzung des Klimas bei gleichzeitigem Leerlauf der Aktionen ab, die in eine Sackgasse zu führen drohte – und wie wir heute wissen, mit dem Mordversuch an Rudi Dutschke sowie der Bildung der RAF auch geführt hat. So nicht, war mein vorläufiges Fazit. Ich verließ daher Berlin, um mit Freunden in Hamburg eine Künstler-Polit-Kommune zu gründen, die freier angegangen werden sollte. Freundschaft als Basis. Wir nannten uns „Ablassgesellschaft“. Darin lag der sinnige Bezug auf Tetzel, der seinerzeit mit dem Spruch „Wenn die Münze im Beutel klingt, die Seele in den Himmel springt“ als Retter der Kirche durch die Lande zog. Auch wir verstanden uns als „Retter“, wenn auch nicht der Kirche, so doch der durch Konsum, stickige Sexualmoral und Krieg gefährdeten Gesellschaft. Unser Programm war die Umstülpung aller Werte durch radikale Selbstexperimente, provozierende Einzel- und Gruppen-Happenings sowie Eingriffe in die gesellschafts-politische Debatte. Die Droge, Haschisch, LSD samt der dazu gehörigen Botschaft des Amerikaners Timothy Leary, der durch LSD zu einem neuen Bewusstsein und einer neuen Gesellschaft kommen wollte, gehörten dazu, waren Bestandteil unseres Alltags. Gemeinsames Eigentum und freie Liebe waren Gebot und selbstverständlich auch das, was die Öffentlichkeit von uns wahrnahm. Geile „shootings“ gestellter Orgien besserten unsere Kasse auf; tatsächlich hat so etwas nie stattgefunden.
Die Realität lief auch hier wieder anders: Die sehr intensiven Selbsterfahrungen, die aus den individuellen und gemeinschaftlich inszenierten Tabubrüchen anfänglich resultierten, verkehrten sich nach einiger Zeit in nicht erfüllbare gegenseitige Ansprüche: Der Anspruch auf freie Liebe wurde zum Druck, besonders für die Frauen; der Anspruch auf gemeinsames Eigentum verwandelte sich unter dem Motto des Kampfes gegen den Konsumterror auf äußerst paradoxe Weise in eine Diffamierung derer, die es für nötig hielten Geld zu verdienen. Der Anspruch auf Bewusstseinserweiterung durch „Stoff“ wurde für viele zur Dröhnung. Die Teilnahme am politischen Diskurs reduzierte sich auf eine Selbstdarstellung der Gruppe und ihre personelle Ausdehnung. Dies allerdings immerhin! Die „Ablassgesellschaft“ wurde Zentrum kulturpolitischer Provokationen in Hamburg, verband sich mit vergleichbaren Gruppen in anderen Städten, u. a. der KI in Berlin, der „Haifischkommune“ in München. In Hamburg selbst kam es zu Zellteilungen, die sich als Teil einer beginnenden „Kommunebewegung“ begriffen. Letztlich wiederholte sich aber der Vorgang, an dem schon KI und KII gescheitert waren: Überhöhte Ansprüche an „vogliamo tuto i subito“ verkehrten die anfängliche Befreiung in zwanghafte Beziehungen, die tendenziell terroristische Züge anzunehmen begannen.
Der Ausweg führte in eine Spaltung der Bewegung: Allen gemeinsam war die Einsicht, dass tatsächliche Veränderungen nicht stellvertretend, sondern nur durch eine Veränderung der gesamten Gesellschaft, insbesondere auch ihrer arbeitende Schichten erreicht werden könnten. Einige zogen daraus die Konsequenz, den sog. „langen Marsches durch die Institutíonen“ anzutreten, andere, so ich, fanden sich unversehens in der „neuen Kommunistischen Bewegung“. Das will ich hier nicht weiter ausführen; darüber wäre ein andermal zu reden.
Eine dritte Strömung, repräsentiert durch die jetzt entstehende Drogenselbsthilfe „Release“, ging den Weg des verstärkten subkulturellen Engagements. Alle drei Strömungen bildeten extrem voneinander getrennte Szenen, die lange Jahre unverbunden nebeneinander existierten. Heute sind sie vermischt.
Es gibt noch viele, sehr interessante Details zu erzählen. Ich möchte nun aber, nachdem ich so lange über den Zorn gesprochen habe, noch einmal auf die Träume zurückkommen: Wo stehen wir heute? Wir träumten damals, gesättigt und versorgt, von einer konsumfreien Welt. Der freie Flug einer kollektiven Meditation mit Hilfe von Hasch, LSD, Reisen nach Indien, Tibet und Nepal schien möglich. Heute wissen wir, dass die Landung für viele sehr hart war: die „neue kommunistische Begegnung“ musste sich an der Krise des Sowjet-Sozialismus messen und reduzieren lassen; der lange Marsch durch die Institutionen endet vorläufig in der Zustimmung der Grünen zu Militäreinsätzen in Afghanistan und anderswo, ja nicht nur in der Zustimmung, sondern in Forderungen danach, weil Freiheit und Demokratie dort verteidigt werden müsse. Die Haschisch- und LSD-Euphorie endete für viele in der Selbsthilfe von „Release“, aber als „Release“ sich anschickte, Drogen zu legalisieren, um sie handhabbar zu machen, wurde die Organisation zerschlagen. Heute ist wieder jeder und jede individuell mit der Welt konfrontiert, mehr noch, die zunehmende Lohnarbeitslosigkeit wirft immer mehr Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen. Diese Entwicklung lässt alte Träume mit frischer Kraft aufs Neue entstehen. Geschichte entwickelt sich wie alles, so scheint es, in Wellen. Wir befinden uns im Tal der Entsolidarisierung; vor uns bildet sich allmählich eine nächste Welle, die individuelle Freiheit und Gemeinschaft auf neue Weise verbinden könnte. Dies jedenfalls ist der Traum, für dessen Verwirklichung wir uns heute einsetzen können.

Kai Ehlers

Wer mehr wissen will
Mag sich eins meiner Bücher anschauen:

Kai Ehlers

Unbewältigte Geschichte – aufgerüstete Normalität. Mord an Jürgen Ponto, Stammheim, „Deutscher Herbst“

Dreißig Jahre ist es her, doch eher verdrängt als bewältigt: Am 30. Juli 1977 wird Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, in seiner Wohnung von einem RAF-Kommando erschossen. Beteiligt sind Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und als Fahrer des Fluchtwagens Peter-Jürgen Book. Am Tag darauf bekennt sich eine „Befreiungsbewegung Aktion Roter Morgen“ zu der Tat. Sie nennt Ponto einen dieser „Typen, die in der Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten.“

Der Kritik an diesem Mord begegnet die RAF mit der Erklärung, man habe Ponto entführen wollen, um die Freilassung von inhaftierten RAF-Mitgliedern zu erzwingen und Geldmittel zu besorgen. Als Ponto sich gewehrt habe, sei er im Handgemenge getroffen worden. Später erklärte Susanne Albrecht, Ponto sei ohne Widerstand zu leisten erschossen worden. Diese Variation übernahm auch das Gericht, das Susanne Albrecht zu zwölf Jahren Haft verurteilte. Welche Erzählung über den Tathergang am Ende stimmt, muss offen bleiben. Die Öffentlichkeit, auch die Linke, reagierte mit Entsetzen, insbesondere angesichts der Kaltschnäuzigkeit, mit der Susanne Albrecht als damalige Freundin des Hauses Ponto die Türöffnerin für das Überfallkommando abgab.

Jürgen Ponto war das zweite Opfer der „Offensive 77“ der RAF. Am Anfang stand Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der am 7. April 1977 beim Halt an einer Ampel in Karlsruhe von einem Motorrad aus erschossen wurde. Drei weitere Insassen des PKW starben mit ihm. In dem darauf folgenden Bekennerschreiben wurde Buback für die in der Haft umgekommenen RAF-Mitlieder Holger Meins, Ulrike Meinhof sowie den bei der Erstürmung der Stockholmer Botschaft getöteten Siegfried Hausner verantwortlich gemacht. Anwälte inhaftierter RAF-Mitglieder erklärten öffentlich, dass sie in „tiefster Empörung und Abscheu den sinnlosen den brutalen Mord verurteilen.“

Einige Wochen nach der Ermordung Pontos bereitet ein RAF-Kommando einen Angriff auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe vor, indem sie eine selbst gebastelte Raketenwerfer-Anlage in einem Privathaus gegenüber dem Gebäude der Anwaltschaft installiert. Der Anschlag schlägt fehl, weil die Zündung versagt; ein Erfolg hätte katastrophale Folgen gehabt.

Mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer am 5.9.1977 beginnt das, was als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte der BRD eingehen wird. Schleyers Konvoi wird in Köln auf offener Straße gestoppt, seine Begleitmannschaft erschossen, er selber entführt. Ein „Kommando Siegfried Hausner“ fordert ultimativ die Freilassung von elf führenden RAF-Mitgliedern, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden sollen, sowie öffentliche Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Entführern über Presse, Funk und Fernsehen.
Im Gegenzug bildet die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt einen überparteilichen „Großen Krisenstab“. Dieser verhängt eine absolute Nachrichtensperre, eine Kontaktsperre über die Gefangenen der RAF und leitet eine bundesweite Fahndungsaktion ein. Auf die Forderungen der Entführer allerdings wird nur zum Schein eingegangen. Fünf Wochen nach Schleyers Entführung, am 13. Oktober 1977, wird eine Maschine der Lufthansa, die Landshut, mit 91 Menschen an Bord von einem palästinensischen „Kommando Matyr Halimeh“ gekapert. Auf dem Irrflug der Landshut zu einem möglichen Landeplatz wird der Flugkapitän Jürgen Schumann erschossen. Nach fünf Tagen landet die Maschine in Somalia. Hier wird sie von einem GSG-9 Sonderkommando in der Nacht vom 17. auf den 18.9. gestürmt, drei der Entführer werden erschossen, die Geiseln befreit.

Am Morgen danach, also am 18.9., werden Andreas Baader erschossen, Gudrun Ensslin erhängt, Jan Carl Raspe angeschossen und sterbend und Irmgard Möller durch Messerstiche verletzt im Stammheimer Gefängnis aufgefunden. Die offizielle Erklärung zu den Vorfällen folgt umgehend: Selbstmord. Einen Tag später geht bei der französischen Tageszeitung Liberation ein Schreiben ein, in dem die RAF mitteilt, dass man „nach 43 Tagen Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“ habe. Die Polizei findet den Leichnam Schleyers im Kofferraum eines PKW im Elsaß; der Entführte ist durch Genickschuss getötet worden.

In diesen Tagen erreichte die schon lange medial geschürte Lynchstimmung gegenüber den inhaftierten RAF-Mitgliedern ihren Höhepunkt. Die durch den neuen Straftatbestand der Unterstützung der terroristischen Vereinigung eingeschüchterte linke und linksliberale Szene beeilt sich Distanzierungsgesten von der RAF abzugeben. Schon im März hatte der Staatsschutz nach § 88a StGB zum Beispiel gegen die Mitglieder des Verbandes des linken Buchhandels wegen „verfassungsfeindlicher Befürwortung von Straftaten“ ermittelt. Nach dem so genannten Mescalero-Nachruf auf Siegfried Buback in der Göttinger Studentenzeitung fand im Mai in Göttingen eine Großrazzia in allen verdächtigen Einrichtungen und Wohnungen statt. Und zum Auftakt der Aktion „Wasserschlag“ wurden am 17./18. Oktober in Berlin 38 Büros, Buchhandlungen und Wohnungen durchsucht.

In dieser Situation wagten nur noch wenige Medien Zweifel an der Selbstmordthese der Behörden vorzubringen. Der Arbeiterkampf des in Norddeutschland aktiven Kommunistischen Bundes beispielsweise kritisierte zwar die Handlungsweise der RAF, insbesondere die Geiselnahme Unbeteiligter in der Landshut, als „verbrecherisch“, forderte aber zugleich die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Umstände, die zum Tod beziehungsweise zur Verletzung der Stammheimer Gefangenen geführt hatten. Mit dem Verdacht, die Gefangenen könnten ermordet worden sein, stand die marginalisierte Linke nicht allein, führende europäische Tageszeitungen teilten die Forderung, die Vorkommnisse ist Stammheim zu untersuchen.

Eine solche Kommission wurde nie eingesetzt, vielmehr ist eine Aufklärung der Ereignisse durch den sofortigen Umbau des Stammheimer Hochsicherheitstrakts bewusst verhindert worden. Bis heute muss daher offen bleiben, ob die Gefangenen sich zum Freitod miteinander verabredet haben, wie die Bundesanwaltschaft es erscheinen ließ, oder ob sie von interessierter Seite umgebracht wurden. Irmgard Möller bestreitet bis heute eine solche Verabredung, andere RAF-Mitglieder, unter anderem Susanne Albrecht, behaupten, es habe den Plan gegeben, mit dem eigenen Tod ein letztes Fanal gegen den Staat zu setzen, falls die Landshut-Aktion scheitern sollte.
Der „Deutsche Herbst“ veränderte die Gesellschaft der BRD auf eine Weise, die 25 Jahre später der um Objektivität bemühte Diplomand Christoph Bahn in seiner Abschlussarbeit als „Aufrüstung der Normalität“, die zur „chronischen Bedrohung der Freiheit werden“ kann, zusammengefasst hat. Diese Aufrüstung beinhaltete ein Bündel juristischer und administrativer Maßnahmen, die den Boden vorbereiteten nicht nur für die heutige internationale Terrorabwehr, sondern auch für die mögliche Bespitzelung der eigenen Bevölkerung.

Zunächst wurde mit der Einsetzung des Krisenstabs faktisch die verfassungsmäßige Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt. Der schon erwähnte § 88a StGB, damals als „Maulkorbparagraph“ angeprangert, war auf Kriminalisierung der Linken angelegt. Er untergrub die politische Diskussionskultur und bereitete die Bevölkerung auf den „großen Lauschangriff“ späterer Jahre vor. Mit §129a StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) wurde die Strafverfolgung vor die eigentliche Tat verlagert; zahlreiche Strafrechtsänderungen höhlten die Meinungsfreiheit und die Rechte der Verteidigung und der Inhaftierten aus. Die RAF-Attentate lieferten dem Staat den Vorwand, Polizei und Geheimdienste aufzurüsten und in neue, durch das Grundgesetz nicht gedeckte Kommandostrukturen zu überführen. Die bei der Entführung der Landshut eingesetzte GSG 9 etwa entbehrte jeglicher verfassungsmäßigen Grundlage. Mogadischu war das Aufmarschfeld, auf dem der „finale Todesschuss“ legitimiert und exekutiert wurde.

Unter dem Stichwort des Kampfes gegen die „organisierte Kriminalität“ wurden diese Strukturen und Maßnahmen in den auf den „Deutschen Herbst“ folgenden Jahren weiter ausgebaut. Seit dem 9.11. 2001 ist der „permanente Ausnahmezustand“ zum Alltag eines Staates geworden, der sich inzwischen als präventiver Sicherheitsstaat begreift, und längst ist der „Deutsche Herbst“ dabei in einen europäischen überzugehen, wie etwa die Zusammenarbeit europäischer Sonderpolizei-Einheiten in der sog. „Atlas-Gruppe“ seit 2002 sowie die Bildung einen EU-Grenzschutzeinheit „Frontex“ nach dem Muster der deutschen GSG 9 zeigt; von den kürzlich laut gewordenen ministeriellen Fantasien, potenzielle Terroristen vorsorglich zu töten, einmal ganz abgesehen.

Kai Ehlers

Raketenstreit: Wille zur Hoffnung

Am 30. und 31. Juli sollen in Washington neue Zeichen im Raketenstreit gesetzt werden. Amerikaner und Russen wollen verhandeln. Moskau rechnet mit einem »positiven Ergebnis«. Was immer das sein könnte – schön wär´s. Man möchte es glauben; allen voran offenbar die russische Delegation. Zwar hat Präsident Putin, nachdem der US-Senat die Stationierung in Osteuropa jüngst zum staatspolitischen Ziel erhoben hat, mit einem Erlass reagiert, der die Aussetzung des KSE-Vertrages vorsieht, falls die USA nicht einlenken sollten. Aber der stellvertretende russische Außenminister Kisljak, der nun auch Verhandlungsleiter in Washington sein wird, teilte der Öffentlichkeit zugleich mit, man schlage die »Tür zum Dialog« nicht zu.

Nun ist es also so weit? Skepsis ist angebracht. Handelt es sich doch nicht nur um die Beseitigung eines Ausrutschers einer ungehobelten US-Diplomatie nach dem aus Zeiten des Kalten Krieges bekannten Motto »Erst entscheiden, dann verhandeln«, und auch nicht nur um die Mäßigung polnischer Eskalateure, die ihr eigenes Süppchen auf der US-Flamme kochen wollen. Nein, der aktuelle Raketen-Vorstoß der USA nach Osteuropa ist nur die Speerspitze einer lange geschmiedeten Waffe zur Herstellung konkurrenzloser US-amerikanischer Überlegenheit auf dem Gebiet konventioneller und nuklearer Rüstung.

Von Trumans »Eindämmungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg über die Kuba-Krise in den 60ern, Reagans »Reich des Bösen« und Clintons Entwurf einer »nationalen Raketenabwehr« von 1999 bis zu dem von George W. Bush nach dem 11. September 2001 eröffneten »Krieg gegen den Terror« zieht sich die Strategie der Einkreisung Russlands als roter Faden durch die US-Politik.
Strategen wie Zbigniew Brzezinski oder Henry Kissinger haben als Ziel die Aufgabe benannt, den Zugriff auf Eurasiens Ressourcen-Reichtum und die globale US-Hegemonie durch Niederhaltung möglicher Konkurrenten – allen voran Russlands – langfristig zu sichern. Die Kündigung des ABM-Vertrages durch George W. Bush ist Ausdruck dieser Entwicklung. Durch sie wurde die Politik des strategischen Gleichgewichts zwischen Russland und den USA provokativ beendet. Aber Bush ist nur Vollstrecker. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin könnte geschmeidiger sein; eine prinzipielle Wende der US-Politik ist jedoch nicht zu erwarten.

Die geplanten Raketenabwehr-Stationen der USA in Osteuropa sind mit der Aufforderung an die EU verbunden, sich dieser Strategie zu unterwerfen. Die bislang verweigerte Ratifizierung des KSE-Vertrags durch USA und EU und der Bruch der NATO-Zusagen, sich nicht nach Osteuropa auszudehnen, ergänzen dieses Bild. Die Raketenpläne der USA in Osteuropa sind nur ein letzter Schritt in einer langen Reihe gebrochener Versprechen der NATO. Hatte diese doch ebenso zugesichert, Osteuropa von ihrem Nuklearpotential frei zu halten. Die Raketen, die nun dort stationiert werden sollen, sind aber Bestandteil der nuklearen Erstschlagsstrategie der USA. Sie machen Europa zu ihrem Vorhof und bedrohen Russland. Die US-Pläne müssten nicht verhandelt, sondern strikt zurückgewiesen werden – von Russland und der EU gemeinsam. Russland ist gewillt, auf solche Einsicht zu hoffen.

Kai Ehlers

Raketenstreit: Was will Putin?

Der G8-Gipfel vom Anfang Juni brachte neben einigen unverbindlichen Harmoniebezeugungen in Sachen Klimaschutz, Afrikahilfe und anderem eine für alle Seiten verblüffende Wendung: Störenfried Wladimir Putin, auf dessen Abwehr der US-amerikanischen Raketenpläne sich die politische Berichterstattung im Vorweg des Gipfels bereits eingeschossen hatte, überraschte George W. Bush während des Gipfels mit dem Vorschlag, Russland und die USA könnten alternativ zu Standorten in Polen und Tschechien einen gemeinsamen Stützpunkt in Aserbeidschan aufbauen. Ein gemeinsamer Raketenstützpunkt in Aserbeidschan sei effektiver, so Putin, weil näher am Ort möglicher Raketen-Startplätze, er sei flexibler, weil nicht sofort in eine unbekannte Entwicklung hinein investiert werden müsse, sondern der schon vorhandene Standort aufgerüstet werden könne, wenn es sich als notwendig erweise und schließlich könne von dort aus das gesamte Europa und nicht nur, wie von Polen oder Tschechien aus, ein Teil Europas gesichert werden.
George W. Bush war, trotz diverser Vorgespräche so überrascht, dass es bei ihm – auch noch nach Tagen – nur zum Kommentar: „interessanter Vorschlag“ reichte; die Europäer zeigen sich entspannt durch Putins „Rückkehr zur Verständigung“, von der Sache her gibt man sich skeptisch, ob die in Aussicht genommene aserbeidschanische Basis „nicht zu nah an den Schurkenstaaten“ liege, wie Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer kommentierte. In den deutschen Medien herrscht der Tenor vor, Putins Vorschlag sei eine Finte, mit der er vom schlechten Image Russlands ablenken wolle.
Aber nein, Putins Vorschlag ist keine Finte, sowenig wie sein Auftritt vor der NATO-Konferenz vor ein paar Monaten eine Aggression war: Vor dem Hintergrund der Grundorientierung Putins, Russland stabilisieren und die Selbstachtung des Landes als Subjekt des Weltgeschehens, konkret als Faktor der Integration Eurasiens wieder herstellen zu wollen und zum Impulsgeber einer multipolaren neuen Weltordnung zu machen, ist der Vorschlag als ernst gemeinter Zug zu begreifen, der darauf zielt:
– die konkrete Bedrohung Russlands minimieren,
– die Spaltung des Bündnisses zwischen EU und Russland durch einen zwischen ihnen entstehenden US-Einflussgürtel zu verhindern,
– die Ernsthaftigkeit der US-Begründung überprüfbar zu machen, nach der die Raketen dem Schutz Europas dienen sollen
– und schließlich einen innenpolitischen Wegweiser für eine über Putins Amtszeit hinausweisende strategische Orientierung aufzustellen, die lautet: Internationale Kooperation auf Augenhöhe, statt Unterordnung unter eine globale US-Hegemonie.
Zur Frage der tatsächlichen Bedrohung erschien Anfang Mai ein Artikel in der russischen Zeitschrift „Iswestija“, früher Flaggschiff der Parteipresse, soeben von Gazprom übernommen, in dem unter der Überschrift: „Raketenschutzschild: maskiert als Schutz, aufgebaut für den Überfall“, die Lage aus Sicht des russischen Militärs geschildert wird. Danach haben die USA bereits jetzt eine Situation geschaffen, dass sie über seegestützte „Tomahawk“-Abfangraketen „praktisch jeden Ort Russlands vom Atlantik, vom Nordmeer und vom Pazifik aus innerhalb von Sekunden erreichen können.“ (siehe Schaubild) Die Vorverlagerung der Abschußmöglichkeiten wäre eine zusätzliche Verdichtung und zeitliche Verkürzung dieses US-Netzes auf Vorabinformation, die aus der Radarüberwachung zu beziehen wären.
Putins Alternative, in Aserbeidschan eine gemeinsame Raketenabwehr zu betreiben, ändert nach diesen Angaben also nichts Wesentliches an den technischen Voraussetzungen der militärischen sog. Sicherheitslage, die wären von einem polnisch-tschechischen Standort aus die gleichen wie von Aserbeidschan aus. Dabei ginge es im Wesentlichen um gegenseitige informationelle Transparenz. Die politischen Bedingungen der Kooperation sind jedoch in beiden Fällen vollkommen anders: Der Aufbau von US-Raketenstationen in Polen und Tschechien, selbst wenn es in Kooperation mit Russland geschähe, liefe darauf hinaus, US-Präsenz in den anti-russischen Problemstreifen zwischen EU und Russland zu holen und einen Dauerkonflikt zwischen EU und Russland zu institutionalisieren; in Aserbeidschan dagegen befände man sich gewissermaßen auf neutralem Gelände und zudem unmittelbar vor den Toren der Kräfte, die es nach übereinstimmenden Positionen von USA, Russland und EU im Zaum zu halten gilt. Für diese Sicht spricht auch, dass Aserbeidschans Präsident Alijew keine Probleme mit einer solchen Nutzung der schon bestehenden russischen Station Cabla sieht.
Damit rückt der dritte Aspekt ins Licht, der in Putins Vorschlag liegt: An der Reaktion auf seinen Vorschlag kann sich zeigen, wie ernst die Begründung der US-Amerikaner zu nehmen ist, dass es bei der Aufstellung der Raketen um einen Schutz Europas vor Bedrohungen aus den „Schurkenländern“ gehe: In einem Stützpunkt Cabla in Aserbeidschan wäre eine Abwehr möglicher Raketengefahren aus dem „Schurkenbereich“ nicht nur schneller und sicherer, weil näher am Ort möglicher für gefährlich gehaltener Abschussrampen, sie beträfe nicht nur das ganze Europa und wäre auch – wie Putin ausdrücklich hervorhebt – weit im Vorfeld möglich, sie wäre als Projekt globaler Sicherheit auch gemeinsam von den USA, Russland und der EU, statt in Konkurrenz und in Konfrontation zueinander praktizierbar.
Dies alles bedeutet, Putin versucht, die technische Bedrohung, die darin besteht, dass die USA heute in der Lage sind, Russlands atomares strategisches Antwort-Potential praktisch auszuschalten, durch eine politische Lösung einzumanteln.
Ob die USA sich darauf einlassen – ist eine andere Frage, über die die Welt bald genauer bescheid wissen wird, Aber dann ist auch klar, welchen Zielen die US-Raketenaufrüstung tatsächlich dienen soll.
So gesehen ist Putins Vorschlag für einen gemeinsam betriebenen Raketenstützpunkt in Aserbeidschan – auch dieses wieder zusammen mit dem Auftritt vor der Nato-Tragung in München zu sehen – ein Vermächtnis an seinen Nachfolger, wer immer er sei, konsequent an einer Politik zur Entwicklung einer multipolaren Ordnung festzuhalten, die auf Kooperation und Kräfteausgleich, statt auf Unterordnung unter die Weltherrschaft der USA oder Wettrüsten und militärische Konfrontation setzt.
In die gleiche Richtung zielt Putins Auftritt auf dem russischen Wirtschaftsforum in St. Petersburg einen Tag nach Heiligendamm, von dem Putin zwei sich ergänzende Botschaften aussandte, die von der westlichen Presse flugs als „doppelte Signale“ gekennzeichnet wurden: Er bekräftigte Russlands Interesse, sich der WTO anzuschließen und deren Regeln unterzuordnen, kritisierte aber zugleich den Protektionismus der westlichen Gründerstaaten der WTO; er lud globales Kapital zu Investitionen in Russland ein, insbesondere in den Energiesektor, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Russland Öl und Gas in der Verfügungsgewalt von Roßneft und Gazprom, den beiden halbstaatlichen Energiegiganten behalten werde.
Angesichts all dieser Auftritte Putins kann man nur wiederholen, dass die Welt in Zukunft mit einem selbstbewussten Russland zu rechnen hat, auch wenn es militärisch nicht an die USA heranreicht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Russland: Weltmacht auf Rohstoffen (Anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm)

Devisen aus dem Gas- und Ölgeschäft waren bereits für die Sowjetunion ein festes Grundeinkommen. Öl und Gas überquerten die Gräben des Kalten Krieges ohne Unterbrechung. Die Auflösung der UdSSR ließ diese Brücke einbrechen. Die Einnahmen sanken auf 20% ihres Umfanges. Die Privatisierung der Öl- und Gasförderung leitete auch die wenigen Einnahmen noch an den Kassen des Staates vorbei in private Taschen und wurde von dort ins Ausland transferiert. Russland wurde zum Objekt westlicher Interessen.
Diese Phase der nachsowjetischen Transformation endete in der Krise von 1998. Die Krise bildet zugleich den ersten Wendepunkt in der Geschichte des neuen Russland, insofern es sich entschloss zukünftig auf Kredite des IWF und der Weltbank zu verzichten und auf eigene Kräfte zu setzen.
Die Verhaftung des Öl-Oligarchen Michail Chodorkowski 2003 markiert die entscheidende Fortsetzung dieser Politik: Unter Putin übernahm der Staat wieder die Kontrolle über die fossilen Ressourcen des Landes. Heute fließen die Steuern aus dem Gas- und Öl-Export wieder in die Staatskasse. Das Staatsbudget hat sich seit 2000 versechsfacht. Ein Stabilitätsfons, der 2004 für die Ölmilliarden eingerichtet wurde, ist inzwischen auf 108 Milliarden angewachsen. Daneben hat Russland 356 Milliarden $ in Gold- und Devisenreserven angesammelt. Russisches Kapital sucht Anlagemöglichkeiten im Ausland. Aus dem Kreditnehmer ist ein Kreditgeber geworden.
Der „Fall Chodorkowski“ markiert zugleich einen Wandel in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Für die USA war die Verhaftung Chodorkowskis eine Niederlage ihres Versuches, sich die russischen Ressourcen unter Umgehung des russischen Staates verfügbar zu machen. US-Hauptstratege Sbigniew Brzezinski, nach dessen Vorstellungen diese US-Politik entwickelt worden war, warnte daraufhin prompt vor einem russischen „Energiefaschismus“, der die Welt erpressen wolle. Der „Gasstreit“ zwischen Russland und der Ukraine gab dem weitere Nahrung. Als Russland sich erbot, das G8-Treffen als „Energiegipfel“ zu organisieren, auf dem weitreichende Vereinbarungen für eine zukünftige Energieordnung getroffen werden könnten, stellte der Westen dem die Forderungen nach Liberalisierung der Energiemärkte entgegen. Konfrontationen schienen vorprogrammiert. Im Ergebnis verabschiedete man eine Erklärung zur „Globalen Energiesicherheit“, die sich in Floskeln zur „Wichtigkeit offener und transparenter Märkte“ erschöpfte. Die vorher heiß diskutierte internationale „Energiecharta“, die u.a. eine Liberalisierung der Energiemärkte fordert, wurde weder von Russland noch von den USA unterzeichnet.
Umso klarer treten seitdem die weiteren Konfliktlinien hervor: EU und Russland suchen eigene Wege der „Annäherung durch Verflechtung“: Am 8. September 2005 wird der Bau der Ostsee-Pipeline im Beisein von Gerhard Schröder und Wladimir Putin sanktioniert, wenig später bietet Putin Deutschland an, zum zentralen Verteiler der Gaslieferungen aus den noch zu erschließenden Stockmannfeldern in der Barentssee zu werden, eine Option, die man bis dahin den Amerikanern vorbehalten hatte. Auf der Insel Sachalin werden von Russland Öl- und Gasförderprojekte der Konzerne Shell, Mitsui und Mitsubishi in Frage gestellt, deren Hauptabnehmer ab 2008 Japan, Korea und die USA sein sollten. Anfang 2006 äußert Putin seine Sympathie für eine „GAS-Opec“ aus Russland, Iran und Turkmenistan, zusammen 60% der Weltgasvorkommen, 30% davon russisch, noch ohne die vermuteten Vorkommen in der Barentsee und in Sibirien. Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) im Juni 2006 schlägt Putin die Gründung eines „SCO Energieclubs“ vor. Er würde 20% der Gas- und 50% der Ölvorkommen der Welt kontrollieren. Die Rote Karte, die Putin den Raketenplänen der USA bei der NATO-Tagung in München Anfang des Jahres wie auch in seiner jüngsten Rede an die Nation entgegenhielt, spricht von einem Russland, das wieder Subjekt der Geschichte sein will. An diesem Russland führt kein Weg mehr vorbei.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

EU in Nöten: Menschenrechte und polnisches Fleisch – oder was geschah in Samara?

Glaubt man der Presse, dann hat sich bei dem deutsch-russischen Gipfeltreffen in Samara ein „Neuer Realismus“ hergestellt. Andere Meldungen sprechen von „schwerer Krise“ zwischen EU und Russland. Kritisiert wird ein „imperiales“, „arrogantes“ Auftreten Wladimir Putins, der die EU zu spalten versuche und die Menschenrechte verletze. Die Eu-Politik müsse sich darauf einstellen. Andererseits verstehe man ihn, so wird die deutsche Delegation zitiert, weil er „neues Selbstbewusstsein“ demonstriere und sich im Übrigen angesichts der der bevorstehenden Wahlen auf die innere Entwicklung des Landes konzentrieren müsse, um ein Rückfall in das Chaos der Jelzinschen Zeit zu verhindern.
Soviel Kritik bei gleichzeitigem Verständnis gab es lange nicht in der Russland-Berichterstattung. Was geschah also in Samara? Ging es wirklich darum, Putin eine Lehrstunde im Demonstrationsrecht zu geben? Wohl kaum, denn es scheint, dass Putin die Lektionen, was Demokratie für westliche Staaten bedeutet, bereits bestens gelernt hat: Davon zeugt jedenfalls seine Antwort, präventive Maßnahmen gegen potentielle Demonstranten seien doch allgemein üblich und würden ja auch in Deutschland aktuell im Vorfeld des G8-Treffens in Heiligendamm praktiziert. Also, man hat sich gegenseitig nichts vorzuwerfen. Frau Merkels „Kritik“ erweist sich als schlichte PR-Maßnahme, die für sie allerdings eher zu einem Bumerang werden könnte.
Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, wovon die Kritik ablenken sollte. Und da kommt man schnell an den Kern, denn schon im Vorfeld hatte Frau Merkel den russischen Gastgebern gegenüber ausdrücklich klarstellen lassen, dass sie nicht als Vertreterin eines Landes, sondern als Vertreterin der gesamten EU nach Samara komme. Aus Brüssel verlautete ebenfalls im Vorfeld, man habe keine großen Erwartungen an das Treffen, dennoch sei es wichtig, mit den Russen zu sprechen: „Die Botschaft der Europäer muss sein, dass sie sich von Moskau nicht auseinander dividieren lassen,“ forderte der für 2009 designierte Ratspräsident der EU, Sloweniens Ministerpräsident Jansa, EU-Kommissionspräsident José Barrorso erklärte nach dem Treffen, Putin habe „gemerkt, dass die europäische Einheit nicht zu knacken“ sei.
Wo so deutlich die Einheit beschworen wird, tut man gut, nach der Realität der Differenzen Ausschau zu halten.
Tatsächlich kann von Einheit in der Russlandpolitik der EU nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Seit mehr als einem Jahr blockiert Polen die Aufnahme von Gesprächen zwischen der EU und Russland zur Verlängerung des zwischen ihnen bestehenden Kooperations- und Partnerschaftsabkommens, mit einem Veto, solange Russland das Einfuhrverbot polnischer Fleischlieferungen nicht aufhebe. Der Vertrag läuft Ende 2007 ab. Russland begründet das Verbot mit mangelnder Qualität des Fleisches. Wladimir Putin betrachtet die Frage als eine bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und Polen, die die generellen Beziehungen zwischen Russland und EU nicht berühre. Frau Merkel, unterstützt durch Borroso erklärte, die polnischen Lieferungen entsprächen den EU-Standards und diese lägen auf höchstem Niveau.
Eine Einigung war bisher nicht möglich. Die polnische Blockade führte jetzt dazu, dass Putin und Merkel sich nur darauf verständigen konnten, den laufenden Vertrag um ein Jahr zu verlängern. Statt den Vertrag zu erneuern, wurden eine Reihe von Einzelmaßnahmen beschlossen wie Erleichterung der Visaregelung, Verbesserung des rechtlichen Schutzes von Investitionen und ähnliches.
Aber geht es wirklich nur um polnisches Fleisch? Nein, die Fleischfrage ist nur ein Detail. Hinter dem mit der Fleisch-Frage begründeten Veto steht zunächst auch noch die weitergehende Forderung Polens, Russland müsse die internationale Energiecharta unterzeichnen. Das würde bedeuten, das russische Energie-Monopol zugunsten polnischer Beteiligungen zu lockern oder ganz aufzulösen. Polen ging so weit in dieser Frage Sanktionen gegen Russland zu fordern. Dem polnischen Veto könnte sehr bald ein weiteres folgen, das die litauische Regierung für den Fall angekündigt hat, dass die Öllieferungen nicht sofort wieder aufgenommen würden, die Russland Ende 2005 mit der Begründung, die Leitungen sei beschädigt, gestoppt hatte. Litauen bringt diese Maßnahme Russlands damit in Verbindung, dass der Verkauf einer litauischen Raffinerie an das polnische Unternehmen PKN Orlen statt an eine russische Firma erfolgte und spricht von einer russischen Strafmaßnahme.
Polen und Litauer fühlen sich durch die EU in dieser Frage nicht genügend unterstützt. Sie sehen sich durch den Vertrag zwischen Deutschland und Russland zum Bau der Ostseepipeline, welche die baltischen Länder und Polen ausdrücklich umgeht, wie auch durch das Angebot Russlands, die Gas-Vorkommen der Stockmannfelder direkt nach Deutschland als Verteiler zu leiten, vielmehr ausgegrenzt und bedroht. Umso dankbarer wurden die Erklärungen der USA, insbesondere des US-Vizepräsidenten Dick Cheney aufgegriffen, der Russland 2005 vorwarf, Öl und Gas zur Erpressung und Einschüchterung seiner Nachbarstaaten einzusetzen und Rückendeckung aus Washington versprach.
Gegenstand der Auseinandersetzung waren in Samara auch die Konflikte um die Entfernung eines noch aus sowjetischer Zeit stammenden antifaschistischen Kriegerdenkmals in Tallin durch die estnische Regierung; ein Toter ist in diesem Zusammenhang zu beklagen. Gegenstand war des Weiteren natürlich der US-Vorstoß, in Polen und der tschechischen Republik Raketen aufstellen zu wollen. Auch in diesen Fragen stehen alte und neue EU-Länder auf gegensätzlichen Positionen. Das gilt auch, wenn Kommissionspräsident Barroso zu glätten versucht, idem er erklärt, die EU würdige die Leistungen und Opfer Russlands im Kampf gegen den Faschismus, aber jedes EU-Land sei selbstverständlich souverän in seinen Entscheidungen. Für Russland ist dieses Sowohl-als-Auch nicht akzeptabel. Ähnliches gilt für die Raketenpläne der USA, die Russland nach wie vor als überflüssige Aggression begreift, erst recht, wenn Polens Regierung damit droht, sich gegen mögliche Aufrüstungs-Reaktionen der Russen mit der Aufstellung eigener Raketen schützen zu wollen.
Die Summe dieser Widersprüche führte wenige Tage vor dem Russland-EU-Gipfel in Samara zu einem heftigen Streit innerhalb der EU über deren zukünftige Russlandpolitik, als die Botschafter der EU-Staaten sich in Brüssel trafen, um das Treffen in Samara vorzubereiten. Die drei baltischen Staaten sprachen sich in drastischer Weise für eine „Denkpause“ im Ringen um die Erneuerung des Abkommens aus, indem Polen sein Veto bekräftigte, Litauen eines ankündigte und Estland erklärte, ebenfalls über ein Veto nachdenken zu wollen.
Schwere Konflikte deuten sich an, die noch weit über die aktuellen Anlässe hinausgehen: Die alten EU-Mitglieder suchen den Dialog mit Russland unter dem Stichwort „Wandel durch Verflechtung“. Polen, Litauen und Estland sehen sich, durch gute Beziehungen zwischen Russland und den alten EU-Staaten, insbesondere Deutschland bedroht. So warf die polnische Außenministerin Fotyga der deutschen Rats-Präsidentschaft vor, die speziellen Sorgen von Polen und Balten nicht angemessen zu berücksichtigen. Die verlangen deshalb, die bisherige Linie der EU-Russland-Politik zu verlassen.
Die Konflikte konkretisieren sich zudem noch auf die Auseinandersetzung um den durch die „Berliner Erklärung“ angekündigten Grundlagenvertrag, der bis zu den Europawahlen 2009 durchgebracht sein soll. Die polnische Regierung lehnt die in dem Entwurf vorgesehene Beschlussregel ab, die das Gewicht der neuen EU-Länder im Verhältnis zu den alten stark mindern könnte. Die Mehrheit der der EU-Mitgliedsländer lehnt erneute Debatten um diese Frage ab.
Kurz gesagt, der Sloweniens Ministerpräsident Jansa, hat allen Grund, die Einheit der EU zu beschwören, denn alle Zeichen stehen auf Sturm. Objektiv bilden die Neu-Mitglieder der EU, ebenso wie die der EU vorgelagerten Nicht-Mitglieder Weißrussland, die Ukraine und Moldawien, sowie die kaukasischen Staaten, einen sich von der Ostsee bis zum schwarzen Meer hinziehenden cordon sanitaire zwischen den Integrationsräumen Russlands und der Europäischen Union, der im Tauziehen zwischen USA, EU und Russland hin und her gerissen zu werden droht. Einer stabilen Ordnung in diesem Teil der Welt wäre es vermutlich dienlicher, wenn dieser Kordon sich in einen Streifen der Neutralität verwandelte.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Wer und was Ist in Russland heute Opposition?

In den letzten Wochen war viel von der Opposition in Russland die Rede. Gemeint war in der Regel der „Marsch der Unzufriedenen“ mit Gary Kasparow an der Spitze und Boris Beresowski zur Seite, der von seinem Londoner Exil aus zum gewaltsamen Sturz des „Regimes“ aufrief. Aber ist dies „die“ russische Opposition? Sicher nicht. Wer von der Opposition in Russland sprechen will, muss mehr in den Blick nehmen.
Da wäre zunächst zwischen Opposition innerhalb der „Eliten“ und jener aus der Bevölkerung zu unterscheiden: Über Differenzen im Kreml dringt wenig nach außen: schlechte Zeiten für Kremlastrologen. Aber anlässlich der Aufrufe Beresowskis zum Umsturz ließ Außenminister Sergej Lawrow immerhin die Sorge erkennen, gestörte Wahlen könnten dazu führen, dass die noch nicht gefestigten russischen Eliten wieder auf Sonderinteressen wie zu Jelzins Zeiten zurückfallen könnten. Das gelte es zu vermeiden.
Seine Sorge ist berechtigt, ist doch die Disziplinierung der Gebietsfürsten wie auch die der Oligarchen durch die putinsche Administration noch sehr jungen Datums. Der „Fall Chodorkowski“ ist weder juristisch noch politisch abgeschlossen. Gerade eben laufen noch Auktionen des Yukos-Rest-Vermögens. Zwar findet sich die Mehrheit der Oligarchen angesichts der Verurteilung ihres Kollegen Chodorkowski inzwischen bereit, Steuern auf ihre Gewinne zu zahlen. Die von Wladimir Putin angeregte und soeben von der Duma für das Jahr 2008 beschlossene „Steueramnestie“, die es möglich machen soll, im Verlaufe des Jahres 2008 illegale Gewinne nachträglich zu einem minimalen Steuersatz zu legalisieren, zeigt jedoch, wie akut diese Fragen noch stehen.
Ähnliches gilt für Gouverneure, Bürgermeister und örtliche Organe der Selbstorganisation, mit denen die Kreml-Administration trotz der inzwischen bestehenden Regelung, dass Gouverneure vom Präsidenten ernannt werden, nach wie vor im beständigen Tauziehen liegt. Wie aktuell auch diese Problematik ist, zeigen Putins ausführliche Ausführungen zu bevorstehenden Erweiterungen regionaler und örtlicher Kompetenzen in seiner soeben gehaltenen Rede an die Nation, denen die Tatsache gegenübersteht, dass die Justiz, unterstützt durch den Inlandgeheimdienst FSB, mit dem Vorwurf des „Amtsmissbrauches“ und der Korruption in zunehmendem Maße gegen unbotmäßige Bürgermeister vorgeht.
Bei all dem ist schwer zu erkennen, in welche Richtung diese Auseinandersetzungen gehen, ob zu mehr regionaler und privatwirtschaftlicher Kompetenz, wie Putin es in seiner Botschaft ankündigte oder zu wachsender Kontrolle durch den FSB. Sicher ist jedoch, dass hier ein Oppositionspotential liegt, welches von Putin und seinen Leuten höchstes taktisches Geschick erfordert, wenn es sich während der Wahlen und vor allem danach nicht zu einer erneuten Desintegration der russischen Staatlichkeit auswachsen soll.
Die oppositionellen Bewegungen in der Bevölkerung sind ebenfalls zu differenzieren: Da ist zunächst die systemimmanente Opposition der Parteien, die zur Wahl antreten: Ihre Zahl wird sich nach den Reformen des Wahlrechtes stark reduzieren; 2003 waren es 23 Parteien, russische Medien erwarten jetzt eine Verringerung um mehr als die Hälfte. Von ihnen werden es, so die Prognosen, vier in die neue Duma schaffen.
Es wären dies ihrer Größe nach: Die Partei „Einiges Russland“, also die sog. Putin-Partei; sie wurde 2003 mit 37,1% der Wählerstimmen die stärkste Kraft. Weiter die regierungskritische „Kommunistische Partei Russlands“ (2003: 12,7%), sodann die „Liberal-demokratische Partei“ des National-Populisten Wladimir Schirinowski (2003: 11,6%). Neu hinzu tritt die Partei „Gerechtes Russland“, die 2006 mit Geburtshilfe der Kreml-Administration aus der Partei „Rodina“ (2003: 9,1%) hervorging. Die genannten Parteien sind jene, die aus den Regionalwahlen der Jahre 2005 und 2006 gestärkt hervorgingen. Als chancenlos dagegen gelten die beiden bekannten liberalen Parteien „Jabloko“ und „Union rechter Kräfte“.
Alle vier genannten Parteien, in dieser Frage nicht anders als „Jabloko“ und die „Union rechter Kräfte“ sind staatsloyal. „Einiges Russland“, ebenso wie die Partei Schirinowskis können zudem als Stützen Putinscher Politik betrachtet werden. Die neue Partei „Gerechtes Russland“ versteht sich als putinfreundliche linke Alternative zur „Partei der Macht“. Ihre wesentliche Funktion sahen ihre kreml-nahen Initiatoren im Vorfeld der kommenden Wahlen 2006 darin, die KP als einzige parlamentarische Opposition einzuschränken und zugleich weitere tendenziell linke Kräfte wie die relativ starke „Partei der Pensionäre“ sowie der „Partei des Lebens“ ins parlamentarische Geschen einzubinden. Tatsächlich schränkt die neue Partei auch den Spielraum von „Einiges Russland“ ein, wie die Regionalwahlen zeigten.
Im Ergebnis werden in der Duma aller Voraussicht nach drei regierungsfreundliche Parteien, die sich programmatisch wenig, sondern eher in der von ihnen vertretenen Lobby unterscheiden, einer regierungs- und sozialkritischen KP gegenüberstehen.
Das liberale Lager ist durch den Niedergang von „Jabloko“ und der „Union rechter Kräfte“ praktisch auf den Status einer Bewegung reduziert worden. Eine Einigung zwischen den Resten der eher links-reformerisch orientierten „Jabloko“ und der neo-liberalen „Union rechter Kräfte“ kam nicht zustande. Die Gründung des „Komitee 2008: Freie Wahlen“ beim G8-Gipfel 2006 durch Gary Kasparow, dem sich auch extrem rechte Kräfte anschlossen, trug mit ihren radikalistischen Positionen zur weiteren Zersplitterung der liberalen Szene bei. Mit dem „Marsch der Unzufriedenen“ 2007, von dem aus praktisch zum Wahlboykott und Sturz Putins aufgerufen wird, eskaliert die Mischung aus Resten liberaler Bewegung und aktionistischer Kritik des „Putinismus“ zu einer außerparlamentarischen Bewegung der direkten Aktion, die durch keine andere Perspektive als den Sturz Putins miteinander verbunden ist.
Der 1. Mai 2007 hat gezeigt, dass es über die Parteien und auch über den „Marsch der Unzufriedenen“ hinaus einen breiten Boden für spontane soziale Proteste gibt, der sich zurzeit im Rahmen gewerkschaftlicher Forderungen nach Lohnerhöhungen und Kampf um soziale Leistungen hält. Mit den zu erwartenden sozialen Folgen des WTO-Beitritts kann dieser Protest schnell wieder zu Höhen aufflammen, wie sie von den Protesten gegen die „Monetarisierung“ im Jahre 2005 erreicht wurden.
Solange die Einnahmen aus dem Öl- und Gas-Geschäft das russische Staatsbudget weiterhin füllen, ist eine Radikalisierung dieser Proteste und deren Verschmelzung mit den radikalen außerparlamentarischen Aktionen allerdings nicht zu erwarten. Eher wird sich die Tendenz zur Wahlenthaltung fortsetzen, welche die Wahlen zur Duma, wie zuvor schon die Regionalwahlen, mehr zu einem Thermometer der politischen Stimmung im Lande macht, das den politischen Akteuren eine Korrektur ihrer politischen Ausrichtung, vielleicht auch nur deren geschicktere Vermittlung ermöglicht, als zu einer Entscheidung für eine aktive Politik. Über aktive Politik wird erst in der danach folgenden Wahl eines neuen Präsidenten entschieden.

Kai Ehlers
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Putins Schwerpunkte: Anmerkungen zu seiner Jahresbotschaft an die Nation.

Am Donnerstag der letzten Aprilwoche, wegen der Begräbnisfeierlichkeiten für Boris Jelzin um einen Tag verschoben, lud Wladimir Putin zur Jahresbotschaft in den Kreml. Versammelt waren Duma-Abgeordnete, Mitglieder des Föderationsrates, alle Minister, die Spitzen der Justiz, der Wahlkommission, des Rechnungshofes, die Mitglieder des Staatsrates und die Führer der größeren Konfessionen. Anwesend waren auch die Mitglieder der Gesellschaftskammer, die als Hüterin der Presse- und der Meinungsfreiheit agiert. Es war Putins letzte Rede an die Nation. Die nächste Rede werde, so der Noch-Präsident, ein anderes Staatsoberhaupt halten, da seine Dienstzeit zu Ende gehe. Damit ist allen Spekulationen über eine mögliche dritte Amtszeit Putins endgültig ein Riegel vorgeschoben.

Putins trat, entgegen anderslautender Kommentare, klar und moderat auf, konzentrierte sich auf innenpolitische Fragen. Er eröffnete mit einer Schweigeminute für Jelzin, erinnerte an dessen Verdienste, kam dann jedoch zügig auf die heutige Situation, die sich gegenüber den „schweren Zeiten“ unter Jelzin zum Guten entwickelt habe. Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich seit dem Jahre 2000 verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige stabiles Wachstum. Aber man stehe dennoch erst am Anfang einer „lange währenden Wiedergeburt des Landes“, habe noch viel zu tun, politisch wie auch sozial. Die „geistig-seelische Einheit des Volkes, sowie die uns vereinenden moralischen Werte“, betonte Putin, seien daher ein „ebenso wichtiger Faktor der Entwicklung wie die politische und die ökonomische Stabilität.“
Bei manchen ausländischen Zuhörern rief diese Einleitung den Verdacht hervor, Putin wolle sich für den Rest seiner Amtszeit an den aktuellen Widersprüchen vorbei stehlen, indem er die „nationale Karte“ ausspiele. Der moralische Einstieg war jedoch nur der Leitfaden, an dem entlang Putin seine strategischen Schwerpunkte setzte.
Die wichtigsten seien hier kurz vorgestellt:
Die zurückliegenden Korrekturen der Wahlverfahren trügen dazu bei, so Putin, die Wahlen demokratischer zu machen, sie von störenden „ungünstigen Methoden“ zu entschlacken. In der zukünftigen Duma werde es dadurch stärkere Oppositionskräfte der „Fraktionen“ geben.
Ob die hinter diesen Ausführungen stehende Hoffnung Putins aufgeht, ein stabiles Parteiensystem, vielleicht gar Zweiparteienwahlsystem nach US-Muster von oben initiieren zu können, werden die Wahlergebnisse zeigen.
Nicht allen gefalle die stabile Entwicklung des Landes, so Putin weiter. Es häuften sich daher die Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik zu intervenieren. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus „unausweichlich verschärft“ werden.
Nicht ausgesprochen, aber gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Gary Kasparow in der gegenwärtigen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn machten. Er rühmt sich, die „Opposition“ auf allen Ebenen, auch im Kreml selbst zu finanzieren. Kasparow erklärt im Lande, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, weil über Wahlen nichts zu ändern sei.
Beresowski war graue Eminenz der oligarchischen Herrschaft während der Zeit Jelzins; seit seiner Flucht vor Verfolgung wegen Steuerhinterziehung usw. betreibt er von London aus, gestützt auf die exportierten Milliarden, seine Rückkehr an die Macht. Kasparow, der von westlichen Medien als „Führer der russischen Opposition“ herausgestellt wird, ist aktives Mitglied des „National Security Advisory Council“ (NSAC) in Washington, einer Neben-Organisation des „US-Centers for Security Policy.“ Diese Organisation ist einer der aktivsten „Think-Tanks“ der US-Neo-Konservativen. Das sind jene US-Kräfte, die ihre Aufgabe darin sehen, weltweit „bunte Revolutionen“ zu exportieren. Man darf sich wundern, wie verhalten, ohne Namen und Länder zu nennen, Wladimir Putin über all diese Aktivitäten spricht; ob Extremistengesetze allerdings das richtige Mittel gegen interventionistische Provokationen sind, wird man bezweifeln müssen.
Eine wichtige Rolle für die zukünftige Entwicklung des Landes, so Putin weiter, spiele die Entwicklung bürgerlicher, ziviler Vereinigungen. Im letzten Jahr habe sich die Zahl gesellschaftlicher Vereinigungen und der Einsatz von Freiwilligen erhöht, die sich am gesellschaftlichen Aufbau in Russland beteiligten. In demselben Zeitraum seien auch wichtige Vollmachten an örtliche Verwaltungsorgane abgegeben worden, so im Städtebau, im Wald-, Boden- und Wasserwesen, im Tierschutz und in allgemeinen Beschäftigungsfragen der Bevölkerung. Ergänzend dazu sei zudem ein neues Gesetz der örtlichen Selbstverwaltung in Kraft getreten. Er hoffe, dass dies alles zur Entwicklung von Basiskräften beitrage, die Russland dringend brauche.
Nach sieben Jahren putinscher Re-Zentralisierung, in deren Verlauf die Wahl örtlicher Selbstverwaltungsorgane bis hinauf zu den Gouverneuren der Provinzen durch Ernennungen seitens des Präsidenten, bzw. seines präsidialen Verwaltungsapparates ersetzt wurden, wäre dies ein bemerkenswerter neuer Akzent in der russischen Politik. Zu bezweifeln ist allerdings auch hier wieder, ob dies von oben her zu verwirklichen sein kann.
Es stellt sich zudem die weitere Frage, in welchem Verhältnis die von Putin angegebene Entwicklung russischer nicht-staatlicher Vereinigungen zur Verschärfung der Zulassungs-Bedingungen für die Tätigkeit von NGOs steht. Tatsache ist, dass die Aktivität nicht-staatlicher Organisationen durch die gegenwärtige Gesetzeslage nicht nur für ausländische Organisationen, sondern allgemein sehr erschwert worden ist und, sollte nunmehr Extremismus im oben genannten Sinne schärfer verfolgt werden, auch noch weiter erschwert werden wird. Für eine freie Entfaltung von Basisaktivitäten auf kommunaler Ebene ist das mit Sicherheit Gift, auch wenn sie nicht ausländisch, sondern einheimisch sind. Insofern muss man befürchten, dass diese Hoffnungen Wladimir Putins, wenn man denn bereit ist sie ernst zunehmen, Hoffnungen bleiben.
Bleibt noch der außenpolitische Aspekt, der in den westlichen Medien besondere Beachtung fand, obwohl er in Putins Rede eher am Rande auftaucht: Putin beklagt, die EU halte die Verträge der KSE über konventionelle Streitkräfte in Europa nicht ein. Deshalb will er die Verträge zu erneuter Verhandlung in den NATO-Russland-Rat einbringen. Sollte dies nicht akzeptiert werden, dann werde Russland einen einseitigen Ausstieg aus den Verträgen in Erwägung ziehen.
Für westliche Medien ist damit der Tatbestand putinscher Aggression erfüllt. Tatsächlich kündigt Putin nur an, dass Russland über Fragen der Rüstung offene Verhandlungen fordert. Damit knüpft er an den Vorschlägen an, die er kürzlich auf der NATO-Sicherheitskonferenz vortrug: Ende der von den USA betriebenen Militarisierung internationaler Beziehungen, stattdessen Eintritt in Verhandlungen zu Abrüstung auf allen Ebenen, einschließlich der Entmilitarisierung des Weltraumes.

 

Kai Ehlers
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Boris Jelzin – Lebensdaten eines Staatsanarchisten

De mortiis nihil nisi bene – über die Toten nichts als nur Gutes. Das haben wir in der Schule gelernt, gleich ob Russen, Deutsche oder Europäer. An diese Traditionen wollen wir uns halten, auch Boris Jelzin gegenüber, der am 23. April aus dem Leben schied. Wir halten uns daran, auch wenn er im Schatten, den sein Nachfolger Putin inzwischen wirft, in letzter Zeit nur noch schwer zu erkennen war, ja., für manche seiner Landsleute inzwischen vom Helden der von vielen so genannten demokratischen Revolution der 90er Jahre zum Inbegriff des Chaos geworden ist, das man lieber vergessen möchte.
Aber der der Aufstieg Jelzins vom Bauernjungen aus dem Dorf Butka im Bezirk Swerdlowsk der russischen Provinz zum Präsidenten des nachsowjetischen Russland ist aus der Geschichte des Übergangs von der Sowjetunion zum heutigen Russland ebenso wenig wegzudenken wie die amerikanische Story des Tellerwäschers, der zum Millionär aufstieg, nur dass Jelzin die Teller, die ihn an die Spitze führten, nicht wusch, sondern zerschlug.
Wenn irgendjemand das russische Sprichwort: „Der russische Muschik spannt lange an, aber wenn er losfährt, dann fährt er rasant“ verkörpert, dann Boris Jelzin. Und mehr noch, auf ihn trifft auch die Fortsetzung des Sprichwortes zu, die häufig vergessen wird, die aber doch wesentlich zum Verständnis dessen ist, warum viele Menschen in Russland selbst wie auch im Ausland, den „Bären Jelzin“ als einen typischen Russen erlebten. Dieser Zusatz, von Menschen, die ihr Land durchaus lieben bisweilen hinzugesetzt, lautet: Und wenn er dann rast, dann ist es ihm meisten gleich wohin, Hauptsache es bewegt sich.
Gemächlich sehen wir den kleinen Jelzin vom Bauernjungen aus Butka in der Provinz bei Swerdlowsk zum Baulöwen der Region aufsteigen, Stalin überleben, nach dessen Tod 1961 in die Partei eintreten, sich unter Chruschtschow, dann unter Breschnew ebenso gemächlich als Bezirkssekretär der Partei etablieren. Erst nachdem Michail Gorbatschow ihn 1985 aus der Provinz nach in die Moskauer Parteispitze holt, 54jährig, legt Boris Jelzin los.
Schon ein Jahr später, auf dem 27. Parteitag der KPdSU 196, hat Jelzin dazu angesetzt, den vorsichtigen Gorbatschow zu überholen. 1990 hat er seinen Gönner, der seinen Umsturzeifer zu bremsen versucht, bereits hinter sich gelassen. Als Präsident der sowjetischen Teilrepublik Russland gibt er demonstrativ seinen Austritt aus der Partei bekannt. Kurz darauf schafft er sämtliche Privilegien für Führungskader in seinem Machtbereich ab.
Ein letzter Versuch Gorbatschows, Jelzin in sein behutsames Reformtempo durch die Erarbeitung eines gemeinsamen Reformplanes für die nächsten Jahre einzubinden, scheitert 1990, als Jelzin für die sofortige Verwirklichung des „100 Tage-Programms“ plädiert, das die Kommission vorlegte. Statt mit Gorbatschow einen Kompromiss zu suchen, ließ Jelzin sich mit dem Programm nach Harvard einladen, um sich von dort Bestätigung und Unterstützung zu holen. Gorbatschow warb in London vergeblich um Unterstützung für langfristige, allmähliche Reformen.
Damit war der Bruch zwischen beiden perfekt. Der Machtverfall Gorbatschows, später als sog. Putschversuch der kommunistischen Alt-Kader bezeichnet, war vorprogrammiert. Mit seinem Aufruf zur Beschleunigung der Reformen, manifestiert in den von ihm ausgegebenen Slogans: „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“, konnte Jelzin sich als neuer starker Mann etablieren, der dem Putsch Einhalt gebot.
Alles Weitere lief im Galopp: Auflösung der Union, Ablösung Gorbatschows, Umsetzung der „Schocktherapie“ als Regierungsprogramm, das die Bevölkerung ins Elend stürzte und eine Schattenregierung aus IWF, Weltbank und russischen Privatisierungsgewinnlern entstehen ließ.
Hoch ist Boris Jelzin bei aller Überstürztheit indes anzurechnen, dass er den Übergang ohne Blutvergießen und ohne Säuberungen inszenierte. Das Verdienst dafür wird auch durch den späteren chaotischen Verlauf seiner Reformpolitik nicht geschmälert. Blut wurde erst vergossen, als Jelzin gezwungen war, die von ihm gerufenen Geister der Anarchie wieder einzugrenzen: 1993 Panzereinsatz gegen die Duma, 1994 Einmarsch in Tschetschenien, darüber hinaus immer wieder aufflackernde Kriege in Randgebieten wie Moldau, Abchasien, Südossetien, Berg Karabach usw. Nicht alles, heißt das, was Jelzin als Präsident tat, gereicht ihm zur Ehre. Er war Zerstörer einer sklerotisierten Ordnung. das wollen wir hier nicht weiter aufzählen; er war auch Verwalter einer großen Unordnung, sicher kein Demokrat westlichen Zuschnitts, aber ein Mensch, der sich von Spontaneität und Freiheitswillen leiten ließ.
Als genial werden seine Landsleute seinen letzten Schachzug in Erinnerung behalten und vermutlich in die Geschichtsbücher übernehmen wollen: Die Einführung eines unbekannten Mannes Namens, Putin, in das Zentrum der Macht, von dem Jelzin sich und seiner „Familie“, also dem Hofstaat seiner Verwandten, Ratgeber und reich gewordenen Günstlinge lebenslange Immunität zusichern ließ. Dies war gleichbedeutend mit einer Immunitätserklärung für die Generation der Umstürzler und damit Chance für die Einleitung einer relativen Stabilität. Auch hier gelang Jelzin ein bruchloser Übergang ohne Liquidation. Es ist zu hoffen, dass es dieses Erbe Jelzins ist, das weiter wirkt, wenn Russland jetzt wieder einen Machtwechsel zu bewältigen hat, und nicht die andere, chaotische Seite, die sein alter Mitkämpfer Boris Beresowski jetzt erneut zu aktivieren versucht, wenn er zum gewaltsamen Sturz Putins aufruft.

 

Kai Ehlers
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Sturm im Wasserglas – oder Russland in Aufruhr?

Aufruhr in St. Petersburg und in Moskau. Aus der Provinz herbei gekarrte Polizei-Spezialeinheiten prügeln nicht genehmigte Demonstrationen der radikalen Opposition nieder. Man braucht nicht viel, um dieses Vorgehen der russischen Behörden falsch zu finden.
Nicht verwunderlich ist ebenso, dass die Moskauer und St. Petersburger Polizeieinsätze den „entschiedenen Protest“ westlicher Politiker hervorriefen und die westlichen Medien zu Skandalberichten veranlassten, die in Forderungen danach gipfeln, die deutsch-russische Partnerschaft zu überdenken, da Russland nicht mehr zur „westlichen Wertegemeinschaft“ zähle.
Unabweisbar sind auch die Vergleiche, die einem einfallen, wenn man als politisch aktiver deutscher Staatsbürger die Beschreibungen des russischen Einsatzes liest: weiträumige Absperrungen, Durchsuchungen im Vorfeld, doppelt so viel Polizei wie Demonstranten, in den Seitenstraßen gepanzerte Einsatzfahrzeuge und Fahrzeuge für den Abtransport von Gefangenen, Polizisten in Helm und schusssicheren Westen, die Kessel bilden und auf abziehende Demonstranten und Passanten prügeln.
Auch die offiziellen Verlautbarungen, alles sei „rechtmäßig“ verlaufen, klingen hierzulande vertraut und der gegenwärtige Hauptakteur der Proteste, der ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow, wird nach vorübergehender Festnahme in Moskau gerade so rechtzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt, dass er seinen Zug zur St. Petersburger Kundgebung nicht mehr erreicht. Gegen die 200 Festgenommenen wurden Strafverfahren eingeleitet. Soweit, so normal, könnte man sagen, Zivilgesellschaft: Russland ist – ganz im Gegensatz zur westlichen medialen Empörung – in der „europäischen Wertegemeinschaft“ angekommen, die da heißt: Wer an einer nicht genehmigten Demonstration teilnimmt, muss mit Prügeln rechnen.
Eine andere Frage ist, warum die russischen Behörden diese Demonstrationen verbieten. Warum lässt man diese 1000 „Andersdenkenden“, Ultra-Liberale, National-Bolschwisten, Menschrechtler, Anarchisten und sonstige, die kein politisches Programm, sondern nur ihr Hass auf Putin verbindet, nicht durch Moskau oder durch St. Petersburg marschieren? Was hat das putinsche Russland von diesem zusammengewürfelten Haufen zu befürchten? Haben die Regionalwahlen nicht eben gerade eine überwältigende Mehrheit für die Politik Putins gebracht? Hat Putin nicht durch seinen klare Auskunft, keine dritte Amtszeit zu wollen, den Weg für ruhige Wahlen freigemacht? Hat er nicht vor der NATO in München soeben außenpolitisch gepunktet? Liegt sein Rating nicht immer noch bei 70 %?
Eine erste Antwort ist in den Provokationen des im Londoner Exil lebenden Oligarchen Boris Beresowski zu finden, der seine schon vor einem halben Jahr einmal geäußerte Absicht, das „Regime Putin“ mit Gewalt stürzen zu wollen, wenige Tage vor den jetzigen Vorgängen im Londoner „The Guardian“ wiederholte. Putin habe ein totalitäres Regime errichtet und es gebe keine Möglichkeit, es durch Wahlen zu verändern. Er stehe im Kontakt mit Mitgliedern der russischen Führung, denen er finanzielle Unterstützung angeboten habe. In Russland sei dies der einzige Weg um Veränderungen zu erreichen.
Auch wenn nicht nachweisbar ist, dass der „Marsch der Unzufriedenen“ von Beresowski finanziert wird, so ist doch nicht verwunderlich, dass die russische Regierung Kasparows Leitlinie, Demokratie könne und müsse auf der Straße erkämpft werden, als das Passstück zu Beresowskis Aufruf versteht. Das Problem liegt allerdings weniger bei Kasparow, als in der nach wie vor noch nicht stabilisierten russischen „Elite“: Nach acht Jahren Putin ist die offene Herrschaft der Oligarchie, die sich unter Jelzin gebildet hatte und deren führender Kopf Beresowski war, zwar gebrochen, aber es ist noch keine verlässliche Loyalität gegenüber dem neuen russischen Staat gewachsen. Der bevorstehende Machtwechsel ist für die neue russische Staatlichkeit daher eine äußerst kritische Situation.
Eine zweite Antwort liegt in den sozialpolitischen Aufgaben, die eine nach-putinsche Administration zu erfüllen haben wird, wenn sie Ernst machen will mit dem kürzlich beschlossenen WTO-Beitritt Russlands. Nach den Richtlinien der WTO wird die kommende Regierung tiefe Einschnitte in die sozial-politische Souveränität Russlands vorantreiben müssen.
Das betrifft zum einen den russischen Energiemarkt, der nach diesen Vorgaben liberalisiert werden müsste, im Außen- wie auch im Binnenhandel. Für den Außenhandel könnte das zu Russlands Nutzen geschehen, solange die Energiekonzerne, ein wichter Teil der „Elite“, sich in die staatliche Politik einbinden lassen. Im Binnenhandel käme die Aufhebung der Subventionen jedoch einer offenen Katastrophe gleich, da sowohl die Industrie als auch die kommunale Versorgung auf Vorzugspreise für Gas und Öl aufgebaut ist und für den kommunalen Bereich sogar gilt, das erst Zähler installiert werden müssten, bevor die Gaslieferungen und – preise privatisiert werden könnten. Man möge sich vorstellen, was das für ein Land bedeutet, das ein kollektives Verteilungssystem aufgebaut hat.
Angleichungen an die von der WTO geforderten Normen der Deregulierung und Kommerzialisierung der Dienstleistungen haben schon im Vorfeld des WTO-Eintritts in den Jahren 2005 und 2006 zu breitesten Protesten geführt. Die Regierung musste zurückrudern. Der Nachfolger Putins wird in dieses Erbe eintreten müssen. Ob er bremst oder Gas gibt, bleibt sich in einem gleich: er wird es entweder mit Druck aus der Bevölkerung oder von WTO, IWF, Weltbank, EU usw. zu tun bekommen.
Der Umgang mit den aktuellen Protesten lässt befürchten, dass Putin, allen Schmähungen als angeblicher Diktator zum trotz, die Lage nicht im Griff hat und dass die jetzigen Zusammenstöße die Vorboten weiterer Eskalationen sind.

 

Kai Ehlers
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Berliner Erklärung: Pfeifen im Raketenwalde?

Beeindruckend, was da in Berlin am Wochenende von den siebenundzwanzig Mitgliedern der Europäischen Union unterschrieben wurde: „Wir haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir leben heute miteinander, wie es nie zuvor möglich war. Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.“
Wunderbar! Was für ein großes Wir! Das weckt Erinnerungen und soll es wohl auch. Die Formulierungen erinnern an die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, die ja auch eine europäische Wiedervereinigung wurde. „Wir sind das Volk“ hieß es damals, als die Menschen für die Öffnung der DDR demonstrierten. Es war der Wille des DDR-Volkes, der sich in einer gewaltlosen Revolution von unten so artikulierte. Und es entsprach mit Sicherheit auch dem Willen der Mehrheit der Menschen Europas, insbesondere auch der östlichen Länder Europas, dass mit der deutschen auch die europäische Teilung fiel. Aber wer sind „Wir“ heute?
Sind damit die Franzosen gemeint, die vor zwei Jahren den Verfassungsvertrag per Referendum ablehnten? Oder die Niederländer, die das Gleiche taten? Oder ist die polnische Regierung gemeint, die Bedenken gegen den Verfassungsvertrag vorgebracht hatte? Und was ist mit uns „Bürgern und Bürgerinnen“? Wurden wir gefragt? Ich wurde jedenfalls nicht gefragt, ob ich dieser Erklärung zustimmen möchte; ebenso wenig der von mir gewählte Abgeordnete im deutschen Parlament. Das Gleiche gilt für andere nationale Parlamente im Rahmen der EU. Auch das Europäische Parlament in Brüssel hat den Text vor seiner Unterzeichnung nicht zu Gesicht bekommen. Nicht einmal die nationalen Regierungen der siebenundzwanzig Mitgliedsländer waren in die Erarbeitung der Erklärung einbezogen. Anerkennend schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ dazu: „Dass es bei allen Bekenntnissen zu Transparenz und Bürgernähe gelingt ,Diskretion zu wahren, zeigt die Tatsache, dass der gesamte Wortlaut der Berliner Erklärung – in ihrem letzten Entwurf – erst am Freitag bekannt geworden ist.“
In der Tat, „Diskretion“ ist das am klarsten hervorstechende Merkmal im Entstehungsprozess der „Berliner Erklärung“. Die Diskretion steht im umgekehrten Verhältnis zur dem beschworenen Wir. Der Wille des EU-Volkes ist in diese Erklärung nicht eingegangen. Mehr noch, die Beschwörung des großen Wir erscheint wie das Pfeifen im Walde, wenn man bedenkt, wie uneins die Reaktionen aus der EU auf den Vorstoß der US-Amerikaner sind, in Osteuropa und dem Kaukasus Raketen aufstellen zu wollen. Von Einigkeit auch auf Führungsebene keine Spur! Die Ratspräsidenten der EU und deutsche Kanzlerin Angela Merkel warnt vor „Alleingängen“ und will die Amerikaner auf eine Debatte in der NATO verpflichten. Die polnische und die tschechische Republik folgen dagegen mit ihrer Zustimmung zu den US-Plänen ihren eigenen nationalen Interessen, ganz zu schweigen von der seitens der EU auf Abstand gehaltenen Ukraine, die eine Chance sieht, sich wenigstens für die USA unentbehrlich zu machen. Hinzuzufügen ist, dass die Zustimmung zu den US-Plänen von den Bevölkerungen der genannten Länder nicht geteilt wird. Selbst die deutsche Regierung, obwohl zur Zeit mit der Ratspräsidentschaft der EU betraut, zeigt sich uneins: Der deutsche Außenminister, SPD, warnt vor Wettrüsten und Alleingängen; der deutsche Verteidigungsminister, CDU, möchte die EU in die US-Planung einordnen. Kurz, von einheitlicher Strategie kann so wenig die Rede sein wie von der in der „Berliner Erklärung“ beschworenen „Offenheit“. Die Erklärung ist vielmehr der offensichtliche Versuch, die Strategie- und Legitimationskrise der EU-Bürokratie mit populistischen Floskeln zu überspielen. Anders gesagt: An einer Befragung der Einwohnerinnen und Einwohner der europäischen Staaten zu der am Schluss der „Berliner Erklärung“ in Aussicht gestellten Erarbeitung „gemeinsame(r) Grundlagen“, die ja auf nichts anderes als einen erneuten Anlauf zu einer EU-Verfassung hinausläuft, wird wohl kein Weg vorbei führen können.

Kai Ehlers
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Kritische Solidarität in Memoriam Anna Politkowskaja

Zum 20.3.2007 ruft die Peter-Weiß-Stiftung für Kunst und Politik, Berlin unter dem Stichwort zweiter „Jahrestag der politischen Lüge“ zu einer weltweiten Lesung in Memoriam Anna Politkowskaja auf. Rund fünfzig Organisationen folgen dem Aufruf allein in Deutschland, darüber hinaus etliche Dutzend im Ausland. Es sollen Texte aus dem Buch Anna Politkowskajas: „Tschetschenien, die Wahrheit über den Krieg“ verlesen werden. Literaten wie Elfriede Jelinek und andere werden gesonderte Lesungen durchführen. Ziel der Veranstaltungen ist, so die Peter-Weiß-Stiftung, an diesem zweiten „Jahrestag der politischen Lüge“ deutlich zu machen, dass die politische Lüge nach wie vor „zum Instrumentarium bestimmter politischer Formationen“ gehöre und diese Lüge einer weltweiten „Kritik zu unterziehen“.
Der erste „Tag der politischen Lüge“ war von der Stiftung ein Jahr zuvor aus Anlass des dritten Jahrestages des Einmarsches der US-Truppen in den Irak ausgerufen worden. Er wurde mit Lesungen von Eliot Weinbergers „Was ich hörte vom Irak“ ebenso weltweit begangen wie das aktuelle Memoriam zu Anna Politkowskaja jetzt.
Die Peter-Weiß-Stiftung ist eine hochangesehene Adresse. 1988 gegründet, war sie Trägerin des großen Peter-Weiß-Kongresses in Hamburg und einer Thomas Bernhard-Ausstellung in Berlin, Sie ist Trägerin des jährlichen Literaturfestivals in Berlin. Mit ihrer Kampagne zum „Tag der politischenLüge“ hat sie eine Protestwelle in Gang gesetzt, der sich niemand entziehen kann, der oder die es ernst meint mit dem Anspruch auf Entwicklung zivilisierter und demokratischer Umgangsformen zwischen den Völkern und innerhalb der eigenen Gesellschaft. Krieg ist Krieg und wird auch dann keine Friedensaktion, wenn er von einer Weltmacht dazu ernannt wird. Das war die Botschaft des letzten Jahres. Politischer Mord an einer kritischen Journalistin ist Mord und darf nicht als Kollateralschaden des politischen Alltags heruntergespielt werden. Folter ist Folter, ob im Irak oder in Tschetschenien, und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Das sind ebenso klare Wahrheiten.
Die Fakten, die hierzu im Vorjahr zum Irak vorgebracht wurden, jetzt zu Tschetschenien, sprechen eine unabweisbare Sprache. Auch wenn die „Rebellen“ in Tschetschenien inzwischen bis auf ca. 200 Kämpfer die Waffen gestreckt haben, auch wenn der umstrittene Miliz-Führer Ramsan Kadyrow von Wladimir Putin kürzlich zum zivilen Präsidenten der tschetschenischen Teilrepublik geadelt wurde, auch wenn der Flugverkehr zwischen Grosny und Moskau jetzt wieder aufgenommen wurde und die UNO entschieden hat, ihr Büro in Grosny wieder zu eröffnen und selbst wenn die aktuellste Konferenz zu Menschenrechten in Tschetschenien Anfang des Jahres 2007 wieder in Grosny statt in London oder Paris durchgeführt werden konnte, so sind doch Not, Elend, Krankheiten und Arbeitslosigkeit nach wie vor Alltag in Tschetschenien. Dazu kommen immer wieder aufflackernde Kämpfe und im Gegenzug Repression, gelegentliche „Säuberungen“, Folter in Gefängnissen und Lagern sowie andere Gräuel. Bedrückende Einzelheiten dazu sind u.a. in dem letzten Bericht der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ nachzulesen. Er beginnt mit den Worten: „Die Menschenrechtssituation hat sich im Lauf des vergangenen Jahres nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich ein Trend aus 2005 fortgesetzt, der Konflikt blieb nicht auf Tschetschenien beschränkt, sondern breitete sich landesweit aus.“ (GfbV, 29.1.2007) Hierauf mit den Lesungen weltweit aufmerksam zu machen und die Zustände im Südkaukasus auf diese Weise in das Licht der Welt-Öffentlichkeit zu stellen, ist ein großes Verdienst dieser Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung.
In der Gleichstellung des US-Einmarsches in den IRAK mit dem Mord an Anna Politkowskaja, die sich aus der Parallelität der vorjährigen und der jetzigen Kampagne der Stiftung ergibt, liegt jedoch auch ein Problem, das ebenso wenig übergangen werden darf. Der Mord an der dezidierten Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja wird von vielen, selbst ehrlich empörten und gutwilligen Demokraten, umstandslos der russischen Regierung, dem russischen Geheimdienst oder gar dem russischen Präsidenten persönlich angelastet, obwohl dieser sich, wenn auch ungeschickt und taktlos, eindeutig davon distanziert und rückhaltlose Aufklärung angekündigt hat. Formulierungen wie „Putin Mörder“, „Putin Diktator“, „faschistisches Russland“ konnte man in der Folge des Mordes an Anna Politkowskaja immer häufiger lesen. Es besteht erkennbar die Gefahr, dass ihr Tod politisch instrumentalisiert wird, um daran Ängste vor Russland zu schüren. Dieser Gefahr kann nur mit der Frage: Cui bono? Wer hat den Nutzen? begegnet werden.
Der Einmarsch in den Irak war ein klarer imperialer Akt, auch wenn er jetzt chaotisch endet und sich gegen seine Urheber zu wenden beginnt. Aber was war und was ist der tschetschenische Krieg? Da fällt eine Antwort schon wesentlich schwerer. Sicher ist nur eines: Der Beginn des Krieges war Ausdruck des imperialen Zerfalls der Sowjetunion, der von Jelzin befohlene Einmarsch war keine strategische Offensive, sondern die blinde Reaktion einer taumelnden russischen Führung. Die Folge war ein sich im Selbstlauf eskalierendes Chaos, das Russland von Anfang an geschadet hat. Der tschetschenische Krieg ist der mit falschen Mitteln unternommene und gescheiterte Versuch einer Schadensbegrenzung, nachdem Boris Jelzin 1991 mit den beiden Parolen „Bereichert Euch“ und „Nehmt Euch so viel Souveränität wie ihr könnt“ den zögernden Michail Gorbatschow beiseite geschoben hatte. Jelzin konnte die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bändigen. Stattdessen breitete sich das Chaos des tschetschenischen Krieges zu einem Geschwür der sozialen Desintegration aus, das die russische Gesellschaft bis heute vergiftet.
Dies ist der Hintergrund, vor dem zu fragen ist, wem Anna Politkowskajas Tod nützte. Ganz sicher nützte er nicht der russischen Führung. Sie konnte durch den Mord an dieser im Westen bereits vor ihrem Tod schon fast zur Ikone des Widerstandes gegen Putin gewordenen Anklägerin nur Boden verlieren, politisch wie auch kulturell. Und sie hat ihn verloren, wie die zunehmende Russophobie zeigt. Was diesen Punkt betrifft, sollte man wohl aufhorchen, wenn Michail Gorbatschow und andere keineswegs putin-hörige russische Persönlichkeiten die Putin-Schelte, die in den westlichen Medien nach dem Mord einsetzte, als Kampagne zurückweisen und ihrerseits auf Aufklärung setzen.
Ob und wann dieses gelingt, ist eine andere Frage. Anna Politkowskaja kritisierte ja nicht nur Putin, nicht nur den Terror russischer Soldateska, prorussischer tschetschenischer Milizen, des russischen Geheimdienstes, wildernder anonym agierender russischer Spezialtruppen ebenso wie tschetschenischer Banden, sie kritisierte auch die korrupten Militärs, russische und tschetschenische, skrupellose Oligarchen wie auch verkommene Bürokraten, bei denen die ohnehin geringen Moskauer Aufbaugelder für Tschetschenien versickern. Spuren, die zu ihren Mördern oder gar deren Auftraggebern führen könnten, gibt es daher so viele, wie sie Artikel geschrieben hat.
Anna Politkowskaja kritisierte auch ihre eigenen Landsleute, deren politische Apathie sie verurteilte. Der Westen stand ebenfalls in ihrer Kritik. Sie hielt ihm vor, dass er „die tschetschenische Bevölkerung für Öl und für strategische Interessen“ verkaufe, indem er das Chaos verschweige. Recht hat sie mit beiden Kritiken, denn längst betrachtet die russische Bevölkerung den tschetschenischen Krieg nicht mehr als den ihren. In Bezug auf den Westen muss man ein bisschen deutlicher werden: Schon lange könnte man sehen, wenn man es wollte, dass auf dem Rücken der tschetschenischen Bevölkerung wie auch der angrenzenden Republiken Inguschetien und Dagestan ein Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Kaukasus ausgetragen wird. Mehr und mehr schließt er auch die inzwischen nicht mehr zu Russland gehörigen kaukasischen Nachbarn, Azerbeidschan, Georgiern bis hin zur Ukraine mit ein. In diesem Krieg fällt Russland die Rolle zu, sich gegen verdeckte Interventionen zu wehren, die geeignet sind seine südliche Flanke zu destabilisieren. Nachweise für diese Interventionen können, nicht anders als zu den Hintergründen des Mordes an Anna Politkowskaja, ebenfalls nur über die Frage: Cui bono? Wem nützt es? geführt werden. Dabei ist die Frage nach dem Nutznießer der Interventionen klarer zu beantworten als die nach denen des Mordes: Eine Destabilisierung des Kaukasus nützt weder Russland, noch den kaukasischen Völkern, sondern allein denen, die hier ihre globalstrategischen Interessen durchsetzen wollen. Dazu lese man noch einmal Sbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht“, oder höre sich die Reden aus dem neo-konservativen Lager der gegenwärtigen US-Regierung an. Hier schließt sich der Kreis zur vorjährigen Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung, die der Intervention der US-Truppen in den Irak galt.
Wie aktuell die Konfliktlinie im Kaukasus ist, machen die kürzlich erklärten Absichten der USA unmissverständlich klar, Mittelstreckenraketen zunächst in Polen und Tschechien, dann aber auch im Kaukasus aufstellen zu wollen, wo sie angeblich Europa und die USA gegen Angriffe des Iran oder Korea oder sonstiger „Schurkenstaaten“ schützen sollen. Diese Begründung ist so offensichtlich vorgeschoben, dass innerhalb der EU offene Kritik laut wird. Russland kann das nur als einen weiteren Schritt der Einkreisung verstehen. Ein Ende der Unruhen in Tschetschenien und Umgebung ist solange nicht abzusehen, wie diese geopolitische Konfliktlinie aufrechterhalten wird.
Mit Recht prangerte Anna Politkowskaja die Methoden an, mit denen Russland den Krieg führt und wie der Kreml über eine vom Geheimdienst gelenkte Verwaltung Ruhe und Ordnung in der tschetschenischen Teilrepublik herzustellen versucht. Da wird, soweit man erkennen kann, in grober Weise mit Zuckerbrot und Peitsche hantiert, gelenkte Wahlen und eine vom Kreml gestützte Tschetschenisierung der Verwaltung auf der einen Seite, Verweigerung von Personaldokumenten für zurückkehrende Flüchtlinge, Repression für Unangepasste, Strafaktionen gegen den nach wie vor schwelenden Widerstand auf der anderen. Wenn man dies aufzeigt, darf man jedoch auch nicht verschweigen, dass die westlichen Interventionen im kaukasischen Raum einer Entspannung in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken direkt entgegenarbeiten. Eine Verteidigung der Menschenrechte, heißt das, die der politischen Lüge so entgegenwirkt, wie es sich die Peter-Weiß-Stiftung von ihrer Kampagne verspricht, beginnt nicht erst in Tschetschenien; sie kann auch nicht auf Kritik an Moskau, konkret seinen jetzigen Präsidenten beschränkt bleiben; sie beginnt dort, wo jeglicher Interventionspolitik, die lokale Bevölkerungen zur Geisel strategischer Interessen macht, im Ursprung entgegengewirkt wird.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

US-Raketen auch im Kaukasus: Unter den US-Schirm kriechen oder nicht?

Nach Polen und der tschechischen Republik wollen die USA nun auch den Kaukasus als Basis für die Aufstellung von Mittelstrecken-Raketen nutzen. Einen bestimmten Ort nannte US-Generalleutnant Henry Obering, der diese Absicht in Brüssel Anfang Februar bekanntgab, allerdings nicht. So wie zuvor schon die Anfragen der USA an Polen und die tschechische Republik, so sorgte auch dieser Vorstoß der USA jetzt für Konflikte. Azerbeidschan, Georgien, von den Russen als Adressat der US-Pläne vermutet, dementierten umgehend. Nicht so die Türkei. Ins Spiel gebracht wurde darüber hinaus aber auch die Ukraine, nachdem der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko wenige Tage zuvor erklärt hatte, für die europäische Sicherheit sei eine Raketenabwehr unabdingbar. Jutschtschenkos Gegenspieler, Viktor Januwitsch, erwiderte daraufhin, eine Beteiligung der Ukraine an dem US-Raketen-Abwehr-Schild stehe nicht zur Debatte.
Unberührt von dieser Verwirrung wie auch der Kritik der EU-Partner und der erneuten russischen Proteste, die Einkreisung, Ausspähung und effektive Beeinträchtigung der Sicherheit ihres Landes fürchten, heißt es von Seiten der USA erneut, die Raketen richteten sich nicht gegen Russland, sondern gegen Iran, Korea oder sonstige mögliche „Schurkenstaaten“. Im übrigen handele es sich bei den geplanten Raketen nicht um Offensiv-, sondern um Defensivwaffen. Die Früherkennung diene allein dem Schutz vor atomarer Bedrohung der USA, Europas und, Kooperation vorausgesetzt, sogar Russlands.
Man ist versucht zu lachen angesichts solcher Begründungen, aber leider gibt es überhaupt keine Veranlassung zur Heiterkeit, denn die Aufstellung der Raketen ist allen öffentlichen Beschönigungen zum Trotz alles andere als defensiv. Sie sind vielmehr der aktuelle Ausdruck einer seit dem Ende des Kalten Krieges seitens der USA betriebenen strategischen Umorientierung vom Gleichgewicht des Schreckens durch atomar bestückte Langstreckenraketen auf die Erreichung einer atomaren Erstschlagkapazität durch ein Netz von Mittelstreckenraketen. Die Raketen sollen in einem konventionellen Präventivschlag einen möglichen atomar bewaffneten Gegner so umfassend angreifen, dass er keine Gelegenheit mehr zum Einsatz seiner atomaren Abwehr findet. Folgerichtig bezeichnet der Direktor des Raketenabwehrprogramms der Luftwaffe, US-Oberst Robert Bowman, das Netz der Raketenabwehr als das „Verbindungsglied zum Erstschlag“. So nachzulesen u.a. bei William Engdahl in einem Aufsatz zu Putins Rede vor der NATO-Sicherheitstagung.
Schaut man sich die Lokalisierung der Basen an, die wie ein Ring um Russland gelegt sind, so bedarf es keiner langen Erklärung, gegen wen sie gerichtet sind. Schlag auf Schlag wurden seit Auflösung der Blockkonfrontation die neuen US-Basen implementiert: 1999, nach einer der neuen Lage gewidmeten gewissen Schamfrist, Camp Bondsteel an der Grenze zwischen Kosovo und Macedonien, Einsatzradius mittlerer Osten, Kaspisches Meer, Russland. In den Jahren darauf Stützpunkte in Ungarn, Bosnien, Albanien, Macedonien, später Bulgarien; 2001 in Afghanistan, Einsatzraum neben China, Iran, mittlerer Osten wieder Russland. Die NATO-Erweiterung nach Ost-Europa, in den Kaukasus und nach Zentralasien hinein ist Teil dieser Strategie. Weitere Stützpunkte in Kirgistan, Usbekistan, Pakistan kamen hinzu, unmittelbarer Einsatzraum wieder Russland. Mit Japan wurde 2007 ein Kooperationsvertrag zur Raketen-Abwehr abgeschlossen. Einsatzraum China, aber auch Russland. Japan gilt den USA als Brückenkopf nach Euroasien. Nachdem in Alaska bereits US-Radarstationen von den USA errichtet wurden, die den Norden Russlands ausspähen, fürchten russische Militärs jetzt, dass in Zukunft auch der Süden Russlands ausgespäht werden soll.
Im Zentrum dieses gewaltigen Netzes liegt nicht Korea, nicht der Iran, nicht einmal hauptsächlich China, sondern unübersehbar Russland. Russland ist die einzige Macht, die, gestützt auf ihre atomare Bewaffnung sowie auf ihre potentielle Autarkie als Herzland des rohstoffreichen Eurasiens und allen Schwächen ihrer Transformationskrise zum Trotz dem Weltherrschaftsanspruch der USA bisher nicht untergeordnet ist.
Die aktuellen Vorstöße zur Stationierung von Raketen in Ost-Europa und in der Ukraine wären geeignet den Ring um Russland endgültig zu schließen. Dass sie gerade jetzt bekannt gegeben werden, mag man zum einen der Torschlusspanik der angeschlagenen Bush-Administration zuschreiben, die vor ihrem Ausscheiden noch einmal zu punkten versucht. Aber man täusche sich nicht. Auch über W. George Bush hinaus bleibt die militärische Einkreisung Russlands die zentrale strategische Option der US-Politik. Sie zieht sich von Trumans „Containment“ nach dem zweiten Weltkrieg, über die Kuba-Krise in den 60ern, über Reagans „Reich des Bösen“ und Clintons Entwurf der „Missile defense act“ von 1999 bis zu dem von Bush nach dem 9.11.2001 eröffneten „Krieg gegen den Terror“ als roter Faden durch die US-Politik. Strategen wie Sbigniew Brzezinski oder Henry Kissinger haben als Ziel der US-Politik unmissverständlich die Aufgabe benannt, den Zugriff auf Eurasiens Reichtum an Ressourcen und die globale US-Hegemonie durch Niederhaltung möglicher Konkurrenten, vor allen anderen Russlands langfristig zu sichern. Man muss dafür an dieser Stelle nicht weiter in die Einzelheiten gehen. Der US-Antrag auf Stationierung von Raketen-Abwehr-Stationen an Polen, die tschechische Republik und jetzt die kaukasischen Staaten ist eine eindeutige Aufforderung der USA an die EU wie an diese zwischen EU und Russland liegenden Pufferstaaten, sich dieser Strategie zu unterwerfen.
Entsprechend aufgescheucht reagiert man in der EU, allen voran in Deutschland. Außenminister Steinmeier kritisiert die US-Vorstöße, SPD-Vorsitzender Kurt Beck stellt sich offen gegen die US-Pläne, Frau Künast von den Grünen kritisiert die Bundeskanzlerin, dass sie in ihrer Eigenschaft als Ratsvorsitzende der EU die US-Pläne nicht zurückgewiesen habe. Sogar die FDP fordert Bündnisgespräche, die Russland mit einbeziehen sollen, anstelle von Alleingängen. Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung dagegen möchte am liebsten in den amerikanischen Schirm hineinkriechen.
Die klarste Antwort auf die US-Offensive kam bisher von Russland. Selbst Boris Jeltsin, obwohl in den meisten Fragen wie Wachs in den Händen des Westens, ließ eine atomare Entwaffnung Russlands nicht zu. Putin führt, gestützt auf eine Bevölkerung, die sich vom Westen, insbesondere den USA nicht weiter bevormunden lassen will, seit seinem Amtsantritt 2000 eine Doppelstrategie der Kooperations- und Gesprächsbereitschaft mit NATO, EU und „Antiterror Allianz“ auf der einen und einer Modernisierung der russischen Atomstreitmacht auf der anderen Seite durch. Eine erkennbare Neuorientierung Russland begann mit dem NATO-Einsatz in Jugoslawien 1999. Im Mai 2003, nachdem G.W. Bush den Raketen-Abwehr-Vertrag einseitig gekündigt hatte, in Afghanistan einmarschiert war und Bagdad bombardiert hatte, erklärte Putin dann öffentlich, dass Russland seine atomare Abschreckung so modernisieren müsse, das sie Russland langfristig zu schützen imstande sei. Im Dezember 2006 ergänzte er, die strategische Balance aufrechtzuerhalten, bedeute für Russland, die Fähigkeit zu entwickeln, „jeden beliebigen Gegner zu neutralisieren, gleich welche modern Waffen er besitzen möge.“
Diese Botschaft war unmissverständlich an die Adresse der USA gerichtet. Ihr materieller Ausdruck war unter anderem die Entwicklung eines neuen russischen Raketentyps, Topol-M, der beim Verfolgen der Ziele die Richtung ändern kann. Im Ergebnis konnte Putin auf der NATO-Sicherheitskonferenz am Februar 2007 in Antwort auf die Stationierungs-Offensive der USA in aller Bestimmtheit erklären, Russland werde sich in ein Wettrüsten nicht hineinziehen zu lassen. Es sei technisch in der Lage jeder Bedrohung angemessen, aber asymmetrisch zu begegnen. Stattdessen forderte Putin die USA auf, im Sinne einer Deeskalation weltweiter Konflikte mit den übrigen Weltmächten zu kooperieren und kündigte an, Russland werde eine Initiative zur Beendigung und weltweiten Ächtung der Militarisierung des Weltraumes vorlegen. Europäer wie auch die Länder im Übergangsraum zwischen Russland und der EU sind durch diese Entwicklung aufgefordert sich zu entscheiden, ob sie mit unter den US-Raketenschirm kriechen oder mit Russland, China und anderen neuen Mächten zusammen eine Kraft aufbauen wollen, die den USA Einhalt gebieten können.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Wahlen in Russland: Putin auf der Zielgeraden?

Wieder einmal erweist Wladimir Putin sich als wahrer Meister des asiatischen Kampfsports, der Gegner nicht frontal angeht, sondern, wenn möglich, ins Leere stoßen lässt: Als er bei der jährlichen Pressekonferenz Anfang Februar 2007, an der 1232 Medienvertreter und –vertreterinnen teilnahmen, gefragt wurde, welches sein Wunschkandidat für die kommenden Wahlen in Russland sei, antwortete er, es werde „keinen ausgewählten Nachfolger“ geben, sondern „Kandidaten“. Im Übrigen hätten die Behörden die Aufgabe, für einen demokratischen Charakter der Wahlen zu sorgen. Darüber hinaus, setzte Putin hinzu, werde er sich allerdings seine Rechte als Bürger Russlands nicht nehmen lassen, beizeiten deutlich zu machen, welcher der Kandidaten ihm besonders zusage.
Auf derselben Pressekonferenz bekannte Putin sich zu der Verpflichtung des Staates Journalisten vor Verfolgung zu schützen. Die „Verfolgung von Journalisten, in unserem Land wie auch in anderen“ erklärte er, sei „eines der gravierendsten Probleme und wir erkennen den Grad unserer Verantwortung dafür an.“ Putin erinnerte in diesem Zusammenhang an Frau Politkowskaja, deren Ermordung er verurteilte, sowie den ebenfalls ermordeten Redakteur der Zeitung Forbes, Paul Klebnikow, der zuvor im Zuge einer Recherche nach den reichsten Russen umgebracht worden war. Klebnikow sei für ein demokratisches Russland gestorben, so Putin. Verantwortung für den Tod des Agenten Litwinenko dagegen wies Putin zurück.
Damit hat der russische Präsident allen bisherigen Spekulationen einer von ihm möglicherweise gewollten dritten Amtszeit, einer möglichen autoritären Inthronisierung eines von ihm abhängigen Nachfolgers oder gar der Errichtung einer Geheimdienst-Diktatur und dergleichen vorerst den Boden entzogen und die letzte Runde seiner Amtszeit so eingeleitet, das eine ruhige Machtübergabe möglich wird. Putin braucht die Ruhe, um die von ihm erreichte Restauration des russischen Staates und der russischen Wirtschaft zu stabilisieren; jede Unruhe wäre für Russland in dieser Situation ein Rückfall. Ob diese Ruhe der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen förderlich ist, wie Putin es selbst sieht oder auch sehen machen möchte, ist eine andere Frage, die mit einem einfachen ja oder nein nicht zu beantwortet ist. Konzentrieren wir uns also auf die Tatsachen:
Da wäre zunächst auf die dreifache Staffelung der russischen Wahlen hinzuweisen. Der allgemein für entscheidend gehaltenen Wahl für einen neuen Präsidenten am 2. März 2008 gehen die Wahlen zur Staatsduma am 2. Dezember 2007 voraus. Beiden Wahlgängen vorgelagert sind die Wahlen zu regionalen Selbstverwaltungsorganen und regionalen Parlamenten, die bereits im Verlauf des Jahres 2006 stattfanden. Die Regionalwahlen werden, obwohl weit vorgelagert, als Testlauf und Experimentierfeld für die Dumawahl und diese wiederum als Start für die Wahl des Präsidenten verstanden.
Das offensichtlichste Ergebnis der Regionalwahlen war ein durchgängiger Sieg der Partei „Einiges Russland“, die als sog. Partei der Macht in alle regionalen Parlamente mit Mehrheit einziehen konnte. In einigen Regionen gewann sie sogar die absolute Mehrheit. (27% – 55%) Zweitstärkste Kraft wurden die Kommunisten der KPRF mit Stärken zwischen 9% und 18%. An dritter Stelle folgte die Partei des ewigen Politclowns Wladimir Schirinowski; sie schrammte allerdings vielerorts gerade an den 5%-Hürden entlang. Achtungserfolge erzielte die „Partei der Pensionäre“ in drei Regionen.
Vollkommen außen vor dagegen blieben die sog. liberalen prowestlichen Parteien, Jabloko, Union rechter Kräfte und andere, die weder einzeln noch in Bündnissen miteinander in auch nur eins der Regionalparlamente einziehen konnten. Bemerkenswert ist die geringe Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen. Der Schnitt lag bei 40%, in Kaliningrad 36% waren es, in Nischni Nowgorod sogar nur 32%. Von den Wählern und Wählerinnen, die zur Wahl gingen, kreuzten im Schnitt zudem noch 6% – 9% „Gegen alle“ als ihre Option an. Dazu trug u.a. auch die Tatsache bei, dass verschiedene Parteien wegen „Verstößen gegen wahlrechtliche Bestimmungen“ nicht zur Wahl zugelassen wurden. Solche Ausschlüsse trafen zumeist national-patriotische und „extremistische“ Parteien, die man offenbar zunehmend aus dem Parteienspektrum auszugrenzen bemüht ist.
Unterm Strich zeigen die Regionalwahlen, dass die Spaltung zwischen herrschender sog. Elite und Bevölkerung sich vertieft: Auf der einen Seite stabilisieren, genauer vertikalisieren sich nun auch die politischen Vertretungsorgane unter Vorherrschaft der Partei der Macht, d.h. der politischen Zentrale, nachdem Putin in der ersteh Hälfte seiner Amtszeit zunächst die Verwaltung restauriert und danach die Oligarchen diszipliniert hat. Auf der anderen Seite kehrt sich die Bevölkerung in wachsendem Maße in passivem Protest von der derzeitigen politischen „Elite“ ab, auch wenn – oder auch gerade weil – keine Alternative zu Putins Politik erkennbar ist.
Mit einer ganzen Reihe von Änderungen des Wahlgesetzes versucht die herrschende Administration schon seit den Wahlen 2004, insbesondere aber seit Beendigung der Regionalwahlen in diesen Prozess hineinzuwirken, wobei nicht klar ist, ob sie ihm entgegenarbeiten oder ihn fördern will. Mit dem Argument, die Übergangsperiode sei nun vorbei, wurde zunächst, noch 2004, die Wahl von Direktkandidaten für die kommende Wahl zur Staatsduma abgeschafft; stattdessen werden die Abgeordneten in Zukunft ausschließlich über Parteilisten in die Duma geschickt. Im November 2006 wurde auch die Direktwahl für Regionalchefs beseitigt.
Ebenfalls im November 2006 wurde die Wahl-Variante “Gegen alle“ endgültig gestrichen, gleichzeitig die Hürde für die Wahl einer Partei ins Parlament von 5% auf 7% angehoben. Seit Dezember 2006 gibt es zudem keine Mindestgrenze mehr für die Wahlbeteiligung. Bis dahin waren Regionalwahlen nur dann gültig, wenn mindestens 20% der Wähler sich beteiligt hatten, für die Staatsduma galten 25%, für die Präsidentenwahlen 50% als Mindestgrenze. Beschlossen wurden außerdem Ausschlussgründe gegen Kandidaten und Parteien wegen Extremismus; Personen, die wegen Schwerverbrechen angeklagt wurden, dürfen nicht mehr an den Wahlen teilnehmen.
Neu gefasst wurde auch das Parteiengesetz: Von den 35 im Jahre 2006 offiziell registrierten Parteien sind danach nur noch 19 zugelassen – insofern sie die neuen Kriterien erfüllen, das heißt, über 50.000 Mitglieder oder eine Parteipräsenz von mindesten 500 Mitgliedern in allen Regionen nachweisen können.
Reform und Repression halten sich in diesen neuen Bestimmungen eine unausgeglichene Waage: Die Direktmandate zum Einfallstor der Käuflichkeit in der Duma geworden. Die Vielzahl der Parteien war mehr als verwirrend, insbesondere wenn – wie häufig – die Programme sich kaum voneinander unterschieden. Die Mindestgrenze der Wahlbeteiligung birgt die Gefahr, dass Wahlen durch Boykott ungültig gemacht werden. Ansätze dazu hat es in der kurzen Geschichte der neuen russischen Gesellschaft bereits gegeben. Eine größere Überschaubarkeit und Zuverlässigkeit der Partei- und Parlamentsorgane herzustellen ist daher durchaus ein sinnvolles Anliegen der russischen Wahlplaner: Mehrere der kleineren Parteien sind bereits dazu übergegangen, sich zusammenzuschließen. Einen Versuch ist es auch sicher wert, dem Wildwuchs käuflicher Parlamentarier durch die Bindung an Parteien Grenzen zu setzen. Andererseits geht die Bodenhaftung der Abgeordneten verloren und die Zusammenschlüsse der kleinen Parteien zu größeren werden von den Zulassungsbehörden als Neugründungen betrachtet; die Parteien müssen also das Risiko einer neue Registrierung durchlaufen, wenn sie sich zusammenschließen. Im Endeffekt werden dabei kleinere politische Gruppierungen auf der Strecke bleiben.
Ob dies alles am Ende tatsächlich einer politischen Aktivierung der Bevölkerung dienlich ist, wird sich beweisen müssen. Die Dumawahlen werden durch die neuen Wahlgesetze jedenfalls einschneidend reglementiert. Von den 19 Parteien, die jetzt übrig bleiben, haben nur drei oder vier die Chance über die neue 7% Hürde zu kommen: Einiges Russland, die neu gegründete Partei der Gerechtigkeit, die KPRF und vielleicht Schirinowskis LDPR. Wo sie für den aktuellen Wahlkampf ihre programmatischen Unterschiede setzen werden, ist noch nicht klar. Außenpolitisch wird es um die Stellung Russlands zum Westen und zu Europa, insbesondere auch in der Energiepolitik gehen müssen; innenpolitisch um die Frage, wie man zu der von Putin und der Regierung eingeleiteten „Monetarisierung“ steht, die der beabsichtigte WTO-Beitritt fordert. Da wird man in den nächsten Monaten nach Unterschieden suchen müssen. Die Grundfrage jedoch, an der man Flagge zeigen muss, ist sehr einfach: Für oder gegen eine Kontinuität der von Putin betrieben Politik der autoritären Modernisierung. Die Entscheidung über Russlands weiteren Weg fokussiert sich unter solchen Umständen auf den dritten Wahlgang, die Wahl des zukünftigen Präsidenten. Auch hier heißt die Frage aber eigentlich nur: Fortsetzung der Putinschen Politik oder nicht? An dieser Frage werden sich auch die zukünftigen Kandidaten ausrichten müssen. Putin kann dann zum Ausklang des Wahljahres seinen Zuschlag an den ihm geeignet scheinenden Kandidaten geben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass der so Ausgezeichnete dann zum neuen Präsidenten Russlands gewählt werden wird.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe auch:
„Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung“, Pforte/Entwürfe

Kalter Krieg oder frischer Wind? Putin vor der Münchner Sicherheitskonferenz

Recht hat er, aber hat er auch die Macht? So könnte man die überwiegende Mehrheit der Reaktionen auf den Auftritt des russischen Präsidenten vor der alljährlichen NATO-„Sicherheitskonferenz“ in München vom 10./11. Februar zusammenfassen, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er sagte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es eine Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft.
Endlich, möchte man sagen!

Schockierend, meinen andere. Dabei sind die Tatsachen, die Putin vortrug nicht unbedingt neu: Die monopolare Welt, die nach dem Kalten Krieg „vorgeschlagen“ worden sei, sei nicht zustande gekommen. Der Herrschaftsanspruch der USA habe mit Demokratie nichts gemein. Amerikanische Werte würden anderen Staaten übergestülpt; die USA hätten ihre Grenzen fast in jeder Hinsicht überschritten: Militärisches Abenteurertum, ausufernde militärische Gewalt und Missachtung des Völkerrechtes hätten die Welt gefährlicher gemacht. Die Politik der USA heize das nukleare Wettrüsten an. Niemand fühle sich mehr sicher.
Neu ist lediglich Russlands kategorischer Protest gegen aktuelle NATO-Pläne, in Polen und Tschechien neue Stationen für ein europäisches Raketenabwehrsystem zu bauen.
Auch die Alternative, die Putin für das von Kanzlerin Merkel in ihrer Eintrittsrede zur Konferenz mehrfach geforderte „Zusammenrücken“, nannte, bei der sie einer weltweit agierenden NATO, der EU und dem atlantischem Bündnis eine „aufbauende“ Rolle zuschrieb, war im Kern nicht neu, nämlich die Einbindung der USA in das Konzept einer multipolaren und kooperativen Weltordnung. Das Gleiche gilt für Putins Feststellung, dass in einer solchen Ordnung nicht eine Macht allein, sondern einzig die Völkergemeinschaft, die UNO, den Einsatz von Gewalt legitimieren könne.
Neu allerdings ist das Selbstbewusstsein, mit dem Russland diese Sicht dem NATO-Bündnis vorträgt. Das mag für viele, die Russland, speziell auch Putins Politik in den Jahren seit Auflösung der Sowjetunion nur als opportunistisches Taumeln zwischen Ost und West, China und Europa usw. gesehen haben, eine überraschende Wendung sein. Tatsächlich ist Russland seit dem Amtsantritt Putins Schritt für Schritt, systematisch und erfolgreich den Weg der Wiederherstellung gegangen. Als Putin im Jahre 2000 antrat, war das Land am tiefsten Punkt seiner Selbstachtung, Zerfall seiner Staatlichkeit und Wirtschaft angekommen. Sieben Jahre Putin haben gereicht, um Russlands Selbstbewusstsein soweit wieder herzustellen, dass das Land seine historische Rolle als integrierender Faktor zwischen Asien und Europa heute in neuer Weise zu übernehmen in der Lage und bereit ist – nämlich als Impulsgeber und stabilisierender Faktor einer kooperativ organisierten Weltordnung zu wirken, die durch die aggressive Hegemonialpolitik der USA zunehmend gefährdet ist. In diesem Sinne ist Russland schon seit längerem eine heimliche Vermittlerrolle zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wird sie vor aller Augen benannt. Was Russland in die Entwicklung einer neuen Weltordnung einbringt, ist seine historische Erfahrung des Vielvölkerpluralismus, an die das heutige Russland anknüpft. Im Austausch und Kooperation mit westlichem Verständnis von Demokratie, können daraus neue Kräfte erwachsen.
Die Rede des russischen Präsidenten schafft keine neuen Tatsachen – sie ist jedoch Ausdruck einer gewandelten Wirklichkeit: Sie zeigt zum einen, dass dem US-Anspruch auf Alleinherrschaft inzwischen Grenzen erwachsen sind. Russland ist nicht mehr der hilflose Spielball westlicher, insbesondere US-amerikanischer Interessen, der es unter Jelzins Präsidentschaft geworden war: Russische Staatlichkeit, russische Wirtschaft, russisches Selbstbewusstsein ist als Ergebnis der autoritären Modernisierung unter Putins Führung wiederhergestellt, ohne dabei im Sowjetverhältnisse zurückzufallen. Seine Energie-Ressourcen geben Russland eine explodierende Finanzkraft. Mit Russland muss wieder gerechnet werden. Eine weitere Ausdehnung der NATO – ohne Rücksprache und ohne Einbeziehung Russlands – wird Moskau nicht hinnehmen.
Neben den beiden alten Supermächten, die sich heute in neuer Weise gegenüberstehen, sind zudem eine Reihe neuer Machtzentren entstanden. Das beginnt mit der EU, die ihre Bündnisoptionen nicht mehr nur atlantisch definiert. Dazu kommen die neuen Mächte China, Indien, Iran und die Entwicklung der südamerikanischen Staaten, die zu gleichgewichtigen Partnern in der globalen Wirtschaft und Politik herangewachsen sind. Sie sind weder klein zu halten noch aus dem Weg zu bomben, sondern müssen als Mitspieler im „global play“ bei Strafe des gemeinsamen Untergangs als Partner auf Augenhöhe akzeptiert werden. Ihre gleichberechtigte Einbeziehung in die WTO, in die G8, aber auch die UN, selbst die Verwandlung der NATO in ein weltweites Militärbündnis ist unvermeidlich, wenn diese Institutionen nicht zu Instrumenten eines neuen kalten, tendenziell gar heißen Krieges der zur Zeit noch herrschenden Industrieländer gegen den Rest der Welt werden sollen.
Das scheinen auch die westlichen Politiker zu verstehen: Der neue Verteidigungsminister der USA, Robert Gates, der bei seinem Amtsantritt die Forderungen nach weiterer Aufrüstung mit der Unberechenbarkeit Russlands und Chinas begründete, erklärte nach der Putin-Rede, ein Kalter Krieg sei genug gewesen und ließ sich vom russischen Verteidigungsminister Iwanow zu Abrüstungsgesprächen nach Moskau einladen.
Der NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zeigte sich zwar „enttäuscht“ von Russland; zugleich will man sich beim nächsten Treffen des NATO-Russland-Rates in Sevilla jedoch darüber verständigen, wie die militärtechnische Zusammenarbeit zwischen Russland und der NATO weiter gefestigt werden könne.
Die deutschen Politiker können Putins Kritik am Alleingang Russlands in ihrer Mehrheit sogar „verstehen“. Kanzlerin Merkel sicherte Präsident Putin nach seiner Rede noch einmal ausdrücklich die deutsche Bereitschaft zum Dialog zu.
All dies macht deutlich, dass Putins Auftritt nicht die Rache eines Beleidigten ist, der „austeilt, nachdem er viel einstecken musste“, nicht als Provokation, auch nicht als Imageaufwertung für den bevorstehenden russischen Wahlkampf zu verstehen ist, wie manche Kommentatoren meinen, obwohl der innenpolitische Zuspruch nicht übersehen werden sollte. Putin fordert vielmehr nicht weniger als den Eintritt in eine neue Runde der internationalen Kooperation, die den neu gewachsenen globalen Kräfteverhältnissen entspricht. Wenn allerdings eine Zeitung wie die deutsche FAZ die zurückhaltenden Reaktionen der USA, der EU, insbesondere aber der deutschen Politiker in die Nähe eines Appeasement und damit Putin in die Nähe Hitlers rückt, dann wird deutlich, wie viel noch für die Verwirklichung einer solchen Perspektive getan werden muss.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Weiteres zum Thema:
Kai Ehlers: „Russland: Aufbruch oder Umbruch?“. Pforte/Entwürfe, 2005
Außerdem: www.kai-ehlers.de

NATO-Raketen in Ost-Europa – für oder gegen die Europäische Union?

Erstaunliches geschieht auf der Bühne der globalen Politik: Die USA wollen, so erklären sie, die Europäische Union und sich selbst durch das Aufstellen neuer Abfangraketen in Polen und eines dazu gehörigen Radarleitsystems in Tschechien gegen Angriffe aus dem Iran und aus Nord-Korea schützen. Ab 2011 soll die Anlage einsatzbereit sein. Russland fühlt sich bedroht und protestiert; von Ferne grollt China. Die Regierungen Polens und Tschechiens dagegen wollen zustimmen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung beider Länder gegen die Stationierung ist.
Von der Gefahr eines neuen Wettrüstens ist die Rede, von einer drohenden Neuauflage des kalten Krieges, der die Welt gar in heiße Kriege ziehen könnte. Die deutsche Regierung wiegelt ab, Brüssel hält sich bedeckt. Die Reaktion ist verständlich, denn zwar bündeln sich mehrere Konfliktlinien in diesem Antrag der USA auf Stationierung von Raketen im ost-europäischen Raum in gefährlicher Weise, aber eines kann man mit Sicherheit ausschließen, nämlich, dass die Stationierung von NATO-Raketen in Polen und der tschechischen Republik das Ziel haben könnte, die EU vor möglichen Angriffen aus dem Iran oder Korea zu schützen, ganz zu schweigen von den USA. Ein einfacher Blick auf den Globus reicht, um dies zu verstehen, wenn man weiß, dass weder der Iran noch Korea über Raketen verfügen, welche die in Frage kommenden Strecken zu überwinden imstande wären. Das wird auch durch Erklärungen wie des CDU-Militärexperten von Klaeden nicht anders, Iran und Korea blieben ja sicherlich „nicht faul“ und daher müsse man damit rechnen, dass sie bis zur Fertigstellung der Anlagen 2011 zu einem Bau von Fernraketen in der Lage sein könnten. Diese Begründung wendet sich gegen sich selbst, denn so wie sich iranische, koreanische oder sonstige „Schurken“-Technik bis 2011 verändern kann, so kann es selbstverständlich auch eine NATO-eigene Anlage. Was heute technisch nicht möglich ist, kann es morgen sein. Alle Versicherungen Washingtons, die Raketen seien schon rein technisch nicht gegen Russland einsetzbar, sind damit von vornherein Makulatur – und jeder weiß es.
Worum also geht es, wenn es das öffentlich angegebene Ziel des Schutzes für die EU nur vorgetäuscht ist? Da wäre zunächst auf die langfristige Eigendynamik der US-Rüstung zu verweisen. Zwar nahmen die USA nach dem Ende des Kalten Krieges Abstand von der 1983 durch Ronald Reagan begründeten „strategischen Verteidigungsinitiative“ (SDI), im Volksmund Starwar-Programm genannt; in der Folge rüsteten sie jedoch nicht etwa ab, sie rüsteten lediglich um: Das Star-War-Programm wurde Schritt für Schritt in ein land- und seegestütztes System von Raketenbasen überführt, in das seit 1991 im Zuge der NATO-Erweiterung und der Umwidmung der NATO zu einer weltweit agierenden Organisation der „Friedenssicherung“ in zunehmendem Maße auch Länder des ehemaligen Warschauer Paktes, also der GUS wie auch Osteuropas einbezogen wurden. Erste Beschlüsse für dieses Programm wurden 1999 noch unter US-Präsident Clinton als „National Missile Defense Act“ vom US-Senat gefasst, von der Bush-Administration immer wieder, zuletzt 2006 noch einmal aktualisiert. Im Jahr 2015 sollen die weltweiten Stationierungen von Radarleitstationen abgeschlossen sein.
Parallel zu diesen Maßnahmen sagten sich die USA von allen wesentlichen internationalen Rüstungsbeschränkungen los, einschließlich des Atomwaffensperrvertrages.
Seit 1999 gehören Tschechien, Polen und Ungarn, seit 2004 Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Slowakei und Slowenien der NATO an, allerdings ohne Entscheidungsgewalt und ohne Bündnisverpflichtung. Der Ukraine, Moldawien, Georgien wurde die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, jedoch von der „Klärung ihrer Beziehungen zu Russland“ und ihren „strategischen Entscheidungen“ für den Westen abhängig gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist der US-Antrag an Polen und Tschechien, nun bitte Kooperationsbereitschaft zu zeigen, zwar ein neuer, aber kein überraschender Schritt.
In ein neues Stadium der Entwicklung kommen die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA: In der strategischen Konzeption der USA, wie sie von Sbigniew Brszezinski, Henry Kissinger und den Neo-konservativen Kräften hinter ihnen ausgearbeitet und von der Bush-Regierung umzusetzen versucht wurde, war Europa die Funktion eines “Brückenkopfes“ für die Beherrschung Euroasiens, insonderheit der Niederhaltung Russlands durch die USA zugedacht. Als zweiter Brückenkopf auf asiatischer Seite gilt Japan.
Der Fall des eisernen Vorhangs, die schrittweise Erweiterung der EU bis an die Grenzen Weißrusslands, Moldawiens und der Ukraine, die Entwicklung der „Strategischen Partnerschaft“ zwischen EU und Russland, die in den Jahren, besonders von Deutschland ausgehend, in eine immer enger werdende Energiepartnerschaft zu münden scheint, die Einführung des Euro, sowie die Entwicklung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft als eigener Block in der veränderten NATO haben das Kräfteverhältnis zwischen den USA und der EU soweit verschoben, daß die EU heute aus der Rolle des „Brückenkopfes“ herauszutreten beginnt. Der Euro tritt inzwischen in ernsthafte Konkurrenz zum Dollar als Öl-Währung; die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist, obwohl immer noch mit der NATO verwoben, in eigenen, von der NATO unabhängigen Einsätzen aktiv. Aus US-Sicht ist diese Entwicklung eine ernste Bedrohung.
Gleichzeitig hat die EU mit der Erweiterung um die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes historische Konflikte geerbt, die ihre Beziehungen zu Russland belasten. Hier liegt eine potentielle Bruchstelle zwischen „altem“ und „neuem“ Europa, zwischen russlandfreundlicher und russlandfeindlicher, das heißt zwischen US-bezogener oder US-kritischer Politik. Sie wird noch verstärkt durch die politisch instabilen Pufferzonen zwischen Russland und der EU. Das gibt den USA die Möglichkeit, mit ihrem Antrag auf diese Bruchstelle einzuwirken und so auf diesem Umweg über die neuen EU-Länder Polen und Tschechien zu versuchen, die Europäische Union wieder stärker an sich zu ziehen, nachdem die Frontlinie zwischen EU und Russland, einschließlich der NATO seit Bildung des NATO-Russland-Rates zunehmend zu verwischen schien.
Russland hat diesen Charakter der neuesten US-Intervention erkannt, wie aus Wladimir Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung klar hervorgeht. Er weist die geplante Erweiterung der NATO-Stützpunkte nach Polen und in die tschechische Republik als Aggression der USA und nicht etwa der EU zurück, obwohl Russland durchaus genügend Anlaß zu machtpolitischen Allüren der EU hat und diese bei anderen Gelegenheiten durchaus auch vorbringt. Auch die Kritik an der NATO führt Putin wesentlich als Kritik an den USA, nicht der EU. Diese Schwerpunktsetzung seiner Rede demonstriert das fundamentale Interesse Russlands an der strategischen Partnerschaft mit der EU. Dabei geht es Russland entgegen allen anders lautenden Kommentaren nicht um eine Wiederholung historischer „Achsen“, sondern um die Entwicklung einer multilateralen und kooperativen Völkerordnung, die den heutigen Kräfteverhältnissen entspricht. Das erkennbare neue Selbstbewusstsein Russlands erklärt zugleich, wogegen sich die aktuelle Intervention der USA richtet.
Bleibt schließlich noch darauf hinzuweisen, was nur einen Monat vor dem Vorstoß der USA nach Polen und in die tschechische Republik in China geschah: Am 12.1.2007 wurde in Xichang im Südwesten des Landes eine Rakete gestartet, mit welcher der in ca. 860 Kilometer Höhe fliegende Satellit Fengyun.1C des chinesischen Wetterdienstes zerstört wurde. Der Abschuss war ein erfolgreicher Test. China ist damit nach der Einstellung von Versuchen mit „Satellitenkillern“, wie sie im Rahmen des SDI-Programms vorgenommen wurden und vergeblichen US-Ansätzen, solche Vehikel vom Boden aus zu steuern, das erste Land der Welt, das Satelliten vom Boden aus abschießen kann. Die USA fühlen sich herausgefordert. Die militärischen Satelliten der USA bewegen sich auf der gleichen Höhe wie der abgeschossene chinesische Wetter-Satellit. Als US-Präsident Bush 2006 seine neue Weltraumstrategie vorstellte, hatte er erklärt, man behalte sich das Recht völliger Handlungsfreiheit im All vor und werde dazu „gegnerischen Staaten“ den Zugangs ins All nötigenfalls verweigern, sofern nationale Interessen der USA bedroht würden. Mit dem Test hat China das von den USA beanspruchte Monopol auf Herrschaft im Weltraum gebrochen.
Angesichts des skizzierten Auftretens von Konkurrenten für die USA, vor dem Hintergrund ihrer sich abzeichnenden Niederlage im arabischen Raum, der immer offensichtlicher hervortretenden Krise des Dollars als Leitwährung für das Öl und des katastrophalen Imageverlustes der USA als globaler Leitkultur ist die Anfrage an die osteuropäischen Mitglieder der NATO Polen und Tschechien daher weniger als reale aktuelle Bedrohung Russlands zu werten, wenn auch als politische Provokation, mehr jedoch als der Versuch, Europa wieder enger an die USA zu binden, zumindest aber die Partnerschaft zwischen Russland und der EU zu erschweren, wenn nicht gar zu zerstören. Die tatsächliche Einrichtung der angekündigten Stützpunkte ist demgegenüber ganz offensichtlich verhandelbar, wie die Reise des US-Verteidigungsministers Robert Gates nach Moskau, wie die intensiven Verhandlungen im NATO-Russland-Rat, wie die emsigen Gespräche der europäischen Innen- und Verteidigungs-Minister zeigen. Dies alles geschieht nach der Rede Putins auf der NATO-Sicherheitskonferenz, in der er den US-Vorstoß zurückwies. Diese Gespräche werden geführt, obwohl seit zwei Wochen fast kein Tag ohne scharfe Erklärungen aus Washington und Moskau vergeht und auch wenn Moskau mit dem Ausstieg aus dem Vertrag über den Abbau von Mittelstreckenraketen droht, der 1987 von Reagan und Gorbatschow unterzeichnet wurde. Selbst wenn der Chef der russischen strategischen Raketentruppen, drohte, man werde die neuen US-Basen in osteuropäischen Ländern „ins Visier“ nehmen und jetzt von neuen Raketen die Rede ist, die eingerichtet würden, so steht dem Putins Aussage entgegen, man werde sich kein Wettrüsten aufzwingen lassen.
In dieselbe Richtung weisen die Debatten in Polen und der tschechischen Republik, in denen trotz Zusagen seitens der Regierungen noch lange nicht ausgemacht ist, ob die Länder dem US-Verlangen zustimmen werden oder nicht. Zuviel könnte auf dem Spiel stehen, heißt es in den Kritiken an den Regierungsverlautbarungen, wenn man sich zwischen die Frontlinien begebe. Die entscheidende Frage, um die es zur Zeit geht, lautet deshalb nicht, vielleicht man sollte besser sagen, noch nicht: Neuer Rüstungswettlauf, neuer „kalter Krieg“ ja oder nein, erst recht nicht Ausweitung des „Vierten Weltkriegs“ der USA auf eine heiße Konfrontation mit Russland oder China. Sie lautet vielmehr, dies aber mit aller Schärfe: Wo steht Europa heute im Kontext der neuen Weltmächte? Wo stellt es sich auf? Ist es bereit, weiter einen „Brückenkopf“ für die Aufrechterhaltung des US-Anspruchs auf globale Alleinherrschaft abzugeben oder emanzipiert es sich – gemeinsam mit den von Putin in seiner Rede genannten BRIC-Mächten, also Lateinamerika, Russland, Indien, China – auf dem Weg in eine Völkerordnung, die den neu herangewachsenen globalen Kräfteverhältnissen entspricht?

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland in die WTO: Durchbruch oder Einbruch?

Russland wird in den westlichen Medien zunehmend attackiert. Man fühlt sich immer öfter an Methoden des kalten Krieges erinnert, wenn von Putin als „Diktator“, von Russland als „Energiefaschismus“ geredet wird. Zugleich ist von „strategischem Bündnis mit Russland“ von „Energiepartnerschaft“ usw. die Rede. Der deutsche Außenminister Steinmeier spricht von einem „Zukunftsbündnis“ der EU mit Russland. Ende des Jahres 2006 gaben die USA Russland den Weg in die Welthandelsorganisation (WTO) frei. Was bedeutet das für die internationalen Beziehungen, was für Russland selbst?

Am 19.11.2006 unterzeichneten die USA und Russland am Rande des Asien-Pazifik-Forums (APEC) ein Abkommen für den russischen Beitritt zur Welthandelsorganisation. In dem bilateralen Abkommen sichert Russland die Senkung von Einfuhrzöllen auf Agrar- und Industrieprodukte aus den USA zu. Moskau verpflichtet sich, gegen Raubkopien vorzugehen. Umgekehrt will Russland von niedrigen Zöllen für die Ausfuhr seiner Exportgüter, Öl und Gas, profitieren. Der russische Wirtschaftsminister German Gref bezeichnete die Vereinbarung als einen „historischen“, einen „letzten Schritt“, der die „Rückkehr Russlands zu den Marktprinzipien der Weltwirtschaft bedeutet.“
Was immer German Gref unter „Rückkehr“ Russlands verstehen mag, so viel ist sicher: Mit dem Abkommen wurde ein entscheidendes Hindernis für den WTO-Beitritt Russlands überwunden. Seit 13 Jahren wird verhandelt; vornehmlich die USA hatten den Beitritt Russlands bisher blockiert. Äußerer Anlass waren die Forderungen der USA nach einem Schutz von Urheberrechten; Russland hatte Standards für amerikanische Fleischlieferungen verlangt, welche die USA nicht einhalten wollten. Jetzt scheint man sich einig geworden zu sein.
Ganz offen ist die Tür für Russlands Beitritt allerdings noch nicht. Seit der Wahlniederlage der Republikaner verfügen die Demokraten über die Mehrheit im US-Kongress. Die befürworten eine protektionistische Politik. Es könnte also noch zu einer Ablehnung der Initiative der Bush-Administration in den USA kommen. Ein Hindernis könnten auch Moskaus Konflikte mit Moldawien und Georgien sein. Russland hat Importe aus beiden Ländern drastisch eingeschränkt, was beide Länder als Sanktionen für ihre pro-westliche Politik begreifen. Zu allem Überfluss hat die russische Staatsduma wenige Tage nach der Unterzeichnung des russisch-amerikanischen Abkommens ein Gesetz verabschiedet, das dem russischen Präsidenten die Vollmacht gibt, internationale Wirtschaftssanktionen zu verhängen. Auch damit könne der WTO-Beitritt Russlands noch in Frage gestellt werden, so die russische Agentur „Ria Nowosti“ wenn durch dieses Gesetz Strafmaßnahmen ausgerechnet jetzt legitimiert würden, da Russland sich vorbereite, in den Weltmarkt einzusteigen, „dessen Grundlage gegenseitige Vorteile und Einvernehmen bilden, aber keinesfalls Druck.“
So ganz überraschend ist dieser Duma-Beschluss indes nicht: Noch Anfang des Jahres konnten sich die Vertreter der G8 in St. Petersburg nicht auf gemeinsame Standards einigen. Russland lehnte die vom Westen geforderte Liberalisierung des Energiemarktes ab. Auch für eine „Entmonopolisierung“ der russischen Telefongesellschaft, die Öffnung der Maschinenbauindustrie, die Streichung von Subventionen für die Landwirtschaft und andere Bereiche waren die Russen nicht zu haben. Aus dem gleichen Grund verweigert die Duma seit 1991 die Unterzeichnung der europäischen Energiecharta. Jetzt erklärte Wladimir Putin, die kommenden Verhandlungen würden zu Bedingungen geführt, die den Wirtschaftsinteressen Russlands voll Rechnung trügen. Das Ziel der Verhandlungen bestehe in der „ungehinderten Erschließung internationaler Märkte“ durch russische Erzeugnisse, in der zweckmäßigen Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung und im Erhalt der vollwertigen Vorteile aus der Integration in die Weltwirtschaft.“ (Ria Nowosti).
Was ist gemeint? Was verspricht Russland sich von der WTO? Was wird tatsächlich geschehen? In seiner Jahresansprache vor der Föderalversammlung vom 18.4.2002 erklärte Putin, man habe sich lange in der Illusion gewiegt, dass das Ende der Periode militärischer und politischer Konfrontation in der Welt Russland sozusagen automatisch den Weg zur Integration in des Weltwirtschaftssystem geöffnet habe, und „dass die Welt uns in wirtschaftlicher Hinsicht mit offenen Armen empfangen“ werde. Nun habe sich aber herausgestellt, dass die heutige Welt zugleich von „erbitterter Konkurrenz“ geprägt sei, von „Konkurrenz um die Märkte, um Investitionen, um politischen und wirtschaftlichen Einfluss.“ In diesem Kampf müsse Russland stark und wettbewerbsfähig sein. Niemand wolle Russland angreifen, aber es warte auch niemand auf Russland; Russland müsse sich seinen „Platz an der Sonne“ selber erkämpfen: „Wir müssen lernen, die Vorteile der neuen Situation der Weltwirtschaft auszunützen: Es ist offensichtlich, dass sich für Russland das Problem einer Wahl zwischen Eingliederung in den Weltwirtschaftsraum oder Nichteingliederung nicht stellt.“
Die WTO, so Putin weiter, „ist weder absolut gut noch absolut schlecht. Sie ist auch keine Belohnung für gute Führung. Die WTO ist ein Werkzeug. Derjenige wird stark, der mit ihr umgehen kann. Derjenige, der nicht mit ihr umgehen kann oder will, der sich weigert zu lernen, der sich lieber hinter protektionistischen Quoten und Zollvorschriften verbarrikadiert, wird verurteilt, vollständig verdammt, um strategisch zu sprechen. Unser Land ist noch vom Prozess der Regelformulierung für den Welthandel ‚ausgeschlossen’, dieses Welthandels, in dem wir bereits präsent sind, ohne dass es uns gestattet wird, die Regeln mitzubestimmen. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass unsere Wirtschaft sich nicht entwickelt und das unsere Wettbewerbsfähigkeit abnimmt.“ Es gehe also darum, „die WTO als Instrument zur Verteidigung nationaler Interessen Russlands auf den Weltmärkten“ zu nutzen, sich „neue eigene Nischen zu sichern“. Dafür müssten die „Staatsstrukturen gestärkt“, und „qualifiziertes Personal ausgebildet“ und eine „Plattform entwickelt“ werden, auf der Staat und Geschäftswelt das Pro und Contra zur WTO miteinander entwickeln könnten. Putins WTO-Programm endet mit den Worten: „Das Parlament wird eine große Arbeit auf sich nehmen müssen, um unsere Rechtsprechung mit den Normen der WTO in Einklang zu bringen. Die neue Fassung der Zollgesetze, die Gesetze, die die technischen Reglementierungen betreffen, Protektionsmaßnahmen, Antidumpingregelungen, Entschädigungen und die Rechte auf geistige Urheberschaft sind von äußerster Bedeutung. Wir können nicht mit verschränkten Armen verharren, wir müssen uns bewegen. Es versteht sich von selbst, dass die Führung die Konsultationen mit den Industriellen wie obligatorischerweise auch mit den Gewerkschaften fortsetzen müssen. Alle müssen sich an dem Prozess beteiligen und die Meinung aller muss berücksichtigt werden.“
Ein Gesetz zur Anpassung der russischen Rechtswirklichkeit an die WTO-Normen begleitet dieses präsidentiale Programm. Es wurde bereits 1991 verabschiedet; jetzt steht seine beschleunigte Umsetzung auf der russischen Tagesordnung, wenn der Beitritt tatsächlich vollzogen werden soll. Das würde bedeuten: Unterordnung Russlands unter das zentrale Ziel der WTO, die Liberalisierung des internationalen Handels, Unterordnung unter die Ziele ihrer Teilorganisationen GATT (Allgemeines Zoll- und Handeslabkommen), GATS (Regelungen für den Dienstleistungsverkehr), TRIPS (Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums) und TRIMS (Regelungen für handelsbezogene Direktinvestitionen). Alle vier Organisationen verfolgen besondere Aspekte der Liberalisierung: Von der 1948 durch 23 Industriestaaten gegründeten GATT übernahm die WTO bei ihrer Gründung 1993 die Grundprinzipien des Freihandels durch Abbau von Zöllen und Subventionen. Ausgenommen davon sollen solche Staaten sein, die wirtschaftlich dazu nicht in der Lage sind. Die GATS zielt auf Privatisierung von Dienstleistungen. In der Praxis führt das zu einer Umwandlung von staatlichen oder halbstaatlichen Versorgungs- und Bildungseinrichtungen in „Unternehmen“, das heißt konkret zum Abbau und zur Verteuerung von Leistungen. Ziel der TRIPS ist die Privatisierung geistigen Eigentums. In der politischen Realität führte das ua. dazu, daß Pharmakonzerne sich das Monopol auf Patente für die Produktion dringend benötigter Medikamente, Gentech-Firmen sich Patente für Saatgut sicherten uam. TRIMS schließlich setzt sich für das „Recht“ auf ungehinderte Direktinvestitionen ein. Aus all dem ergibt sich eine allgemeine globale Freihandels- und Privatisierungsoffensive. Im Streitfall wird ein WTO- Schlichtungsgremium aktiv, dem unterzuordnen die Mitglieder der WTO sich verpflichtet haben. 1993 gegründet, gehören der WTO heute 150 Mitglieder an; sie umfasst heute ca. 90% des Welthandelsvolumens. Russland ist nach Chinas Beitritt der letzte große Flächen- und Industriestaat, welcher der WTO noch nicht angehört.
Seit 2001 gibt es in der WTO eine Doha-Runde, benannt nach der Hauptstadt Katars. Ziel der Doha-Runde war es, die Probleme der sog. Entwicklungsländer im Rahmen der WTO zu berücksichtigen; 2006 platzte die Doha-Runde, weil die führenden Industriestaaten zwar freien Handel von allen Mitgliedern forderten, selbst aber entgegen der Satzung der WTO nicht bereit waren, auf die Forderungen dieser Länder nach Abbau der Subventionen und Schutzzölle einzugehen. Ein Sprecher der WTO musste nach der Konferenz 2006 einräumen, man sei „vielleicht zu langsam“ gewesen, habe „zu lange gebraucht“ bis man die „Sorgen der Entwicklungsländer angegangen“ sei. Bis heute wurde keine Einigung in der Angelegenheit erzielt.
Selbst neutrale Stimmen bewerten die Erfolge der WTO inzwischen kritisch. Die WTO habe bisher nicht den Nachweis erbracht, dass die radikale Liberalisierung tatsächlich Vorteile zeige, schreibt beispielsweise die FiFo, Webzeitung für Finanz- und Förderprogramme im Außenhandel mit dem Osten. Die „fortschreitende Liberalisierung“ werde nämlich von einer ebenso „fortschreitenden Reduzierung des wirtschaftlichen Wachstums“ begleitet: „Von 1980-1996 stieg nur in 33 von 130 Entwicklungsländern das Wachstum um mehr als 3% je Einwohner, während das BIP je Einwohner in 59 Staaten gesunken ist. Rund 1,6 Mrd. Menschen geht es 1998 in wirtschaftlicher Hinsicht schlechter als fünfzehn Jahre früher. Allgemein stellt die Weltbank in den Zeiten zunehmender Liberalisierung ein dramatisches Wachstum der Armut fest, allerdings mit Ausnahme von China und Indien.“ Ob Russland, muss man hinzufügen, nach einem WTO-Beitritt auch zu diesen Ausnahmen gehören wird, ist keineswegs ausgemacht.
Zunächst einmal ist festzuhalten: Schon im Vorfeld der jetzt geschlossenen Vereinbarungen hat Russland, WTO-Richtlinien folgend, seine subventionierten Gas- und Ölpreise für das „nahe Ausland“ in Richtung auf Weltmarktpreise angehoben. Nichts anderes ist der Kern des angeblichen „Gas-„ und „Ölkriegs“, der sich in der letzten Zeit zwischen Russland und seinen ehemaligen Republiken entwickelte. Das könnte man auf russischer Seite kurzfristig als Gewinn verstehen. Auf Dauer wird Russland sich jedoch erneut, diesmal unausweichlich, mit der Forderung der WTO und aller ihr angeschlossenen Organisationen nach Liberalisierung und Privatisierung des Energiemarktes konfrontiert sehen, die es bisher abgelehnt hat. Das geht bis hin zu EU-Energiecharta. Dem wird die Forderung nach Liberalisierung der Inlandspreise, also nach Aufhebung der Subventionen auf heimisches Gas und Öl für den Verbrauch im Inland auf dem Fuße folgen. Diese Entwicklung träfe die eigene Industrie, die auf billige Energie angewiesen ist; darüber hinaus würden solche Entscheidungen zu einer Explosion der bisher subventionierten kommunalen und privaten Heizkosten führen. Die wirtschaftlichen und die sozialen Probleme, die daraus in einem Land mit arktischer Kälte und kommunaler Gemeinschaftsheizung folgen, sind fundamental. Es ist schwer vorstellbar, das Russland diesen Weg ohne Schaden für seine Wirtschaft und für seine sozialen Strukturen gehen kann.
Ein Eintritt in die WTO hieße weiterhin, um nur dies noch zu nennen::
– beschleunigte Öffnung für Investitionen in Schlüsselindustrien; Rationalisierungen und Entlassungen werden die Folge sein.
– Öffnung des Marktes für Fleischimporte und andere agrarische Produkte. In Verbindung mit der Forderung nach Streichung von agrarischen Subventionen wird dies zu enormen Druck auf die Landwirtschaft führen, die den Billig-Importen nicht gewachsen sein wird.
– erneuter Anlauf der Regierung zur Kommerzialisierung von bisher immer noch unentgeltlich zur Verfügung stehenden kommunalen Leistungen sowie dem System der staatlichen Sonderzuwendungen, nachdem der letzte Versuch dieser Art im Jahr 2004 und 2005 am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist.
Kurz, wenn Russland sich den Forderungen der WTO nunmehr tatsächlich anschließen sollte, liefe das auf eine Unterwerfung seiner bisher trotz aller Modernisierungen noch halb-kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensverhältnisse unter das Diktat einer allgemeinen „Monetarisierung“ hinaus. Dabei entstünde das Paradoxon einer Privatisierung, welche die Bewegungsfreiheit der Menschen nicht erweitert, sondern einengt und tendenziell beseitigt, in dem es die traditionellen Strukturen der kommunalen und familiären Wirtschaft, also die einer eigenproduktiven Selbstversorgung der Bevölkerung, durch eine Fremdversorgung mit billigen Importen ablöste. Ergebnis: Lokale und regionale Wirtschaftsräume verödeten. Dass eine solche Entwicklung den allgemeinen Wohlstand der russischen Bevölkerung nicht förderte, liegt auf der Hand. Es ist sogar zu bezweifeln, ob sie den herrschenden russischen „Eliten“ den ersehnten „Platz an der Sonne“ einbrächte. Sicher dagegen ist, dass Russland auf diese Weise ins Regelwerk der herrschenden neo-liberalen Globalisierung eingebunden würde. Das mag auch den überraschenden Sinneswandel der scheidenden Bush-Administration erklären: Wenn es trotz aller Interventionen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte nicht gelang, Russland politisch klein zu halten, so besteht mit einem WTO-Beitritt des Landes doch die Möglichkeit, den gefürchteten Konkurrenten wenigstens wirtschaftlich zu disziplinieren. Zur Erreichung dieses Zieles ist man sogar zu Zugeständnissen bereit, wie man es seinerzeit bei Aufnahme Russlands in den Europarat war, wenn es nur gelingt Russland unter Kontrolle zu bringen. In diesem Bestreben dürfte auch eine Portion echter Angst vor einem wirtschaftlich und politisch autarken Russland mitspielen; mit dem Eintritt Russlands in die WTO kann der Westen sich der Hoffnung hingeben, diese Autarkie
brechen zu können. Warum Russland sich darauf einlässt, hat seinen Grund möglicherweise darin, dass die von Putin benannte Illusion vom guten Westen bei Russlands Politikern trotz aller anders lautenden Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre immer noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt worden ist.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Kai Ehlers: „Russland: Aufbruch oder Umbruch?“. Pforte/Entwürfe, 2005

Was kommt nach Putin?

„Fürchtet Russland“, titelte kürzlich die deutsche „Financial Times“. „Ein Gespenst geht um in Europa: Die Russen kommen“, verkündete die „Welt“. Von „Rachelust russischer Agenten“ sprach die „Frankfurter Rundschau“ „Leichen pflastern seinen Weg“, schrieb die „taz“. Als „terroristisches Regime“ bezeichnete Cohn Bendit die russische Regierung. Ein Chor der Warner hat sich gefunden. Sie alle verbindet eines: Die Sorge vor einer weiteren Amtszeit des amtierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin, der, so brachte es die „Financial Times“ auf den Punkt, Russland „zu einem autoritären Land … mit faschistischen Tendenzen“ gemacht habe, das nach dem Motto handle, „wofür Russlands autoritäre Regime in der Vergangenheit stets standen: Repression nach innen und Aggression nach außen.“

Solche Sorge will ernst genommen werden. Schauen wir also, wer Putin ist und wofür er steht: Wladimir Putin erschien zum Ende der Amtszeit des kränkelnden Boris Jelzin als „Mr. Nobody“ aus dem Nichts. Sein Amtsantritt ähnelte dem eines sehr viel älteren Vorgängers, nämlich dem des ersten Romanow nach der in Russland so genannten langjährigen Smuta, der verwirrten Zeit, die dem Ableben Iwan IV., des Schrecklichen im 16. Jahrhundert, genau 1584 folgte.

Smuta nennen die Russen die chaotischen Verhältnisse, die immer wieder aus dem Zerfall der russischen, d.h. letztlich der eurasischen Zentralmacht hervorgegangen sind, bevor eine neue Ordnung gefunden wurde. Eine Smuta war auch die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als der Zarismus zerfiel. Die jüngste Smuta, die zu einer politischen und sozialen Desintegration des eurasischen Raumes in bisher nicht gekanntem Maße führte, folgte auf den Zerfall der Sowjetunion 1990/91.

Der Verlauf der aktuellen Smuta erinnert in Vielem an die Zeit nach Iwan IV.: Wie der junge Romanow seinerzeit, so war auch Wladimir Putin das „Jüngelchen“, auf den die konkurrierenden „Eliten“ sich in dem Glauben einigen konnten, dass er keiner von ihnen gefährlich werden könne. Wie damals der junge Romanow so trat auch Putin ohne erkennbares Programm an, nur gepuscht und legitimiert durch den Segen von oben, in Putins Fall durch Jelzin und seine „Familie“. Der neue Mann sicherte der „Familie“ wie auch allen ihren regionalen wie lokalen Protegés zu, die Ergebnisse der Privatisierung, sprich der räuberischen Umverteilung des Volksvermögens nicht anzutasten – und hielt sich zunächst daran.
Aber ähnlich wie sich die Gönner des ersten Romanow seinerzeit getäuscht hatten, als der unbekannte 17jährige statt die Smuta weiter zuzulassen das Zarentum in neuer Stärke begründete, so erlebten auch die nach-sowjetischen „Eliten“ ihre Überraschung: Mr. Nobody erwies sich sehr bald als entschlossener Restaurator, der die von Jelzin inaugurierte Präsidialverfassung nutzte, um Schritt für Schritt die Handlungsfähigkeit des Zentrums wieder herzustellen.

Von Vielen gar nicht als Programm wahrgenommen, verkündete er per Internet seine Ziele: Wesentliche Bestandteile davon waren:
Eine autoritäre Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe eines starken Staates.
Das Anknüpfen an gewachsenen Strukturen, insbesondere der russischen Gemeinschaftstraditionen, statt der kritiklosen Übernahme westlicher Modelle.

Die Stärkung Russlands als Integrationsknoten Euroasiens
Werfen wir einen kurzen Blick zurück, was davon verwirklicht wurde, ohne uns an Details und einzelnen Unstimmigkeiten festzuhalten:
Russlands Verwaltung bekam mit den von Putin persönlich eingesetzten Gouverneurs-Kontrolleuren ein neues Rückgrat; die Privilegien der Regional- und Lokalmächte wurden soweit zurück geschnitten, dass die Gouverneure heute vom Präsidenten ernannt werden.

Die als Oligarchen bekannt gewordenen Privatisierungsgewinnler wurden zum Steuerzahlen verpflichtet. Mit der Zerschlagung des Yukos-Konzerns nahm die Regierung die wichtigsten Ressourcen Russlands wieder in staatliche Regie.
Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Krise zu einem inzwischen stabilen Wachstum von ca. 6,5% jährlich auf. Russland befreite sich aus hoffnungsloser äußerer und innerer Verschuldung und defizitärem Budget; das aktuelle Budget hat einen aktiven Spielraum von rund 20 Milliarden Euro, der für Sonderausgaben zur Verfügung steht. Ein Stabilitätsfond für mögliche Krisenzeiten wurde eingerichtet.

Russlands Rolle als Subjekt der Weltpolitik wurde wieder hergestellt, nachdem es unter Jelzin zum Anhängsel des westlicher Interessen geworden war. Eine empfindliche Einschränkung liegt allein in dem nach wie vor ungelösten Konflikt in Tschetschenien. Aus der wieder gewonnenen Stärke Russlands, insbesondere auf dem Energie-Sektor, erklärt sich die neuerliche anti-russische Propaganda..

Aber in einem hat Putin, neben dem Konflikt in Tschetschenien, bisher nicht erreicht, genauer gesagt, nicht getan, was er versprochen hat: in der Sozialpolitik. Mehr noch, die von seinen liberalen Beratern Gref und Co versuchte Einführung der sog. Monetarisierung des gesellschaftlichen Lebens ist als glatter Flop auf die Regierung zurückgefallen. Putin genießt zwar nach wie vor den Zuspruch von 60 – 70% der Bevölkerung, dies jedoch nicht wegen, sondern trotz der von ihm verfolgten sozialpolitischen Linie. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sieht in den Reformen zur sog. Monetarisierung der „Vergünstigungen“ wie auch der kommunalen und betrieblichen Formen der in der Sowjetzeit entwickelten nicht-monetären allgemeinen Grundversorgung keinen Fortschritt, sondern eine Verschlechterung ihrer Lage und fordert die Beibehaltung der bisherigen Regelungen. Ausdruck dieser Tatsache waren Demonstrationen von Rentnern, dann auch Studenten gegen das Ende 2004 beschlossene Sozial-Programm. Gegen die Monetarisierung von Wohnraum, von Gas-, Wasser-, Stromlieferungen und sonstiger in der Sowjetzeit bargeldloser öffentlicher Leistungen nahm der Protest die Form der stillen Verweigerung an, Motto: Wo kein Geld, da keine Zahlung, wo kein Kläger, da keine Klage. Die Reformen haben sich in diesen Kanälen verlaufen. Mit dem soeben beschlossenen Beitritt zur WTO will Russland jedoch einen erneuten Schritt in diese Richtung gehen. Das wird mit Sicherheit zu erheblichen neuen Unruhen führen.

Nach sechseinhalb Jahren Putin ist damit eine Lage entstanden, die man als Spagat der russischen Führung, namentlich Putins zwischen neuer aktiver Rolle in der Welt des globalisierten Kapitalismus und nicht gelöstem Übergang zum Kapitalismus im Inneren kennzeichnen kann. Putin war der Mann, der diesen Spagat halten und entwickeln konnte. Ausdruck dieser Balance ist die Polarität seiner engsten vertrauten, Innenminister Sergej Iwanow als Vertreter der „Silowikis“, also der vom Geheimdienst durchsetzten konservativen „Staatler“ auf der einen , der eher wirtschaftsliberale Dimitrij Medwedjew auf der anderen Seite. Weder Iwanow noch Medwedjew jedoch wären in der Lage, die von Putin heute gehaltene Balance fortzuführen. Beide haben als Kandidaten für die Nachfolge Putins denn auch abgewinkt. Auch andere in der Debatte um die Kandidatur eines möglichen zukünftigen Präsidenten auftauchende Namen wie der KP-Führer Szuganow, der US-orientierte ehemalige Wirtschaftsminister Michael Kasjanow repräsentieren nur Teilkräfte. Das gilt erst recht für Personen wie den Schachweltmeister Gari Kasparow, der namens der Ultra-Liberalen antreten möchte, um „Schach dem Putin“ zu bieten, ganz zu schweigen von dem unvermeidlichen ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski. Keine dieser Personen wird Putin ersetzen können: Mit dem Abtreten Putins wäre auch dessen „System“ der Balance beendet, es sei denn, es tauchte ein neues „Jüngelchen“ auf, das noch keiner kennt.
Überraschungen wie der bisher weithin unbekannte Alexander Gonskoi, Bürgermeister der nordrussischen Stadt Archangelsk, sind natürlich möglich, aber sechseinhalb Jahre putinscher Amtszeit waren nicht genug, um einen neuen Konsens v o n  u n t e n entstehen zu lassen, der die „Eliten“ Russlands, geschweige denn die Bevölkerung des Landes zuverlässig und dauerhaft auch ohne Autorität von oben verbinden könnte. Zu stark sind nach wie vor die Sonderinteressen, die von einer neuen Smuta profitieren würden. Zu stark sind andererseits die Kräfte, die genau dies mit Gewalt verhindern möchten.

Putin ist sich dieser zwiespältigen Lage offensichtlich sehr bewusst. Geradezu provokativ deutlich lehnte er daher im Spätsommer 2006 das Ansinnen aus den Reihen der Putin-treuen Partei „Einheitliches Russland“ ab, sich als „Retter der Nation“ für eine dritte Amtszeit zur Verfügung zu stellen. Er forderte stattdessen demonstrativ, der Entwicklung einer Opposition eine Tribüne zu geben. Mit der Bildung einer neuen Partei „Gerechtes Russland“, die der bisherigen Partei der Macht, wie „Einheitliches Russland“ kurz genant wird, Konkurrenz machen, im übrigen aber den von Putin eingeschlagenen Kurs unterstützen und auch in Zukunft verfolgen will, auch wenn Putin nicht mehr Präsident sein sollte, wurde jetzt ein Schritt in diese Richtung versucht. Ziel ist ein präsidial geführtes Zweiparteiensystem nach US-Vorbild. Ob dies gelingen kann, ist höchst fragwürdig. Der Westen täte daher besser daran, Putins Bemühungen um einen „Wunschnachfolger“ zu unterstützen, wenn ihm tatsächlich an einer weiteren Demokratisierung Russlands gelegen wäre, statt ihn als „Faschist“, „Diktator“ etc. und durch Aufbau einer inneren „Front“, die zu den „Errungenschaften“ Jelzins zurückkehren will, demontieren zu wollen. Eine solche Demontage Putins kann nur eine neue Smuta fördern oder deren gewaltsame Beendigung provozieren.

Kai Ehlers

Siehe zu diesem Thema:
Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch? Russland zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte/Entwürfe, 2005

Russland: Die Stockmann-Felder – Eskalation des Wahnsinns?

Das Problem der Stockmann- Felder, enthält drei sehr unterschiedliche Aspekte: Eine neue Runde in der Klima-Krise, eine neue Konstellation im „Great Game“ und schließlich eine weitere Stufe auf dem Weg in eine Neuauflage des kalten Krieges mit zeitgenössischen Mitteln. Zusammen bilden die drei Aspekte ein gefährliches Gemisch.
Die Rede ist von Gasfeldern vor Norwegen in der Barentssee, vor allem von den sog. Stockmann-Feldern. Sie allein sollen mindestens 3,4, nach neuesten Meldungen 4 und mehr Trillionen Kubikmeter Gas enthalten. Der Geologische Dienst der USA schätzt sie auf ein Viertel der noch unentdeckten Energiereserven der Welt. Die Vorkommen würden ausreichen, den Bedarf Deutschlands über dreißig Jahre zu decken, den der Welt ein Jahr lang. Die Felder werden seit etwa zehn Jahren erforscht, 2004 fasste Russland den Beschluss zu ihrer Erschließung; ab 2007 soll das erste Gas versuchsweise nach Europa strömen. Diese Entscheidung gab Gazprom im Oktober 2006 bekannt, nachdem bis dahin die USA als Hauptkunde des Projektes galt.
Der Reihe nach: Seit Jahren beunruhigen Klimaveränderungen die Welt. Augenfälligste Zeugin für den Klimawandel ist die Abschmelzung der Pole um jährlich zwei bis drei Prozent. Lediglich „peak oil“, die absehbare Grenze, an welcher der Bedarf an fossilen Brennstoffen die Vorkommen übersteigen wird, gab Umweltschützern bisher eine gewisse Hoffnung auf einen Umschwung in der Energiepolitik. Ausgerechnet von der Abschmelzung der Pole soll nun der Ausweg nahen! Das zurückweichende Eise, so hört man es aus Kreisen der Befürworter des Stockmann-Projektes, mache jetzt die Nutzung der bisher unter dem ewigen Eis verdeckten Gasvorkommen möglich, die vorher nur mit nicht bezahlbarem technischen Aufwand durchführbar gewesen sei. Mit den Stockmann-Feldern erhalte die Welt noch einmal einen Aufschub.
Dieser Argumentation muss man nichts hinzufügen, um sie als wahnhaft zu erkennen: die Krise der Energieversorgung wird nur verschoben, die Abschmelzung der Pole erhält einen weiteren Schub, das Nord-Meer wird in ein ökologischen Risikogebiet verwandelt. Dies alles spielt für die Betreiber des Mammutprojektes keine erkennbare Rolle.
Die Betreiber, das waren bis Ende Oktober 2006 der russische Gigant Gasprom, die norwegischen Unternehmen Statoil und Norsk, der französische Total-Konzern und die US-Konzerne Chevron und ConocoPhilips, seit Ende Oktober nur noch Gazprom. Damit sind wir beim zweiten Aspekt des Problems, der Aktualisierung des „Great Game“: Im April 2006 verkündete das damalige Projekt-Konsortium seine Absicht, im Laufe des Jahres die Gründung einer Betreibergesellschaft bekannt geben zu wollen. Noch bis zum Spätsommer des Jahres 2006 bestand die Option darin, eine internationale Betreibergesellschaft für die Ausbeutung des Feldes gründen zu wollen. Gazprom, das für sich 51% der Anteile der zukünftigen Gesellschaft beanspruchte suchte Teilhaber für die restlichen 49%. Die genannten Konzerne gehörten zum engsten Kreis der Bewerber; als Hauptabnehmer waren die USA im Gespräch. Geplant war, das Gas nicht über Pipelines, sondern über die Perfektionierung der neu entwickelten Technik der Gasverflüssigung per Schiff in die USA zu transportieren. Eine erste Versuchsanlage zur Gasverflüssigung, betrieben von der norwegischen Gesellschaft Statoil und der deutschen Firma Linde AG, sollte 2007 bei der nördlichsten Stadt Hammerfest ihren Probelauf aufnehmen.
Am 9.10.2006 verkündete Gazprom-Chef Alex Miller überraschend, der Konzern werde Ausbau und Ausbeutung ohne ausländische Hilfe in Angriff nehmen. Vorangegangen waren Auseinandersetzungen auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg, dem sog. Energiegipfel im Frühjahr des Jahres, auf dem Putins Angebot, Russland zum Garanten einer globalen Energiesicherheit machen zu wollen mit den Forderungen der West-Mächte nach weiterer Liberalisierung der Ölmärkte zusammenprallte. Man ging mit schönen Worten über gemeinsame Verantwortung, jedoch ohne Ergebnis in der Sache auseinander. Vorangegangen waren auch Erklärungen von Gazprom, dass man die technischen Schwierigkeiten der Gewinnung des Gases aus den arktischen Feldern überschätzt habe. Es sei nicht nötig, das Gas zu verflüssigen, es könne auch über die geplante Ost-See-Pipeline befördert werden. Im Übrigen, so weiter Gazproms Begründungen, habe keiner der potentiellen Teilnehmer ausreichend hohe Angebote für die mögliche Teilhabe gemacht. Unter diesen Umständen sei es für Gazprom günstiger die Finanzierung des Projektes selbst aufzubringen und mit anderen Gesellschaften gegebenenfalls in Teilfragen zu kooperieren.
Schon beim Dreiertreffen mit Jaque Chirac und Angelika Merkel in Paris hatte Wladimir Putin überraschend angekündigt, dass Russland nicht die USA, sondern Europa als zukünftigen Kunden der Stockmann-Gase sehe. Beim Treffen mit Kanzlerin Merkel während der Dresdener „Deutsch-russischen Dialoges“ einen Tag nach Millers Erklärung trat Putin an die deutsche Kanzlerin mit dem Angebot heran, Deutschland zum europäischen Verteiler für die Stockmann-Gase zu machen, indem das Gas aus der Arktis über die geplante Ostsee-Pipeline nach Greifswald geleitet werde.
Politische Beobachter aus Norwegen merkten in der Webzeitung russland.ru richtig an, Gazprom gehe es bei dieser Rochade keineswegs nur um Geld, damit sei Gazprom als drittgrößter Energiekonzern der Welt ausreichend versorgt, sondern in erster Linie darum, einen Handel „Ware gegen Marktzugang und technisches Know how“ zu realisieren. Deutschland verfüge durch seine geographische Lage und seine Position innerhalb der EU über optimale Möglichkeiten, als Verteiler der russischen Gase zu fungieren. Ein Pakt zwischen Deutschland und Russland zur Lieferung der Stockmann-Gase und evtl. weiterer Funde schaffe eine attraktive win-win-Situation, der beide Seiten in eine stabile langfristige Partnerschaft gegenseitiger Verpflichtungen einbinde. Auch Norwegen habe Chancen, in das Projekt einbezogen zu werden, denn es verfüge über langjährige technische Kenntnisse, die für die weitere Erschließung und Förderung der der Vorkommen wichtig seien. Mit einer solchen Entwicklung, so Putin , sei die „Zukunft der Wirtschaft Europas auf Dauer absolut gesichert.“ Das Gleiche erhofft sich Gazprom, versteht sich, das in diesem Zukunftsbild nicht nur Ressourcen lieferte, sondern über seine deutschen Partner Wintershall und EON auch am Verkauf des Gases mitverdienen könnte.
Mit dieser Wendung der Dinge war nicht nur die potentiell internationale Betreibergesellschaft geplatzt; es hatte sich auch ein folgenschwerer Wechsel in der Priorität der russischen Energiepolitik vollzogen: Europäische Union, vertreten durch Deutschland, anstelle der USA. Mehr noch, die USA aus dem Stockmann-Deal zu kicken, so die bereits genannten Norwegischen Beobachter, sei wohl als eigentlicher Zweck der Gazprom-Rochade anzusehen. Stimmt, denn inzwischen wurde die Entscheidung dahin gehend relativiert, dass der Konzern wegen des Umfanges des Projektes selbstverständlich an Kooperationspartnern interessiert sei. Die Option einer Teilhaberschaft ausländischer Konzerne, insbesondere der US-amerikanischen, ist jedoch vorerst vom Tisch.
Dass die USA von dieser Wendung der Dinge nicht begeistert sind, liegt auf der Hand. Damit sind wir beim dritten Aspekt des Stockmann-Deals, den Ursachen für die seit Mitte Oktober 2006 durch die westlichen Medien geisternden Anti-Putin-Kampagne.
Um besser zu verstehen zu können, worum es geht, muss man sich vielleicht noch einmal an den Grundton erinnern, den der US-Stratege Zbigniew Brzezinski nach Beendigung des Kalten Krieges gegenüber Russland vorgab: Ausgehend vom Ende der Sowjetunion entwarf er in seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht“ die Herstellung der Kontrolle über den Euroasiatischen Kontinent und seine Ressourcen als Hauptaufgabe der USA. Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt, so seine Grundthese. Daher müsse die US-Politik alles unternehmen, was ein erneutes Erstarken Russlands als Rivale in Eurasien verhindere.
Auf dieser Linie betrieben die USA, sekundiert durch eine halbherzige Politik der Europäischen Union ihre Minimierung und Einkreisung Russlands. Sie kauften sich in den russischen Energiemarkt ein, sie bauten neue Pipelines, sie trieben die NATO- und EU-Erweiterung voran und versuchten so, Russland von seinem früheren Monopol auf die eurasischen Öl- und Gas-Ressourcen zu trennen.
Mit der Verhaftung Chodorkowskis, der Zerschlagung des Yukos-Konzerns und der damit verbundenen Rückführung russischer Energiepolitik unter staatliche Kontrolle war diese Politik gescheitert. In dieser Situation legte Brzezinski nach. In der „Wallstreet“ vom 20. September 2004 veröffentlichte er einen Artikel über Wladimir Putin unter dem Titel „Moskaus Mussolini“, in dem er erklärte, Putin sei in Russland dabei, einen faschistischen Staat zu schaffen. Als Kritik am angeblich drohenden „Energiefaschismus“ Russlands fand dieser Tenor ein schrilles Echo in der Berichterstattung der deutschen Medien zu Chodorkowski, zum neuen NGO-Gesetz in Russland und anlässlich des russisch-ukrainischen Gasstreits.
Der Strategiewechsel Russlands in Sachen Stockmann-Feld von USA auf Europa hat eine neuerliche Auflage dieser Kampagne provoziert. „Angst vor Russland“ heißt es jetzt. Aus US-Sicht ist dieser Tenor konsequent. Die Stockmann-Felder geben Russland – im Verein mit den Europäern – einen weiteren Trumpf in die Hand, der die USA ins Abseits einer Abhängigkeit von, statt zu der erwünschten Vorherrschaft über Eurasien bringen könnte. Angesichts des Scheiterns ihrer IRAK-Politik verbietet sich für die USA jedoch jede offene Konfrontation mit Russland; da bleibt nur der Versuch, Putin politisch zu diskreditieren, zu isolieren und nach Möglichkeit innenpolitisch zu demontieren, um Russland auf diese Weise zu schwächen. Die bevorstehenden Wahlen zur Duma und zur Präsidentschaft in Russland geben dazu Gelegenheit.
Verblüffend dagegen ist der Auftritt der deutschen Politiker und Medien, die ebenso zum Medienangriff auf Putin blasen, obwohl er ihnen mit dem Stockmann-Projekt soeben das Geschenk des Jahrhunderts gemacht hat. Das kann nur noch als Übersprungshandlung verstanden werden, mit der man sich von dem Verdacht der Kumpanei reinwaschen möchte, denn sachlich hört und liest man keine Kritik an Putins Geschenk, weder am Ausbooten der USA noch an den ökologischen Konsequenzen des Projektes. Vielleicht möchte man auch Eigenständigkeit beweisen und sich gegen zu enge Umarmung durch Russland verwahren. Wie auch immer, die gegenwärtige Puten-Schelte ist wohl die verlogenste Kampagne, welcher sich europäischen, insbesondere die deutschen Medien sich seit Langem hingegeben haben.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe auch:
„Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung“, Pforte/Entwürfe

Russland – Europa: Osterweiterung der unerwarteten Art

Bemerkenswerte Dinge spielen sich zwischen Russland und der EU ab, ohne dass die Öffentlichkeit beider Länder, ausgelastet mit verständlichen, aber vordergründigen Kritiken an Wladimir Putin und abgelenkt durch das Riesenprojekt der Ost-See-Pipeline es richtig realisiert: Mitte Oktober wurde von der russischen Regierung in aller Stille ein Gesetz zur Schaffung von Sonderwirtschaftszonen in Hafen.- und Flughafenbereichen Russlands beschlossen. Danach sollen für einen Zeitraum von neunundvierzig Jahren sog. „Hafen-Zonen“ auf dem Gelände von Fracht- und Flughäfen des internationalen Verkehrs eingerichtet werden. Auf ihnen sollen dort angesiedelte Firmen von Einfuhrzöllen und Mehrwertsteuer für Baumaterialien, technische Ausrüstungen, sowie Anlagen für die Reparatur und die Ausrüstung von Schiffen befreit werden. Von Steuern befreit werden sollen ebenfalls Be- und Entladearbeiten, sowie die Lagerung von Waren, auch Mineralölsteuer muss nicht entrichtet werden. Innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Ansiedelung wird den Investoren darüber hinaus eine Befreiung der Grund- und der Eigentumsteuer in Aussicht gestellt.
Das Gesetz war bereits seit Februar 2006 in der Diskussion, konnte aber wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen der „Föderalen Agentur für Sonderwirtschaftszonen“ und dem Finanzministerium, die beide an seinem Zustandekommen beteiligt waren, nicht verabschiedet werden. Jetzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Danach werden die für die Sonderwirtschaftszone in Frage kommenden Unternehmen in zwei Gruppen unterteilt. Das sind zum einen solche, die sich am Aufbau der notwendigen Infrastruktur der „Hafen-Zonen“ beteiligen müssen und zum anderen Dienstsleister, die auf den so hergerichteten Geländen tätig werden wollen. Mindestens 100 Mio Euro müssen beim den Bau neuer Häfen, mindestens 50 Mio beim Bau neuer Flughäfen hingelegt werden, um in den Genus der Vergünstigungen zu kommen. Für die Aufbereitung der Infrastruktur bereits bestehender Häfen müssen 3 Mio Euro als Minimum faktisch eingesetzt werden. Für Unternehmen der Dienstleistung dagegen reicht es Bankgarantien in Höhe von 7.000 – 900.000 Euro nachzuweisen, um sich in den Sonderwirtschaftszonen ansiedeln zu können.
Russische Experten äußern sich befriedigt. Die Kosten für Neuanlagen seien problemlos aus dem laufenden Betrieb der bestehenden Häfen, bzw. Flughäfen aufzubringen. Das schließt selbstverständlich bestehende staatliche Zuwendungen und Vergünstigungen an die Hafen- und Flugbetriebe ein. Die ganze Aktion macht den harmlosen Anschein einer einfachen innerrussischen Modernisierung. Betrachtet man die Entwicklung der letzten sechs Jahre seit dem Amtsantritt Wladimir Putins genauer, dann wird allerdings deutlich, dass der aktuelle Beschluss nur einer der letzten Hammerschläge zu einem seit lange gezimmerten Gebäude einer schrittweisen Erweiterung der EU von ganz neuer Art ist, die über die Ost-Erweiterung in Tempo und Qualität weit hinausgeht und zu weiterer Kapitalflucht aus Europa und Senkung des Lebensniveaus, sprich Arbeitsplatzeinbußen, Lohn- und Sozialabbau führen wird.
Es begann mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftsbedingungen in den Ländern des ehemaligen Comecon, die ihre Steuersätze nach ihrer Lostrennung von der Sowjetunion drastisch, auf 24 (Tschechien), 20 (Ungarn), 19 (Slowakei, Polen) reduzierten. Die baltischen Staaten boten noch bessere Bedingungen für Investoren. In Lettland wurden mehrere Sonderzonen eingerichtet, in denen Steuererleichterungen von über 80 Prozent angeboten werden. Estland hat Unternehmensgewinne vollkommen von Steuern befreit.
Russland zog erst sehr zögernd nach. 1996 wurde ein Ausnahmegesetz zur Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone für die Region Kaliningrad beschlossen. In den letzten Jahren der Jelzin-Ära und noch bis zur Ost-Erweiterung der EU wurden die in dem Gesetz gewährten Privilegien jedoch mit widersprüchlichen Nachbesserungen faktisch immer wieder außer Kraft gesetzt. Erst der Vollzug der Ost-Erweiterung, der die Kaliningrad zu Enklave der EU machte, veranlasste die russische Regierung zu einem Kurswechsel. In dessen Gefolge rückte die Enklave zum Muster für ein gesamtrussisches Entwicklungskonzept auf. Im Juli 2005 lag der Duma ein „Gesetz über die Sonderwirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad und über die Änderungen in einigen Gesetzen der russischen Förderation“ vor, am 23. Dezember 2005 wurde es verabschiedet, wenige Tage später von Wladimir Putin gebilligt.
Noch nicht verabschiedet, hatte das Gesetzesvorhaben, wie es die deutsche „Bundesagentur für Außenwirtschaft“ (bfai) ausdrückte, bereits „einen wahren Boom von Ideen und Initiativen zahlreicher russischer Regionalverwaltungen und interessierter Investoren ausgelöst“. Anfang Oktober lagen der Regierung bereits 43 Anträge von Regionen für die Gründung solcher Zonen vor. Die erste Gründungswelle von Sonderzonen schwappte um Dezember 2005 / 2006 durch das Land. Nach der Versuchsphase vom Jahreswechsel 2005/2006 soll eine zweite Gründungswelle 2006/2007 folgen. Dabei wird die Zentralregierung einen beträchtlichen Anteil der Anfangsinvestitionen für die Errichtung der notwendigen Infrastruktur in den Zogen tragen. Im Haushalt 2005 waren dafür 8 Milliarden Rubel (235 Mio Euro) vorgesehen, 2 Milliarden Rubel sollten aus den beteiligten Regionen oder Kommunen kommen. Effektiv lief es dann auf eine Beteiligung von jeweils 8 Milliarden für die Zentralregierung sowie für die Regionen hinaus.
„Nach Berechnungen der Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel“, heißt es in einem bfai-Bericht von 2005 dazu, „können Unternehmen, die sich in einer Industriesonderzone ansiedeln, ihre Aufgaben für die Überwindung administrativer Hürden um 5 – 7% senken, und Unternehmen, die sich in einem Technologiepark ansiedeln, um 3 bis 5%. Des weiteren dürften die Ausgaben für Infrastruktur um 8 bis 12% und die Ausgaben für Produktionszwecke um 5 bis 7 % fallen.“ Dazu kommen Steuer- und Zollvergünstigungen und sonstige Voraussetzungen für Investoren in der Art, wie sie vor wenigen Wochen auch für die „Hafen-Zonen“ beschlossen wurden.
Beteiligt an dem Run auf die Einrichtung von Zonen der besonderen Bewirtschaftung waren zunächst russische Gemeinden, sehr bald aber auch ausländische Investoren, die sich über die Regionen und Kommunen in die Gründungsanträge für die Zonen mit einschalten. So plant die Stadt St. Petersburg zusammen mit finnischem Kapital der Firma „Technopolis“ eine „Technologie-Sonderwirtschaftszone“. Die Stadt Moskau hat gleich fünf Anträge gestellt. In allen Fällen sollen – zusätzlich zu den steuerlichen, den Zoll betreffenden und anderen Vergünstigungen die Entschließungs- und Infrastrukturkosten für die Einrichtung der Zonen von der „öffentlichen Hand“ getragen werden. Ein Eldorado für ausländisches Kapital!
Ende 2005 waren als Ergebnis der ersten Ausschreibung 2005/2006 sechs Sonderzonen vorgesehen. In Tatarstan werden im Gebiet Lipezk elektrotechnische Haushaltsgeräte und Möbel zusammen mit dem italienischen Unternehmen Idesit hergestellt. Vier „Technoparks“ werden in Zelonograd (Moskau) Dubna (Moskau), St. Petersburg und Tomsk gegründet. In Zelonograd ist die Firma Giesecke&Devrient beteiligt, in St. Petersburg handelt es sich, in der Formulierung des bfai, um ein „Projekt mit Beteiligung finnischer Developer“.
Man darf davon ausgehen, dass im Jahr 2006/2007 weitere Zonen zu den bisher sechs beschlossenen hinzukommen werden. Ganz in vorderster Front steht Nowosibirsk mit einem schon lange geplanten „Technopark“ direkt in seiner „Akadem-Gorod“, dem Universitären Forschungszentrum Sibiriens, aber auch der Oblast Kaluga mit der Stadt Obninsk, einem Zentrum der russischen Atomforschung steht in der Reihe, ebenso die Republik Sacha (Jakutien), in der eine „Industriezone für die Produktion von Brillianten und Juweliererzeugnissen“ Das kürzlich beschlossene Gesetz zur Einrichtung von „Hafen-Zonen“ wird die Einrichtung einer weiteren Reihe von Sonderzonen nach sich ziehen.
Befürworter preisen die Einrichtung von Sonderzonen als beste Form der Entwicklungshilfe, die Investoren ins Land ziehe, die Infrastruktur des Landes entwickle, Arbeitsplätze schaffe usw. usf. Gern wird dafür auf die Entwicklung der osteuropäischen Länder verwiesen, sich die jedes für sich als komplette Sonderwirtschaftszone betrachtet werden können, in einigen Fällen noch durch örtliche Super-Sonderkonditionen gesteigert. Ihr Aufstieg wird mit den „asiatischen Tigern“ verglichen. Tatsache ist, dass die Einnahme-Ausfälle, die diesen Ländern durch die steuerlichen Sondertarife und andere Vergünstigungen an die – zumeist ausländischen – Investoren entstehen, zu schweren Belastungen der Haushalte führen. Konsequenz ist eine harte Sparpolitik, die der Bevölkerung aufgelastet wird: niedrige Löhne, Streichung kommunaler und sozialer Leistungen. Die Löcher im Haushalt, die durch zu niedrige Steuereinnahmen entstehen, bergen zudem die Gefahr von Wirtschaftskrisen. Schon vor der Ost-Erweiterung der EU erreichte das Haushaltsdefizit Estlands fast 15 Prozent. Das ist fünfmal soviel wie 2001 in Argentinien, bevor dort die Finanzkrise ausbrach. In Ungarn kam der Forint unter Druck. Das Außenhandelsdefizit erreichte dort bereits 58 Prozent. In Lettland lag es bei 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Entgegen allen Verlautbarungen aus Brüssel, Berlin und anderen EU-Metropolen hat sich die beschriebene Entwicklung mit Eintritt der ost-europäischen Länder in die EU nicht verbessert, sondern im Tempo verschärft, was im Endeffekt bedeutet, dass sich die soziale Differenzierung in diesen Ländern verschärft. Mit der neuen Entwicklung in Russland tritt eine neue Komponente hinzu, die diesem Prozess noch einmal eine weitere Dynamik hinzufügt, denn durch die hohe Kapitaldecke, die Russland zur Zeit aus dem Export seiner fossilen Ressourcen bezieht, ist die russische Regierung in der Lage, die Einrichtung der Sonderzonen finanziell abzudecken, ohne dafür das Budget aushöhlen zu müssen. Im Gegenteil, die hohe Beteiligung an den Infrastrukturkosten gibt der Staatskasse die Möglichkeit, sich von überflüssigen Geldern durch Investition zu befreien und in ihren Sonderzonen Bedingungen anzubieten, bei denen die osteuropäischen Länder nicht mithalten können, ohne dabei die Knie zu gehen. Das ist eine Ost-Erweiterung der unerwarteten Art, die schwere Konflikte innerhalb der EU nach sich ziehen könnte. Was dabei mit Russland geschieht, ist eine zur Zeit nicht zu beantwortende Frage.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Eins der letzten Bücher des Autors trägt den Titel:
„Russland – Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte,/Entwürfe, 2005, 8,– €

Russland ohne Moral?

Gewaltig widerhallte das Echo der vier Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja, eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor einer Woche in Moskau im Treppenhaus gleich neben ihrer Wohnung niedergestreckt wurde. Putin erklärte, wenn auch erst zwei Tage später und in einer Weise, in welche er die Bedeutung der Ermordeten herunter zu spielen versuchte, er werde alle Hebel in Bewegung setzen, um diese „Gräueltat“ aufklären zu lassen, denn der Mord schade Russland mehr als die Kritik, welche die Ermordete zuvor an der Regierung des Landes geübt habe. Ihre Veröffentlichungen seien ja nur in einem kleinen Kreis der Menschenrechtler bekannt geworden. Ungeachtet dieser Erklärung wurde Putin bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit wütendem „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen und in deutschen Medien las man Sätze wie: mit Politkowskaja sei auch „das moralische Russland endgültig gestorben“, Angst vor Russland breite sich aus usw.

Was entlädt sich hier? Wofür steht der brutale Mord, wofür die wütende Kritik? Eine Antwort darauf zu finden ist schwer.
Frau Politowskaja hatte so viele Feinde, dass sie nicht an einer Hand abzuzählen sind: Die russische Soldateska in Tschetschenien, die pro-russischen Banden des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow, von Moskau eingesetzter Ministerpräsident Tschetscheniens, die Entführer und Menschenhändler des illegalen Untergrundes in Tschetschenien, der russische Geheimdienst FSB, die kriminellen und menschenverachtenden Zustände in der Armee, die großen und die kleine Korruptionäre auf allen Ebenen der Politik, die russischen Nazis, die Angehörigen der sog. Sicherheitsdienste, die für die Massaker von Beslan 2004 und zwei Jahre zuvor im Theater Dubrowka verantwortlich waren. Russische Kommentatoren halten es sogar für möglich, dass politische Gegner Putins hinter dem Mord stehen könnten, die Putin selbst und seine Politik angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen in Misskredit bringen wollten.

Absurd, möchte man meinen, aber vollkommen abwegig sind selbst solche Spekulationen nicht: Das politische Klima in Russland ist aufgeheizt. Sechs Jahre autoritärer Modernisierung unter Putins Führung haben erkennbare Spuren hinterlassen: Einen übermächtigen Präsidenten, um ihn herum Korruption und konkurrierende Seilschaften, in der Bevölkerung extreme soziale Differenzierung, aufkeimenden Nationalismus und Rassismus und über all dem den verlogenen Frieden in Tschetschenien, der nach wie vor ein Krieg ist und das gesellschaftliche Klima Russlands vergiftet. Die Schüsse können daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen. Das ist fürwahr kein gutes Zeugnis für die Politik Wladimir Putins und die Geister, die er rief. Insoweit gibt es Grund genug für harte Kritik.

Was aber veranlasst deutsche Demonstranten zu „Mörder-Mörder“-Rufen gegenüber einem russischen Staatschef, bevor auch nur ansatzweise klar ist, aus welcher Richtung die Schüsse kamen und was treibt Kommentatoren deutscher Medien dazu, jetzt das Ende des „moralischen Russland“ zu beschwören? Ist es pure Empörung, die sich einfach Luft machen muss, zumal Putin erst zwei Tage nach dem Mord reagierte? Dann sollte man ähnliche Auftritte auch angesichts der Ermordung zweier deutscher Journalisten in Afghanistan erwarten, die fast zur gleichen Zeit um ihr Leben kamen. Die Beteuerung der afghanischen Regierung, die Tat habe keine politischen Hintergründe, ist nicht glaubhafter oder weniger glaubhaft als die Erklärung Putins, dass er den Mord an Frau Politkowskaja verurteile. Oder ist es Sorge um die Freiheit der Presse, die die Kritiker antreibt? Die ist zweifellos berechtigt, denn Frau Politkowskaja war nicht die erste Journalistin, die in Russland umgebracht wurde. In diesem Zusammenhang wäre allerdings mit dem Finger nicht nur auf Russland zu weisen. Vielleicht resultiert die Kritik aber auch aus enttäuschter Liebe, die nach dem Aufbruch unter Gorbatschow anderes von Russland erwartet hat und sich nun überflutet sieht vom Zynismus der neuen russischen Macht? Das wäre verständlich, aber dem wäre entgegen zu halten, dass mindestens 5000 Moskauer und Moskauerinnen am Begräbnis der Ermordeten teilnahmen. Das Ende der Moral scheint zumindest in Moskau also doch noch nicht erreicht zu sein. Darüber hinaus ist Moskau nicht Russland, die putinsche Alleinherrschaft ist keine Diktatur und die Herrschenden sind nicht das Volk.

Und was den Zynismus der neuen Macht angeht, so ist es zwar richtig und notwendig, den Finger auf diese Wunde zu legen, allerdings wäre da genauer hinzuschauen und wahrheitsgemäßer zu berichten, worum es eigentlich geht. Dies wäre die beste Ehre, die man der ermordeten Kritikerin erweisen könnte. Täte man dies, dann würde sehr schnell erkennbar, von welcher „Angst“ tatsächlich geredet werden muss, nämlich der Angst der deutschen Wirtschaft vor einem „Energie-Diktat“ eines starken Russland. Diese Angst bemühte sich Wladimir Putin in Dresden mit dem Angebot zu beruhigen, Deutschland könne zum „Verteilerzentrum für russisches Gas in Europa“ werden, wenn die geplante Gaspipeline durch die Ostsee zügig gebaut werde. Frau Merkel zeigte sich beruhigt und pflichtete ihm bei. Damit war man nach den unvermeidlichen Anmerkungen zur „Menschenrechtsfrage“ auf die Tagesordnung zurückgekommen. Eher hier endet die Moral als in Russland, scheint mir, und das keineswegs nur auf der russischen Seite, sondern ebenso auf der deutschen.

NEUE BÜCHER VON MIR:

Grundeinkommen – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft
Verlag Pforte/Entwürfe, 14,00 €

Zukunft der Jurte – Kulturkampf in der Mongolei?
Mankau Verlag, 14,95

Weitere Bücher:
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Mord an Anna Politkowskaja: Ende des moralischen Russland?

Die Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja vor wenigen Wochen am helllichten Tages vor ihrer Moskauer Wohnungstür niedergestreckt wurde, erschütterten die internationale Öffentlichkeit. Der Mord provoziert alle, denen die Freiheit des Wortes über Profit- und Machtkungeleien geht.

Anna Politkowskaja war eine von denen, die sich nicht vor den Mächtigen beugte, die sich auch nicht auf Kommentare beschränkte, sondern die sich darum mühte, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen. Sie war die schärfste öffentliche Kritikerin Putins. Sie war ihm, davon darf man ausgehen, ein Dorn im Auge. Aber folgt daraus, dass er ihr Mörder ist, wie in unseren Medien frei spekuliert wird? Eine „Ikone des moralischen Russland“ wurde Anna Politkowskaja nach ihrem Tod genannt, eine „Instanz in einem Land, in dem sonst alles käuflich ist.“ Richtig. Aber ist mit ihrem Tod „das moralische Russland endgültig gestorben“, wie man auch lesen konnte? Und ist in Russland wirklich alles käuflich? Ein bisschen differenzierter hätte man es schon gern, nicht zuletzt gerade dann, wenn es um die Freiheit des Wortes geht.

Glaubt man der westlichen Presse und den von ihr zitierten russischen Gewährsleuten wie etwa der Moskauer Journalistin Elena Tregubowa, die nach dem Mord in mehreren westlichen Medien mit langen Interviews zu Wort kam, dann gibt es keine Zweifel, dass Wladimir Putin selbst, zumindest aber seine Helfer wie der Leiter der Präsidialverwaltung, Igor Setschin, oder der von Putin eingesetzte Ministerpräsident Tschetscheniens Ramsan Kadyrow die Urheber des Auftragsmordes waren, der an der unliebsamen Kritikerin verübt wurde. Einem Putin, so Frau Tregurow bei einem Spiegel-Gespräch, der den Krieg in Tschetschenien nicht beende, der Ukraine den Gashahn abgedreht habe, der eine rassistische Hetzjagd gegen Georgier im Lande durchführen lasse, sei so etwas ohne Weiteres zuzutrauen. Auf die Erfolge Putins zur Stabilisierung Russlands angesprochen, antwortet sie, Hitler habe auch mit den Autobahnen begonnen. Man wisse ja, was daraus geworden sei.

Vergeblich wiesen besonnenere Geister daraufhin, dass Anna Politkowskaja eine Vielzahl von Feinden hatte, angefangen bei tschetschenischen Banden, offiziellen wie inoffiziellen, über Korruptionäre auf hohen Ebenen der Gesellschaft bis hin zum Inlandgeheimdienst FSB oder selbst der Mafia oder im Ausland lebender Exilrussen, die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus ein Interesse an ihrem Tod haben könnten.

Vergeblich erklärte Michail Gorbatschow auf einer Pressekonferenz westlicher Journalisten anlässlich des „Petersburger Dialogs“, dass Putin kein Interesse an einem solchen Mord haben könne, da dieses Verbrechen der Diskriminierung Russlands diene. Es nützte auch nichts, dass er sich ausdrücklich gegen Belehrungen und falsche Verdächtigungen von westlicher Seite verwahrte. Man bedenke, der dies vorbrachte, Gorbatschow, ist immerhin der Deutschen liebstes russisches Kind; als Privatmann ist er aktuell keinem Verdacht der politischen Parteinahme für Putins Regierung ausgesetzt; darüber hinaus hat er als Mitaktionär der Zeitung „Nowaja Gasjeta“ Anna Politkowskajas Engagement aktiv unterstützt; nach dem Mord hat er mit den anderen Aktionären der „Nowaja Gasjeta“ 25 Millionen Rubel (740.000 €) zur Aufklärung des Mordes ausgesetzt. Dies alles wird jedoch in der anschließenden Berichterstattung mit der Bemerkung beiseite gewischt, dass er als Koordinator des Petersburger Dialogs „von Putin eingesetzt“ worden sei.

Was übrig bleibt und der deutschen Leserschaft mitgeteilt wird, ist Gorbatschows Klage, dass mit dem Mord Russlands Demokratie geschädigt werde. Wer es genauer wissen möchte, muss Detailstudien an den unmittelbaren Quellen betreiben. Am Ende dieser Leiter empfangen Demonstranten den russischen Präsidenten bei seinem Besuch zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit „Mörder-Mörder“-Rufen. Die „Frankfurter Rundschau“ erscheint mit einem Bild als Titelaufmacher, das Putin in höchst unvorteilhafter Momentaufnahme mit vorgeschobenem Kinn in der Pose einer Bulldogge zeigt, während Frau Merkel lieblich lächelt. Schaut her, so die Botschaft dieses Bildes, was für ein Aggressor!
Angesichts einer solchen Berichterstattung ist die Frage nach der Moral, aller spontanen Empörung eingedenk, wohl von mehreren Seiten zu betrachten.

Beginnen wir, um keinen falschen Verdacht einer Parteinahme für Missstände in Russland aufkommen zu lassen, mit der russischen Seite. Diese Liste ist lang, zweifellos: Seit 1993 sind laut Statistik, die das von Oleg Panfilow geleitete Moskauer „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ jährlich herausgibt, 219 Journalisten in Russland zu Tode gekommen, 16 davon nachweislich in Ausübung ihres Berufes. Für weitere 20 konnte der direkte Zusammenhang nicht eindeutig nachgewiesen werden, gilt aber als sicher. Ein solcher Fall ist z.B. die Ermordung des in Moskau tätigen US-amerikanischen russisch-stämmigen Chefredakteurs der russischen Ausgabe des „Forbes-Magazins“, Paul Chlebnikow im Jahre 2004, der detailliert über den kriminellen Aufstieg der neuen Reichen in Russland informierte. Die weiter aufgeführten 183 Fälle sind solche, in denen Journalisten unter Umständen zu Tode kamen, die nicht direkt mit ihrer Arbeit zu tun hatten, in denen eine Verbindung zu dem Beruf der Betreffenden aber möglich ist.

Zu den Todesfällen kommen noch 16 Entführungen von Journalisten allein zwischen 2000 und 2006, 46 Durchsuchungen von Redaktionen, 158 Festnahmen; in 379 tätliche Angriffe. Auch wenn man dem Zentrum eine berufsbedingte Ultra-Akribie in der Zusammenstellung seiner Statistiken unterstellen darf, sprechen diese Listen eine klare Sprache. So verwundert es nicht, dass Russland auf der Weltrangliste, welche die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ zur Lage der Presse führt, bei insgesamt 167 Plätzen auf Rang 140 steht und mit Recht trug der im Juni 2006 in Moskau tagende „59. Weltkongress der Zeitungen“ dem Gastgeber Wladimir Putin – in aller diplomatischen Höflichkeit, versteht sich – eine klare Kritik an der Situation der Medien in Russland vor. Besonderer Gegenstand der Kritik war die „Athmosphäre der Vorsicht und Selbstzensur“, die in Russland in der Ära Putin entstanden sei. Eine besondere Frage des Kongresses richtete sich darauf, „warum immer mehr Zeitungen von staatlich kontrollierten Unternehmen aufgekauft würden.“ Hintergrund dieser Frage ist die Tatsache, dass der Kreml während Putins Amtszeit über die Gazprom-Tochter Gazprom-Media seine Kontrolle über die Fernsehmadien stark ausgebaut hat. Der Konzern ist heute Mehrheits-Eigner bei NTW, NTW-Plus, TNT, inzwischen auch bei dem bekannten Radiosender Echo Moskau, sowie zahlreichen Zeitungen, unter anderem auch der bekannten „Iswestija“. Das neueste Beispiel ist die Übernahme der Zeitung „Komersant“ durch den Kreml-nahen Unternehmer Alsher Usmanow und den darauf folgenden Rücktritt des bisherigen Chefredakteurs Borodulin. Russische Medienexperten befürchten, dass der Kreml im Vorfeld der Präsidentenwahlen von 2008 weitere Übernahmen dieser Art planen könnte.

Kritisch zu vermerken ist auch, dass die Arbeit für ausländische Journalisten erschwert wird, indem Arbeitserlaubnisse hin und wieder nicht verlängert, Akkreditierungen nur noch für halbe Jahre ausgestellt werden; frei über Tschetschenien zu berichten, ist auch für Ausländer nicht möglich.
Präsident Putin zeigte sich von der Kritik wenig beeindruckt. Er bekräftigte sein bei Gelegenheit immer wieder von ihm geäußertes Interesse an der Entwicklung einer russischen Zivilgesellschaft mit einer dazu gehörigen freien Presse und erklärte, es gebe heute in Russland 53.000 Publikationen, die man von staatswegen, selbst wenn man es wollte, nicht kontrollieren könnte. Die staatliche Beteiligung an diesen Unternehmen gehe eher zurück. Das Internet und andere elektronische Medien würden im übrigen überhaupt nicht kontrolliert.

Tatsache ist, dass nur 10% der russischen Zeitungen heute wirtschaftlich überlebensfähig sind, die restlichen sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Die überregionalen Fernsehstationen stehen faktisch unter zentraler staatlicher Kontrolle, die lokalen Sender haben eine gewisse Unabhängigkeit von Moskau, sind aber in der Regel von Zuwendungen der Provinzregierungen abhängig. Der Wahrheit näher als Putins Bild kommen daher vermutlich Aussagen wie die des Chefredakteurs der „russischen Newsweek“, der nach seinem Wechsel aus der Fernseh- in die Zeitungs-Arbeit in einem Interview mit der „WELT“ erklärte, er habe deswegen gewechselt, weil er wenigstens in den Printmedien schreiben könne, was er wolle. Untersuchungen russischer Medien-Kritiker relativieren auch dies noch, wenn sie erklären, dass Pressefreiheit in Russland nicht als Grundrecht wahrgenommen werde.

Aus Broschüren des „Zentrums für Journalisten in extremen Situationen“, die russischen Journalisten als Ratgeber an die Hand gegeben werden, geht hervor, dass der Berufsstand des Journalisten in Russland sich erst entwickeln müsse, dass kaum ernsthaft recherchiert, dafür oft wild drauflos kommentiert werde. In dieser Bewertung stimmen die „Ratgeber“ des Zentrums mit der ermordeten Anna Politkowskaja überein, die ihre Kritik an der politischen Lethargie ihrer eigenen Zunft wie auch der Gesellschaft insgesamt wiederholt in ihren Artikeln ausgegossen hatte. Nicht Mangel an Pressefreiheit, soweit es die Printmedien betrifft, ist also bei genauer Betrachtung das Problem Russlands, sondern zum einen eine mangelnde Qualifikation der Journalisten und zum anderen die fehlende Transparenz und der mangelnde Mitgestaltungswille der Gesellschaft.

Laut einer Umfrage von „Newsweek Russia“ halten nur 9% der Bevölkerung die Massenmedien insgesamt für glaubwürdig und 70% hätten nichts dagegen, wenn die Pressefreiheit eingeschränkt würde – soweit die Medien, speziell auch die lokale und regionale Presse nicht Übermittler konkreter sachlich notwendiger Informationen sind. Diesen Stand gesellschaftlichen Bewusstseins wie die schwache Rolle der Medien selbst darf man zu recht beklagen und sich bemühen – wie die getötete Anna Politkowskaja – dies zu ändern. Russland in Bausch und Bogen als käuflich zu verurteilen, das „System Putin“ in die Ecke totalitärer Diktaturen zu rücken oder gar mit Hitler zu vergleichen ist dagegen wenig hilfreich.

Zu beklagen ist in diesem Zusammenhang denn auch eine West-Presse, die genau dieses tut. Welcher Vorgabe folgt die wütende Kritik an Putin, die ebenso wenig recherchiert, wie es der russischen Presse nachgesagt wird? Warum wird verschwiegen, dass Anna Politkowskaja nicht nur Putin, Kadyrow, die Korruption in Russland usw. kritisierte, sondern mit gleicher Schärfe die fehlende Moral des Westens anklagte? „Der Westen hat uns für dieses Gas verkauft“, schrieb sie etwa mit Blick auf die geplante Ostseepipeline: „Unsere Probleme wie in Tschetschenien interessieren niemanden. Alle wollen mit Putin gut Freund sein, wegen Gas und Erdöl.“ Wenn der Tod Anna Politkowskajas Anlass ist, über Moral der Medien nachzudenken, dann sollte das vielleicht doch in ihrem Sinne geschehen?

Zu fragen wäre dann, was schlimmer ist: russische Selbstzensur oder deutsche Konformität? Vielleicht auch andersherum: Russische Konformität oder deutsche Selbstzensur? Anna Politkowskajas Antwort darauf wäre vermutlich, dass die Wahrheit des Elends, die Würde und die Wünsche der einfachen Menschen nicht den angeblich großen Interessen geopfert werden dürfen. Von dieser Art des Journalismus ist die russische Medienwelt nicht weiter entfernt als die deutsche.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Von Kai Ehlers erschien soeben:
Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Verlag Pforte/Entwürfe
Zukunft der Jurte –Kulturkampf auch in der Mongolei?, Mankau-Verlag

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Angst vor Russland?

Putins Russland ist wieder in der Schlagzeilen. Die Ermordung Anna Politkowskajas brachte neben berechtigter Empörung und notwendiger Kritik schrille anti-russische Töne hervor. Mit Anna Politkowskaja sei „das andere, das moralische Russland endgültig gestorben“ schrieb Helge Donath beispielsweise in der taz. Statt Vertrauen in russische Stabilität herrsche zunehmend Angst der Wirtschaft vor einem Russland, das den Energiehahn zudrehe, wenn es kritsiert werde. Die „Frankfurter Rundschau“ erschien mit einem Bild, das den russischen Präsidenten in einer höchst unvorteilhaften Pose mit vorgeschobenem Kinn, bulligem Gesichtsausdruck und halbgeschlossener Faust zeigt. Schaut her, der Aggressor’, ist die Botschaft dieses Fotos. Bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden wurde Putin mit „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen. Ebenso in München. Was spielt sich ab, woher dieser neuerliche Schub an Russophobie?

Eine Erklärung findet man möglicherweise in der Art, wie Wladimir Putin bei seinem jetzigen Deutschlandbesuch in Dresden und München die „Furcht der Deutschen vor seinem Land …,dass im Westen immer häufiger als starker Investor auftritt,“ ( „Süddeutschen Zeitung“, 11.10) zu zerstreuen versuchte und in den Vorschlägen, die er dazu in Dresden machte: Er bot der Bundeskanzlerin Merkel – nach pflichtschuldigem Austausch offener Kritiken in der „Menschenrechtsfrage“, in dessen Verlauf beide den Mord an Frau Politkowskaja verurteilten – eine engere Zusammenarbeit in Energiefragen an. Er stellte Deutschland in Aussicht, als „Hauptkonsument“ und größter Verbraucher russischen Gases „zu einem großen europäischen Verteilerzentrum des russischen Gases“ zu werden – vorausgesetzt, die geplante Ostseepipeline werde zügig verwirklicht.

In dem Falle plane Russland auch das sog. Stockmann-Feld in der Barentsee zu erschließen und dessen Vorkommen anders als in der bisherigen Planung vorgesehen, nicht in die USA zu schaffen, sondern nach Europa, das heißt über Deutschland umzuleiten. Vorstellbar seien in diesem Falle, so Putin, zusätzliche Erdgaslieferungen nach Deutschland von jährlich 50 bis 55 Milliarden Kubikmeter Gas. Das werde das „energetische Gesicht Deutschlands“ verändern wie auch seine Position in europäischen Energieangelegenheiten in Europa stärken.

Frau Merkel, soeben gebeutelt durch den deutschen Energiedialog, zeigte sich erfreut. „Ich gehe für die deutsche Seite ganz fest davon aus, das dieses Projekt verwirklicht wird“, erklärte sie und ergänzte, nicht ohne Grund, das Projekt sei gegen niemanden gerichtet. Grund hat sie, denn es gab und gibt reichlich Unruhe über die neue Rolle Deutschlands in Europa, die sich hiermit abzeichnet und die Kaltschnäuzigkeit, mit der das Geschäft zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der EU-Newcomer durchgezogen wurde. Auch England, das von einem eigenen Zugang zum russischen Gas träumte, sah sich düpiert.

Die Ostseepipeline, daran sei erinnert, wurde im Dezember 2005 offiziell in Angriff genommen. Das Projekt wird zu 51% von Gasprom, zu je 24,5% von BASF und Ruhrgas/Wintershall getragen, die Dresdner Bank trägt 33% der Kosten per Kredit. Vorsitzender des Aufsichtsrat der „North european Gas Pipeline Company“ ist Gerhard Schröder, Generaldirektor Matthias Warnig von der Dresdner Bank. Die Pipeline soll über 1200 km vom russischen Wyborg bis zum deutschen Greifswald verlegt werden. Von Greifswald aus kann das Gas nach Süden und nach Westen quer durch Europa und bis nach Großbritannien transportiert werden. Zunächst ist der Ausbau eines Stranges geplant. Er soll ab 2010 rund 27,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas transportieren. Ein zweiter Strang mit gleicher Kapazität soll später folgen. Der Bau soll 2008 beginnen.

Polen, Letten, Litauer wie auch Estländer hatten gegen die Verlegung der Pipeline quer durch die Off-Shore-Bereiche der Ostsee protestiert. Sie sehen sich wirtschaftlich übergangen, benachteiligt, sogar durch mögliche Gas-Boykotte von Seiten Russland gefährdet, fürchten auch unabsehbare ökologischen Folgen. Politisch sehen sie sich an unselige Zeiten erinnert, in denen Polen wie auch die baltischen Staaten für die europäischen Mächte die Funktion eines „cordon sanitaire“ hatten, mit dem Frankreich, Deutschland und andere sich nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Einfluss der bolschewistischen Revolution schützen wollten. Auch die Gespenster des Hitler-Stalin-Paktes kamen wieder hervor, in dessen Verlauf Deutschland und Russland den polnischen und baltischen Raum als ihre Interessensphären untereinander aufgeteilt hatten. So wie jetzt Merkel, hatte seinerzeit Schröder auf all diese Kritiken nur die Antwort: „Das Projekt richtet sich gegen niemanden.“

Tatsächlich richtet sich das Projekt nicht nur gegen Konkurrenten um das russische Gas wie die USA, China oder auch Indien, sondern, wie man der kommentierenden Presse entnehmen kann, auch gegen „mögliche Erpressungsversuche“ durch Polen oder die baltischen Staaten. Das gilt selbstverständlich auch für die Ukraine oder Weißrussland, die bisher die hauptsächlichen Transferländer für russisches Gas nach Deutschland und Europa waren. Erfolgreicher ließ sich der Brandt-Bonus der Verständigung mit Polen und den baltischen Ländern wohl nicht verspielen. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung der EU dürfte das nicht gerade förderlich sein.

Ein weiterer Aspekt dieses Vorgangs kann erhebliche Auswirkungen haben: Die Gas-Lieferungen des Ostsee Konsortiums sollen, wie man hört, in Euro abgerechnet werden. Das klingt harmlos, handelt es sich doch um ein deutsch-russisches Abkommen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der Dollar bisher die Währung war, in der Öl- und Gasgeschäfte abgewickelt wurden, diese Funktion des Dollars in den letzten Jahren aber in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird, ist der angekündigte Wechsel von strategischem Gewicht: Seit die USA im großen Deal um Yukos/Chodorkowski zurückstecken mussten, beginnt sich die Auseinandersetzung vom direkten Zugriff auf die Ressourcen auf ein andere Ebene zu verlagern: Gleich nach dem Prozess verkündete die russische Regierung, sie gedenke ab sofort ihre Währungsreserven vom Dollar tendenziell auf eine Parität von Dollar und Euro umzustellen. Schon Ende des Jahres 2005 sollte ein Verhältnis von 60 Dollar zu 40 Euro erreicht sein, sehr bald 50 zu 50. Inzwischen treten Russen immer massiver als potente Investoren an den unerwartetsten Stellen Europas auf wie beispielsweise Gazprom als Sponsor von „Schalke 04“.

Bei all dem wird nun allmählich der unter Wasser liegende Teil des Eisberges erkennbar, von dem offiziell nicht die Rede ist, der aber in den letzten Jahren, speziell seit dem Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine im letzten Jahr, eine immer größere Rolle spielt: Die Europäer beargwöhnen die Russen, sich zu einer auf ihre Energie-Ressourcen gestützten neuen Hegemonialmacht aufbauen zu wollen und sind bereit, das mit allen Mitteln der politischen Intervention zu verhindern; gleichzeitig versuchen sie Russland mit langfristigen Verträgen so an sich zu binden, daß die eigene europäische Abhängigkeit von russischem Gas durch die Abhängigkeit Russlands von seinen Lieferungen an Europa in der Waage gehalten wird. Aus dieser Doppelstrategie heraus bewegt sich Deutschland zwischen den Polen einer besonderen deutsch-russischen Energiepartnerschaft und dem US-amerikanischen Bemühen, Russland als Energie-Diktatur, gar potentiellen Energie-Faschismus international zu isolieren und von seinen früheren Energie-Monopolen zu trennen. Dabei ist die Angst, Russland könnte sich durch Verbindungen nach China, Japan, Indien und anderen Teilen Asiens von Europa unabhängig halten, ein stärker werdendes Motiv.

Deutlichster Ausdruck dieser doppelten Realität war der G8-Gipfel, der im Mai in St. Petersburg erstmals unter russischer Präsidentschaft stattfand. Russland hatte im Vorfeld angekündigt, sich als Garant einer globalen Energieordnung ins Spiel bringen zu wollen. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland hatten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vorgebracht und ihrerseits angekündigt, Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So galt das G8-Treffen allgemein als Energie-summit, von dem globale Entscheidungen, zumindest aber schwere Unstimmigkeiten und Konfrontationen erwartet wurden. Im Ergebnis allerdings verabschiedete der Gipfel einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben scheinen: Einerseits werden „offene und transparente Märkte“, werden „faire Investitionsbedingungen“, einschließlich „effektiven Rechtsschutzes“ vereinbart, andererseits verpflichten sich die G 8 zu den Zielen der „Energieeinsparuung, der Energieeffizien, der erneuerbaren Energien, des umweltschonenden Einsatzes von Energien.“

Zur Krönung heißt es dann auch noch: „Dem Zugang von umweltfreundlichen, erschwinglichen und verlässlichen Energiedienstleistungen als zentralem Aspekt der Armutsbekämpfung wird eine wichtige Bedeutung beigemessen.“ Angesichts solcher Verlautbarungen könnte man schon fast in ein dankbares utopisches Schwärmen verfallen, wenn man nicht wüsste, dass zugleich alle Mittel in Bewegung gesetzt werden, um Russland im Süden von seinen früheren Monopolen zu trennen, Iran von Russland und Russland von China. Hier ist wohl richtig, daran zu erinnern, dass die ermordete Anna Politkowskaja auch den Krieg in Tschetschenien als Kampf ums Öl charakterisierte. Die Janusköpfigkeit dieser Politik spiegelt sich in einer krassen Gesichtslosigkeit der herrschenden deutschen Ost-Politik wieder, die Russland kritiklos umwirbt und zugleich mit politischen Interventionismus zu „Menschenrechtsfragen“ traktiert. Die grellen Töne, mit denen auf den Mord an Anna Politkowskaja reagiert wird, sind, soweit sie über die Mordtat hinausgehen, ein Reflex dieser doppelbödigen Politik.

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