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Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sahen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen und erwarten von Medwedew die Fortsetzung dieses Kurses, nur in leicht liberalerer Variante. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten angesichts der globalen Krise wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat.

Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen  über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik  des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor Perestroika zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Saustausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleich sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender  Kolonialismus“ und schließlich noch der  „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.[1]

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten „Aufbau des Sozialismus“; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt.

Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 909er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren  Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe. Putin hat – gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt – diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte, Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nichts geändert.   Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen, bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, und so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell – und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern  bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.[2]

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins, Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion wie duie ganze neue herrschende Schicht Russlands bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür.[3] Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der sog. „Nationalen Projekte“, die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gaseinnahmen resultierenden Einahmen ergänzend zur Moedernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits- , des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft, sowie spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwjedew übernahm diese Staffette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“ Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, den er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten, ebenso wie kommunaler Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen – gewissermaßen exemplarisch.

Kai Ehlers

Unter www.kai-ehlers.de


[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Herausforderung Russland, Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung , dort das Kapitel: „Das Missverständnis vom kapitalismus – Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation“, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997

[2]Siehe dazu: Kai Ehlers,  „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung  aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

[3] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“,  April 2005 im Verlag Pforte/ Entwürfe

veröffentlicht in: Streifzüge

Öl-NATO contra Gas-Russland Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Kooperation oder Konfrontation mit Russland? Um diese Fragen kreisen die aktuellen politischen Debatten in der Europäischen Union und in der NATO. Zwei Strategien stehen sich gegenüber:
Auf der einen Seite forcieren die USA die Entwicklung der NATO zur Energie-NATO. Angestoßen vom EU-Neumitglied Polen wurde diese Forderung von US-Senator Luger erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend damit, Russland auf einen Rohstoff-Lieferanten zu reduzieren und seinen politischen Einfluss zu isolieren. Die Strategie fügt sich in das unipolare Konzept der US-amerikanischen Hegemonialordnung ein, wie es von Sbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ entwickelt wird. [2] Dem steht Russlands Vorschlag gegenüber, über Gasprom eine weltweite kooperative Vernetzung von Energie-Lieferanten und Energieverbrauchen zu schaffen. Der deutsche Außenminister Steinmeier griff diesen Impuls auf der Münchner NATO-Tagung 2007 unter dem Stichwort einer Energie-KSZE auf. Es gehe darum die Kooperation von Rohstofflieferanten und Rohstoffverbrauchern, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entstehe. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Es fügt sich im Übrigen in die seit Gorbatschow in der russischen Außenpolitik entwickelten Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung ein.
Seit der NATO-Sicherheitstagung 2007 in München stehen sich die Forderungen nach einer „Energie-NATO“ und einer „Energie-KSZE“ gegenüber. Die EU ist in der Frage gespalten.

Die Geschichte der genannten Konzepte ist die Geschichte einer Eskalation.

Seit 1991 bemüht sich das „atlantische Bündnis“ unter Führung der USA aggressiv um die Neuaufteilung des zentralasiatisch-kaukasischen Raumes. Dabei ging es vorrangig um Erdöl und Erdgas, die in diesem Raum konzentriert sind. Der führende US-amerikanische Stratege Brzezinski spricht vom „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf das die USA sich den Zugriff sichern müssten. Kernstück der daraus entwickelten Strategie wurde der Ausbau eines Transportkorridors, auf dem Öl und Gas südlich des Bauches von Russland von Ost nach West befördert werden könnten, ohne durch russische, aus der Sowjetzeit noch vorhandene Röhren gehen zu müssen. Das bedeutete, Russland von Zentralasien, vom Süd-Kaukasus und vom Iran zu trennen, den russischen Schwarzmeerhafen Novorossisk, sowie die Pipelines durch Tschetschenien zu umgehen.
Die EU beteiligte sich an dieser Strategie mit den Programmen TACIS, INOGATE und TRACECA, über welche Milliarden Euro in den Ausbau der Ost-West-Transport-Infrastruktur von Usbekistan bis Europa flossen. TACIS, das ist die Abkürzung für “Technical assistance to the commonwealth on independent states”, INOGATE für “Interstate Oil and Gas Transport to Europe”, TRACECA für “Transport Corridor Europe-Caucasus-Central Asia”. Die drei Programme sind ausgelegt als Aktionsbündnisse mit den aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten Zentralasiens, des Kaukasus und des Balkan (selbst Griechenland partizipierte) – nur Russland wurde expressis verbis ausgegrenzt.
Wichtigstes Ergebnis dieser Programme waren drei neue Pipelines, die unter Umgehung der bis dahin genutzten sowjetischen Transportwege gebaut wurden:
– Öl von Baku in Aserbeidschan zum Schwarzmeerhafen Supsa – seit 96 in Betrieb,
– Öl von Baku über Tiblissi nach zum Mittelmehrhafen Ceyhan in der Türkei –
„BTC“ genannt nach den drei Städtenamen, seit 2005 in Betrieb;
– Gas von Baku über Süd-Europa in die EU –“Nabucco“– geplant ab 2012.
Nicht erfolgreich war der US-Plan, eine Pipeline durch Afghanistan in den Persischen Golf zu führen. Der in den 90er Jahren gemachte Ansatz blieb in den Kämpfen mit den Mujaheddin stecken. Auch die neueren Pläne, die von Sbigniew Brzezinski kürzlich wieder ins Gespräch gebracht wurden, werden nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn Afghanistan schnell „befriedet“ wird.
Zeitgleich mit der Entwicklung des Ost-West-Transportkorridors unternahmen westliche Öl-Konzerne den Versuch, den innerrussischen Öl- und Gas-Markt zu „liberalisieren“, „für den Weltmarkt zu öffnen“, kurz, unter Kontrolle westlicher Konzerne zu bringen. Das geschah zum einen über Einflussnahme auf den seit 1991 privatisierten russischen Öl-Markt. Der nach-sowjetische private Öl-Konzern YUKOS wurde in de4 Jahren 2003/2004 bereits von New York aus geleitet. Yukos-Chef Chodorkowski stand vor seiner Verhaftung und vor der gerichtlichen Auflösung des Konzerns kurz vor dem Verkauf von Mehrheitsanteilen an US-Texaco.
Es geschah zum Zweiten über Versuche der EU über Verhandlungen mit Russland für eine Europäische Energiecharta, über ein gesondertes Kooperations- und Partnerschaftsabkommen und über die Entwicklung einer „strategischen Partnerschaft“ zu einer „Liberalisierung“ des Öl- und Gasmarktes zu kommen.
NATO-Erweiterung und EU-Erweiterungen flankierten diese Strategie der Einkreisung Russlands, gepuscht von den USA; die EU konnte, sehr zum Ärger der USA keine klare einheitliche Linie zur Energiepolitik gegenüber Russland finden, sondern schwankte immer wieder zwischen aktiver Beteiligung an der US-Einkreisungspolitik und langfristiger Kooperation im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. – was u.a. dazu führte, dass die Nabucco-Pläne nur zögernd voran kamen und kommen.

Russlands Antwort

Nach Auflösung der Sowjetunion und Einleitung der Schock-Therapie der Totalprivatisierung war Russland dieser Strategie zunächst weitgehend ausgeliefert. Aus dem Gas-Ministerium der Sowjetzeit entstand Gasprom als eine undefinierbare Mischung aus alten sowjetischen und neuen privatwirtschaftlich genutzten Strukturen. In der Bevölkerung galt diese Organisation als Selbstbedienungsladen ihrer Funktionäre. Die Ölindustrie wurde zum Privateigentum weniger Oligarchien, verquickt mit ausländischem Kapital. Erst mit der Krise 98, als der IWF sich weigerte Russland mit Krediten aus der Patsche zu helfen, bzw. für Russland unannehmbare Bedingungen stellte, begann Russland sich wieder auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Die wesentlichen Schritte sind schnell aufgezählt:
– 2002 Reform Gasproms zum internationalen Multi. Die korrupten Funktionäre der 90 Jahre werden durch Vertraute Putins ersetzt, Gasprom zu einem politischen Instrument des Staates und einer Stütze des russischen Budgets entwickelt.
– 2003/4 mit der Verhaftung Michail Chodorkowskis und der Auflösung des YUKOS-Konzerns nimmt der russische Staat auch die größten Teile der Öl-Wirtschaft wieder unter Kontrolle.
– 2005/6 wird am Plan der Ostseepipeline erkennbar, dass Gasprom die Strategie einer aktiven Vernetzung des russischen Energiemarktes mit der EU verfolgt; mit Kasachstan und Turkmenistan werden alte Verbindungen aktiviert.
– am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline („South-Stream“) zusammen[4]: Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga (bei Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen[5].
– 2008 geht es Schlag auf Schlag: Vertrag zum Bau der „South-Pipeline“ mit Serbien im Januar 2008[6], mit Ungarn im Februar[7], mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an der “Nabucco“Pipeline als auch an „North-Stream“ beteiligen. Ein Joint Venture von “Nabucco“ und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Transmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. [8] Im Juli 2008 offeriert Gasprom Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. [10] Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. [11] Gasproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom sich auch nach Osten[12]: Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Ebenfalls im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. [13] Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein. [14] Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“ [15], d.h. ein umfassendes Netz von der Förderung bis zum Endkunden aufzubauen.

Kooperation contra Konfrontation

Zum Gipfel der G8 in St. Petersburg im Mai 2006 legte Russland den Vorschlag vor, eine globale Energiepolitik zu entwickeln. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland brachten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vor und kündigten an, ihrerseits Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So wurden von dem „Energie-Summit“ harte Konfrontationen erwartet. Im Ergebnis verabschiedete der Gipfel überraschend einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben schienen. Nur ein halbes Jahr später, 26.11.2006 forderte US-Senator Luger beim NATO-Gipfel in Riga die Entwicklung einer Energie-NATO, die nach § 5 des NATO-Bündnisvertrages eingreifen müsse, wenn Gas- oder Öllieferungen mit erpresserischer Absicht unterbrochen würden. Auch eine befürchtete „Gas-OPEC“ geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“-Gesetz.
Die Erfolge Gasproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften auch als Hintergrund für die Eskalationen im Kaukasus im August 2008 zu sehen sein. 17] „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ [18] Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive[20]. Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das atlantische Bündnis dürfe „die Fortschritte, die in Aserbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblissi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen“ müsse „die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der “Nabucco“Pipeline gedient“ werde.
Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache liege darin, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ [21] Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Pipeline bombardieren wollen.
Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“ [22], habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der in erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“.
Unter den Bedingungen der globalen Systemkrise entspannte sich die Konfrontation vorübergehend. Auf der Müncher „Sicherheits“-Tagung 2009 standen andere Themen im Vordergrund, insbesondere der Wiedereintritt der USA ins internationale Bündnissystem. Zudem ist Gasprom durch den Preisverfall bei Öl- und Gas vorübergehend geschwächt. Ein neues Anziehen der Öl- und Gaspreise und damit die Aktualisierung des Wettlaufes um die kaukasischen und zentralasiatischen Ressourcen ist jedoch unausweichlich.

veröffentlicht in:  „Neues Deutschland“

Weltmacht im Wartestand – ? Oder: Angst vor Russland, warum? Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin

Kurz vor dem Ausscheiden Wladimir Putins, zwanzig Jahre nach Michail Gorbatschow lautet die herrschende Frage des Westens wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse. Die Anlässe für diese Frage sind beliebig. Man ist versucht zu sagen: Gleich, was oben reingegeben wird – unten kommen immer Warnungen vor Russland heraus: Ob Putin ankündigte, keine dritte Amtszeit anstreben zu wollen, ob bei den letzten deutsch-russischen Konsultationen Ende 2007 offene Fragen anstanden, ob Russland gegen die Stationierung von US-Rakten in Ost-Europa protestiert, ob neue Bedingungen im Luftverkehr ausgehandelt werden müssen oder die  turnusmäßige Leitung des Nato-Russland-Rats durch einen Vertreter Russlands anstünde – der Tenor ist immer der gleiche: Der Kreml zeige Muskeln, eine neue Eiszeit nahe, ein neuer Kalter Krieg stehe bevor, ein russischer „Energiefaschismus“ drohe, gar der „Dritte Weltkrieg“, wie G.W. Bush sich Ende 2007 nicht scheute zu ‚warnen’.
Selbst Putins Mahnungen, Russland müsse sich gegen den Druck westlicher „Eindämmung“ mit einer neuen Sicherheitsstrategie schützen, dürfe sich aber nicht zu einem Rüstungswettlauf zwingen lassen, die er dieser Tage seinen Nachfolgern in ihre „Agenda bis 2020“ schrieb, und seine erneute Aufforderung an die NATO-Staaten sich um Kompromisse für die Neuregelung der KSZ-Vereinbarungen zu bemühen, führte auf Seiten der NATO lediglich zu der Forderung Die „unnötig aufgeheizte Rhetorik“ zu beenden. Die Fronten sind, wie leicht erkennbar, verhärtet bis aggressiv.
All diesen Mahnungen, Forderungen, Vorwürfen und noch einigen Fragen mehr muss selbstverständlich nachgegangen werden, um zu verstehen, was sich in unserer Welt abspielt. Auch mit Putins Autoritarismus muss man sich auseinandersetzen. Hier soll jedoch zunächst die Frage aufgeworfen werden, die sich hinter all diesem erhebt: Was steht hinter diesen Warnungen? Wovor fürchten sich die USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“, wie US-Stratege Brzezinski es bisher unübertroffen formulierte?  Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte? Wovor fürchtet sich sogar China – obwohl doch in einem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg?
Die Antwort ist  umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Russlands potentielle Anarchie speist sich aus zwei Quellen, aus den natürlichen Ressourcen, aber auch aus den – zumeist übersehenen – sozio-ökonomischen: die natürlichen – das sind Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw., die sozio-ökonomischen resultieren aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung auf der Grundlage der ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen. Beides zusammen gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als denkbare Kontrahenten. Dreimal versetzten diese Bedingungen Russland im Lauf  der neueren Geschichte bereits in die Lage, europäischen Eroberungsversuchen zu trotzen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939.
Heute ist es wieder so: Trotz Krise schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern noch gestärkt aus seiner Agonie hervorzugehen. Wladimir Putins Wirken spiegelt diese Tatsachen:
Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind die bürokratische Zentralisierung, die sich in der Einrichtung einer zentralisierten Kommandostruktur unter Leitung des Präsidialamtes gleich nach Putins Amtsantritt zeigte. Es ist die Ausrichtung der Medien, insonderheit des TV am nationalen Interesse, die im Westen als Abschaffung der Medienfreiheit wahrgenommen wurde, und schließlich die Disziplinierung der Oligarchen, die sich in der Flucht des Medien-Eigentümers Wladimir Gussinskis nach Spanien, der grauen Emenenz der Jelzin-Ära, Boris Beresowskis nach England und der Verhaftung und Verurteilung des Yukos-Chefs Michail Chodorkowski niederschlug.
Die Konsolidierung der neuen politischen Klasse ist noch nicht perfekt, reicht aber offensichtlich soweit, dass alte und neue, wie man in Russland sagt, Eliten sich darauf geeinigt haben, den Kampf aller gegen alle, der mit der Privatisierung Ende der 80er in den herrschenden Kreisen Russlands und zwischen Moskau und den Regionen Eurasiens ausgebrochen war, zugunsten der Verwaltung eines Rahmens einzuschränken, der die gemeinsame Ausbeutung des Landes ermöglicht. Dazu kommt – wenn auch auf den hohen Ölpreis gestützt – eine soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung in der zweiten Hälfte der Amtszeit Putins.
Konkret gesprochen: Unternehmen verpflichteten sich wieder Steuern zu entrichten, jahrelang nicht gezahlte Löhne, Gehälter, Pensionen, soziale Leistungen wurden endlich wieder zu zahlen. Ungeachtet der Tatsache, dass das so Gewonnene durch Privatisierung kommunaler Leistungen und Inflation für die Mehrheit der Bevölkerung sogleich wieder zerrann, trug es doch zur sozialen Beruhigung bei. Die hohe Zustimmung zu dem von Putin vorgeschlagenen gelenkten Machtwechsel an der Spitze des Staates, sowohl innerhalb der herrschenden politischen Klasse wie auch in der Bevölkerung, ist Ausdruck dieser Tatsache. Einfach gesagt: Wiederaufbau, nicht Protest steht auf der TO der russischen TO von heute und morgen.
Nach außen ist es die Kritik am hegemonialen Anspruch der USA. Stichworte dazu sind: Neue Militärdoktrin seit 2002, die das vom damaligen Außenminister Kirijenko formulierte Credo der Jelzin-Ära beendete, dass Russland heute keine Verteidigungsarmee mehr brauche. Einen Wendepunkt markierte Putins Auftreten bei der Münchner NATO-Tagung 2006, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er es formulierte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es ein Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft. Diese Entwicklung wurde möglich durch eine, so könnte man es nennen, konsequent „opportunistische“ Politik Russlands zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Mit dieser Politik kehrte Russland auf die Weltbühne zurück, während die ehemalige Neue Welt, die USA, in dem Versuch, ihre Weltherrschaft zu behaupten, sich in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen Autorität krankt.
Dabei ist anzumerken, dass die Tatsachen, die Putin in München vortrug, nicht neu waren: Die monopolare Welt, die nach dem Kalten Krieg „vorgeschlagen“ worden sei, erklärte er, sei nicht zustande gekommen, der Herrschaftsanspruch der USA habe mit Demokratie nichts gemein, amerikanische Werte würden anderen Staaten übergestülpt. Jede/r verstand, dass damit vor allem anderen die US-Abenteuer in Pakistan, im IRAK und die Kriegsdrohungen gegen den Irak gemeint waren. Neu war aber der Ton, in dem Putin seine Kritik vortrug: Die USA hätten ihre Grenzen fast in jeder Hinsicht überschritten, erklärte er, militärisches Abenteurertum, ausufernde militärische Gewalt und Missachtung des Völkerrechtes hätten die Welt gefährlicher gemacht. Die Politik der USA heize das nukleare Wettrüsten an. Niemand fühle sich mehr sicher. Neu war auch Putins kategorischer Protest gegen NATO-Pläne, in Polen und Tschechien Stationen für ein europäisches Raketenabwehrsystem  zu bauen. Vor allem anderen aber war es das Selbstbewusstsein, mit dem Putin diese Sicht dem NATO-Bündnis vortrug, das neu war: Sieben Jahre Putin hatten gereicht, um Russlands Kraft soweit wieder herzustellen, dass das Land seine historische Rolle als integrierender Faktor zwischen Asien und Europa wieder zu übernehmen bereit war – nämlich als Impulsgeber und stabilisierender Faktor einer kooperativ organisierten, multipolaren Weltordnung zu wirken, die es durch die aggressive Hegemonialpolitik der USA zunehmend gefährdet sieht. Diese Rolle war Russland in den Jahren seit Putins Amtsübernahme in aller Stille zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wurde sie vor aller Augen benannt. Mit dem Besuch Putins in Teheran Ende 2007, die zeitgleich zu Konferenzen des Shanghaier Bündnisses wie auch der Anrainer des kaspischen Meeres stattfand, zeigte Russland den USA auch praktisch die rote Karte. Die Teilnehmer der kaspischen Konferenz – Kasachstan, Tadschikistan, Iran, Aserbeidschan, Russland – versicherten sich gegenseitig, keine unabgesprochene Gas- und Ölförderung durch das kaspische Meer und keine Stationierung fremden Militärs auf ihrem Gebiet, die gegen eins der an der Konferenz beteiligten Länder gerichtet sei, zuzulassen. Das Shanghaier Bündnis der zentralasiatischen Staaten nahm den Iran demonstrativ als assoziiertes Mitglied in seine Runde auf.
Diese Entwicklung gibt Grund genauer hinzuschauen, woraus die potentielle Autarkie hervorgeht, aus der Russland seine neue Kraft schöpft: Sie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch. Das sind Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden konnten, sie haben eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch, waren es regionale Ausnahmen wie Sibirien, wie der Süden Russlands oder es waren vorübergehende Erscheinungen wie jene am Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als aus den dörflichen Strukturen private Industrie entstand. Ihre privaten Rechtsformen wurden jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt.
Im Ergebnis hat man es im alten Russland mit einer Organisation des Lebens zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit im Gegensatz zur europäischen Entwicklung als „asiatische Produktionsweise“ bzw. auch als „agrarische Despotie“ charakterisierten. Autarkie und Autokratie sind darin untrennbar miteinander verbunden. Die Moskauer Zaren waren Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die Struktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau, autonome Versorgung im Lande, die sich tief in die geo-soziologische Struktur des Landes und in die Mentalität seiner Bewohner/innen eingrub. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Marx und Engels kamen deswegen zu der Einschätzung, dass die russische Gesellschaft einen anderen Weg gehen werde al die europäische, sich aber nur im Zusammenhang mit einer Revolution in Europa weiter entwickeln könne.
In der Tat: Krisen gingen über das Land ohne diese Grundbeziehung von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin scheiterte am bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die gemeinschaftliche Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus. Unter Stalin steigerte sich der agrarische so zum industriellen Despotismus.
Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels – Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde. Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele – bei gleichzeitiger technischer Modernisierung der Gesellschaft.
Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: Es gelten offensichtlich Regeln, die sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: eine lang andauernde Stabilität endet in Stagnation. Phase zwei: Chaos tritt ein, eine „verwirrte Zeit“, russisch: Smuta, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses dieser Schicht auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt erhalten.
Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe besser erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“ und „Glasnost“) zielte auf eine gelenkte Befreiung dieser Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung.
Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen, vor allem auch die Folgen der Computerisierung unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem allgemeinen Zerfall führte. Die „Schocktherapie“ Boris Jelzins war Ausdruck dieser Dynamik.
Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktionsweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Auch für ihn galt: Nicht Nachvollzug westlicher Produktions- und Lebensweise, sondern Effektivierung der russischen Gesellschaft mit Anleihen aus dem Westen, der gemeinwirtschaftlichen Ordnung mit Elementen des Privatwirtschaft. Was dabei herauskommen wird, ist selbstverständlich offen – auf keinen Fall aber eine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus.
Es entsteht eine Mischkultur, deren widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Beitrittsabsichten zur WTO und Angleichung an deren Standards sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite, die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht Subventionen für die eigene Landwirtschaft beibehalten zu wollen und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung auf der anderen.     Klar gesprochen: Russland wird sich nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen, was nichts anderes bedeutet, als für die Länder, die wie es selbst von der asiatischen Produktionsweise herkommen, eine Impuls- und Führungsrolle gegen den unipolaren Herrschaftsanspruch der USA und für eine multipolare kooperative Weltordnung einzunehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, solange es die Quellen seiner doppelten Autarkie – natürliche Ressourcen und Fähigkeit zur Selbstversorgung – schützt und entwickelt. Jede „Liberalisierung“ des Welt-Ressourcenmarktes dagegen wie auch jede Verdrängung und Zerstörung der traditionellen Selbst- und Eigenversorgungsstrukturen durch forcierte Fremdversorgung und „Monetarisierung“ im Lande selbst schwächen und seine Identität tendenziell zerstören. Erfolg oder Misserfolg russischer Politik, innen- wie außenpolitisch, misst sich an diesen Vorgaben.
Wird Putins Politik daran überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Die Restauration staatlicher Grundelemente, die er durch seine Reformen von oben einleitete, war unausweichlich. Die Ergebnisse seiner Politik bringen selbst radikale Kritiker der russischen Neu-Linken wie Boris Kagarlitzki zu der Aussage, Putin dürfe sich als erfolgreichster Herrscher Russlands betrachten, dessen Politik nur den einen Fehler habe, dass das Erreichte nicht gerecht verteilt werde. Auch außenpolitisch sei das erfolgreiche internationales Come back unübersehbar. Dem ist zuzustimmen, wenn man nicht in bloße Kritikasterei á la Kasparow, Nemzow und anderen russischen Ultraliberalen verfallen will, die zum Liberalismus der Jelzinära zurückkehren wollen. Die Frage ist allein: wie weiter? Kann Putin selbst oder können seine Nachfolger die Geister bannen, die sie im Zuge dieser Stabilisierung riefen? Wird die im Rahmen der WTO geforderte Internationalisierung des Energiemarktes und die Monetarisierung des Landes die russische Autarkie beenden oder wachsen unter dem Schutz des von Putin erneuerten bürokratischen Konsenses neue Formen eigener russischer Produktions- und Lebensstrukturen heran, die den Rahmen der WTO sprengen?
Signale, die auf Sprengung hindeuten, gab es, als Putin erklärte, dass Russland zwar in die WTO wolle, aber „zu unseren Bedingungen“. Von selbst wird dies allerdings nicht geschehen, mehr noch, Putins Ansatz das Land durch eine Reform von oben zu modernisieren, findet seine Grenzen in sich selbst, insofern die Gefahr besteht, dass die Entwicklung von Initiative aus der Bevölkerung durch die unter Putin entstandenen Formen der „gelenkten Demokratie“ nicht gefördert, sondern eher gebremst werden. Das wird durch Putins Abschiedsrede im Kreml deutlich, ungeachtet der von ihm zutreffend benannten Erfolge, Steigerung des BIP um 8.1% im letzten Jahr, 22fach gesteigertem Kapitalzufluss gegenüber 1999 usw. usf, wenn er die mangelnde Arbeitsproduktivität beklagt, wenn er die „furchtbare Verhältnisse“ für russische Kleinunternehmer beklagt und auffordert, einen „innovativen Entwicklungsweg“ zu suchen.

Für die Wiederherstellung rudimentärer sozialer Funktionen des russischen Staates war die Phase der putinschen Restauration zweifellos unumgänglich, für die Zeit nach Putin stellt sich jedoch die Frage, wohin der von Putin beschworene innovative Entwicklungsweg führt, ob der in seiner Amtszeit geschaffene Rahmen die Entstehung neuer Initiativen von unten zulässt, die traditionelles Gemeinschaftsdenken und die Impulse neuer individualisierender Selbstbestimmung so miteinander verbinden, dass sie einer einseitigen, autoritären Ausrichtung der russischen Gesellschaft an den Interessen ausländischer und inländischer Investoren von unter her aktiv entgegentreten. Ansätze dazu hat es mit den massenhaften Protesten von 2005 gegeben, in denen Rentner, Studenten und andere die Absicht der russischen Regierung vereitelten, kommunale und soziale unentgeltliche Dienstleistungen und bestehende materielle Vergütungsstrukturen in Geldbeziehungen nach WTO-Vorgaben umzuwandeln. Neue Anläufe zur Monetarisierung sind aber bereits von der Regierung beschlossen. Ihre Umsetzung ist nach den Wahlen 2007/2008 geplant. In den zu erwartenden Auseinandersetzungen darum wird sich zeigen, ob Russland tatsächlich auf ein neues Niveau der Entwicklung kommt, das Sowjetismus und Kapitalismus gleichermaßen hinter sich lässt, anders gesagt, ob es eine Symbiose aus modernen Formen der Industriegesellschaft und Erhaltung, bzw. Weiterentwicklung der Selbstversorgung zu entwickeln imstande ist.

veröffentlicht in: Junge Welt

Ukraine – Kampfplatz der Vermittler

 

Der Staub, den der neuste Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine aufgewirbelt hatte, beginnt sich zu lichten. Aber immer noch ist schwer erkennbar, wer da wen über den Tisch ziehen wollte, wer wen zu Recht beschuldigt. Die Ukraine zeigt auf Russland, Russland auf die Ukraine; beide zusammen auf den ominösen Zwischenhändler RosUkrEnergo, der Millionen aus der Veruntreuung russischer Gaslieferungen gezogen haben soll. Die EU, als Vermittler angerufen, verhielt sich neutral, verwahrte sich sogar gegen die Rolle des Vermittlers, weil sie den Anschein der Parteinahme vermeiden wollte. Selbst aus den USA war nicht viel mehr als eine milde Mahnung zu hören, die streitenden Parteien sollten die „humanitären Implikationen der Versorgungsunterbrechung“ bedenken. Sogar die übliche Suada der Medien gegen Russland blieb weitgehend aus. Nur Russland, konnte man schließlich doch noch lesen, habe es nicht unterlassen können, die USA zu beschuldigen, die Ukraine zum Gasdiebstahl angestachelt zu haben. Typisch Russen, aber absurd, so der Tenor. Soweit, so langweilig, könnte es scheinen.

Allmählich werden durch den abziehenden Dunst jedoch die Hintergründe erkennbar: Da wären zunächst einmal die beiden Abkommen zu erwähnen, die dem aktuellen Konflikt direkt vorauf gingen. Genau genommen folgten sie unmittelbar auf die Tatsache, dass NATO und EU der Ukraine in diesem Jahr sowohl den Zugang zur EU als auch zur NATO versperrten, bzw. mit windigen Erklärungen auf die lange Bank schoben. Ersatzweise aber schloss die EU mit der Ukraine im September 2008 ein Assoziierungsabkommen, das zwar keine Zusage auf Mitgliedschaft in der EU enthält, doch die Aussicht darauf eröffnet. Ein wesentlicher Punkt darin ist die verstärkte Zusammenarbeit in Fragen der Energiesicherheit.

Im Dezember 2008, zwei Wochen vor Ausbruch der Streitigkeiten, unterschrieb US-Außenministerin Condoleeza Rice dann die „Charta über strategische Partnerschaft“ zwischen der Ukraine und den USA. „In Übereinstimmung mit dem US-EU-Gipfel vom 10. Juni 2008“, heißt es darin, „vertiefen die Ukraine und die USA den dreiseitigen Dialog (wenn es denn einen dreiseitigen Dialog gibt! – ke) mit der Europäischen Union  für eine verbesserte  Sicherheit der Energieversorgung.“ Das bedeute, „die USA wollen der Ukraine bei der Modernisierung der veralteten ukrainischen Gaspipelines helfen.“

Hinter diesen Abkommen tritt sodann die Erklärung eines „US-EU Partnership Committees for Ukraine“ hervor, das am 14. Mai 2007, also weit vor diesen offiziellen Vereinbarungen in Berlin gegründet wurde. Es hat sich den Ausbau der Energiesicherheit in Zusammenarbeit von EU und Ukraine und die Verringerung der Abhängigkeit der Ukraine von Russland zum Ziel gesetzt. Initiator dieses Komitees war kein Geringerer als der Kurator und Berater des „Center for strategic and international studies“ (CIS), Sbigniew Brzezinski von amerikanischer Seite; auf deutscher Seite steht der Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe im Namen der „Deutschen Gesellschaft für ausländische Politik“ (DGAP) Mit von der Partie sind Personen wie die Ex-Außenministerin der USA, Madeleine Albright, wie der bekannte US-Senator R. Luger, der Mann, der seit dem NATO-Gipfel in Riga öffentlich den Einsatz der NATO zur Verteidigung der Energiesicherheit der Mitglieder des Bündnisses fordert, und weitere einschlägige „adviser“ aus dem Umkreis Brzezinskis, die sich für eine Demokratisierung der Ukraine in diesem Komitee zusammengefunden haben – ähnlich wie früher schon im „Komitee für den Frieden in Tschetschenien“, dessen 2. Vorsitzender ebenfalls Brzezinski ist.

Eine seiner zentralen Aufgaben sieht das „US-EU-Partnership Komitee for Ukraine“ laut einer Erklärung vom Mai 2007 darin, ein zunehmend autoritäres und imperial orientiertes Russland davon abzuhalten, politische Konflikte mit der Ukraine dafür zu benutzen, die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung auf einen äußeren Feind zu lenken. „Noch ist die Ukraine kein Ziel gewesen“, heißt es, aber „sie könnte es werden…“

Brzezinski erklärt in einem Interview zu den Zielen des Komitees u.a.: „„Wenn die Ukraine sich  nicht nach Westen bewegt, dann wird sich Russlands Nostalgie für eine imperiale Rolle intensivieren, und dadurch wird Russland zu einem größeren Problem, die Ukraine könnte weiter bedroht werden, und deshalb liegt es im Interesse aller, diesen Prozess (der Demokratisierung der Ukraine – ke) voranzubringen.“

Wer dies liest, tut gut, sich daran zu erinnern, was Brzezinski schon vor zehn Jahren in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ zur Ukraine schrieb: „ Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ Auf die Ukraine müsste sich US-Politik konzentrieren, wenn sie sicherstellen wolle, dass ihr kein Konkurrent in Eurasien entstehe. Nato- und EU-Erweiterung, Unterstützung der „orangenen Revolution“ waren Schritte auf diesem Weg. Jetzt ist „Zückdrängung der Energie-Abhängigkeit“ auf die Agenda gerückt.

Russland –- Worüber lohnt es zu diskutieren?

Ist Russland eine Demokratie? Nein. Es ist ein Land im Übergang von einer zentralistischen Gesellschaft in eine ungewisse Zukunft. Sicher ist aber keine Kopie des Westens zu erwarten. Ist Putin ein Demokrat? Nein! Aber auch kein Diktator, wie immer wieder in westlichen Medien zu lesen ist. Putin war der mit großer Mehrheit gewählte und mit ebenso großer Mehrheit noch einmal im Amt bestätigte Präsident dieser Übergangsgesellschaft, dem die Aufgabe zufiel ein Minimum an Versorgungssicherheit im Lande wieder herzustellen und dem geschwächten Land wirtschaftlich und politisch wieder auf die Beine zu helfen. Er tat dies, indem er die von Gorbatschow eingeleitete, unter Jelzin aus dem Ruder gelaufene Privatisierung legalisierte, ihre Auswüchse einschränkte, den wirtschaftsliberalen Kurs fortsetzte, zugleich aber die Verwaltungsstrukturen zentralisierte, die Kontrolle des Staates über lebenswichtige Ressourcen wieder herstellte. Es war der Kurs einer restaurativen Modernisierung, der Russland innenpolitisch befriedete und außenpolitisch wieder handlungsfähig machte. Der Kurs war  autoritär und liberalistisch zugleich, es war pragmatische Machtpolitik im Interesse der neuen russischen Eliten. Ich bezeichne diesen Kurs als autoritäre Modernisierung. Die immens steigenden Weltmarktpreise für Öl- und Gas machten ihn möglich und erträglich für die Bevölkerung. Über diesen Verlauf der Geschichte gibt es eigentlich wenig zu streiten.

Die offene Frage ist vielmehr: Was wird jetzt geschehen? Will, kann und wird Putins Nachfolger Dmitri Medwedew, unterstützt durch einen Ministerpräsidenten Putin, die Zügel jetzt, auf dem Boden des Erreichten, wieder lockern, wie angekündigt, wird er die Bürokratie zurückschneiden, das Recht stärken, um mehr Möglichkeiten für private Initiative freizusetzen? Und kann Russland in der erkennbaren aktuellen Krise Impulse für eine Erneuerung der internationalen Beziehungen, nicht zuletzt der globalen Energieversorgung geben? Oder muss die Welt imperiale Abenteuer eines autoritären Energie-Riesen Russland fürchten?

Dies sind einige der Fragen, die sich zu diskutieren lohnen. Und wo Dr. Dr. Umland in seiner Replik zu Alexander Rahr und mir auf diese Fragen eingeht, da kann es interessant werden, die Situation von verschiedenen Seiten anzuschauen. Unter Umgehung akademischer Spitzen und Spitzfindigkeiten möchte ich daher geradewegs auf diese Fragen losgehen.

Da ist aus meiner Sicher zunächst Dr. Dr. Umlands Grundansatz, den er in seinem Vorwort vorausschickt, Politologie sei „de facto eine Demokratiekunde“ und „zudem eine ausdrücklich universalistisch orientierte Wissenschaft“, was im Fall des von ihm vorgelegten Beitrages ja wohl heißen soll, dass er die russische Entwicklung am Maßstab von demokratischen Werten misst, die er für allgemeingültig hält, auch wenn diese Politologie, wie er selbst angibt, „als solche zunächst in Großbritannien und den USA entstand.“

Nun sind Dr. Dr. Umland und ich vermutlich nicht unterschiedlicher Meinung, was die Wertschätzung der demokratischen Verhältnisse betrifft, in denen wir selbst hier in Deutschland leben dürfen. Und ich hoffe sehr, dass wir auch darin einig sind, dass demokratische Rechte verteidigenswert sind, wenn sie eingeschränkt werden. Aber hier beginnen schon die grundsätzlichen Fragen: Von welcher Demokratie sprechen wir? Vom deutschen Grundgesetz? Von der österreichischen Verfassung? Von EU-Recht? Von Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten durch Polizeirecht? Gehört ein Grundrecht auf materielle Versorgung mit zur Demokratie? Und wie sieht es mit dem Völkerrecht aus? War die Anerkennung des Kosovo völkerrechtlich richtig, die Anerkennung Abchasiens und Süd-Ossetiens dagegen nicht? Da gehen selbst im Westen die Meinungen der Völkerrechtler auseinander. Fragen über Fragen.

Ganz problematisch wird es aus meiner Sicht, wenn Dr. Dr. Umland behauptet, die „nachhaltige Stabilität“ des Westens scheine „ein – wenn auch nicht der einzige – Faktor zu sein, der den Westen international so dominant gemacht“ habe, um diese Aussage dann noch dahin zu steigern, der Westen sei „nicht nur demokratisch, weil er einen entsprechenden ökonomisch-sozialen Unterbau“ habe; er habe „diesen Unterbau und ist so relativ hochentwickelt, stabil sowie einflussreich, unter anderem weil er demokratisch ist“.

Ja, lieber Dr. Dr. Umland – „unter anderem“! Wie immer liegt der Teufel auch hier im Detail: Westliche Demokratie ist zunächst Produkt eines Jahrhunderte langen Raubens, Ringens und Schlachtens auf europäischem Boden, von wo aus Raubzüge, Ausrottung ganzer Völker und Kriege immer wieder die ganze Welt erfassten. Die „nachhaltige Stabilität“ des Westens ist „unter anderem“ eben auch Produkt von Imperialismus, Kriegen und Faschismus. Nicht zuletzt Russland war mehrfach Opfer dieser Entwicklung: Napoleon, 1. Weltkrieg, Hitler. Auch die „Demokratisierung“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ähnelte doch eher einer „feindlichen Übernahme“ Russlands durch den Westen, allen voran durch die USA als einer partnerschaftlichen Unterstützung auf dem schwierigen Weg der unvermeidlichen Perestroika.

Kurz, der Anspruch westlicher Politologie, die Entwicklungen anderer Gesellschaften, in unserem Falle Russlands ausschließlich unter dem Maßstab ihrer eigenen Werte zu beurteilen, erscheint mir nicht nur reichlich vermessen und hybrid, sondern auch sachlich nicht haltbar, auch wenn man selbst davon überzeugt sein mag, im besten aller Systeme zu leben – was, wie oben angedeutet, auch noch eine Frage von Auseinandersetzungen bei uns selbst ist. Der Anspruch der „Universalität“ westlicher Demokratie erweist sich bei genauerer Betrachtung als ideologische Brille, durch welche die Wahrnehmung der tatsächlichen Bewegung passend zur gegenwärtig gültigen westlichen Mode verzerrt wird, wenn nicht gar gewaltsame „Implantationen“ der eigenen Werte in fremde Gesellschaften erfolgen.

Sehr deutlich tritt dies in den weiteren Ausführungen Dr. Dr. Umlands hervor, mit denen er aus der von ihm so hervorgehobenen „nachhaltigen Stabilität“ des Westens die Schlussfolgerung zieht, „Das nichtendenwollende (sic) Plädoyer der Russen für eine ‚multipolare’ Welt“ wirke daher „pathetisch“: Die USA seien bisher der einzige Pol, „schlicht weil sie es sind“ und sie würden „aufgrund ihrer flexiblen Gesellschaftsstruktur“ diese Position auch halten. Russland habe „in der Welt wohl die geringsten Chancen, sich je zu einem ernsthaften internationalen Konkurrenten der USA zu entwickeln.“

Uff! Das klingt überzeugt. Aber wo sind die Fakten? Wie erklärt man sich dann die auch nach der Auflösung der Sowjetunion andauernden Bemühungen der USA Russland einzukreisen und klein zu halten? Wieso nimmt Russland in der Strategie Sbigniew Brzezinskis seit dem Ende der SU die Stelle eines „schwarzen Loches“ ein, das man eindämmen müsse? Am liebsten sähe er Russland dreigeteilt, ein westliches, ein östliches und ein mittleres Rest-Russland. Wieso wird diese Strategie Brzezinskis unter dem designierten Präsidenten Obama soeben noch einmal aktualisiert? Kurz: Unipolare Weltordnung oder multipolare – das ist doch heute keine Glaubensfrage mehr! Hier gibt es neue Fakten zur Veränderung der Rolle der USA, konkret ihre Schwächung als globaler Hegemon auf der einen Seite, zur Entwicklung neuer Integrationsräume auf dem Globus (China, Russland, Indien, EU, Südamerika ua.) auf der anderen, die mit den USA in neue Beziehung nicht nur treten werden, sondern bereits getreten sind und nun in die Phase der politische Realisierung dieser neuen Tatsachen steuern. Die gegenwärtige Finanz-Wirtschaftskrise ist ein Ausdruck davon. Ein anderer sind die anhaltenden Spannungen im Kaukasus, wo sich zwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion zeigt, dass das „atlantische Bündnis“ Russland trotz intensivster Bemühungen um den Ausbau eines Ost-West-Transport-Korridors am Bauch Russlands entlang nicht daran hindern konnten, über Gasprom erneut präsent im globalen Energiemarkt zu sein.

Hier ist auch anzumerken, dass „Ehlers Artikel zu kritisieren“ in der Tat schwierig ist, wie Dr. Dr, Umland in seiner Replik richtig beklagt, wenn man nicht auf die Argumente eingeht, die von Ehlers für die Tatsache vorgebracht werden, dass es Putin war, der Russland – anknüpfend an die ersten Maßnahmen einer „antiwestlichen“ Neuausrichtung Russlands durch Primakow nach der Krise 1998 – Schritt für Schritt als internationaler Partner wieder handlungsfähig gemacht hat, indem er die anarchisierten alten und neuen „Eliten“ des Landes auf Russlands Wiederaufbau orientierte. Dies, wie es bei Dr. Dr. Umland geschieht, nur unter der Rubrik „Nationalismus“ abzuhandeln, geht an der Sache vorbei, was nicht heißt, dass die in Russland zur Zeit zu beobachtenden fremdenfeindlichen Tendenzen zu verharmlosen seien. Dies aber ist, wie wir wissen, nicht allein ein russisches Phänomen. Tatsächlich war es am Ausgang der Jelzin Zeit, die so etwas wie einen  Selbstbedienungsladen der Privatisierung hinterließ, für das Überleben des Landes unabdingbar, einen – wenn auch immer noch brüchigen  – nationalen Konsens zu finden, in der Hoffnung auf einen Effekt, dass wieder Steuern, wieder Löhne, wieder Renten und andere soziale Leistungen auf unter Ebene gezahlt würden. Dieser Effekt einer Art Selbstdisziplinierung der zuvor außer Rand und Band geratenen „Eliten“ Russlands trat dann auch tatsächlich ein. Die Entwicklung der „Machtvertikale“, ebenso wie die Reduzierung der sich zu den Wahlen anbietenden Parteien von gut sechzig in der Zeit Jelzins auf eine überschaubare Zahl, die Einführung einer Selbstzensur in den russischen Medien gehört mit dazu. Dies alles sind zweifellos keine Schritte der Demokratisierung im Sinne einer funktionierenden formalen Demokratie; es waren Schritte, die die den Menschen ein Minimum an handlungs- und Möglichkeiten der Selbstbestimmung im wirtschaftlichen und sozialen Alltag zurückgaben.

Entscheidend ist die Frage, wie oben schon angemerkt, ob Medwedew das Programm der relativen Liberalisierung, mit dem er angetreten ist, jetzt tatsächlich umzusetzen in der Lage ist. Dies aber ist eine Frage, die nicht nach westlichen Maßstäben und nicht nur theoretisch zu diskutieren, sondern im Lande selbst und nach dessen Maßstäben zu untersuchen ist. Hinzu kommt, dass dieselben Fragen, verschärft und nunmehr unübersehbar geworden durch die globale Wirtschaftskrise, auch an westliche Demokratien zu stellen sind.

Bleiben am Ende noch ein paar Äußerungen Dr. Dr. Umlands, die eine weitere Debatte lohnen könnten: So seine Sicht, das Grundproblem russischer Geschichte sei die „Allgegenwärtigkeit der staatlichen ‚Machtvertikale’“. Klingt einleuchtend, wenn man an die Geschichte der russischen Selbstherrschaft denkt, die in der KPdSU ihre Fortsetzung fand und auch jetzt wieder durchbricht. Es ist dies aber nur die eine Seite, die zudem ohne nähere Auseinandersetzung mit den Bedingungen kritisiert wird, die ursächlich dafür sind. Vollständig wird das Grundproblem Russlands erst sichtbar, wenn die Polarität von Zentrum und Peripherie, von bürokratischer Lenkung und lokaler gemeinwirtschaftlicher (früher vor allem dörflicher) Wirtschaft ins Auge gefasst wird. Marx und Engels charakterisierten diese Grundstruktur des russischen Lebensraumes in Ermangelung einer genaueren Analyse seinerzeit in Anlehnung an ihrer Untersuchungen der indischen Gesellschaft als „asiatische Produktionsweise“. Diese sei dann gegeben, wenn eine gemeineigentümliche dörfliche Grundstruktur durch eine zentralistische Bürokratie verwaltet und beherrscht werde, die von diesen Dörfern lebe. Für die russische Geschichte gilt dies in extremen Maße: Selbstherrschaft plus Dienstadel und Kirche auf der einen Seite, auf der anderen die von dieser Bürokratie verwalteten, über weite Strecken der alten russischen, unter Stalin auch der neueren Geschichte geradezu versklavten Dörfer. Diese Grundstruktur der russischen Gesellschaft hat sich durch alle Modernisierungsschübe ihrer Geschichte hindurch immer wieder auf neuer Ebene durchgesetzt. Die Frage erhebt sich, ob die aktuelle Modernisierung einen Schritt darüber hinaus schafft. Das ist Russlands Grundfrage.

In diesem Zusammenhang scheint mir auch die Sicht Dr. Dr. Umlands, die „jüngeren Machenschaften des KGB-FSB und weniger die ‚russische Tradition’“ seien der „Hauptgrund für die gescheiterte russische Demokratisierung“ wesentlich zu kurz zu greifen. Erstens ist die „Demokratisierung“ Russlands noch keineswegs gescheitert, sondern hat vor dem Hintergrund der skizzierten Geschichte und auf Grundlage der soeben erfolgten Stabilisierung durch Putin noch mehrere Runden vor sich und zweitens ist der FSB nicht die Ursache der Zentralisierung in Russland, sondern eines ihrer Produkte. Die Ursache liegt zweifellos in der „Tradition“, wenn man unter Tradition nicht nur folkloristische Äußerlichkeiten versteht, sondern die geschichtliche Gewordenheit des sozio-kulturellen Gefüges der russischen Gesellschaft zwischen Asien und Europa, zwischen Zentrum und Peripherie, Selbstherrschaft und Dorf, um nur einige der dualen Pole zu nennen, die für Russland charakteristisch sind.

Richtig weist Dr. Dr. Umland dagegen darauf hin, dass bei den Ereignissen um die Auflösung des Volksdeputiertenkongresses (den ich zugegeben allzu umgangssprachlich unter „Duma“ in den Text eingeführt hatte) die Nazi-Truppe der Barkaschowzis ein unrühmliche Rolle gespielt haben, was natürlich die Motive der Abgeordneten von einer sehr undemokratischen Seite her beleuchtet. Da habe ich keinen Widerspruch zu Dr. Dr. Umlands Darstellung der Vorgänge. Das Anwerben der Barkaschowzis durch die damaligen Deputierten ist aber vermutlich kein Argument, mit dem irgendetwas zu beweisen wäre. Es zeigt sich hier vielmehr ein grundlegendes Problem des nicht – oder zumindest recht anders als im Westen – entwickelten gesellschaftlichen Diskurses in Russland: So wie 1993 die Barkaschowzis die Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses gegen die neue Macht unterstützten, so verbündet sich heute der von der Mehrheit der Westmedien als Vertreter d e r  demokratischen Opposition gehandelte ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow mit den Nationalbolschewiken des Schriftstellers Limonow oder auch dem Chef des Verbands sowjetischer Offiziere, Ex-General Alexej Fomin und anderen.

Auch Alexander Dugins Karriere muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Mit seiner klerikal-faschistischen Grundorientierung war Dugin in den ersten Perestrioka-Tagen und auch noch zu Jelzins Zeiten marginalisiert; mit der Krise des Liberalismus, d.h., mit der Verwandlung der Privatisierung in eine Prichwatisierung, der versprochenen Demokratisierung in soziale Verelendung gewann Dugin schon unter Jelzin zunehmenden Boden, nach Putins Antritt fand er Zugang zum Präsidentenapparat. Stimmt. Aus dieser Tatsache lässt sich jedoch keine nationalistische Politik Putins ableiten, eher eine Erkenntnis über die pragmatische Natur der Putinschen Politik, der nach allen Seiten gleichermaßen „think tanks“ zu sich heranzog. Dugin fand seinen Zugang als Berater über den kommunistischen Dumapräsidenten Selesnjow, in ähnlicher Weise arbeiteten Mitglieder der KPRF, Liberale wie auch andere Parteilose die einen formal, die anderen informell am Apparat.

Damit möchte ich meine Ausführungen für dieses Mal schließen, obwohl ich mir bewusst bin, auf viele Fragen noch nicht eingegangen zu sein. Sie müssen für ein anderes Mal offen bleiben. Nur gegen eine der von Dr. Dr. Umland vorgebrachten Spitzen muss ich mich am Ende doch noch verwahren, nämlich die, ich hätte die „Rhetorik“ der Putinschen Rezentralisierung reproduziert, wenn ich z. B. vom „faulen Frieden“ in Tschetschenien spräche.

Stellen wir klar: Dieser Frieden war oberfaul, brüchig und hat dementsprechend nicht lange gehalten. Die Vereinbarungen zum Wiederaufbau wurden weder von der Moskauer Zentrale, noch von tschetschenischer Seite eingehalten. Tschetschenien entwickelte sich nach dem „Friedensschluss“ von 1996 zum politischen und moralischen Niemandsland, in das sich kein Journalist mehr traute aus Angst für Lösegeld gekiddnapped zu werden. Auch der jetzige Friede ist noch nicht viel mehr als das Ende größerer Kampfhandlungen. Dies, wie die ganze grauenhafte Geschichte des ersten und des zweiten tschetschenischen Krieges wie auch der Separationskriege um Berg Karabach, Abchasien, Südossetien und Transnistrien gleich nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 ist ein weiteres Kapitel der jüngeren russischen Geschichte, bei dessen Darstellung man nicht mit Argumenten Pro-Jelzin und Contra-Putin hinkommt. Darin wird mir vermutlich auch Dr. Dr. Umland nicht widersprechen wollen. Insofern kann es bei dieser kleinen Richtigstellung bleiben. Im Übrigen ist die Entwicklung in Tschetschenien ein Thema, das uns leider auch in Zukunft beschäftigen wird, solange im Kaukasus keine Lösungen gefunden werden, die Konkurrenz um den Zugriff auf die kaukasischen und zentralasiatischen Öl- und Gasressourcen zwischen USA, EU und Russland friedlich im Einvernehmen mit den dort lebenden Völkern zu regeln, statt sie für die jeweils eigenen Interessen zu instrumentalisieren.

Veröffentlicht in : Eurasisches Magazin

GAZPROM – Konfrontation oder Kooperation? veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

Über GAZPROM zu sprechen, heisst über gegenläufige Tendenzen der Globalisierung zu sprechen. Gazprom ist weit mehr als sein Name vermuten ließe, der übersetzt Gasindustrie bedeutet. Gasprom ist identisch mit Russlands Energiepolitik, korrekt gesprochen, rund 51% der Gazprom-Aktien sind Staatsbesitz. Der Vorgänger von Alexei Miller, des heutigen Chefs von Gasprom, Rem Wechirew pflegte zu sagen: Was Gasprom nützt, nützt Russland.. Gasprom ist der drittgrößte Konzern auf dem globalen Energiemarkt, Teil des internationalen Finanzgeflechtes mit Tendenzen einer Monopolisierung, was ihm von westlicher Seite den Vorwurf des Energie-Imperialismus einträgt. Allen voran geht dabei der Chefstratege der USA, Sbigniew Brzezinski, der nach der Zerschlagung des Yukos Konzerns und der Inhaftierung dessen ehemaligen Chefs Michail Chodorkowski 2004 das Stichwort ausgab, Wladimir Putin wolle einen russischen „Energiefaschismus“ aufbauen. Gazprom ist jedoch zugleich – nicht zuletzt auch von denselben Kritikern moniert – ein undurchsichtiger Gesamtzusammenhang von Staat, Geld und Gesellschaft, in dem nach wie vor keine „marktwirtschaftlichen“ Prioritäten gesetzt, sondern schlicht die Ressourcen des Landes verkauft, teilweise sogar noch im Tauschverkehr abgegeben werden. Von dem Verkauf lebt das russische Staatsbudget zu mehr als einem Drittel und mancher Betrieb und manche Kommune existiert nur dank geldloser Lieferungen von Gasprom. Was Gasprom schadet, könnte man sagen, schadet also auch Russland. Und in der Tat: Vor der Finanzkrise war Gazprom der Gewinner der exorbitant steigenden Ölpreise, nach der Krise einer der stärksten Verlierer. Der Ölpreis stürzte fast über Nacht von 140 Dollar um mehr als die Hälfte auf 50 Dollar pro Fass, die 49% an der Börse handelbarer Aktien des Konzerns mit ihm. Der russische Staat musste mit Stützungsgeldern in Milliardenhöhe einspringen. „Mit dem Kopf in der Globalisierung und mit den Füßen im Garten“ dürfte daher nach wie vor eine passende Beschreibung für den widersprüchlichen Charakter dieses Riesen sein. Kurz: Gazprom ist ein authentischer Ausdruck Russlands. Aber was resultiert aus dieser Sachlage? Sind die hysterischen Stimmen ernst zunehmen, die davor warnen, dass Gazprom die EU wegen ihrer Abhängigkeit von russischen Energie-Lieferungen in die Zange nehmen könne? Immerhin bezieht die EU heute 44% ihrer Gasimporte aus Russland. Oder muss man umgekehrt fürchten, dass Gazprom sich in Krisenzeiten als unfähig erweisen könnte, seine Lieferverpflichtungen zu erfüllen und damit die Gesellschaften der EU in eine Wirtschaftskrise reißen könnte? Fragen dieser Art werden nach dem Krieg in Georgien im August 2008 wieder heftig und her bewegt , nachdem sich die letzte Welle der Unsicherheit anlässlich der Preisstreitigkeiten zwischen Gasprom und der Ukraine bei der Vertragserneuerung am Jahresende 2005 einigermaßen gelegt hatte. Eine Antwort auf diese Frage muss man in den Tatsachen suchen: Auf Gazprom entfallen 85% der russischen und rund ein Fünftel der weltweiten Erdgasförderung. Für das Pipelinenetz in Russland hält Gazprom das Monopol. Gasprom entstand im Zuge der Auflösung der Sowjetunion aus dem sowjetischen Ministerium für Gas- und Ölförderung und dem dazugehörigen Verteiler- und Zulieferernetz. Der Konzern hat heute – hatte vor dem Finanzkrach – einen Börsenwert von 360 Milliarden Dollar. Genau 50,002 % der Aktien befinden sich in der Hand des Staates, 29,482 gehören anderen Gesellschaften, 13,068 Privatpersonen, 6,5 % der deutschen E.ON Ruhrgas, 0,948“ ausländischen Personen. Gazprom hat mehr als 50 Tochtergesellschaften, darunter viele, die nicht im Gasgeschäft tätig sind, unter anderem Gazprom-Neft (Öl) Gazprom-Bank, Gazpro-Media, dazu die mit der deutschen Wintershall zusammen gebildete Nordstream AG, ganz zu schweigen von dem Geflecht der Regionalniederlassungen, Service- und Zuliefererfirmen in den verschiedensten Sektoren. Obwohl der Staat heute über 50,002% der Gazprom-Aktien hält, noch ergänzt durch andere Teilhaber von Gazprom, in denen der Staat ebenfalls Anteilseigner ist, also faktisch die absolute Mehrheit der Gesellschafterstimmen bei Gazprom innehat, bestimmt nicht der russische Staat, sondern Gazprom die Abnehmer-Preise. Im Juli 2008 sah die russische Regierung sich sogar veranlasst, Gazprom wegen der von ihm im Inland verlangten Monopolpreise auf Benzin zu verwarnen. Zuvor war Alexei Miller bereits von Putin scharf darauf hin gewiesen worden, dass Gazprom sein Pipeline-Monopol anderen Firmen gegenüber nicht ausspielen dürfe. Seit April 2008 läuft eine gerichtliche Klage eines kleineren Betreibers gegen Gazprom vor der russischen Antimonopolbehörde. Grund dürften interne Differenzen zwischen Gasprom und Rosneft um den russischen Ölmarkt sein. Anzumerken ist auch noch: Gazprom macht bis heute keine „Marktpreise“, sondern entscheidet nach sozialen und politischen Kriterien. Zwei Drittel der Lieferungen gehen ins Inland, aber mit ihnen macht Gasprom nur ein Drittel des Umsatzes. Gasproms Auslandspreise sind bis heute politisch gestaffelt: Als Folge der immer noch nicht vollständig gelösten Versorgungslinien der Sowjetzeit zahlen ehemalige Sowjetrepubliken entsprechend ihrer politischen Nähe zur Russischen Föderation in unterschiedlicher Weise. Einen Sonderpreis bekommt Weißrussland; mit 130 Dollar pro 1000m³ liegt auch die Ukraine trotz der Erhöhung um 40% bei Vertragswechsel von 2005 noch unter dem Weltmarktpreis. Sonderkonditionen erhalten Südossetien, Djesterepublik, Serbien, selbst noch Georgien. Tendenziell will Gazprom die Vorzugspreise abbauen, aber hierfür gibt es kein zeitliches Limit. Umgekehrt ist Gazprom seit 2007 dazu übergegangen beim Abschluss neuer Verträge für den Bezug von Gas aus Turkmenistan und Kasachstan günstigere Bedingungen anzubieten als die westlichen Abnehmer, in der Absicht die Quellen dieser Länder für den eigenen Pipelineverbund zurückzugewinnen, nachdem die alten Verbindungen seit 1990 unterbrochen waren. Im Juni 2008 erschreckte der Vorstandsvorsitzende Alexei Miller die westliche Welt mit der Ankündigung, angesichts des steigenden weltweiten Gasbedarfs sei offensichtlich, dass die Bedeutung Gazproms in der Zukunft nur wachsen könne. In den kommenden Jahren werde Gazprom „nicht nur eine der großen Gesellschaften der Welt sein, sondern die einflussreichste auf dem Energiesektor.“ Gazprom plane zudem das Netzwerk der Gas exportierenden Länder zu einer ständigen Organisation auszubauen, zu einer Art Gas OPEC. Im Unterschied zur bestehenden OPEC jedoch seien die prinzipiellen Ziele dieses Gas-Forums „nicht allein die Verteilung laufender Produktionsquoten, sondern langfristige Aktivitäten und Investitionspläne in der Gasindustrie.“ Über den bloßen Export hinaus wolle Gazprom ein weltweites Verteilernetz direkt bis zum Endverbraucher hin ausbauen: „Wir schlagen unseren europäischen Partnern ein Projekt über die Schaffung eines dichten Netzes mit Gas-Tankstellen unter Beteiligung von Gazprom vor,“ so Miller. Für die nächsten zehn Jahre, in denen der Ölpreis voraussichtlich auf 250 Dollar steigen werde, sei keine bessere Alternative in Sicht. Alle aktuell von Gazprom betrieben Projekte, so Miller, wie die Ostseepipeline, die „South Stream“, die „Precaspian Gas pipeline“, die „Stockmannfelder“ entwickelten sich sehr schnell. Mit Indien und China stehe man in Verhandlungen. Mit Nigeria stehe man kurz vor einem Abschluss. Darüber hinaus habe Gazprom Projekte in Nord Amerika, ebenso wie in Asien und Süd Amerika. „Nord Amerika“, hob Miller besonders hervor, “sehen wir als Region unseres strategischen Interesses“.

Blick zurück
Hier könnte die Darstellung zur Skizze des aktuellen Energiepokers übergehen, denn die Reaktionen auf diese Ankündigungen kamen prompt und sie fielen sehr schrill aus. Es wird aber gut sein, zuvor noch einen kurzen Blick in die Geschichte von Gazprom zu werfen, um besser zu verstehen, an welchem Punkt seiner Entwicklung der Konzern heute steht: Gazproms Vorgeschichte, so könnte man sagen, beginnt mit der Erschließung der kaukasischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts. Das geschah wesentlich durch westliches Kapital, erst britisches, nach der Revolution 1917 amerikanisches. Erst ab 1923 begann die Sowjetunion selbst den Weltmarkt zu beliefern. Zu dem Zeitpunkt wurden 75% der in der SU benötigten Energien im kaspischen Raum gewonnen. Hitlers Angriffe auf Baku zwangen die Sowjetunion zur schnellen Erschließung und Ausbeutung neuer Felder in Sibirien. Die Bedeutung des kaspischen Raums ging zurück. Zudem gewann die Gasförderung gegenüber der des Öls seit den 70er an Bedeutung. „Wurden Anfang 1950 noch knapp 40% des Rohölbedarfs der Sowjetunion aus der Region Baku gedeckt, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1980 auf nur etwas über 2%“ Die Förderungen konzentrierten sich auf die neuen sibirischen Vorkommen. Die alten Anlagen verfielen, die neuen wurden überstrapaziert. Ende der 80er bestand für die gesamte Gas- und Ölindustrie dringender Modernisierungsbedarf. Die Umwandlung des Branchenministeriums der Gas-Versorgung in einen Staatskonzern 1989, dessen Privatisierung als Aktiengesellschaft 1992 ließ eine autonome Organisation mit quasi hoheitlichen Funktionen entstehen. Die Modernisierung jedoch blieb stecken. Die Bevölkerung erlebte Gazprom als Selbstbedienungsladen ehemaliger Funktionäre und deren Klientel. Die Ölbranche ging eigene Wege; sie entwickelte sich zum Eldorado privater Oligarchen. André Kolganow, Dr. der Ökonomie an der Moskauer Staatsuniversität, führendes Mitglied der Neulinken Gruppe „Alternative“ charakterisierte den Konzern Mitte der 90er Jahre als „zur Zeit ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. (…) Seit der Privatisierung verfügt Gazprom über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von Gazprom unterstellt. Gazprom führt also Aufsicht über sich selbst. Gazprom ist eine merkwürdige Organisation: Nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. Gazprom ist überhaupt eine mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“ Interessant seien die „eigenen sozialen Strukturen“, die Gazprom befähigten sich „eigen eigenen sozialen Kompromiss mit seinen Arbeitern zu leisten“ Kolganow meinte damit die Gründung einer eigenen, Gazprom zugehörenden „gelben“ Gewerkschaft. Ein leitender Mitarbeiter von Gasprom brachte die Verhältnisse in einem nicht-öffentlichen Untersuchungsgespräch auf den Nenner: „Was die transnationalen Aktivitäten anbetrifft, so handelt Gazprom wie eine normale europäische, westliche Kooperation. Was Gazproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der extrapolaren Wirtschaft, aber über sie ist Gazprom doch gezwungen , sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“ „Extrapolare Wirtschaft“ ist ein Stichwort des russischen Ökonomen Prof. Theodor Schanin mit dem er und die von ihm gegründeten „Moskauer Schule für Politik und Soziales“, die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Realität Russlands definieren, die nicht als sozialistische, aber auch nicht als kapitalistische, sondern als zwischen diesen Modellen befindliche „extrapolare“ beschrieben werden müsse. Gemeint ist das Ineinandergreifen von Geld- und Tauschwirtschaft in einer Symbiose von Industrieproduktion und Strukturen der ergänzenden familiären und kollektiven Selbstversorgung. Für westliche Augen war diese Struktur einfach ein Rätsel: „Die Firma übernahm das sozialistische Erbe der Verantwortung für Kindergärten, Schulen, Wohnungen in den Gaszentren des Nordens; wo das ‚blaue Gold’ bei minus 30 Grad aus dem Eisboden geholt wird“, schrieb beispielsweise die „Zeit“. „Betriebsspartakiaden für die Belegschaft und Yachtclubs für das Management rundeten den Kleinkommunismus ab. Gasprom schluckte Milchfabriken, Banken, Metallhütten, Chemiebetriebe und Zeitungsredaktionen. Doch der Niedergang hatte begonnen. Die Gesamtproduktion von Gasprom sank von 602 Milliarden Kubikmetern 1992 auf 520 im Jahr 2001, während die Förderung im privaten Ölsektor steil anstieg. (…) Der Gasinlandsmarkt ist ein Plansystem der Quoten und der staatlich festgeschrieben Niedrigpreise, sodass Gasprom gezwungenermaßen ganze Industriezweige subventioniert. Eine Aufteilung des Konzerns in die Sparten Förderung und Transport und Verkauf würde verdeutlichen, wo Werte geschaffen oder vernichtet werden. Doch die Intransparenz ist vielen nützlicher.“ Fazit der „Zeit“: „So blieb Gasprom der größte russische Betrieb, der nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegt.“ „Was Gazprom genau ist,“ wunderte sich auch das deutsche „Managermagazin“, „lässt sich kaum in einen einzigen Begriff pressen (…) Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an? In der Region verwischen sich die Konturen. Was Bayer für Leverkusen oder VW für Wolfsburg, diese Rolle des sozialen Korrektivs nimmt die Firma für ganz Russland ein. In Westsibiriens Kreisstadt Badym lebt nahezu die komplette Kommune vom Geld des Megakonzerns.(…) Überall schimmert er durch, der eingebrannte Stolz auf die Autarkie“ Gazprom wurde das Feld, auf dem sich die Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs Russlands in den 90er Jahren konzentrierten. Der bekannteste Rechte Russlands, Alexander Prochanow charakterisierte diese Auseinandersetzung mit den Worten: „Gazprom ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist eindeutig nützlich für den Staat. In ihr gewinnt man riesige Gelder. Gazprom bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat Gazprom die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. Gazprom hat aber zugleich die Verbindung zum Business. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist übel. Außerdem arbeitet Gazprom leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen beiseite. Aber über Gazprom verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. Gazprom reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt sich auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf Gazprom zur Zeit die Angriffe: Allzu schmackhaft sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski . Deshalb ist der Kampf um Gazprom wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistische Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen“

Ein Korridor gegen Russland
Parallel zur inneren und äußeren Auflösung der Sowjetunion gingen die westlichen Industriemächte daran, allen voran die USA und in ihrem Gefolge die EU, seit Anfang der 90er einen sog. Ost-West-Transportkorridor, romantischer auch „Projekt-Seidenstraße“ genannt, an Russlands „Bauch“ entlang zu führen, durch den zentralasiatisches und kaspisches Öl und Gas unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols nach Westen geschafft werden könne. Milliardenschwere Programme wurden dafür aufgelegt, Technische Entwicklungshilfe für die GUS (TACIS), das gigantische eurasische Pipelineprogramm (INNOGATE) und das Programm zu Modernisierung von Trassen-, Schienen und Hafenanlagen (TRACECA) – alles mit dem Ziel, den kaukasischen und zentralasiatischen Raum durch den Ausbau von Ost-West-Verbindungen von der bisherigen Zentrierung auf Moskau zu lösen. Von einer Beratung und Mitwirkung bei diesen Programmen war und ist Moskau expressis verbis ausgeschlossen. Den strategischen Hintergrund für die Programme konnte man in Bzrezinski´s Buch „Die einzige Weltmacht“ nachlesen. Eurasien sei der „geopolitischer Hauptgewinn“ der USA schrieb er. Russland müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen: von Seiten der NATO und EU-Erweiterungen im Westen, durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan im Osten, durch Eingriffe im „Eurasischen Balkan“ am „Bauch“ Russlands im Süden des eurasischen Kontinentes – Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem südlichen Raum gehe es für die USA darum, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern. Mit TACIS, INOGATE und TRACECA folgte die EU dieser Vorgabe. Ergebnis dieser Programme war als Erstes der „Jahrhundertvertrag“ von 1993, der die Ausbeutungsrechte globaler Multis, außer Gazprom, versteht sich, am azerbeidschanischem Öl für 30 Jahre regelte. In den Verhandlungen um die zukünftigen Transportwege setzten sich die USA mit ihren Vorstellungen durch, den neuen Transportkorridor sowohl an Russland als auch am Iran vorbei über Georgien und die Türkei zum türkischen Mittelmeerhaven Ceyhan zu bauen. Die zentralasiatischen Felder sollten durch Zuleitungen am Boden des kaspischen Meeres mit einbezogen werden. 2005 konnte die Pipeline, noch ohne diese Zuleitungen, in Betrieb gehen; nach den Anfangsnamen der Städte Baku, Tiblisi, Ceyhan heißt sie heute BTC-Pipeline. Zweites wesentliches Ergebnis war der seit 2006 auf Vorschlag der USA verfolgte Plan der EU eine Gas-Pipeline, genannt Nabucco-Pipeline vom Osten der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis ins österreichische Baumgarten an der March führen. Von dort soll das Gas über das Verteilernetz des österreichischen Energiekonzerns OMV in die EU weitergeleitet werden. Baubeginn ist für 2009 geplant, Betriebsbeginn für 2013. In Verbindung mit den EU- sowie NATO-Osterweiterungen, sowie der am 23. Mai 2006 beschlossenen Deklaration der Rest-GUAM (Georgien Ukraine Azerbeidschan, Moldawien und) eine „Brücke zur NATO und zur EU“ unterhalten zu wollen, konnten USA und EU sich als vorläufige Sieger in der Auseinandersetzung um den Zugriff auf die zentralasiatischen und kaspischen Energievorkommen betrachten, auch wenn der ökonomische Nutzen der BTC-Pipeline ohne die zentralasiatischen Zuleitungen noch zu wünschen übrig ließ.

Straffung durch PUTIN
Mit der Krise 98, noch unter Jelzin setzte die Gegenbewegung Russlands ein. Im Ergebnis der Krise löste Russland sich, nicht unbedingt freiwillig, aber effektiv, vom Tropf der IWF-Kredite. Unter der Vorgabe, die eigenen Kräfte zu stärken, machte Putin sich dann daran, die in den 90er gewachsene Macht der privaten Privatisierungsgewinnler zugunsten eines wieder erstarkenden russischen Staates zurückzudrängen. Das traf 2001 zuallererst die Führung von Gazprom. An die Spitze von Gazprom traten jetzt Alexei Miller als Vorstandsvorsitzender und Dimitri Medwedjew, der jetzige Präsident Russlands, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wjechirew und sein Klientel mussten gehen. Von ihnen gehaltene Anteile gingen an den Staat über. Der private Charakter des Konzerns als AG sowie seine halbmarktwirtschaftliche Grundstruktur jedoch blieben erhalten. Mit dem so erneuerten Instrument Gazprom ging Putin gegen den Medien-Oligarchen Gussinski und die graue Eminenz der Jelzin-Zeit Beresowski vor, die beide das Land verließen. Wendepunkt im Kampf um den Zugriff auf die Ressourcen wurde der Prozess gegen Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Als die Prozesse gegen Chodorkowski begannen, hatte Yukos seinen Firmensitz in New York und Chodorkowski war drauf und dran große Anteile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco US-Kapital zu verkaufen. Die Auseinandersetzung endete mit der Eingliederung des Öl-Konzerns Sibneft in den Gazpromverband. Damit war die (Wieder)Zusammenführung von Gas- und Öl-Industrie eingeleitet. Nach der inneren Neuordnung der Energiewirtschaft gingen Putin und sein „Kommando“ planmäßig daran, verlorenes Terrain auf dem Energiemarkt zurückzugewinnen:

  • 2005 schließen Gazprom mit Wintershall einen Vertrag zum Bau der Ostsee-Pipelene (North-Stream), die russisches Gas unter Umgehung der Transitländer Osteuropas direkt ins Herz der EU liefern soll. Sie soll ihren Betrieb spätestens 2013 aufnehmen.
  • Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) am 15. Juni 2006 schlägt Putin die Gründung „eines SCO Energieclubs“ vor. Er weist darauf hin, dass die SCO-Mitglieder 20 Prozent der Weltölreserven und 50 Prozent der Weltgasreserven kontrollieren. Bei einem Besuch Putins in Algerien, erlässt er dem Land die Schulden und stellt umfangreiche Waffenlieferungen in Aussicht. Danach beginnen Gazprom und der algerische Energiemulti Sonatrac mit „geologischen Ekundungen“.
  • Beim Petersburger Treffen der G 8 2006 bietet Russland sich als Kontrolleur des Welt-Energiemarktes an. In den Börsennachrichten vom 24.4. 2007 wird gemeldet, Russland wolle Milliarden aus seinen gewaltigen Öl- und Gaseinnahmen in internationale Konzerne investieren. Man werde Anteile in diversen Branchen zeichnen, unter anderem im Öl- und Gasgeschäft. Auch Investitionen im Immobiliensektor seien möglich.
  • Am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline (South-Stream) zusammen : Sie soll vom russischen Schwarzmeerhaven Dschubga (Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen .

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vertrag mit Serbien im Januar 2008 , mit Ungarn im Februar , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an Nabucco als auch an North-Stream beteiligen. Ein Joint Venture von Nabucco und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Tansmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“ Im Juli offeriert Gazprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. Gazproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom such auch nach Osten : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein.. Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“

„Energie als politische Waffe“
Die Erfolge Gazproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Bereits im November 2006 hatte US-Senator Ludger auf dem NATO-Gipfel in Riga erklärt, die geplante OPEC sei eine „explizite Bedrohung“, die unter den Artikel 5, Beistandsverpflichtung des NATO-Bündnisvertrages falle und die „Erpressung durch Einstellung der Energieversorgung“ komme einer „militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration“ gleich. Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“, und ähnliche Aussagen konnte man wenige Wochen später in den deutschen Mainstream-Medien lesen und hören. Auch die Gas-OPEC geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“_Gesetz. „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gazproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Azerbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für gerantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblisi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der Nabucco Pipeline gedient“ werde. Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache darin liege die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Linie bombardieren wollen. Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, er klärte er in der „Welt“, habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“

Gebremste westliche Alternativen
Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und bedauernd konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde. Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen Nabucco und Süd-Strom liege in der Frage der Eigentümer: Nabucco werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, der ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“ Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn Turkmenisches und Kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ vom südrussischen Schwarzmeerhafen Noworissisk durchs Schwarze Meer nach Samsung zu verlegen. Kapazitätsverluste für Nabucco wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novororossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossteien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen. Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmensiches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.

Gebremste Alternativen
Wie sehr der Aufruf Brzezinskis Russland zu isolieren von Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen, die nach dem Ende der Kämpfe in Georgien – höchst widerwillig – bekannt gab, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom’“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“ Verhängisvoll? – ja, wenn BTC- und Nabucco-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wäre die Antwort dagegen, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von Nabucco, „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, wenn es auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll Die tatsächlich stattfindenden Vorbereitungen für den Bau von North Stream und South Stream zeigen ebenfalls in diese Richtung. Okonomische und politische Vernunft spricht für solche Lösungen – solange noch keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind. Muß die Welt eine solche Entwicklung fürchten? Auf diese Frage gab Vizevorstandschef von Gazprom Alexander Medwjedew, Mitglied des Aufsichtsrates von Gazprom der Presse im Sommer 2007 eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom’ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risikos enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird. Dem ist nur noch die Frage hinzuzufügen, ob EU und USA an einem solchen Partner interessiert sind. Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de Kai Ehlers

veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

 

EU – Russland: Schluss mit Ping-Pong?

EU-Ratspräsident Sarkozy schlug auf dem EU-Russland-Gipfel in Nizza vor, demnächst Gespräche über einen Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag mit Russland zu führen, statt sich weiter über Raketenstationierungen zu zerstreiten. Damit griff er, wie die FAZ korrekt berichtet, eine Idee des russischen Präsidenten Medwedew auf, der im Juni des Jahres angeregt hatte, einen neuen Vertrag über kollektive Sicherheit in Europa zu entwickeln. Sarkozy möchte diesen Plan nunmehr im Juni oder Juli 2009 beim nächsten Gipfeltreffen der OSZE beraten. Allerdings, schränkte Sarkozy ein, müssten auch die Amerikaner mit einbezogen werden. Das könne auf dem nächsten NATO-Gipfel im April 2009 geschehen.
Widerspruch zu diesem Vorschlag wurde nicht laut; die – bis auf die Stimme Litauens – geschlossene Zustimmung der EU-Mitglieder, ab sofort Sanktionsabsichten gegen Russland fallen zu lassen und in die Diskussion um die Entwicklung eines neuen Grundlagenvertrages zwischen EU und Russland einzusteigen, signalisiert eher allgemeine Bereitschaft auch diesen Plan gutzuheißen. Medwedew erklärte, er sei unter solchen Umständen in der Raketenfrage bereit zu einer „Null-Lösung“. Wäre nun in der Tat also nur noch Obama zu fragen?
Schön wär´s – zumindest als Ausgangspunkt. Außerhalb der Nizza-Diplomatie hört man jedoch Signale, die das schöne Bild stören: Die EU-Energiekommission legte soeben ein Strategiepapier vor, in dem sie die zukünftige Richtung der EU-Energiepolitik skizziert: Georgien sei als Transportkorridor nach dem Vier-Tage-Krieg keineswegs abzuschreiben, vielmehr müsse der Ausbau der Nabucco-Pipeline nun mit Volldampf vorangebracht werden; EU-Energiekommissar Andris Piebalgs reiste in dieser Angelegenheit in der letzten Woche nach Aserbeidschan und durch die Türkei. Aktive Diplomatie soll auch die Versorgung mit Gas aus Ägypten, Libyen, Algerien so in Gang bringen, dass Lieferungen von dort spätestens 2020 mit denen aus Russland gleichziehen können.
Der georgische Präsident Saakaschwili assistierte solchen Bemühungen im Funksender France Inter mit Bemerkungen wie: Seit Russland wieder begonnen habe „andere Länder zu erobern“, könne „das nicht einfach so wieder eingestellt werden, das wird fortgesetzt.“ Ein anderes Problem seien die Energielieferungen für Europa: „Sollte Aserbaidschan dem starken Druck Russlands nachgeben und einer Stationierung von 16 000 Soldaten zustimmen, wird man dem Alternativ-Korridor für die Öllieferungen ‚Adieu‘ sagen müssen. Von diesem Zeitpunkt an wird Russland 60 Prozent mehr Energie, Öl und Gas kontrollieren als heute.“
Mit wenigen Änderungen wiederholte er diese Argumentation am Donnerstagabend, nach seinem Treffen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, im Fernsehsender Canal Plus und wenig später im Satellitensender France 24. Dabei verglich Saakaschwili die heutige Politik Russlands mit der Politik Hitlers und Stalins in der Tschechoslowakei, Polen und Finnland.
Die deutsche Kanzlerin Merkel empfing parallel zum Nizza-Gipfel den turkmenischen Staatspräsidenten Berdymuchammedow zu einem Staatsbesuch in Berlin. Neben Menschenrechten, wie immer bei solchen Treffen, ging es vor allem um turkmenisches Gas und Öl. Dazu ist daran zu erinnern, dass Turkmenistan erst vor wenigen Wochen einen langfristigen Liefervertrag mit Gasprom abgeschlossen hat. Das Gas soll nach Fertigstellung in die „South Stream“ eingespeist werden, die Gasprom zusammen mit italienischen, bulgarischen, griechischen, serbischen ungarischen und österreichischen Betreibern gegenwärtig in Konkurrenz zur Nabucco-Planung der EU selbst betreibt. Salopp gesagt: Der Kampf ist nicht vorbei. Er beginnt erst.
Als Russlands Ministerpräsident Putin ebenfalls dieser Tage erklärte, wenn die EU die Nordsee-Pipeline nicht haben wolle, „dann werden wir sie eben nicht bauen“, wurde dies in der westlichen Presse sogleich zur „Drohung“. Dem steht eine andere Meldung direkt entgegen, die besagt, das Gasprom und BASF einen langfristigen Vertrag zur gemeinsamen Erschließung neuer sibirischer Gasfelder abgeschlossen haben.
Hinter all diesen und weiteren ähnlichen Meldungen, die nur findet, wer die Medien aufmerksam studieren kann, wird eine weitere Zuspitzung der internationalen Konflikte auf die Frage der globalen „Energiesicherheit“ sichtbar. Zwei strategische Konzepte stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite die von den USA forcierte Entwicklung der NATO zur Energie-NATO, erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 von US-Senator Luger öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend mit einer aktiven Isolierung Russlands.
Dem steht die Variante einer Energie-KSZE gegenüber, die vom deutschen Außenminister Steinmeier auf der Müncher NATO-Tagung 2007 ins Gespräch gebracht wurde. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferant und Rohstoffverbraucher, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Wofür wird die EU sich entscheiden? Zurzeit werden in der EU beide Strategien gleichzeitig verfolgt. So forderte der Generalsekretär der NATO soeben wieder die schnelle Einbeziehung der Ukraine in die NATO. Frau Merkel hält die Einbeziehung Georgiens und der Ukraine zwar für tendenziell richtig, erklärt sie aber nach wie für verfrüht. Es sieht alles so aus, als ob man in der EU auf ein Machtwort Obamas warte.
Vermutlich gibt es aber kein Entweder-Oder, sondern nur die weit größere Variante: Energiesicherheit nicht „atlantisch“ oder „eurasisch“ zu lösen, sondern, ganz abgesehen von der Notwendigkeit der Entwicklung alternativer Energien, als wahrhaft globales kooperatives Verteilungssystem.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Medwedjew kündigt ÖL-Rubel an

Eine bemerkenswerte Blindheit hat sich dieser Tage über die medialen Wahrnehmungsorgane des Westens gelegt: Die Rede des russischen Präsidenten Medwedjew an seine Nation – einen Tag nach der Wahl Barak Obamas zum neuen US-Präsidenten – wird in einer Weise zitiert, die nur Erstaunen hervorrufen kann: Von einer Aufstellung russischer „Atomraketen“ an der polnischen Grenze ist die Rede, von Provokation, von Kriegsdrohung. Auch der Vorschlag Medwedjews, die Amtszeit des russischen Präsidenten von vier auf sechs Jahre zu verlängern, ruft helle Empörung der westlichen Kommentatoren hervor und animiert Kremlastrologen aller Couleur zu Spekulationen, Medwedjew sei nur ein Strohmann, der Putins Wiederkehr vorbereiten solle.

Ankündigungen des russischen Präsidenten, die Mandate der Duma-Abgeordneten von vier auf fünf Jahre verlängern, die Staatsbürokratie dezentralisieren zu wollen, indem zukünftig die Gouverneure von Parteien vorgeschlagen, ein Rotationsverfahren für Parteivorsitzende eingeführt, die 7%-Klausel für die Wahl zum Parlament gelockert, NGOs in die gesetzgebenden Verfahren einbezogen werden, tauchen in dieser Berichterstattung nur noch am Rande auf.

Völlig übersehen werden Mewedjews Ankündigungen einer neuen Geldpolitik. Dankenswerterweise war das Fehlende in der Internetzeitung russland.ru nachzulesen. Hat der Präsident doch wörtlich gesagt, es müssten „nun praktische Schritte zur Verstärkung der Rolle des Rubels als einer der Währungen bei internationalen Verrechnungen unternommen und endlich mit dem Übergang zur Rubelverrechnung begonnen werden.“ Dies gelte insbesondere für den Export von Erdöl und Erdgas durch Gasprom. Und mit Blick auf die Spekulationskrise fügte er hinzu, die Unterbringung von neuen Emissionswertpapieren müsse “gerade in Rubeln und wünschenswerter Weise auf dem russischen Markt“ stimuliert werden. Das Endziel all dieser Prozesse sei, „den Rubel zu einer regionalen Währung zu machen.“ Auch andere sich entwickelnde Länder könnten in dieser Weise aktiv werden. Je mehr starke Finanzzentren in der Welt es gebe, desto sicherer werde die globale Finanzentwicklung sein.

Auch Medwedjews Position zum Krieg im Kaukasus sucht man vergebens in der Berichterstattung unserer Medien: „Wir werden im Kaukasus nicht zurückweichen“, hatte Medwedjew erklärt und – wieder mit Blick auf die weltweite Spekulationskrise – ergänzt, Russland, das „in der Zeit des Wachstums deutliche Vorteile“ gehabt habe, sei „bereit gemeinsam die jetzigen Schwierigkeiten anzugehen.“ Aber es sei auch notwendig „Mechanismen zu schaffen, die die fehlerhaften, egoistischen und mitunter auch einfach gefährlichen Entscheidungen einiger Mitglieder der Weltgemeinschaft blockierten.“

Auf einen Rüstungswettlauf werde Russland sich zwar nicht einlassen, schränkte Medwedjew ein. Die „Installation eines Raketenabwehrsystems in unmittelbarer Nähe zum russischen Territorium“ müsse Russland jedoch als „direkte Bedrohung verstehen und dies bei der Gestaltung unserer Verteidigung berücksichtigen.“

Wer diese Rede nur für „powerplay“ oder Propaganda hält oder aus ihr nur eine blinde Reaktion Russlands auf das Raketen-Programm der USA in Polen und Tschechien heraushört, die aus Reflexen unverbesserlicher kalter Krieger resultiere, dem sei in Erinnerung gerufen, dass Russland unter dem Stichwort der Multipolarität spätestens seit Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung Anfang 2007 in München beständig die Reform der europäischen wie auch der globalen Sicherheits- und Bündnissysteme anmahnt – allerdings nicht in der Bedeutung, wie man es seit der Spekulationskrise und nach der Wahl Obamas neuerdings auch von westlichen Politikern und Medien hört. Sie verstehen unter Multipolarität die Erneuerung der Führungsmacht der USA, die mit „stärkeren Anforderungen“ an ihre Bündnispartner einhergeht.

Das russische Verständnis der Multipolarität beinhaltet demgegenüber eine gleichberechtigte Kooperation der in der Welt herangewachsenen neuen Mächte; das sind im Kern zumindest die BRIC-Staaten, Brasilien, Russland, Indien, China, zudem die EU und die USA, im Weiteren auch die Staaten des arabisch-iranischen, tendenziell, versteht sich, auch des afrikanischen und Ozeanischen Raums. Im selben Sinne tritt Russland für eine Aktivierung der OSZE/KSZE, für eine Reform der UN, der WTO, des IWF und für eine Öffnung der G7 zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Beratungsgremium ein.

Die Abrüstung der NATO von einem globalen westlichen militärischen Interventionsbündnis zu einer regionalen Sicherheitsorganisation spielt in Russlands Anmahnungen einer neuen internationalen Ordnung angesichts der aggressiven NATO-Expansion rund um Russlands Grenzen eine besondere Rolle, versteht sich. Mit seinem jüngsten Eingreifen im Kaukasus, einschließlich der anschließenden Anerkennung der beiden de-facto-Staaten Abchasien und Süd-Ossetien hat Russland deutlich gemacht, dass es nicht gewillt ist, eine weitere Expansion der NATO hinzunehmen.
Hinter den von Medwedjew vorgetragenen Vorschlägen und Forderungen steht keineswegs nur Luft, wie die Mehrheit der westlichen Beobachter nach wie vor zu glauben scheint. Immer lauter werden in den letzten Jahren, beschleunigt durch die schrittweise Einführung des Euro seit 1999, die Absichten der Öl und Gas exportierenden Staaten, die seit 1972/3 bestehende Koppelung der Öl- und Gaspreise an den Dollar zu lösen und stattdessen in Euro, Yen oder – seit ein paar Jahren geplant und nun offen ausgesprochen – auch in Rubel zu kassieren.

Bisher konnten die USA, deren Dollar-Stabilität und damit weltweite Vormachtstellung mit der Bindung des Ölpreises an den Dollar steht und fällt, eine solche Entwicklung verhindern. Das Schicksal Saddam Husseins, der als erster Öl gegen Euro verkaufen wollte, ist bekannt. Nach ihm plante der Iran eine internationale Ölbörse, die sich vom Dollar unabhängig machen sollte. Solche Pläne dürften die Spannungen zwischen Iran und USA wesentlich mit verursachen.

Mit der Entwicklung Gasproms zum führenden Unternehmen eines eurasischen Gas- und Ölverbundes in den letzten Jahren haben diese Bestrebungen zur Löslösung des Gas- und Öl-Geschäfts vom Petro-Dollar einen neuen, aktuellen Schub bekommen: Hinter Medwedjews Überlegungen zur Umstellung der Öl- und Gas-Verkäufe auf Rubel steht nämlich die bisher weitgehend unbemerkt gebliebene Tatsache, dass die seit 1991 betriebene „atlantische“ Ost-Expansion von US- und EU-Konzernen mit der von Gasprom betriebenen Entwicklung der Ost-See-Pipeline im Norden und einer spiegelbildlichen „South-Pipeline“ im Süden ihre vorläufige Grenze gefunden hat. Beide Gasprom-Projekte werden Europa, in Konkurrenz zu US- und EU-Plänen, mit russischem, bzw. über Russland geleitetem zentralasiatischen Gas versorgen.

Mit der Einbindung von EU-Staaten – Bulgarien, Serbien, Ungarn, Slowakei, Österreich – in Planung und konkrete Vorbereitung dieser Pipelines hat Gasprom die seit 1990/91 verfolgte Strategie der USA und ihr folgend der EU durchkreuzt, durch den Ausbau eines Ost-West-Transportkorridors kaukasisches und zentralasiatisches Gas und Öl unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols an Russland vorbei in den Welthandel einzuleiten. Zwar ist die BTC-Pipeline, benannt nach den Städten Baku, Tiblissi und Ceyhan an der türkischen Küste seit 2005 in Betrieb; durch sie wird Öl aus Azerbeidschan über Georgien an die Türkische Küste gepumpt. In Planung ist zudem die von der EU auf Betreiben der USA projektierte Nabucco-Pipeline, die Gas aus Zentralasien durch das Kaspische Meer ebenfalls über Georgien und die Türkei nach Bulgarien und von dort über Ungarn nach Österreich schaffen soll. Von dort aus soll das Gas dann über Europa verteilt werden. Mit „North-Stream“ und „South-Stream“ wird Gas jedoch nicht mehr allein über die Nabucco-Pipeline in den Handel gelangen, sondern auch über das russische Pipelinenetz. In den Ländern der EU werden die Anlagen streckenweise direkt parallel neben einander verlaufen.

Sowohl „North-Stream“ als auch „South-Stream“ sind trotz intensivsten Einsatzes der USA für die Entwicklung eines einheitlichen EU-Energiesicherheitskonzeptes durch Sonderverträge zwischen Gasprom und einzelnen EU-Staaten zustande gekommen. Mit Turkmenistan hat Russland 2008 langfristige Verträge abgeschlossen, die vorsehen, dass turkmenisches Gas (wieder) durch russische Leitungen und später, wenn sie fertig gestellt ist, in „South-Stream“ eingespeist werden soll. Die Verhandlungen dazu begannen vor dem Krieg um Süd-Ossetien; gleich danach wurden sie endgültig abgeschlossen. Die Verwirklichung der Nabucco-Pipeline, die über das Stadium der Planung noch nicht hinausgekommen ist, steht damit in den Sternen, denn ohne turkmenisches Gas ist sie nicht wirtschaftlich zu betreiben.. Aber auch der Betrieb der BTC ist gefährdet, seit Azerbeidschan bestrebt ist, sich vom Diktat des 1991 abgeschlossenen „Jahrhundertvertrages“, der westlichen Multis die alleinige Ausbeutung der Vorkommen garantierte, durch „Diversifizierzung“ seiner Lieferungen an unterschiedliche Abnehmer zu emanzipieren.

Kurz, seit die russische Regierung in den ersten Amtsjahren Putins Gasprom von einem Selbstbedienungsladen zu einem effektiv arbeitenden international agierenden Konzern reformierte, noch einmal verstärkt, nachdem sie 2004 das Yukos-Imperiums aufgelöst und die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder an sich gezogen hat, ist ein Patt zwischen USA/EU und Russland im Zugriff auf die fossilen Energien jenes Raumes entstanden, den US-Stratege Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion unter der Bezeichnung „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“ als neuen Einflussbereich der USA reklamiert hatte.

Bei klarem Verstand ließe diese Sachlage eigentlich nur eine Lösung zu, wenn es nicht zu weiteren militärischen Konfrontationen im Kaukasus kommen soll: die Förderung und die Verteilung der Gas- und Öl-Ressourcen dieses Raumes kooperativ statt nebeneinander oder gar gegeneinander zu betreiben, gestützt auf einen Rat der kaukasischen und zentralasiatischen Anrainer. Medwedjew hat eine klare Ansage gemacht, wie Russland sich die Zukunft des Ölgeschäfts vorstellt: als Kooperation gleichwertiger Partner. Jetzt sind die USA und die EU am Zug, ihr Teil dafür zu tun, die nach der Wahl Obamas viel beschworene „neue Ära“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Georgien – Aus der Nähe betrachtet

Georgische Geschichte ist untrennbar mit der russischen verbunden. Russen und Georgier haben nicht nur jüngst aufeinander geschossen, sie streiten auch darum, wer wem im Laufe der Geschichte mehr zu verdanken hat und wer wen jetzt verraten habe. Russen streiten sogar mit Russen und Geogier mit Georgiern um diese Frage.  Gute oder auch schlechte Gründe gibt es auf beiden Seiten: Die einen weisen darauf hin, dass Russland Georgien vor dem Untergang als Nation bewahrt und zur kulturellen Blüte gebracht habe.  Die anderen erklären, der Zarismus, danach die Sowjetunion hätten Georgien zum Vasallen erniedrigt und unterdrückt; Russlands Vorgehen im Krieg um Südossetien sei nichts anderes als der Versuch, diese mit der Auflösung der Sowjetunion beendete Situation wiederherzustellen.
Wer diese Auseinandersetzung verstehen will, muss weit in die Geschichte des Kaukasus zurückgreifen: Der Kaukasus ist von Alters her Durchgangsraum der Völker zwischen Asien und Europa, ebenso zwischen der eurasischen und der afrikanischen Landmasse. Teils friedlich, teils im Krieg vermischten die Völker sich miteinander. Am „Berg der Sprachen“ werden im Kaukasus heute, je nach Zählweise nicht weniger als 40 – 60 Sprachen gesprochen, manchmal in einem Dorf mehrere nebeneinander. Zugleich ist der Kaukasus auch das „wilde Land“. Von 76 Territorial- und Nationalitätenkonflikten, die der Auflösung der Sowjetunion 1990 folgten, betrafen mehr als zwei Drittel den Kaukasus. Im Zentrum dieser Konflikte steht heute Georgien.
Unter den staatenbildenden Völkern des Kaukasus blickt Georgien, heute ein Gebiet von der Größe Schleswig-Holsteins mit einer Bevölkerung von ca. 4,5 Millionen Menschen, auf die längste Geschichte zurück. In vorchristlicher Zeit, so die georgische Geschichtsschreibung , bildete der Kaukasus einen einheitlichen Kulturraum. Im sechsten Jahrhundert entwickelten sich darin zwei georgische Königreiche als herrschende Mächte, Kolchis und Iberia. Mit Schmiedehandwerk, besonders einer hochstehenden Goldschmiedekunst, mit Wein, Getreideanbau, Imkerei, Rinderhaltung, Leinenproduktion waren Kolchis und Iberia wirtschaftlich hoch entwickelt. Sie standen in Verbindung mit den griechischen Kolonien an der Nordküste des Schwarzen Meeres. Für die Griechen wurde der Kaukasus so wichtig, dass sie ihn in ihren „mythischen Kosmos“ mit einbezogen. Den König Aietes der Argonautensage siedelten sie in Kolchis an; Prometheus sahen sie an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet.
Im vierten Jahrhundert drang das Christentum in Kolchis und Iberia ein, gut 500 Jahre bevor es Russland erreichte. In den Jahrhunderten danach hatte das frühe Georgien wechselnde Angriffe der Römer, Perser, Byzantiner, Araber und Türken auszuhalten, die das Land immer aufs Neue verwüsteten. Im elften Jahrhundert gelang es georgischen Fürsten, das Land von türkischer, im zwölften dann auch von arabischer Vorherrschaft zu befreien. Unter dem König David IV. und der Königin Tamara Ende des 12. Jahrhunderts wurde Georgien zur beherrschenden Macht des kaukasischen Raumes zwischen Schwarzem und kaspischem Meer. Diese Hochblüte georgischer Kultur endete mit dem Sturm der Mongolen im 13. Jahrhundert, deren Herrschaft bis ins 14. Jahrhundert anhielt. Danach drangen Perser und Osmanen in Georgien ein, später noch einmal die Mongolen unter Timur Leng. Die ständigen Abwehrkämpfe brachten die georgische Kultur an den Rand des Unterganges. Das georgische Königreich zerfiel für Jahrhunderte in Kleinfürstentümer, Ethnien, Dörfer und Clans. Was das bedeutete, kann daran ermessen werden, dass noch im heutigen Georgien 26 Volksgruppen 23 verschiedene Sprachen sprechen.
Unter diesen Bedingungen, so kann man den georgischen Quellen übereinstimmend entnehmen , wandte Erekle II, König von Karti-Kacheti (Ostgeorgien) sich an Russland, das seit 1779 militärisch in den Kaukasus expandierte, um mit ihm einen Schutzvertrag abzuschließen. 1783 kam es zum „Georgiewsker Vertrag“. Georgien verpflichtete sich darin, keine Beziehungen zu islamischen Ländern zu unterhalten und erkannte die Oberhoheit und den Schutz des russischen Zaren an. Die Innenpolitik Georgiens sollte Angelegenheit des georgischen Königs bleiben. Russland stellte zwei Bataillone zum Schutz Georgiens zur Verfügung, verpflichtete sich aber, die territoriale Integrität Georgiens zu achten.
Mit der  Gründung der Festung Wladikawkas (Beherrsche den Kaukasus) 1784 wurde jedoch deutlich, dass Russland, das seit 1799 dabei war die kaukasischen Bergvölker zu unterwerfen, weitergehende Absichten für den Kaukasus hatte. Als die Perser 1795 erneut Georgien angriffen, blieb die russische Hilfe für das georgische Land aus. 1801 schickte Russland jedoch Truppen über den Kaukasus, setzte den georgischen König unter Bruch des Vertrages von 1783 ab und annektierte Ostgeorgien.  Im einem Manifest erklärte der russische Zar Alexander I. 1801, dass die Eingliederung Georgiens ins russische Reich “nicht zum Wachstum unserer Macht, nicht aus Habgier, nicht um die Grenzen des ohnehin schon größten Reiches der Welt auszudehnen“ erfolgt sei, sondern weil Russland die „Last des georgischen Zarentums“ auf sich genommen habe.
Von diesem Zeitpunkt an war Georgien Bestandteil des Zarenreiches, danach der Sowjetunion, nur unterbrochen durch eine kurze Periode der Unabhängigkeit nach der Revolution von 1917, nachdem  Georgien sich am 26. Mai 1918 zur unabhängigen Republik erklärt hatte. Am 25. Februar 2001 wurde es nach einem Sieg der Roten Armee über die menschewistischen Georgischen Truppen in die Sowjetunion eingegliedert, aus der es sich erst mit deren Zerfall 1991 löste. Das sind fast zweihundert Jahre gemeinsamer russisch-georgischer Geschichte. In ihr verhalten sich das kleine Georgien und das große Russland zueinander wie innere und äußere Matrioschka, die berühmte Puppe in der Puppe  – eigenständige Figuren, aber identisch in ihrer Lage zwischen Asien und Europa, identisch in ihrer Völkervielfalt, identisch in ihrer staatlichen Grundstruktur, die sich in der Polarität von Zentralstaat und Pluralität, ja, clanweise organisierten Anarchie bewegt, identisch in der patriarchalen Einheit von christlicher Kirche und Staat, später Partei, identisch in ihrer Sozialstruktur, in der das eigene Dorf, der eigene Clan, nicht der Staat die Lebenssicherheit bietet. Selbst das Phänomen einer „zweiten Ökonomie“ die berüchtigte realsozialistische Schattenwirtschaft, ist beiden aus einer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber einem säkularen profit- und effektivitätsorientiertem Denken gemeinsam; in der Sowjetunion übernahm Georgien dafür sogar die führende Rolle.  Nur kleinräumiger ist dies alles in Georgien, konzentrierter, extremer, immer auf Selbstbehauptung des nationalen Zentrums gegen äußere Angriffe und innere Zersplitterung orientiert. Es fehlt die Relativierung, die Russlands Autokratie, selbst der Stalinismus immer wieder durch die eurasische Weite erfuhr.  Georgien ist, so könnte man sagen, ein Konzentrat Russlands! Identifizierung und Abstoßung wechseln sich ab.
Politisch hat Georgien die russische, danach die sowjetische Herrschaft über den Kaukasus trotz der beständigen Träume der Georgier von eigener nationaler Selbstbestimmung stabilisiert. Man erinnere sich: Es war Georgien, das Stalin hervorbringen konnte. Er begann seine Laufbahn als Priesterschüler Iossev Bessarionisdse Dschughaschwili in Georgien. Auch sein Geheimdienstchef Berija kam aus Georgien. Er wurde als Sohn einer mingrelischen Bauernfamilie bei Suchumi in Abchasien geboren und begann seine Karrriere bei der georgischen Tscheka.  In der Politik dieser beiden flossen die Tradition der russischen Selbstherrschaft und georgisches Herrschaftswissen, das sich in der Auseinandersetzung mit der Völkervielfalt des Kaukasus herausgebildet hatten, zu einem autoritären Zentralismus zusammen.
Die Kämpfe um Abchasien und Südossetien stehen exemplarisch für diese Erfahrungen. Beide Völker wehrten sich schon in vorzaristischer Zeit gegen georgische Herrschaftsansprüche. Im 8. Jahrhundert bildete sich im heutigen Westgeorgien ein abchasisches Königreich; 929 wurde es vom georgischen geschluckt. Als das georgische Königreich Ende des 15. Jahrhunderts zerfiel, wurde Abchasien erneut ein selbstständiger Staat.  Mit dem „Georgiewsker Vertrag“ kamen beide unter den Einfluss der russischen Zaren. 1918 wurde ein bolschewistischer Aufstand in Abchasien von Georgischen Menschewiki niedergeschlagen; 1921, nachdem die Rote Armee die georgischen Menschewiki besiegt hatte, wurden Georgien und Abchasien Bestandteil der Sowjetunion. Beide erhielten den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik, waren einander also gleichgestellt. 1931 wurde Abchasien zu einer autonomen Republik innerhalb der georgischen SSR zurückgestuft.
Osseten und Georgier liegen ebenfalls seit Jahrhunderten im Konflikt miteinander. Die Osseten, die sich erst im 18. Jahrhundert dort ansiedelten, wo sie jetzt leben, werden von den Georgiern als Einwanderer betrachtet. Die „Neuankömmlinge“ wurden wiederholt zwischen Russland und Georgien hin und her geschoben; als Georgien sich 1918 zur Republik erklärte, wurde Ossetien in Nord- und Südossetien geteilt. Aufstände zur Vereinigung Südossetiens mit dem Norden in den Jahren 1918 – 1920 wurden von Georgien niedergeschlagen. Die Kämpfe kosteten mindestens 5000 Tote, 20.000 Südosseten flohen nach Nordssetien (bei damals ca. 100.000 Einwohnern Südossetien, davon 65.000 Osseten). Nach Eingliederung Georgiens in die UdSSR 1922 wurde Südossetien zum autonomen Gebiet innerhalb der georgischen SSR erklärt, Nordossetien verblieb in der UdSSR, bekam dort 1936 den Status einer autonomen Republik.
Das Ende der Sowjetunion ließ alle diese alten Konflikte aufbrechen und rückte eine Neuordnung des Kaukasus auf die Tagesordnung. Es begann mit Demonstrationen für eine abchasische Unabhängigkeit in Tiblissi 1989; sie wurden von der Roten Armee niedergeschlagen; 19 Menschen kamen ums Leben. 1989/90 bildete sich auch in Südossetien eine nationale Bewegung, Georgien erklärte daraufhin Georgisch, Ossetien im Gegenzug Ossetisch zur Amtssprache.   Im März 1991 deklarierte Georgien seine Unabhängigkeit. Der neue Präsident Georgiens, Gamsachurdija erhob – ohne dass darüber völkerrechtlich entschieden worden wäre – Anspruch auf Eingliederung Abchasiens und Südossetiens in das georgische Staatsgebiet und ließ einmarschieren. Im Krieg zwischen georgischen und abchasischen Milizen um die Autonomie Abchasiens kamen 1990/1 mindestens  8000 Menschen zu Tode; fast die Hälfte der Einwohner (meist Georgier, etwa 250 000) floh aus Abchasien.
1992 wurde Gamsachurdija gestürzt. Sein Nachfolger Schewardnaze, vormals sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow,  versprach eine gemäßigtere Politik in der „Nationalitätenfrage“. Trotzdem marschierten georgische Truppen in Abchasien ein. Im Verlauf des Jahres 1993 wurden sie von abchasischen Truppen zurückgeworfen. Russland erkannte zwar Georgiens Souveränität an, unterstützte dennoch die Abchasischen Truppen.
Nicht viel besser ging es in Ossetien zu: Am 20. September 1990 erklärte Ossetien sich für souverän, ein blutiger georgisch-südossetischer Krieg folgte. 1991 drangen georgische Milizen auf südossetisches Gebiet vor, zerstörten hundert Dörfer und belagerten Zchinvali. Moskau griff nur zögerlich ein. Unterstützung bekam Süd-Ossetien von Freiwilligen einer zuvor entstandenen „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Im Mai 1992 erklärte die Republik Südossetien endgültig ihre Unabhängigkeit. Erneut folgten schwere Kämpfe, in deren Folge Zchinvali erstmals zerstört wurde.
Nach dem Sturz Gamsachurdias kam ein erstes Friedensabkommen zustande, das zwischen Schewardnaze und Boris Jelzin ausgehandelt wurde. Es sah eine gemeinsame Friedenstruppe von 1500 Mann vor, die zu gleichen Teilen aus Russen, Georgiern, Süd- und Nord-Osseten bestand. Sie sollten in einem 15 km breiten neutralen Streifen rund um das südossetische Gebiet Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Als Zeichen des Goodwills räumte Schewardnaze den Russen darüber hinaus den Bau von vier Stützpunkten ein, veranlasste den Eintritt Georgiens in die GUS und dessen Teilnahme am Taschkenter Bündnis, das 1992 zwischen den Staaten der GUS „zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes“ abgeschlossen worden war.
Eine Kommission der OSZE, KSZE überwachte, von Minsk ausgehend, die Vereinbarungen Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Sie entwarf mehrfach Friedenspläne, die aber immer wieder auf Eis gelegt wurden; die Konflikte froren auf dem Stand einer De-facto-Existenz Abchasiens und Südossetiens ein. Eine internationale Anerkennung kam – wie auch zu Berg Karabach und der Djnesterrepublik – nicht zustande.
In der „Rosenrevolution“ 2003, die Schewardnaze stürzte, kam Michail Saakaschwili mit der erklärten Absicht an die Macht, Abchasien und Südossetien wieder unter „volle Kontrolle“ des georgischen Staatsgebietes bringen zu wollen. Die Beziehungen blieben zunächst noch entspannt. Saakaschwili stand sogar zur Mitgliedschaft in der GUS und hielt ausdrückliche Distanz zur NATO.
Im Mai 2004 jedoch, nach der Wiederwahl des ossetischen Präsidenten Eduard Kokoitys, der Saakaschwilis Eingliederungsabsichten mit nationalen Tönen beantwortet hatte, sperrten georgische Truppen die Grenze zu Südossetien und richteten Kontrollpunkte entlang der südkaukasischen  Fernstraße ein. Sie schlossen den Ergneti-Markt, Südossetiens wichtigste Einnahmequelle. Truppen wurden an der Pufferzone stationiert. Als Russland daraufhin zusätzliche Kräfte in die Region transportierte, brachen erneut Kämpfe aus.
Am 13. August 2004 wurde der Waffenstillstand erneuert. Seine Einhaltung wurde ab 2005 von der KSZE mit acht Militärbeobachtern kontrolliert. Seit 2006 jedoch häuften sich die Konflikte. Saakaschwili erklärte wiederholt, dass er auch militärisch die Einheit Georgiens wiederherstellen werde, wenn Südossetien sein Angebot eines Autonomiestatus nicht annehmen werde. Zchinvali lehnte dieses Angebot mit Hinweis auf seine faktische Selbstständigkeit ab.
Auch die Friedenstruppe wurde Gegenstand der Auseinandersetzung: Saakaschwili warf Russland vor, in der Friedenstruppe durch Unterstützung der Südosseten zweifach, zusammen mit dem nordossetischen Kontingent sogar dreifach vertreten zu sein. Er wertete das als Besetzung Georgiens durch russische Truppen. Zudem forderte er den Rückzug Russlands aus den von Schewardnaze 2004 zugestandenen Stützpunkten. Im Juli 2006 verlangte das georgische Parlament, die Friedenstruppen, vor ihren russischen Teil durch eine internationale Polizeitruppe zu ersetzen. Seit 2007 baute Georgien, gefördert von den USA und der NATO, ca. 20 km. von Zchinwali entfernt bei der Stadt Gori eine Militärbasis auf. Die Ausgaben für den Militärapparat hatten sich zu diesem Zeitpunkt von 0,5% des georgischen Bruttosozialproduktes im Jahr 2003 um das Sechsfache auf 3% im Jahr 2007 erhöht.
Politische Provokationen Saakaschwilis gegen Russland begleiteten diesen Kurs: so die offene Unterstützung der „orangenen Revolution“ in der Ukraine,  so die wiederholten Ankündigungen Saakaschwilis, dass Georgien die GUS verlassen, dafür in die NATO eintreten wolle, nicht zuletzt die offene Finanzierung dieses Kurses durch die USA: Nach Angaben des Statedepartments erhielt Georgien seit 2002 820 Millionen US-Dollar an Hilfe. Damit war Georgien der drittgrößte Empfänger von US-Hilfe per pro Kopf nach Irak und Armenien und noch vor Afghanistan.
Am    23. Mai 2005 konstituierte sich schließlich, ebenfalls gefördert von den USA, die GUAM (bei ihrer Gründung GUUAM genannt nach den Mitgliedstaaten Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbeidschan und Moldawien) unter Hinzutreten von Litauen und Rumänien neu als prowestlich orientiertes Konkurrenzbündnis zur GUS, nachdem Usbekistan und Aserbeidschan vorher ausgetreten waren.
Eine Zuspitzung der Konflikte trat ein, als am 27. September 2007 vier russische Offiziere in Georgien wegen Spionage verhaftet und öffentlich vorgeführt wurden. Russland antwortete mit nahezu totaler Wirtschaftsblockade Georgiens. Trotz westlicher Hilfe kam Saakaschwili auf diese Weise in einen immer stärkeren Zugzwang: Sein Wahlversprechen auf Herstellung territorialer Einheit konnte er nicht einlösen; die Wirtschaft zeigte zwar Zuwachs, der aber an der Mehrheit der Bevölkerung auf Grund von Korruption und Clanwirtschaft vorbeiging. Politische Morde und rätselhafte Todesfälle trübten das Bild der rosenfarbenen Revolution. „Der Regierungschef Surab Schwania, Vertreter der armenisch-jüdischen Minderheit, wurde im Februar 2005 vermutlich ermordet. Der in Ungnade gefallene Verteidigungsminister Irakkli Okruaschwili sucht seit Ende 2007 in Westeuropa nach politischem Asyl. Der Medienmogul Otar Patarkazischwili verstarb unter mysteriösen Umständen Anfang 2008 in seiner Villa in London.“
Anfang November 2007 kam es zu Massenprotesten in Tiblissi, die Opposition forderte den Rücktritt Saakaschwilis. Er ließ die Demonstrationen zusammenknüppeln und einen oppositionellen Fernsehsender schließen. In den vorgezogenen Wahlen am 5. Januar 2008  stürzte er auf 53% der Stimmen ab.

Wer dies alles vor Augen hat, wird verstehen, warum Saakaschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. 8. 2008 sein Heil schließlich in einer militärischen Flucht nach vorne suchte. Bleibt dennoch festzustellen, dass Russland in seiner Rolle als Friedensmacht selbstverständlich nicht ohne Widerspruch dasteht. Russlands primäres Interesse nach dem Zerfall der Union 1990 bestand zunächst darin, die eigene Staatlichkeit vor weiterem Zerfall zu bewahren. Folge war der Krieg in Tschetschenien und der Versuch, die Konflikte im Süden nicht eskalieren zu lassen. Solange Russland durch den Krieg in Tschetschenien geschwächt war, war das „Einfrieren“ der Konflikte aus russischer Sicht strategisch nützlich. Es half Russland Gewaltausbrüche an seinen südlichen Grenzen zu verhindern und zugleich differenzierten innenpolitischen Einfluss auf die beteiligten Konfliktparteien im Kaukasus ausüben. Eine „Gemeinschaft der nicht anerkannten Staaten“ bildete sich; auch das stärkte Russlands Einfluss. Konfliktträchtig war die Tatsache, dass die russischen Friedenstruppen zugleich Konfliktpartei waren. Sie partizipierten zudem mit illegalen Waffenverkäufen an der Halblegalität. Als Folge offener Grenzen zu Russland und georgischer Sanktionen wurden die Gebiete in den russischen Wirtschaftsraum eingesogen. Hinzu kam die Ausgabe russischer Pässe an Bewohner Abchasiens und auch Südossetiens seit 2002, außerdem die Auszahlung Renten durch den russischen Staat, die über dem georgischen Niveau liegen.
Es entstand, so Stephan Bernhardt im Eurasischen Magazin  in seiner Analyse weit vor der offenen Eskalation, eine „schleichende Annexion“ der Schutzgebiete durch Russland. Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA, Großbritannien und einige EU-Staaten im März 2008 gab Wladimir Putin den russischen Behörden zudem die Anweisung  quasi-staatliche Beziehungen mit Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Im Mai verstärkte Russland seine Truppen in Abchasien; im Juni 500 schickte es Fallschirmjäger nach Ossetien; im Sommer 2008 noch einmal 400 Mann zur Reparatur einer Bahnstrecke in Abchasien geordert. Am 15. 7. 2008 führte Russland ein Manöver „Kaukasus 2008“ an der Grenze zu Georgien durch. Kurz, es ist offensichtlich, dass Russland mit einem möglichen Vorstoß Saakaschwilis rechnete. Noch in den letzten Wochen vor dem Krieg gab es allerdings Versuche von russischer Seite, die Konflikte auf dem Verhandlungswege zu lösen. Selbst der Abschuss einer Drohne über Abchasischem Gebiet wurde von Russland öffentlich gemacht, um Saakaschwilis Mobilisierung zu stoppen. Saakaschwilis Erklärung, er habe einem russischen Angriff zuvorkommen müssen, entbehrt daher jeglicher Realität. Sie wird  selbst von seinen eigenen Militärs als Unwahrheit bezeichnet.  Ob mit dem russischen Gegenschlag die „Verhältnismäßigkeit“ überschritten und ob mit der anschließenden Anerkennung Abchasiens und Ossetiens das Völkerrecht verletzt wurde, ist eine andere Frage, die allerdings genauer Klärung bedarf.
Vom Völkerrecht, argumentieren selbst russlandkritische westliche Autoren –  wenn man denn in Bezug auf Krieg überhaupt völkerrechtlich argumentieren will – seien auch De-facto-Staaten, als die Abchasien und Ossetien nun einmal gelten müssten –  zweifellos geschützt, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits gegen Aggressionen von außen, andererseits könne ein solcher Staat sich Hilfe zum Selbstschutz von außen herbeirufen. Völkerrechtlich sei Russland auch zum Angriff berechtigt gewesen, weil die Friedenstruppen unter Bruch geltender Verträge von Georgien angegriffen und russische Soldaten dabei getötet worden seien. Auch Russlands Angriff auf Nachschubstellungen des georgischen Militärs sei gedeckt, soweit von ihnen Angriffe ausgegangen und weiter zu erwarten gewesen seien. Wie weit dabei die Verhältnismäßigkeit überschritten worden sei, sei eine Ermessensfrage, deren Beantwortung notwendig nach Einschätzung der Lage schwanke. Als problematisch dagegen gilt Russlands Begründung auch bei diesem offenen Verständnis des Völkerrechtes, Russland habe russische Staatsbürger schützen müssen, die im Besitz russischer Pässe gewesen seien.

Bei diesen Feststellungen könnte man es bewenden lassen. Es gibt da noch vieles in den zukünftigen Beziehungen zwischen Russland, Georgien, Achchasien und Ossetien zu klären. Ebenso in den anderen noch nicht gelösten „eingefrorenen Konflikten“ um die armenische Enclave Berg-Karabach in Azerbeidschan, um die von Moldau abgespaltene Dnjester-Republik. Die Zukunft wird es zeigen. Darüber hinaus gibt es jedoch einige Elemente in der Eskalationsgeschichte dieses Konfliktes, die noch einer weiteren Ausleuchtung bedürfen:
Da ist zuallererst die Tatsache, dass Georgien parallel zum russischen Manöver „Kaukasus 2008“ auf georgischem Territorium ein Manöver zusammen mit der NATO durchführte. Man könnte also meinen, dass auch die NATO vorbereitet war. Bemerkenswert ist weiterhin, dass zwei der über Abchasien und Ossetien im Vorfeld des Krieges abgeschossenen Drohnen Fabrikate israelischer Bauart (Elbit Hermes 450) waren, offenbar also nicht nur die USA, sondern auch Israel am Aufbau der georgischen „Sicherheitskräfte“ beteiligt war. Festzuhalten ist auch, dass die USA nicht nur bereit, sondern auch in der Lage waren, die 2000 Mann zählende georgische Hilfstruppe aus dem IRAK umgehend zur Unterstützung des georgischen Militärs nach Georgien einzufliegen.
Zu erinnern ist weiterhin an die NATO-Tagung in Bukarest, auf der Georgien und der Ukraine angesichts erkennbar gespannter Entwicklung der Lage im Kaukasus eine Beitrittsperspektive zur NATO zugebilligt wurde. Nur gestreift werden sollen hier schließlich die Kampfansagen aus den Tiefen des US-Wahlkampfes, in denen Russland vom Berater McCains, Randy Scheunemann, wieder unter die Schurkenstaaten eingereiht wurde.
Hinter der örtlichen Zuspitzung der Widersprüche taucht die große „stategische Ellipse“ auf, die NATO, EU und US-Planer immer wieder beschwören, wenn es um die globale „Energiesicherheit“ geht. Die „strategische Ellipse“ umfasst vom Süden her die arabischen Staaten und den Iran, von dort erstreckt sie sich über das schwarze Meer, den Kaukasus und das kaspische Meer bis in den mittleren Norden Russlands. Sie enthält 80% aller heute bekannten fossilen Ressourcen. Ihr südlicher Teil – Arabien und der Iran – ist vergeben, ihr nördlicher Teil ist Gegenstand der heutigen strategischen Auseinandersetzungen.
Seit 1990 wirken USA und EU gemeinsam an der Herstellung eines sog. Transportkorridores, der von West nach Ost am Bauch Russlands entlangführt.  Durch ihn soll Öl und Gas unter Umgehung russischer Beteiligung fließen. Die Pipelines, die dafür gebraucht werden, müssen und können nur  – sollen sie russisches Gebiet oder mit Russland befreundete Länder wie den Iran und Armenien umgehen – durch Georgien führen. Das ist die von den USA finanzierte Pipeline von Baku über Tiblissi nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste, nach den Transitstädten BTC-Pipeline genannt, sowie daran angeschlossen das EU-Projekt der Nabuco-Gaspipeline von Baku über Tiblissi, Ankara direkt nach Südeuropa. Diese Planung hat Georgien zum unverzichtbaren Transitland auf dem Schachbrett des „großen Spiels“ gemacht, von dem Sbigniew Brzezinksi , seinerzeit Sicherheitsberater Clintons, heut einer der Hintermänner Obamas, bereits 1997 sprach: Er nannte den Kaukasus das „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf den die USA sich den Zugriff als Weltmacht sichern müssten, indem sie verhindern das eine der dort beteiligten Kräfte sich auf Kosten anderer wieder zur Vormacht entwickeln könnte.  Für die USA sind Geogier, Abchasen und Osseten Bauern in diesem Spiel; für Russland sind sie Nachbarn; mit denen es seit Jahrhunderten gelebt hat und in Zukunft leben muss.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Aus persönlichem Briefwechsel im Herbst 2008
Dmitri Rogosin, ständiger Vertreter Russlands bei der NATO in der FAZ vom 20.08.2008: „,Russland hat die Georgier immer für Brüder gehalten …Aber niemand erinnert sich daran, dass es eigentlich Russland war, das eine lange Zeit die Unabhängigkeit und Integrität des georgischen Landes gewährleistete. Niemand erinnert sich auch daran, dass die Georgier seit dem 15. Jahrhundert nach einem russischen Protektorat strebten.“ FAZ, 20.08.2008
www.georgische Zeitung.de; www.georgienseite.de
Aus: Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008, Krisen Region  Kaukasus: Ursachen, Akteure, Perspektiven, S. 135
www.georgienseite.de
www.georgienseite.de: Die Geschichte Georgiens
Wikipedia; außerdem: Maria Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach (Hrsg.): Der Kaukasus, becksche reihe,, München 2008
www.kaukasische-zeitung.de; www.georgieenseite.de
Nach: deutsch kaukasische gesellschaft e.V./  www.abchasien.de u.a.
Handelsblatt, 26.08.2008
In der Matrioschka, der russischen Puppe in der Puppe stecken mehrere immer kleiner werdende Ausgaben ineinander, die bis auf die Größe vollkommen miteinander identisch sind.
Dazu auch ein sehr interessanter Aufsatz von Boris Forkel, Georgiens  Weg nach Europa. Förderliche und hemmende Einflüsse der Kultur auf den gegenwärtigen Transformationsprozess, webtext, 2008
ebenda
Einzelheiten u.a. gut bei Wikipedia
Informationen aus: Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008
Ebenda, A.123 ff, Der ungelöste Streit um Südossetien
Ebenda
Ebenda, S. 102 ff, Abchasien – Kämpfe um den schönsten teil der Schwarzmeerküste
Ebenda, S. 149 ff Internationale Organisationen – Hemmschuh oder Motor für eine Konfliktlösung im Kaukasus?
Siehe dazu: Stephen Bernhard, Nach der Rosenrevolution eine neue Revolution? Eurasisches Magazin 3/08 und 4/08; außerdem laufende Berichterstattung von ria-novosti und russland.ru
Russland Analysen 169/08, S. 4; Spiegel online,13. August 2008
www.georgien.ru
Stephan Bernhard, Eurasisches Magazin  3/08 und 4/08
Siehe NATO-Bericht in der FAZ vom 6.9.2008
Russland Analysen 169/08, S. 5 ff
Michel Chossudovsky, www.global research.ch, 10.8.2008
Robert Scheer, www.truthout.org, 12.08.2008
Osteuropa 9-10/2004, Europa unter Spannung, Energiepolitik zwischen Ost und West,
Einzelheiten zu den strategischen Programm des Korridors =  TACIS, TRACECA, INOGATE in: Kai Ehlers: Asiens Sprung in die Gegenwart, Russland, China, Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraumes „Inneres Asien“, Pforte, 2006
6. Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer bt 14358, 1997/99
Mehr zu diesem Thema: Kai Ehlers, Gasprom – Expansion oder Kooperation, in Hintergründe, 21.10.2008

Für die chronologischen Angaben wurde u.a. die thematisch rubrizierte Berichterstattung von ria-novosti und russland.ru genutzt

Medwedews Sozialpolitik: Vor einer 2. Phase der Privatisierung

Thesen zur Diskussion der Zeit nach Putin

Dimitri Medwedew orientierte bei seinem Antritt als Präsident auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Ausländischem Kapital will er optimale Investitionsmöglichkeiten bieten, in der Innenpolitik will er sich auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen, also die Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“

Nach solchen Äußerungen wurde Medwedew von vielen Menschen in Russland und im Westen als Liberaler begrüßt. Wer genauer wissen will, was zu erwarten ist, muss allerdings etwas zurückschauen: Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sie sich nach Gorbatschow und Jelzin entzogen hatten. Das hieß auch, ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug Putin mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Maßlosigkeiten der privaten Bereicherung, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige Bereiche, insbesondere die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder her (ohne die Privatisierung vom Grundsatz her zurückzudrehen!) und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.

Putins Versuche, die Privatisierung auf die soziale und kommunale Sphäre auszudehnen, blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Die dringend benötigte Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde nicht geschafft. Das allgemeine unentgeltliche, genauer, vergütungsbasierte Bau-, Gesundheits- ebenso wie das Bildungswesen verfiel und verwandelte sich in private Spielwiesen für Neureiche. Landwirtschaftliche Betriebe verfielen. Als Putin und die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 dann doch an die Privatisierung der sozialen und kommunalen Sphäre gehen wollten, musste er vor landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen und Vergütungen blieb in halben Maßnahmen stecken.

Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern. Kern der putinschen Vorschläge war ein staatliches Kreditierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 – vor der Wahl – kündigte Medwedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.

Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds Ende 2007 auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Milliarden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.

Die Ausrufung der nationalen Projekte durch Putins im Herbst 2005 war somit eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem keine besondere Sympathie für Putin nachgesagt werden kann, könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“. Das Problem der putinschen Sozialpolitik liege nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt worden seien, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückte, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte.

„Im Großen und Ganzen“, fasste Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“ – Nicht mehr unmittelbare Not ist Ursache wachsender Unzufriedenheit, sondern ein Verteilungsproblem, die ungleiche Teilhabe am wachsenden Wohlstand.

Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichten, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums darauf beschränkten, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken.

Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wurde nach ihnen gesucht. Dabei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und soeben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird. Das ist das von Medwedews übernommene Erbe.

Da war beispielsweise bei deutschen Analytikern[1] zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“

Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.

Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.

Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.

Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden. Im Übrigen gehen unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.

Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus allein dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem sein. Es ist darüber hinaus auch eine Frage der Lebensweise, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.

Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw., die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungsmarkt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.

Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“, also die Verwandlung von Vergünstigungen und Vergütungsstrukturen in finanzielle Kompensationen, zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.

Vor diesem Hintergrund bekommen Medwedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, auch nicht die angekündigte Entbürokratisierung, neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles jetzt verstärkt im Zentrum des Regierungshandelns stehen soll. Zusammen mit Medwedews Ankündigungen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen zu wollen, wird darin die Entschlossenheit der russischen Führung deutlich, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren zu wollen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF private Investitionen im Wohnungssektor zu erleichtern, das Bildungswesens an die EU-Normen anzupassen, den Dienstleistungssektor zu kommerzialisieren, die Agrar-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften zu fördern und schließlich, selbstverständlich, einen zweiten Anlauf zu nehmen, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen.

Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht. Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die zum einen selbstverständlich vom Niveau der Öl- und Gaspreisen abhängt, aber auch damit nicht allein beantwortet wird. Es geht auch um generellere Fragen des Lebens- und Gesellschaftsentwurfes: Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit abflachenden oder einbrechenden Gas- oder Ölpreisen, mit möglichen inflationären Folgen maßloser Kreditierungsexzesse könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Als Ergebnis einer Überprüfung dieser Analyse, die ich durch Gespräche im Lande selbst im Sommer 2006 in drei verschiedenen Orten durchführte – Moskau, Tarussa/Kaluga und Tscheboksary, möchte ich Folgendes festhalten:

1. Auch Medwedews Modernisierungsprogramm folgt, wie schon vor ihm das Gorbatschows, Jelzins, Putins dem für Russland typischen Muster der Reform von oben: Russlands Modernisierungsschübe sind immer Reformen von oben gewesen. Das entspricht der historisch gewachsenen Grundstruktur der russischen Ökonomie, die man traditionell als bürokratisch gelenkte Wirtschaft auf gemeinwirtschaftlicher Basis bezeichnen kann. Das Stichwort, welches Karl Marx und Friedrich Engels dazu seinerzeit gaben, lautet: asiatische Produktionsweise.

2. Es zeigt sich aber, dass eine Privatisierung der kommunalen und sozialen Strukturen auch unter den neuen Bedingungen nach dem Wechsel von Putin auf Medwedew nicht einfach zu dekretieren, auch nicht durch bloße Ausweitung des Kreditierungsprogrammes zu erkaufen ist, sondern nur in einem intensiven, im wahrsten Sinne nachhaltigen sozialen Dialog zwischen oben und unten entwickelt werden kann, in dem sich herausbildet, was die Bevölkerung, die aus einer gemeinwirtschaftlichen Tradition kommt, tragen kann und will.

3. Dieser soziale Dialog fehlt jedoch auch unter Medwedew, zumindest ist er nur in allerzartesten Ansätzen entwickelt. Die Privatisierung im Wohn-, Bildungs- und Gesundheitswesens erscheint immer noch als Zerstörung der gewachsenen sozialen Sicherungssysteme und Spaltung der Gesellschaft in Reihe und Arme – Gesundheitsangebote für Reiche, Wohnungen zu unerschwinglichen Preisen, Bildung nur über Beziehung oder für Geld, häufig sogar Bestechungsgeld, Verödung der Dörfer. Exemplarisch dafür die Häuserkämpfe in Moskau, die nach wie vor von der Bevölkerung nicht verstandene, nicht akzeptierte, sondern nur bürokratisch verordnete Monetarisierung in Kleinstädten wie Tarussa oder auch die sich weiter öffnende Schere zwischen mangelnder gesundheitlicher Versorgung auf dem Land und einem Klinikboom in einer Stadt wie Tscheboksary, um nur einige Beispiele zu nennen.

4. Wenn der soziale Dialog ungenügend geführt wird, reproduzieren die nationalen Projekte einschließlich der Monetarisierung jedoch nur die vorhandenen Strukturen der Bürokratie und der Trennung von oben und unten, lässt die Verfügbarkeit leichter Kredite bei gleichzeitiger sozialer Apathie der Mehrheit der Bevölkerung Korruption und Spekulation (im Bauwesen, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen ebenso wie in der Agrarwirtschaft) und eine für die Zukunft problematische Verschuldung entstehen.

5. Als Kern der Sozialpolitik, einschließlich Modernisierung der großen Produktion und der Entwicklung einer breiten mittelständischen wirtschaftlichen Tätigkeit, tritt unter diesen Umständen die Notwendigkeit einer Bildungsoffensive zutage, die auf Entwicklung individueller Kompetenz, Bereitschaft, Initiative zielt, welche die bürokratischen Leitungsstrukturen ersetzt, bzw. von unten mit Leben erfüllt.

6. Die soeben beschlossene Einführung des EGE (des einheitlichen Staatsexamens), welche die Bildung nach Standarts der WTO und der Bologner-Beschlüsse der EU ausrichtet, ersetzt jedoch die Entwicklung individueller sozialer Kompetenz durch standardisiertes Spezialistentum zum einen und rudimentäre Grundbildung der Mehrheit der Bevölkerung zum Anderen, d.h. sie verfestigt die traditionelle Grundstruktur von oben und unten, statt sie aufzulösen.

7. Notwendig wäre eine Bildungspolitik, die das Prinzip der Pluralität – ausgehend von der eigentümlichen ethnischen, kulturellen und geografischen Pluralität Russlands bis hin zur Multipluralität der internationalen Beziehungen, wie sie Russland als Alternative zur heutigen Weltordnung vorschlägt – als ureigenen russischen Impuls aufnimmt und mit einem allgemeinen, international kompatiblen Standart verbindet. Dies könnte der Schritt sein, der Russland über eine bloße Kopie des westlichen Kapitalismus hinausführen würde.

Der Text wurde für eine Konferenz in der „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau Dezember 2008 formuliert, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau organisiert wurde.


[1] „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa, Anfang 2006

GAZPROM – Konfrontation oder Kooperation?

Über GAZPROM zu sprechen, heißt über gegenläufige Tendenzen der Globalisierung zu sprechen. Gazprom ist weit mehr als sein Name vermuten ließe, der übersetzt Gasindustrie bedeutet. Gazprom ist identisch mit Russlands Energiepolitik, korrekt gesprochen, rund 51% der Gazprom-Aktien sind Staatsbesitz. Der Vorgänger von Alexei Miller, des heutigen Chefs von Gazprom, Rem Wechirew pflegte zu sagen: Was Gazprom nützt, nützt Russland.. Gazprom ist der drittgrößte Konzern auf dem globalen Energiemarkt, Teil des internationalen Finanzgeflechtes mit Tendenzen einer Monopolisierung, was ihm von westlicher Seite den Vorwurf des Energie-Imperialismus einträgt. Allen voran geht dabei der Chefstratege der USA Zbigniew Brzezinski, der nach der Zerschlagung des Yukos Konzerns und der Inhaftierung dessen ehemaligen Chefs Michail Chodorkowski 2004 das Stichwort ausgab, Wladimir Putin wolle einen russischen „Energiefaschismus“ aufbauen. 1

Gazprom ist jedoch zugleich – nicht zuletzt auch von denselben Kritikern moniert – ein undurchsichtiger Gesamtzusammenhang von Staat, Geld und Gesellschaft, in dem nach wie vor keine „marktwirtschaftlichen“ Prioritäten gesetzt, sondern schlicht die Ressourcen des Landes verkauft, teilweise sogar noch im Tauschverkehr abgegeben werden.2 Von dem Verkauf lebt das russische Staatsbudget zu mehr als einem Drittel und mancher Betrieb und manche Kommune existiert nur dank geldloser Lieferungen von Gazprom. Was Gazprom schadet, könnte man sagen, schadet also auch Russland. Und in der Tat: Vor der Finanzkrise war Gazprom der Gewinner der exorbitant steigenden Ölpreise, in der momentanen Krise einer der stärksten Verlierer. Der Ölpreis stürzte fast über Nacht von 140 Dollar um mehr als die Hälfte, die 49% an der Börse handelbarer Aktien des Konzerns mit ihm. Der russische Staat musste mit Stützungsgeldern in Milliardenhöhe einspringen.3 „Mit dem Kopf in der Globalisierung und mit den Füßen im Garten“ dürfte daher nach wie vor eine passende Beschreibung für den widersprüchlichen Charakter dieses Riesen sein.4 Kurz: Gazprom ist ein authentischer Ausdruck Russlands.

Aber was resultiert aus dieser Sachlage? Sind die hysterischen Stimmen ernst zunehmen, die davor warnen, dass Gazprom die EU wegen ihrer Abhängigkeit von russischen Energie-Lieferungen in die Zange 5 nehmen könne? Immerhin bezieht die EU heute 44% ihrer Gasimporte aus Russland.6 Oder muss man umgekehrt fürchten, dass Gazprom sich in Krisenzeiten als unfähig erweisen könnte, seine Lieferverpflichtungen zu erfüllen und damit die Gesellschaften der EU in eine Wirtschaftskrise reißen könnte? Fragen dieser Art werden nach dem georgischen Krieg im August 2008 auf westlicher Seite wieder heftig hin und her bewegt 7 , nachdem sich die letzte Welle der Unsicherheit anlässlich der Preisstreitigkeiten zwischen Gazprom und der Ukraine bei der Vertragserneuerung am Jahresende 2005 einigermaßen gelegt hatte.

Eine Antwort auf diese Frage muss man in den Tatsachen suchen: Auf Gazprom entfallen 85% der russischen und rund ein Fünftel der weltweiten Erdgasförderung. Für das Pipelinenetz in Russland hält Gazprom das Monopol. Gazprom entstand im Zuge der Auflösung der Sowjetunion aus dem sowjetischen Ministerium für Gas- und Ölförderung und dem dazugehörigen Verteiler- und Zulieferernetz. Der Konzern hatte vor dem Finanzcrash einen Börsenwert von 360 Milliarden Dollar. Genau 50,002 % der Aktien befinden sich heute in der Hand des Staates, 29,482 gehören anderen Gesellschaften, 13,068 Privatpersonen, 6,5 % der deutschen E.ON Ruhrgas, 0,948“ ausländischen Personen.

Gazprom hat mehr als 50 Tochtergesellschaften, darunter viele, die nicht im Gasgeschäft tätig sind, unter anderem Gazprom-Neft (Öl) Gazprom-Bank, Gazpro-Media, dazu die mit der deutschen Wintershall zusammen gebildete Nordstream AG, ganz zu schweigen von dem Geflecht der Regionalniederlassungen, Service- und Zuliefererfirmen in den verschiedensten Sektoren.

Obwohl der Staat heute über 50,002% der Gazprom-Aktien hält, noch ergänzt durch andere Teilhaber von Gazprom, in denen der Staat ebenfalls Anteilseigner ist, also faktisch die absolute Mehrheit der Gesellschafterstimmen bei Gazprom innehat, bestimmt nicht der russische Staat, sondern Gazprom die Abnehmer-Preise. 8 Im Juli 2008 sah die russische Regierung sich sogar veranlasst, Gazprom wegen der von ihm im Inland verlangten Monopolpreise auf Benzin zu verwarnen.9 Zuvor war Alexei Miller bereits von Putin scharf darauf hingewiesen worden, dass Gazprom sein Pipeline-Monopol anderen Firmen gegenüber nicht ausspielen dürfe. Seit April 2008 läuft eine gerichtliche Klage eines kleineren Betreibers gegen Gazprom vor der russischen Antimonopolbehörde. Grund dürften interne Differenzen zwischen Gazprom und Rosneft, einer der privaten Ölfirmen, um den russischen Ölmarkt sein.10

Anzumerken ist auch noch: Gazprom macht bis heute keine „Marktpreise“, sondern entscheidet nach sozialen und politischen Kriterien. Zwei Drittel der Lieferungen gehen ins Inland, aber mit ihnen macht Gazprom nur ein Drittel des Umsatzes. Gazproms Auslandspreise sind bis heute politisch gestaffelt: Als Folge der immer noch nicht vollständig gelösten Versorgungslinien der Sowjetzeit zahlen ehemalige Sowjetrepubliken entsprechend ihrer politischen Nähe zur Russischen Föderation in unterschiedlicher Weise. Einen Sonderpreis bekommt Weißrussland; mit 130 Dollar pro 1000m³ liegt auch die Ukraine trotz der Erhöhung um 40% bei Vertragswechsel von 2005 noch unter dem Weltmarktpreis. Sonderkonditionen erhalten Südossetien, Dnjesterrepublik, Serbien, selbst noch Georgien.
Tendenziell will Gazprom die Vorzugspreise abbauen – sowohl im Inland als auch im Ausland – und mit seinen Preisen insgesamt auf Weltmarkniveau kommen, aber hierfür gibt es kein zeitliches Limit. Das heißt, Gazprom befindet sich noch im Umbruch, wenn es denn überhaupt dahin kommt. Umgekehrt ist Gazprom seit 2007 dazu übergegangen beim Abschluss neuer Verträge für den Bezug von Gas aus Turkmenistan und Kasachstan günstigere Bedingungen anzubieten als die westlichen Abnehmer, in der Absicht die Quellen dieser Länder für den eigenen Pipelineverbund zurückzugewinnen, nachdem die alten Verbindungen seit 1990 unterbrochen waren.11

Im Juni 2008 erschreckte der Vorstandsvorsitzende Alexei Miller die westliche Welt mit der Ankündigung, angesichts des steigenden weltweiten Gasbedarfs sei offensichtlich, dass die Bedeutung Gazproms in der Zukunft nur wachsen könne. In den kommenden Jahren werde Gazprom „nicht nur eine der großen Gesellschaften der Welt sein, sondern die einflussreichste auf dem Energiesektor.“ Gazprom plane zudem, das Netzwerk der Gas exportierenden Länder zu einer ständigen Organisation auszubauen, zu einer Art Gas OPEC. Im Unterschied zur bestehenden OPEC jedoch seien die prinzipiellen Ziele dieses Gas-Forums „nicht allein die Verteilung laufender Produktionsquoten, sondern langfristige Aktivitäten und Investitionspläne in der Gasindustrie“. Über den bloßen Export hinaus wolle Gazprom ein weltweites Verteilernetz direkt bis zum Endverbraucher hin ausbauen: „Wir schlagen unseren europäischen Partnern ein Projekt über die Schaffung eines dichten Netzes mit Gas-Tankstellen unter Beteiligung von Gazprom vor,“ so Miller. Für die nächsten zehn Jahre, in denen der Ölpreis voraussichtlich auf 250 Dollar steigen werde, sei keine bessere Alternative in Sicht.12 Alle aktuell von Gazprom betrieben Projekte, so Miller, wie die Ostseepipeline, die „South Stream“, die „Precaspian Gas Pipeline“, die „Stockmannfelder“ entwickelten sich sehr schnell. Mit Indien und China stehe man in Verhandlungen. Mit Nigeria stehe man kurz vor einem Abschluss. Darüber hinaus habe Gazprom Projekte in Nord Amerika, ebenso wie in Asien und Süd Amerika. „Nord Amerika“, hob Miller besonders hervor, “sehen wir als Region unseres strategischen Interesses“. 13

Spätestens diese Äußerung führte zu einer Eskalation gegenüber US-amerikanischen Interessen. Die Reaktionen kamen prompt und sie fielen sehr lautstark aus. US-Senator Richard G. Lugar beschwor kurz darauf vor dem „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ die Energieversorgung Europas als Waffe in der Hand Russlands. Ein Abstellen des russischen Gashahns käme einer militärischen Attacke auf ein Land gleich. Und der „Chefstratege“ Zbigniew Brzezinski legte bei derselben Veranstaltung im Juli 2008 nach, Russland wolle die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline übernehmen und drohe bereits Georgien. (s.w.u.)

Blick zurück

Doch der aktuelle Energiepoker ist nur vor dem Hintergrund der Entwicklung und Geschichte des russischen Akteurs und Energiegiganten Gazprom zu verstehen.

Gazproms Vorgeschichte, so könnte man sagen, beginnt mit der Erschließung der kaukasischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts. Das geschah wesentlich durch westliches Kapital, erst britisches, nach der Revolution 1917 amerikanisches. Erst ab 1923 begann die Sowjetunion selbst den Weltmarkt zu beliefern. Zu dem Zeitpunkt wurden 75% der in der SU benötigten Energien im kaspischen Raum gewonnen. Hitlers Angriffe auf Baku zwangen die Sowjetunion zur schnellen Erschließung und Ausbeutung neuer Felder in Sibirien. Die Bedeutung des kaspischen Raums ging zurück. Zudem gewann die Gasförderung gegenüber der des Öls seit den 70er an Bedeutung. „Wurden Anfang 1950 noch knapp 40% des Rohölbedarfs der Sowjetunion aus der Region Baku gedeckt, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1980 auf nur etwas über 2%“14 Die Förderungen konzentrierten sich auf die neuen sibirischen Vorkommen. Die alten Anlagen verfielen, die neuen wurden überstrapaziert. Ende der 80er bestand für die gesamte Gas- und Ölindustrie dringender Modernisierungsbedarf.

Die Umwandlung des Branchenministeriums der Gas-Versorgung in einen Staatskonzern 1989, dessen Privatisierung als Aktiengesellschaft 1992 ließ eine autonome Organisation mit quasi hoheitlichen Funktionen entstehen. Die Modernisierung jedoch blieb stecken. Die Bevölkerung erlebte Gazprom als Selbstbedienungsladen ehemaliger Funktionäre und deren Klientel. Die Ölbranche ging eigene Wege; sie entwickelte sich zum Eldorado privater Oligarchen.

André Kolganow, Dr. der Ökonomie an der Moskauer Staatsuniversität, führendes Mitglied der Neulinken Gruppe „Alternative“15 charakterisierte die Situation des Konzers Mitte der 90er Jahre als „zur Zeit ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. (…) Seit der Privatisierung verfügt Gazprom über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von Gazprom unterstellt. Gazprom führt also Aufsicht über sich selbst. Gazprom ist eine merkwürdige Organisation: Nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. Gazprom ist überhaupt eine mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“ Interessant seien die „eigenen sozialen Strukturen“, die Gazprom befähigten sich „einen eigenen sozialen Kompromiss mit seinen Arbeitern zu leisten“16 Kolganow meinte damit die Gründung einer eigenen, Gazprom zugehörenden „gelben“ Gewerkschaft.

Ein leitender Mitarbeiter von Gazprom brachte die Verhältnisse in einem nicht-öffentlichen Untersuchungsgespräch auf den Nenner: „Was die transnationalen Aktivitäten anbetrifft, so handelt Gazprom wie eine normale europäische, westliche Kooperation. Was Gazproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der extrapolaren Wirtschaft, aber über sie ist Gazprom doch gezwungen , sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“17

„Extrapolare Wirtschaft“ ist ein Stichwort des russischen Ökonomen Prof. Theodor Schanin, mit dem er und die von ihm gegründeten „Moskauer Schule für Politik und Soziales“ die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Realität Russlands definieren, die nicht als sozialistische, aber auch nicht als kapitalistische, sondern als zwischen diesen Modellen befindliche „extrapolare“ beschrieben werden müsse.18 Gemeint ist das Ineinandergreifen von Geld- und Tauschwirtschaft in einer Symbiose von Industrieproduktion und Strukturen der ergänzenden familiären und kollektiven Selbstversorgung.

Für westliche Augen war diese Struktur einfach ein Rätsel: „Die Firma übernahm das sozialistische Erbe der Verantwortung für Kindergärten, Schulen, Wohnungen in den Gaszentren des Nordens; wo das ‚blaue Gold’ bei minus 30 Grad aus dem Eisboden geholt wird“, schrieb beispielsweise die „Zeit“. „Betriebsspartakiaden für die Belegschaft und Yachtclubs für das Management rundeten den Kleinkommunismus ab. Gazprom schluckte Milchfabriken, Banken, Metallhütten, Chemiebetriebe und Zeitungsredaktionen. Doch der Niedergang hatte begonnen. Die Gesamtproduktion von Gazprom sank von 602 Milliarden Kubikmetern 1992 auf 520 im Jahr 2001, während die Förderung im privaten Ölsektor steil anstieg. (…) Der Gasinlandsmarkt ist ein Plansystem der Quoten und der staatlich festgeschrieben Niedrigpreise, sodass Gazprom gezwungenermaßen ganze Industriezweige subventioniert. Eine Aufteilung des Konzerns in die Sparten Förderung und Transport und Verkauf würde verdeutlichen, wo Werte geschaffen oder vernichtet werden. Doch die Intransparenz ist vielen nützlicher.“ Fazit der „Zeit“: „So blieb Gazprom der größte russische Betrieb, der nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegt.“19

„Was Gazprom genau ist“, wunderte sich auch das deutsche „Managermagazin“, „lässt sich kaum in einen einzigen Begriff pressen (…) Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an? In der Region verwischen sich die Konturen. Was Bayer für Leverkusen oder VW für Wolfsburg, diese Rolle des sozialen Korrektivs nimmt die Firma für ganz Russland ein. In Westsibiriens Kreisstadt Badym lebt nahezu die komplette Kommune vom Geld des Megakonzerns.(…) Überall schimmert er durch, der eingebrannte Stolz auf die Autarkie“20

Gazprom wurde das Feld, auf dem sich die Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs Russlands in den 90er Jahren konzentrierten. Der bekannteste Rechte Russlands, Alexander Prochanow charakterisierte diese Auseinandersetzung mit den Worten: „Gazprom ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist eindeutig nützlich für den Staat. In ihr gewinnt man riesige Gelder. Gazprom bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat Gazprom die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. Gazprom hat aber zugleich die Verbindung zum Business. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist übel. Außerdem arbeitet Gazprom leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen beiseite. Aber über Gazprom verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. Gazprom reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt sich auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf Gazprom zur Zeit die Angriffe: Allzu schmackhaft sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski21 . Deshalb ist der Kampf um Gazprom wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistische Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen“22

Ein Korridor gegen Russland

Parallel zur inneren und äußeren Auflösung der Sowjetunion gingen die westlichen Industriemächte daran, allen voran die USA und in ihrem Gefolge die EU, seit Anfang der 90er einen sog. Ost-West-Transportkorridor, romantischer auch „Projekt-Seidenstraße“ genannt, an Russlands „Bauch“ entlang zu führen, durch den zentralasiatisches und kaspisches Öl und Gas unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols nach Westen geschafft werden könne. Milliardenschwere Programme wurden dafür aufgelegt, Technische Entwicklungshilfe für die GUS (TACIS), das gigantische eurasische Pipelineprogramm (INNOGATE) und das Programm zu Modernisierung von Trassen-, Schienen und Hafenanlagen (TRACECA) – alles mit dem Ziel, den kaukasischen und zentralasiatischen Raum durch den Ausbau von Ost-West-Verbindungen von der bisherigen Zentrierung auf Moskau zu lösen. 23 Von einer Beratung und Mitwirkung bei diesen Programmen war und ist Moskau expressis verbis ausgeschlossen.24

Den strategischen Hintergrund für die Programme konnte man in Bzrezinskis Buch „Die einzige Weltmacht“ nachlesen.25 Eurasien sei der „geopolitischer Hauptgewinn“ der USA schrieb er. Russland müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen: von Seiten der NATO und EU-Erweiterungen im Westen, durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan im Osten, durch Eingriffe im „Eurasischen Balkan“ am „Bauch“ Russlands im Süden des eurasischen Kontinentes – Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem südlichen Raum gehe es für die USA darum, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern. Mit TACIS, INOGATE und TRACECA folgte die EU dieser Vorgabe.

Ergebnis dieser Programme war als Erstes der „Jahrhundertvertrag“ von 1993, der die Ausbeutungsrechte globaler Multis, außer Gazprom, versteht sich, am aserbaidschanischem Öl für 30 Jahre regelte. In den Verhandlungen um die zukünftigen Transportwege setzten sich die USA mit ihren Vorstellungen durch, den neuen Transportkorridor sowohl an Russland als auch am Iran vorbei über Georgien und die Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu bauen. Die zentralasiatischen Felder sollten durch Zuleitungen am Boden des kaspischen Meeres mit einbezogen werden. 2005 konnte die Pipeline, noch ohne diese Zuleitungen, in Betrieb gehen; nach den Anfangsnamen der Städte Baku, Tiblisi, Ceyhan heißt sie heute BTC-Pipeline. 26

Zweites wesentliches Ergebnis war der seit 2006 auf Vorschlag der USA verfolgte Plan der EU eine Gas-Pipeline, genannt Nabucco-Pipeline vom Osten der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis ins österreichische Baumgarten an der March führen. Von dort soll das Gas über das Verteilernetz des österreichischen Energiekonzerns OMV in die EU weitergeleitet werden.27 Baubeginn ist für 2009 geplant, Betriebsbeginn für 2013.

In Verbindung mit den EU- sowie NATO-Osterweiterungen, sowie der am 23. Mai 2006 beschlossenen Deklaration der Rest-GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldawien) eine „Brücke zur NATO und zur EU“ unterhalten zu wollen, konnten USA und EU sich als vorläufige Sieger in der Auseinandersetzung um den Zugriff auf die zentralasiatischen und kaspischen Energievorkommen betrachten, auch wenn der ökonomische Nutzen der BTC-Pipeline ohne die zentralasiatischen Zuleitungen noch zu wünschen übrig ließ.

Straffung durch PUTIN

Mit der Krise 98, noch unter Jelzin setzte die Gegenbewegung Russlands ein. Im Ergebnis der Krise löste Russland sich, nicht unbedingt freiwillig, aber effektiv, vom Tropf der IWF-Kredite. Unter der Vorgabe, die eigenen Kräfte zu stärken, machte Putin sich dann daran, die in den 90er gewachsene Macht der privaten Privatisierungsgewinnler zugunsten eines wieder erstarkenden russischen Staates zurückzudrängen. Das traf 2001 zuallererst die Führung von Gazprom. An die Spitze von Gazprom traten jetzt Alexei Miller als Vorstandsvorsitzender und Dimitri Medwedjew, der jetzige Präsident Russlands, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wjechirew und sein Klientel mussten gehen. Von ihnen gehaltene Anteile gingen an den Staat über. Der private Charakter des Konzerns als AG sowie seine halbmarktwirtschaftliche Grundstruktur jedoch blieben erhalten.

Mit dem so erneuerten Instrument Gazprom ging Putin gegen den Medien-Oligarchen Gussinski und die graue Eminenz der Jelzin-Zeit Beresowski vor, die beide das Land verließen. Wendepunkt im Kampf um den Zugriff auf die Ressourcen wurde der Prozess gegen Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Als die Prozesse gegen Chodorkowski begannen, hatte Yukos seinen Firmensitz in New York und Chodorkowski war drauf und dran große Anteile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco US-Kapital zu verkaufen. 28 Die Auseinandersetzung endete mit der Eingliederung des Öl-Konzerns Sibneft in den Gazpromverband. Damit war die (Wieder)Zusammenführung von Gas- und Öl-Industrie eingeleitet.

Nach der inneren Neuordnung der Energiewirtschaft gingen Putin und sein „Kommando“ planmäßig daran, verlorenes Terrain auf dem Energiemarkt zurückzugewinnen:
2005 schließen Gazprom mit Wintershall einen Vertrag zum Bau der Ostsee-Pipeline (North-Stream), die russisches Gas unter Umgehung der Transitländer Osteuropas direkt ins Herz der EU liefern soll. Sie soll ihren Betrieb spätestens 2013 aufnehmen.
Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) am 15. Juni 2006 schlägt Putin die Gründung „eines SCO Energieclubs“ vor. Er weist darauf hin, dass die SCO-Mitglieder 20 Prozent der Weltölreserven und 50 Prozent der Weltgasreserven kontrollieren. Bei einem Besuch Putins in Algerien erlässt er dem Land die Schulden und stellt umfangreiche Waffenlieferungen in Aussicht. Danach beginnen Gazprom und der algerische Energiemulti Sonatrac mit „geologischen Erkundungen“.
Beim Petersburger Treffen der G8 im Jahr 2006 bietet Russland sich als Kontrolleur des Welt-Energiemarktes an. In den deutschen Börsennachrichten vom 24.4.2007 wird gemeldet, Russland wolle Milliarden aus seinen gewaltigen Öl- und Gaseinnahmen in internationale Konzerne investieren. Man werde Anteile in diversen Branchen zeichnen, unter anderem im Öl- und Gasgeschäft. Auch Investitionen im Immobiliensektor seien möglich.
Am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline (South-Stream) zusammen29: Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga/Noworossisk auf dem Grund des Meeres nach Varna an der bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen30 .

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vertrag mit Serbien im Januar 20083 1, mit Ungarn im Februar32 , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an Nabucco als auch an North-Stream beteiligen. Ein Joint Venture von Nabucco und Gazprom unter der Bezeichnung „New Europa Tansmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen.33 Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“ 34

Im Juli offeriert Gazprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen.35 Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa.36 Gazproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom sich auch nach Osten37 : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation.38 Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein.39 Zudem rechne Gazprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“40

Energie als politische Waffe

Die Erfolge Gazproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Bereits im November 2006 hatte US-Senator Richard G. Lugar auf dem NATO-Gipfel in Riga erklärt, die von Gazprom geplante OPEC sei eine „explizite Bedrohung“, die unter den Artikel 5, Beistandsverpflichtung des NATO-Bündnisvertrages falle und die „Erpressung durch Einstellung der Energieversorgung“ komme einer „militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration“ gleich.41 Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“ und ähnliche Aussagen konnte man wenige Wochen später in den deutschen Mainstream-Medien lesen und hören.42

Auch die Gas-OPEC geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sogennante „NOPEC“_Gesetz. 43

„Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“44

Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive45 . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gazproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Aserbaidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblisi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren, die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der Nabucco Pipeline gedient“ werde.

Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien (vor), die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache darin liege, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“46

Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er unter anderem damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Linie bombardieren wollen.

Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“, habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“47

Gebremste westliche Alternativen

Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und bedauernd konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde.48

Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen Nabucco und Süd-Strom liege in der Frage der Eigentümer: Nabucco werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, die ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“49

Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn turkmenisches und kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ vom südrussischen Schwarzmeerhafen Noworissisk durchs Schwarze Meer nach Samsung an der türkischen Nordküste zu verlegen. Kapazitätsverluste für Nabucco wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novororossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossetien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen.50

Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmenisches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.

Gebremste Alternativen

Wie sehr der Aufruf Brzezinskis, Russland zu isolieren, vom Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen. Nach dem Ende der Kämpfe in Georgien gab man dort – höchst widerwillig – bekannt, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom’“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“51

Verhängnisvoll? – ja, wenn BTC- und Nabucco-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wäre die Antwort dagegen, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von Nabucco und „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, wenn es auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll.52 Die tatsächlich stattfindenden Vorbereitungen für den Bau von „North Stream“ und „South Stream“ zeigen ebenfalls in diese Richtung. Ökonomische und politische Vernunft spricht für solche Lösungen – solange noch keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind.

Muss die Welt eine solche Entwicklung fürchten? Auf diese Frage gab der Vize-Vorstandschef von Gazprom, Alexander Medwedew, im Sommer 2007 der Presse eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom’ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risiken enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird.53

Dem ist nur noch die Frage hinzuzufügen, ob die EU und USA an einem solchen Partner interessiert sind.

Quellen:

1 Sbigniew Brzezinski in Wallstreet, 20.9.2004
2 So von dem Anwalt Michail Chodorkowskis, Robert Amsterdam in ww.robertamsterdam.com,
vom 6.1.2008: (…) Gazproms achievements are exaggerated for many reasons, perhaps the most important being that it is not actually a company, corporation, or purely commercial entity in the traditional sense of the term. Neither is Gazprom a Government, but rather the lines are so blurred between the two, as many OECD reports have noted, that it is often difficult to tell, which is the horse und which is carriage.”
3 Novosti, 17.9.2008 und folgende Tagesmeldungen
4 U.a. in: Kai Ehlers, Erotik des Informellen , edition 8, 2004, S. 53ff
5 Spiegel online 18.01.2008
6 Greenpaper, Towards a european strategy fort he security of energy reply, european communities, 2001
7 Handelsblatt, 01.10.2008, Gespräch mit Energiekommissar der EU, Andris Piebalgs
8 Russland Analysen 170/08, S. 13 ff
9 Russlan aktuell, 14.07.2008
10 russland aktuell, 28.4.2008
11 Lfde. Berichterstattung 2008 von rusland.ru
12 Gazprom, Pressezentrum, 26.Juni 2006
13 Süddeutsche Zeitung, 27.06.2008 und Wirtschaftsblatt, 23.06.2008
14 Angaben nach Markus Brach-von Gumppenberg, in: Der Kaukasus, Hrgn. von Maria-Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach, becksche Reihe, München 2008, S. 159ff ; außerdem: Europa unter Spannung, Energiepolitik zwischen Ost und West, Osteuropa, 9/10-2004
15 So genannt nach der von der Gruppe herausgegebenen Zeitschrift
16 In „“Gazprom – Anatomie eines Giganten“, Kai Ehlers, NDR-Forum, 12.08.2000
17 „Gazprom – Anatomie eines Gazprom – Feature im NDR Forum, 12.8.2000
18 Kai Ehlers, Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation“, edition 8, Zürich, 2004
19 Zeit Online, 12/2004
20 Manager Magazin 6/1999, S. 130ff
21 Bekanntester Oligarch der Jelzin-Zeit und Haßobjekt aller Kritiker des Privatisierung.
22 In “Gazprom – Anatomie eines Giganten“, Kai Ehlers, NDR-Forum, 12.08.2000
23 TACIS = Technical Assistance to the Commenwealth of Independent States; INOGATE = Interstate OIL and Gas Transport to Europa; TRACECA = Transport Corridor Europa-Caucasus-Central Asia (Unter diesen Abkürzungen auch im Internet auffindbar)
Siehe dazu: Kai Ehlers, Asiens Sprung in die gegenwart, Russland China, Mongolei – Die Entwicklung eines Kulturraumes ‘Inneres Asien’”
24 Evaluation of TACIS/TRACECA programme. Transport Corridor Europa Caucasus Asia, Request for Services No. 2002/47681, Final Report, Jacobs Consultancy, London, Juli 2003 Caucasus Asia
25 Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer tb, 14358, 1997
26 Angaben z. T. nach Markus Brach-von Gumppenberg, in: Der Kaukasus, Hrgn von Maria-Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach, becksche Reihe, München 2008, S. 159ff
27 Michael Liebig, www.solon.online.de
28 Kai Ehlers, Der Fall Chodorkowski oder: Russland im aktualisierten „Great Game“, Ralph-M. Luedtke/Peter Strutynski (Hrsg.), Neue Kriege in Sicht, Verlag Winfried Junio, Kassel 2006
29 Novosti 16.09.2008
30 Solon online, 7.07.2007
31 Novosti 16.09.2008)
32 Novosti 16.09.2008
33 Russlandktuell12.2007
34 Novosti, 29.04. 2008
35 Taz, 26.07.2008
36 ebenda
37 Novosti, 10.12.2008
38 Focus, 14.7.2008
39 Russland Taz, 07.10.2008
40 russland.ru, Juli, 2008
41 Energy and NATO, Senator Lugar´s keynote speech t the German Marshall Fund Conference on Monday; November 27, 2006 in Riga, Tavia, in advance of the NATO Summit, zitiert nach Jürgen Wagner, der russisch – Europäische Erdgaskrieg, Linksnet1, August 2007
42 Focus, 21.08 06
43 Linksnet, JÜRGEN Wagner in Ausdruck
44 Backgrounder, published by The Heritage Foundation, No 2083, November 5, 2007
45 OIL; Oligarchs and Opportunity: Energy from Central Asia To Europa, Committe on Foreign Relations The Uniated States, Julne, 12, 2008
46 ebenda
47 Welt, 11.8.2008
48 Oil, Oligarchs and Opportunity: Energy From Central Asia to Europa, Dr. Leon Fuerth, 12.06.2008
49 ebenda
50 www.steinbergrecherche.com
51 polskaweb.eu, 2.09.2008
52 Russlandktuell12.2007
53 Gazprom pressezentrum, 17.06.2007

veröffentlicht in: Hintergrund

Zitat des Tages – multipolar

Unter der Überschrift „Die Krise und ihre Folgen“, war im Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.10.2008 Folgendes höchst Interessantes zu lesen:

„Das Epizentrum der Krise liegt in der Wall Street; dort könnte das Ende der finanziellen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten eingeläutet werden. Amerika ist militärisch geschwächt und geopolitisch ermüdet. Die Welt befindet sich im Übergang vom amerikanischen Hegemon zu einer multipolaren Ordnung. Die Rechnung für die Krise wird nicht an einem Tag, sondern über Jahre beglichen. Es wird eine globale Lastenverteilung geben. Amerikas Gläubiger haften mit. Das kommunistische China hat geschätzt 500 bis 600 Milliarden Dollar in der Krise verloren. Die Devisenreserven der Volksrepublik schrumpfen täglich. Kaum besser ergeht es Russland und den Golfstaaten, die ihre Erlöse aus Öl- und Gasgeschäften künftig nicht nur in Dollar anlegen wollen. Diese und viele andere Länder sind der Wall Street gefolgt und enttäuscht worden. Das bevorstehende Gipfeltreffen der G-7-Staten könnte das letzte seiner Art sein. Es ist an der zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden. Das Beben an den Finanzmärkten führt zu einer tektonischen Verschiebung der politischen Machtverhältnisse der Welt. Darin liegen Risiken, aber auch Chancen für Europa.“

Wow! Gestern noch Gegenstand der Hetze, des Hohns oder bestenfalls als russische Marotte belächelt, sieht sich das Unwort der „Multipolarität“ unversehens zum Stichwort einer neuen Ordnung erhoben. Und nicht nur das: Mit einem Mal scheint es auch „an der Zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden.“ Was musste geschehen, damit eine seit zwanzig Jahren real stattfindende, aber beharrlich geleugnete Entwicklung der Diversifizierung, der Pluralisierung der Welt, der Entstehung neuer Zentren im globalen Geschehen plötzlich einen Ehrenplatz im Leitkommentar des konservativsten deutschen Blattes findet?

Bricht sich angesichts der Finanzkrise tatsächlich Bahn, was sich im Georgischen Krieg andeutete, aber noch nicht begriffen, sogar wütend bekämpft wurde? Dass nämlich die USA, die NATO, die Europäische Union nicht mehr allein über die Geschicke der Welt entscheiden? Dass es andere, neue Kriterien in den Beziehungen zwischen den Völkern geben könnte als die unilaterale Durchsetzung hegemonialer Interessen einer „einzigen Weltmacht“, wie die USA von ihrem wichtigsten Strategen, Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion getauft wurde? Kooperative, gleichberechtigte, auf friedliches Miteinander der Völker orientierte Beziehungen in einer gemeinsam gepflegten Welt.

Oder ist der Kommentar vielleicht gar nicht so zu verstehen? Ist mit „Einbindung“ vielleicht gar nicht Kooperation, Gleichberechtigung und friedliches Miteinander gemeint, sondern eben genau das, was Banker uns soeben weltweit vorführen – die Sozialisierung der Verluste, nachdem die Gewinne in Schwindel erregenden Höhen und brutalster jahrelang Weise privatisiert wurden? Soll „Einbindung“ diese Methode nun vielleicht nur in die Politik und auf die internationalen Beziehungen übertragen – Sanierung der USA auf Kosten der Welt, indem der „ermüdeten“ Weltmacht in Zukunft geholfen wird, die schwere Bürde der Weltherrschaft zu tragen? Barak Obamas Botschaft ging schon vor der Krise in diese Richtung.

Die Kritik, die Sbigniew Brzezinski in seinem neuesten Buch „Second Chance“ an Bush I, Clinton und Bush II (wie er sie aufzählt) vorbringt, endet mit dem Aufruf, die „Hybris“ der unilateralen Alleinherrschaft über die Welt hinter sich zu lassen und sich für Bündnispartner zu öffnen – jedoch ohne dabei den Anspruch auf Hegemonie zu hinterfragen, im Gegenteil, um ihn zu erneuern. Im selben Geiste führen Banker, Wirtschaftsbosse und herrschende Politik jetzt reihenweise vor, dass nicht etwa das „System“ die Ursache des Finanzcrashes sei, sondern Gier, Dummheit und Verantwortungslosigkeit einzelner Personen. Einzeltäter.

Mehr noch und wahrlich schon grotesk in seinen konkreten Formen der Darstellung: Um nur „das System“ nicht in Frage stellen zu müssen, verwandeln sich Ideologen und Praktiker des seit dem Ende der Sowjetunion propagierten und praktizierten Neo-Privatismus reihenweise in Fürsprecher eines neuen Etatismus: der Staat soll es richten. Aber wer, bitte sehr, ist heute „der Staat“? Der Staat ist heute mehr denn je nichts weiter als der „geschäftsführende Ausschuss“ des Kapitals. Das war er im „realen Sozialismus“, das ist er allen „Deregulierungen“ und selbst Mafianisierungen zum Trotz auch in der nach-sozialistischen Globalisierung und wird es bleiben – wenn nicht Wirtschaft und Gesellschaft endlich personell und institutionell getrennt werden.

Die Lösung liegt nicht darin, vom Neo-Liberalismus zum Staatsdirigismus zurückzupendeln, um wie Hamster im Käfig dann wieder zum Liberalismus zurückzukehren und so never ending wie eine Ratte immer wieder dasselbe Rad von Liberalismus zum Dirigismus zu durchlaufen. Die Aufgabe – und auch die Chance – besteht vielmehr darin einen Weg zu finden, der die zur Zeit bestehende Totalität eines mit der Wirtschaft undefinierbar verflochtenen sich selbst irgendwie regulierenden Staates, also einer Totalität, der die Gesellschaft in sich aufsaugt, differenziert, in eine Entflechtung von Wirtschaft, Staat und geistiger Lenkung überführt. Wirtschaft, Staat und Kultur im Sinne geistiger Orientierung müssen als drei voneinander unabhängige, gleichwertige Teile der Wirklichkeit miteinander kooperieren.

Nur so werden wir aus der bloßen Wiederholung des ewig gleichen Kreislaufes herauskommen. Das Gleiche Prinzip gilt auch für die globale Ordnung, bei der es auch nicht nur darum gehen kann, die bestehende Hegemonie eines Superimperiums USA, einer mit den USA verbundenen EU durch „Einbindungen“ Russlands, Chinas oder anderer zu stützen, was zweifellos auch geschehen muss, um schlimmste Abstürze zu verhüten. Es geht vielmehr darum eine kooperative Wechselwirkung voneinander unabhängiger, gleichberechtigter Integrationsräume und Kulturen herzustellen, die sich in gegenseitiger Hilfe verbinden, genauer, die schon vorhandenen Ansätze und Möglichkeiten dazu zuzulassen und zu fördern.
Es sei vielleicht noch ein Letztes angemerkt, um diese kleine Betrachtung, die nur eine Anregung sein kann, abzurunden: Der multipolaren Weltordnung und der skizzierten multisektoralen Organisation von Staat Wirtschaft und Kultur entspricht die Entwicklung eines multidimensionalen Menschen. Das sind Menschen, die sich nicht mehr allein durch Geburt, Blutsbande, Nation, vorgegebene Religionen oder Leitkulturen oder auch durch ihren Lohnberuf, sondern durch die freie Wahl ihrer Beziehungen zu anderen Menschen und Kulturen wie zu der von ihnen gewünschten Tätigkeit definieren.

Dies alles wäre der Umkreis des Wortes „Multipolar“, wenn man es nicht zur Verfestigung der bestehenden Verhältnisse, sondern zu deren Transformation heranzieht. Die gegenwärtige Krise und ihre Folgen geben die Chance dazu.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Kaukasus – Öl statt Sanktionen

Vertreter der deutschen Wirtschaft in Moskau sollen sich die Haare gerauft haben, als nach dem Aufkochen der lange „eingefrorenen“ kaukasischen Konflikte auf dem Krisengipfel der EU Anfang September das Wort „Sanktionen“ im Raum stand. Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Jürgen Thuman erklärte: „Überlegungen, Russland mit Sanktionen unter Druck zu setzen oder Verhandlungen oder Verhandlungen zum WTO-Beitritt und zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU zu stoppen, führen in die falsche Richtung.“
Nichts scheint zusammen zu passen: Während in den Führungsetagen der USA und des „atlantischen Bündnisses“ nach dem russischen Eingreifen in Georgien laut über den Ausschluss Russlands aus dem Kreis der G8, der WTO und sogar der Vereinten Nationen nachgedacht, in der NATO gar demonstrative „Strafmaßnahmen“ praktiziert wurden, setzte der österreichische Öl- und Gasverbund OMV seine Verhandlungen mit Gazprom über die Beteiligung Österreichs an der „South Stream“-Pipeline fort, durch die Russland und die EU im Energieverbund näher aneinander heranrücken, Der Baubeginn von „North Stream“, besser bekannt als Ostsee-Gas-Pipeline steht ohnehin vor der Tür.
Forderungen nach wirtschaftlicher Kooperation mit Russland, nach eurasischer Energiesicherheit, nach einer „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur“ stehen einer Medienkampagne gegenüber, die Russland nur noch mit Panzern, Imperialismus oder gar Faschismus assoziiert.
Russlands Präsident Medwjedew erklärt indes, sein Land sei selbstverständlich nicht an einem Bruch mit der EU gelegen, habe auch kein Interesse an einer Besetzung des Kaukasus, sondern wünsche sich eine internationale Kontrolle des Gebietes unter Führung der KSZE oder der UNO. Wenn nötig, sei man allerdings bereit und auch in der Lage sich anders zu orientieren.
Im Ergebnis beließ die EU es seit ihrem Krisengipfel dabei die „territoriale Integrität“ Georgiens zu betonen.  Die USA begrüßten die Beschlüsse des Gipfels, die NATO verspricht Hilfe zum Wiederaufbau Georgiens, Zusicherung für dessen zukünftige Mitgliedschaft im Bündnis jedoch gibt sie nicht.
Verständlich werden all diese widersprüchlichen Signale nur, wenn man sich die langen Linien vor Augen führt, die sich seit dem Ende der Sowjetunion durch das Dickicht der globalen Neuordnung ziehen. Da sind zunächst die USA: Ihre Strategen glaubten als „einzige Weltmacht“, und nicht nur das, sondern auch als einzige zukunftsfähige Alternative aus dem „Kalten Krieg“ hervorgegangen zu sein. Man lese dazu das nach wie vor höchst aktuelle Buch Sbigniew Brzezinskis.
Zur Wahrnemung ihrer historischen Aufgabe, so Brzezinski, müssten die USA die Wiederentstehung anderer führender Kräfte, vor allem auf dem eurasischen Kontinent als dem territorialen Zentrum der Welt, im Keim unterbinden. Systematische politische Interventionen der USA auf dem Eurasischen Kontinent waren und sind politischer Ausdruck dieser Strategie. Sie stützt sich auf die EU und auf Japan als „Brückenköpfe“ im Westen und im Osten des eurasischen Raumes sowie auf die „Stabilisierung“ des „eurasischen Balkans“ vom Süden her. Darunter versteht Brzezinski Zentralasien und den Kaukasus.
Nach 15 Jahren und drei Präsidenten – Bush I, Clinton, Bush II – müssen die führenden Strategen der USA jedoch feststellen, dass die USA sich übernommen haben. Auch hierzu wieder Brzezinski,  der in einem neuen Buch Bilanz aus 15 Jahren US-Politik zieht:  Anders als erhofft haben sich die US-Kräfte im südlichen Interventionsabschnitt Eurasiens festgefahren. Was den USA Einfallstore durch den Sperrgürtel öffnen sollte, den China, Afghanistan, Iran und Irak für ein Eindringen in den Süden Eurasiens bilden, verkehrte sich nach schnellen Anfangserfolgen über die Taliban und über Saddam Hussein zu lang andauernden Kriegen, in denen die USA militärisch und moralisch versanken, während China, EU und auch Russland im Schatten dieser Situation an Kraft gewannen und sich auch außerhalb Eurasiens neue Kräfte bündeln.
Zentraler Konfliktraum, in dem die neuen globalen Interessenlinien sich jetzt kreuzen, ist die von den Geo- und Energiepolitikern so getaufte „strategische Ellipse“. Sie umfasst den „eurasischen Balkan“, konkret, die Räume nördlich und südlich des Kaukasus, in deren Mitte die Bergketten des Kaukasus eine Schwelle bilden, welche die afrikanische von der eurasischen Landmasse trennt – bzw. sie miteinander verbindet. Für die USA ist der Kaukasus jedenfalls zur Zeit der einzige verbliebene südliche Zugang nach Eurasien.
80% der heute verfügbaren fossilen Ressourcen lagern im Bereich der „strategischen Ellipse“. Gut die Hälfte davon liegt im südlichen Einzugsbereich – Arabien, Irak, Iran. Im Norden umfasst sie die Ölfelder Azerbeidschans, Russlands, Kasachstans und Turkmenistans, öffnet sich für die Zugänge zu sibirischem Gas und Öl. Nach dem Ende der Sowjetunion galt den Westmächten dieser Raum als „Machtvacuum“. Eine Neuaufteilung der Einflusssphären schien möglich, wenn es gelänge, das bis dahin bestehende Förder- und Transportmonopol Moskaus für Öl und Gas zu brechen.
Seit 1990 forcierten die USA daher die Erschließung des Raumes entlang eines „Transportkorridores“, der Öl und Gas in neuen Pipelines unter Umgehung Russlands, sozusagen an seinem Bauch entlang über die kaspische Schwelle nach Westen transportieren könnte. In einem Zug sollten so auch zugleich Iran und China außen vor gehalten und das Monopol der arabischen Staaten gebrochen werden. Demokratisierung der fossilen Weltressourcen, etwas sachlicher ausgedrückt, Diversifikation lautete das politische Zauberwort, mit dem diese Strategie verkauft werden sollte.
Herausragendes Ergebnis war der Bau der Pipeline vom azerbeidschanischen Baku über das georgische Tiblissi nach Ceyhan an der türkischen Küste des Mittelmeeres, nach den Städtenamen kurz BTC-Linie getauft. Sie ist seit 2005 in Betrieb. Die Europäische Union folgte mit dem Plan der sog. Nabuco-Pipeline, die zentralasiatisches und kaukasisches Gas, ebenfalls unter Umgehung Russlands durch die Türkei über Bulgarien, Ungarn mit Endpunkt in Österreich direkt nach Europa schaffen soll. Ihre – von den US-Think-Tanks wie der Heridage Foundation und anderen – immer wieder formulierte Aufgabe ist, die EU von Russland unabhängig zu machen. Dahinter steht das Ziel, die EU als „Brückenkopf“ zu erhalten.
Seit Wladimir Putin 2004 mit der Zerschlagung von Yukos die Übernahme des russischen Ölmarktes durch US-Konzerne stoppte, hat sich der Wind gedreht. Mit „North Stream“ entstand 2005 ein deutsch-russisches Projekt, das die Verbindung zwischen Russland als Gaslieferanten und Deutschland und von Deutschland aus mit der EU langfristig vertiefen wird. Mit „South Stream“ kommt seit Mitte 2007 das südliche Pendant dazu, mit dem Gasprom den Nabuco-Plänen unmittelbare Konkurrenz macht. Die Mitglieder der EU Bulgarien, Ungarn, Österreich schlossen seit 2007 nacheinander Einzelverträge mit Gazprom als Betreiber der „South Stream“ ab, statt in „atlantischer Solidarität“ auf die Fertigstellung des Nabuco-Linie zu orientieren, die ebenfalls über ihre Territorien führen soll.
Während mit den Bauabschnitten zur „South Stream“ schon begonnen wurde, liegt das Nabuco-Projekt noch in der Planung. Im Mai 2007 zwischen Gazprom und Turkmenistan abgeschlossene Verträge, turkmenisches Gas in Zukunft über bereits bestehende russische Leitungen an Gasprom zu verkaufen, statt auf die Inbetriebnahme einer im Zusammenhang mit Nabuco projektierten Unterwasser Pipeline durch das Kaspische Meeer zu warten, bilden den aktuellen Abschluss dieser Entwicklung.
Ohne turkmenisches Gas ist Nabuco jedoch nicht mehr gewinnbringend zu betreiben. Damit ist der Versuch der USA, die EU von russischer Energieversorgung unabhängig zu machen, um sie als westlichen „Brückenkopf“ für die Beherrschung Eurasiens zu erhalten, vorerst gescheitert. Es entsteht ein eurasischer Energieverbund mit einem wieder erstarkten Russland als Zentrum für die Gas- und Ölversorgung, in dem umgekehrt die EU, speziell Deutschland der wichtigste Handelspartner Russlands ist. Das ist eine Tatsache, der sich europäische, wie auch US-amerikanische Politik zu stellen hat. Forderungen nach „Sanktionen“ gegen Russland sind vor diesem Hintergrund bestenfalls Gesten, die den Zweck haben, den „atlantischen Partner“ zu beruhigen, um ihn nicht ganz zu vergraulen, wenn sie nicht schlicht Ressentiments aus unbewältigter Geschichte sind. Dem gleichen Muster folgt die Propaganda, die Russland ökonomisch umwirbt, aber politisch und moralisch klein halten will. Die Frage ist allein, ob die USA sich mit solchen Gesten abspeisen lassen. Zur Zeit hält man sich in diplomatischen  Floskeln. Nach der Wahl wird man es sehen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer 1997

Sbigniew Brzezinski, The second chance (englisch), basisic books, New York, 2007

Brennglas Kaukasus

Die jüngste Eskalation im Kaukasus, die mit der Offensive Georgiens gegen Südossetien in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 in einen offenen Krieg überging, kam nicht überraschend. Seit dem Zerfall der Sowjetunion laufen die Konfliktlinien neuer Staatenbildung ebenso wie die der Neuordnung der geopolitischen Kräfteverhältnisse in dieser Region wie in einem Brennglas zusammen.
Die lokalen Ursachen der Konflikte liegen zweifellos in der ethnischen Vielfalt des Kaukasus. Historisch ist der Kaukasus Durchgangsraum zwischen dem Osten und dem Westen Eurasiens sowie zwischen der eurasichen und der afrikanischen Landmasse. Am „Berg der Sprachen“ werden im Kaukasus, je nach Zählweise nicht weniger als 40 – 60 Sprachen gesprochen, manchmal in einem Dorf mehrere nebeneinander. Zugleich ist der Kaukasus auch „wilde Land“, in das schon Griechen und Römer sich nur ungern begaben. Die russischen Zaren unterwarfen sich das Gebiet als Zugang zu den warmen südlichen Meeren, für die Sowjetunion wurde es Kornkammer und Energielieferant; für die russische Föderation ist es heute die Achillesferse ihrer Stabilität.
Von 76 Territorial- und Nationalitätenkonflikten, die der Auflösung der Sowjetunion 1990 folgten, betrafen mehr als zwei Drittel den Kaukasus. Sie alle sind ein spätes Produkt der Sowjetzeit. Hatte Lenin von 1917 bis 1921 noch versucht durch eine Politik der „Korennisazija“, Verwurzelung, der Vielfalt gerecht zu werden, damit jedes Volk in den sowjetischen Machtstrukturen mit eigenen Repräsentanten vertreten sein könne, so wurden viele der von ihm gewährten Autonomierechte durch Stalins Gebietsreformen, später Deportationen ganzer Völker wieder rückgängig gemacht. Einige der Kriege, die um die 90er aus dieser Geschichte hervorgingen, überlebten als „eingefrorene Konflikte“: so Berg Karabach zwischen Aserbeidschan und Armenien, die Djnesterrepublik als Abspaltung von Moldawien, Abchasien und Südossetien als Gebiete, auf die Georgien Anspruch erhebt.
Abchasien und Südossetien haben eine besonders unruhige Geschichte. Beide Gebiete wehrten sich schon in vorzaristischer Zeit gegen georgische Herrschaftsansprüche. Im 8. Jahrhundert bildete sich im heutigen Westgeorgien ein abchasisches Königreich, das 929 vom georgischen geschluckt wurde. Als dieses sich Ende des 15. Jahrhunderts spaltete, wurde Abchasien erneut ein selbstständiger Staat.
Im 16. Jahrhundert gerieten Abchasen wie auch Geogier in den Einzugsbereich des Osmanischen Reiches. 1810 kamen beide unter den Einfluss der russischen Zaren. Ein bolchewistischer Aufstand in Abchasien wurde von Georgischen Menschewiki im Juni 1918 niedergeschlagen; 1921, nachdem die Rote Armee die georgische Republik unterworfen hatte, erhielten Georgien und Abchasien den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik, waren einander also gleichgestellt. 1931 wurde Abchasien zu einer autonomen Republik innerhalb der georgischen SSR zurückgestuft. Dies alles war immer wieder von Kämpfen begleitet.
Osseten und Geogier liegen ebenfalls seit Jahrhunderten im Konflikt miteinander. Die Georgier besiedelten das Gebiet an der Südgrenze Russlands im 17. Jahrhundert; die Osseten wanderten im 18. Jahrhundert zu. Sie wurden wiederholt zwischen Russland und Georgien aufgeteilt. Als Georgien sich 1918 zur Republik erklärte, wurde Ossetien in Nord- und Südossetien geteilt. Aufstände zur Vereinigung Südossetiens mit dem Norden in den Jahren 1918 – 1920 wurden von Georgien niedergeschlagen. Die Kämpfe kosteten mindestens 5000 Tote, 20.000 Südosseten flohen nach Nordssetien (bei damals ca. 100.000 Einwohnern Südossetien, davon 65.000 Osseten).
Nach Eingliederung Georgiens in die UdSSR 1922 wurde Südossetien zum autonomen Gebiet innerhalb der georgischen SSR erklärt, Nordossetien verblieb in der UdSSR, bekam dort 1936 den Status einer autonomen Republik.

Das nahende Ende der Sowjetunion ließ 1989 die alten Konflikte aufbrechen. Demonstrationen für eine abchasische Unabhägigkeit in Tiblissi wurden am 9. April 1989 von der Roten Armee niedergeschlagen; 19 Menschen kamen ums Leben. 1989/90 bildete sich auch in Südossetien eine nationale Bewegung, Georgien erklärte daraufhin Georgisch, Ossetien im Gegenzug Ossetisch zur Amtssprache.
Im März 1990 deklarierte Georgien seine Unabhängigkeit. Der neue Präsident Georgiens, Gamsachurdija erhob – ohne dass darüber völkerrechtlich entschieden worden wäre – Anspruch auf Eingliederung Abchasiens und Südossetiens in das georgische Staatsgebiet und liess einmarschieren.     Im Krieg zwischen georgischen und abchasischen Milizen um die Autonomie Abchasiens kamen 1990/1 mindestens  8000 Menschen zu Tode; fast die Hälfte der Einwohner (meist Georgier, etwa 250 000) floh aus Abchasien.
1992 wurde Gamsachurdija gestürzt. Sein Nachfolger Schewardnaze, vormals sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow,  versprach eine gemäßigtere Politik in der „Nationalitätenfrage“. Trotzdem marschierten georgische Truppen in Abchasien ein. Im Verlauf des Jahres 1993 wurden sie von abchasischen Truppen zurückgeworfen. Russland erkannte zwar Georgiens Souveränität an, unterstützte dennoch die Abchasischen Truppen.
Nicht viel besser ging es in Ossetien zu: Am 20. September 1990 erklärte Ossetien sich für souverän, ein blutiger georgisch-südossetischer Krieg folgte. 1991 drangen georgische Milizen auf südossetisches Gebiet vor, zerstörten hundert Dörfer und belagerten Zchinvali. Moskau griff nur zögerlich ein. Unterstützung bekam Süd-Ossetien von Freiwilligen einer zuvor entstandenen „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Im Mai 1992 erklärte die Republik Südossetien endgültig ihre Unabhängigkeit. Erneut folgten schwere Kämpfe, in deren Folge Zchinwali erstmals zerstört wurde.
Nach dem Sturz Gamsachurdias kam ein erstes Friedensabkommen zustande, das zwischen Schewardnaze und Boris Jelzin ausgehandelt wurde. Es sah eine gemeinsame Friedenstruppe von 1500 Mann vor, die zu gleichen Teilen aus Russen, Georgiern, Süd- und Nord-Osseten bestand. Sie sollten in einem 15 km breiten neutralen Streifen rund um das südossetische Gebiet Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Als Zeichen des Goodwills räumte Schewardnaze den Russen darüber hinaus den Bau von vier Stützpunkten ein, veranlasste den Eintritt Georgiens in die GUS und dessen Teilnahme am Taschkenter Bündnis, das 1992 zwischen den Staaten der GUS „zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes“ abgeschlossen worden war.
Eine Kommission der OSZE, KSZE überwachte, von Minsk ausgehend, die Vereinbarungen Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Sie entwarf mehrfach Friedenspläne, die aber immer wieder auf Eis gelegt wurden; die Konflikte froren auf dem Stand einer de-facto-Existenz Abchasiens und Südossetiens ein. Eine internationale Anerkennung kam – wie auch zu Berg Karabach und der Djnesterrepublik – nicht zustande.
In der „Rosenrevolution“ 2003, die Schewardnaze stürzte, kam Michail Saakaschwili mit der erklärten Absicht an die Macht, Abchasien und Südossetien wieder unter „volle Kontrolle“ des georgischen Staatsgebietes bringen zu wollen. Die Beziehungen blieben zunächst noch entspannt. Saakaschwili stand sogar zur Mitgliedschaft in der GUS und hielt ausdrückliche Distanz zur NATO.
Im Mai 2004 jedoch, nach der Wiederwahl des ossetischen Präsidenten Eduard Kokoitys, der Saakaschwilis Eingliederungsabsichten mit nationalen Tönen beantwortet hatte, sperrten georgische Truppen die Grenze zu Südossetien und richteten Kontrollpunkte entlang der südkaukasischen  Fernstraße ein. Sie schlossen den Ergneti-Markt, Südossetiens wichtigste Einnahmequelle. Truppen wurden an der Pufferzone stationiert. Als Russland daraufhin zusätzliche Kräfte in die Region transportierte, brachen erneut Kämpfe aus.
Am 13. August 2004 wurde der Waffenstillstand erneuert. Seine Einhaltung wurde ab 2005 von der KSZE mit acht Militärbeobachtern kontrolliert. Seit 2006 jedoch häuften sich die Konflikte. Saakaschwili erklärte wiederholt, dass er auch militärisch die Einheit Georgiens wiederherstellen werde, wenn Südossetien sein Angebot eines Autonomiestatus nicht annehmen werde. Zchinwali lehnte dieses Angebot mit Hinweis auf seine faktische Selbstständigkeit ab.
Auch die Friedenstruppe wurde Gegenstand der Auseinandersetzung: Saakaschwili warf Russland vor, in der Friedenstruppe durch Unterstützung der Südosseten zweifach, zusammen mit dem nordossetischen Kontingent sogar dreifach vertreten zu sein. Er wertete das als Besetzung Georgiens durch russische Truppen. Zudem forderte er den Rückzug Russlands aus den von Schewardnaze 2004 zugestandenen Stützpunkten. Im Juli 2006 verlangte das georgische Parlament, die Friedenstruppen, vor ihren russischen Teil durch eine internationale Polizeitruppe zu ersetzen. Seit 2007 baute Georgien, gefördert von den USA und der NATO, ca. 20 km. von Zchinwali entfernt bei der Stadt Gori eine Militärbasis auf. Die Ausgaben für den Militärapparat hatten sich zu diesem Zeitpunkt von 0,5% des georgischen Bruttosozialproduktes im Jahr 2003 um das Sechsfache auf 3% im Jahr 2007 erhöht.
Politische Provokationen gegen Russland begleiteten diesen Kurs: so die offene Unterstützung der „orangenen Revolution“ in der Ukraine,  so die wiederholten Ankündigungen Saakaschwilis, dass Georgien die GUS verlassen, dafür in die NATO eintreten wolle, nicht zuletzt die offene Finanzierung dieses Kurses durch die USA: Nach Angaben des Statedepartments erhielt Georgien seit 2002 820 Millionen US-Dollar an Hilfe. Damit war Georgien der drittgrößte Empfänger von US-Hilfe per pro Kopf nach Irak und Armenien und noch vor Afghanistan. („Russland Analysen“, S. 4)
Am    23. Mai 2005 konstituierte sich schließlich, ebenfalls gefördert von den USA, die GUAM (bei ihrer Gründung so genannt nach den Mitgliedstaaten Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbeidschan und Moldawien) unter Hinzutreten von Litauen und Rumänien neu als prowestlich orientiertes Konkurrenzbündnis zur GUS, nachdem Usbekistan und Aserbeidschan vorher ausgetreten waren.
Eine Zuspitzung der Konflikte trat ein, als am 27. September 2007 vier russische Offiziere in Georgien wegen Spionage verhaftet und öffentlich vorgeführt wurden Russland antwortete mit nahezu totaler Wirtschaftsblockade Georgiens. Trotz westlicher Hilfe kam Saakaschwili auf diese Weise in einen immer stärkeren Zugzwang: Sein Wahlversprechen auf Herstellung territorialer Einheit konnte er nicht einlösen; die Wirtschaft zeigte zwar Zuwachs, der aber an der Mehrheit der Bevölkerung auf Grund von Korruption und Clanwirtschaft vorbeiging. Anfang November kam es zu Massenprotesten, die Opposition forderte den Rücktritt Saakaschwilis. Er ließ die Demonstrationen zusammenknüppeln und einen oppositionellen Fernsehsender schließen. In den vorgezogenen Wahlen am 5. Januar 2008  stürzte er auf 53% der Stimmen ab.

Wer dies alles vor Augen hat, wird verstehen, warum Saakschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. 8. 2008 sein Heil schließlich in einer militärischen Flucht nach vorne suchte, die selbst sonst russlandkritische Beobachter wie die in Bremen herausgegebenen „Russland Analysen“ zu der Frage führte: „Wer hat welchen Anteil an der Eskalation? Die Frage ist nicht einfach. Der Krieg ging aus einer sich im März 2008 verdichtenden Ereigniskette gegenseitiger Provokationen zwischen georgischen, ossetischen und russischen Akteuren hervor. Wie es dann zu der unseligen georgischen Offensive gegen Zchinwali vom 7.-8. August kam, bleibt gleichwohl eine offene Frage, die der georgische Präsident vor allem seinem eigenen Land zu beantworten hat.“
Bleibt festzustellen, dass Russland in seiner Rolle als Friedensmacht selbstverständlich nicht ohne Widerspruch dasteht. Russlands primäres Interesse nach dem Zerfall der Union 1990 bestand zunächst darin, die eigene Staatlichkeit vor weiterem Zerfall zu bewahren. Folge war der Krieg in Tschetschenien und der Versuch, die Konflikte im Süden nicht eskalieren zu lassen. Solange Russland s durch den Krieg in Tschetschenien geschwächt war, war das „Einfrieren“ der Konflikte aus russischer Sicht strategisch nützlich. Es half Russland Gewaltausbrüche zu verhindern und zugleich differenzierten innenpolitischen Einfluss auf die beteiligten Konfliktparteien im Kaukasus ausüben. Eine „Gemeinschaft der nicht anerkannten Staaten“ bildete sich; auch das stärkte Russlands Einfluss. Konfliktträchtig war die Tatsache, daß die russischen Friedenstruppen zugleich Konfliktpartei waren. Sie partizipierten zudem mit illegalen Waffenverkäufen an der Halblegalität. Als Folge offener Grenzen zu Russland und georgischer Sanktionen wurden die Gebiete in den russischen Wirtschaftsraum eingesogen. Hinzu kam die Ausgabe russischer Pässe an Bewohner Abchasiens und auch Südossetiens seit 2002, außerdem die Auszahlung Renten durch den russischen Staat, die über dem georgischen Niveau liegen.
Es entstand, so Stephan Bernhardt im Eurasischen Magazin in einer Analyse weit vor der offenen Eskalation, eine „schleichende Annexion“ der Schutzgebiete durch Russland. Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA, Großbritannien und einige EU-Staaten im März 2008 gab Wladimir Putin den russischen Behörden die Anweisung  quasi-staatliche Beziehungen Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Im Mai verstärkte Russland seine Truppen in Abchasien; im Juni 500 schickte es Fallschirmjäger nach Ossetien. Außerdem wurden im Sommer 2008 noch einmal 400 Mann zur Reparatur einer Bahnstrecke in Abchasien geordert. Am 15. 7. 2008 führte Russland ein Manöver „Kaukasus 2008“ an der grenze zu Georgien durch. Kurz, es ist offensichtlich, daß Russland mit einem möglichen Vorstoß Saakaschwilis rechnete. Noch in den letzten Wochen gab es allerdings Versuche von russischer Seite, die Konflikte auf dem Verhandlungswege zu entschärfen. Selbst der Abschuss einer Drohne über Abchasischem Gebiet war von Russland öffentlich gemacht worden, um Saakaschwilis Mobilisierung zu stoppen. Saakaschwilis Erklärung, er habe einem russische Angriff zuvorkommen müssen wird  selbst von seinen eigenen Militärs der Unwahrheit bezichtigt (siehe NATO-Bericht in der FAZ vom 6.9.2008). Nachträgliche Untersuchungen belgischer Abgeordneter kamen darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Stadt Zchinvali nicht durch „Kämpfe“ zerstört worden sei, sondern dass sie bereits durch georgischen Beschuß dem Erdboden gleichgemacht war, bevor das russische Militär die georgischen Angreifer zurückschlug. Ob dabei die „Verhältnismäßigkeit“ überschritten und ob mit der anschließenden Anerkennung Abchasiens und Ossetiens das Völkerrecht verletzt wurde, ist unter westlichen Völkerrechtlern umstritten.

Vom Völkerrecht, argumentieren selbst russlandkritische Autoren –  wenn man denn in Bezug auf Krieg überhaupt völkerrechtlich argumentieren will – sei auch ein de-facto-Staat, als die Abchasien und Ossetien seit dem Zerfall der Sowjetunion nun einmal gelten müssten –  zweifellos geschützt, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits gegen Aggressionen von außen, andererseits könne er sich von außen Hilfe zum Selbstschutz herbeirufen.
Völkerrechtlich sei Russland auch zum Angriff berechtigt gewesen, weil die Friedenstruppen unter Bruch der geltenden Verträge von Georgien angegriffen und russische Soldaten dabei getötet worden seien. Auch Russlands Angriff auf Nachschubstellungen des georgischen Militärs sei gedeckt, soweit von ihnen Angriffe ausgegangen und weiter zu erwarten gewesen seien. Wie weit dabei die Verhältnismäßigkeit überschritten worden sei, sei eine Ermessensfrage, deren Beantwortung notwendig nach Einschätzung der Lage schwanke.

Bei diesen Feststellungen könnte man es bewenden. Es gibt da aber einige Elemente in der Eskalationsgeschichte dieses Konfliktes, die noch einer weiteren Ausleuchtung bedürfen:

Da ist zuallererst die Tatsache, Georgien parallel zum russischen Manöver „Kaukasus 2008“ auf georgischem Territorium ein Manöver zusammen mit der NATO durchführte. Man könnte also meinen, dass auch die NATO vorbereitet war. Bemerkenswert ist weiterhin, dass zwei der über Abchasien und Ossetien abgeschossenen Drohnen Fabrikate israelischer Bauart (Elbit Hermes 450) waren, offenbar also nicht nur die USA, sondern auch Israel am Aufbau der georgischen „Sicherheitskräfte“ beteiligt war. Festzuhalten ist auch, dass die USA nicht nur bereit, sondern auch in der Lage waren, die 2000 Mann zählende georgische Hilfstruppe aus dem IRAK umgehend zur Unterstützung des georgischen Militärs nach Georgien einzufliegen.
Zu erinnern ist weiterhin an die NATO-Tagung in Bukarest, auf der Georgien und der Ukraine angesichts erkennbarer gespannter Entwicklung der Lage im Kaukasus eine Beitrittsperspektive zur NATO zugebilligt wurde. Nur gestreift werden sollen hier schließlich die Kampfansagen aus den Tiefen des US-Wahlkampfes, in denen Russland wieder einmal unter die Schurkenstaaten eingereiht wurde.
Hinter der örtlichen Zuspitzung der Widersprüche taucht die große „stategische Ellipse“ auf, die NATO, EU und US-Planer immer wieder beschwören, wenn es um die globale „Energiesicherheit“ geht. Die „strategische Ellipse“ umfasst vom Süden her die arabischen Staaten und den Iran, von dort erstreckt sie sich über das schwarze Meer, den Kaukasus und das kaspische Meer bis in den mittleren Norden Russlands. Sie enthält 80% aller heute bekannten fossilen Ressourcen. Ihr südlicher Teil – Arabien und der Iran – ist vergeben, ihr nördlicher Teil ist Gegenstand der heutigen strategischen Auseinandersetzungen. Seit 1990 wirken USA und EU gemeinsam an der Herstellung eines sog. Transportkorridores, der von West nach Ost am Bauch Russlands entlangführt. Durch ihn soll Öl und Gas unter Umgehung russischer Beteiligung fließen. Die Pipelines, die dafür gebraucht werden, müssen und können nur  – sollen sie russisches Gebiet oder mit Russland befreundete Länder wie den Iran und Armenien umgehen – durch Georgien führen. Das ist die von den USA finanzierte Pipeline Baku – Tiblisi – nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste, demnächst auch noch das EU-Projekt der Nabuko-Linie von Baku über Tiblisi, Ankara direkt nach Südeuropa. Das hat Georgien zum unverzichtbaren Transitland auf dem Schachbrett des „großen Spiels“ gemacht, von dem Sbigniew Brzezinksi, seinerzeit Sicherheitsberater Clintons, heut Hintermann Obamas, bereits 1997 sprach: Er nannte den Kaukasus das „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf den die USA sich den Zugriff als Weltmacht sichern müssten, indem sie verhindern das eine der dort beteiligten Kräfte sich auf Kosten anderer wieder zur Vormacht entwickeln könnte. Für die USA sind Geogier, Abchasen und Osseten Bauern in diesem Spiel; für Russland sind sie Nachbarn; mit denen es leben muss. Nach den neuesten Ereignissen stellt sich die Frage, wer auf dem kaukasischen Brett jetzt den nächsten Zug tut.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Quellen und weiterführende Literatur:

1. Russland Analysen 169
2. Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008
3. laufende Berichterstattung von russland.ru
4. Stephan Bernhardt, Eurasisches Magazin 3/08 und 4/08
5. Mündliche Berichte

6. Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer bt 14358, 1997/99

veröffentlicht in: Gazette

Russland – Ende der Ohnmacht?

„Russlands außenpolitische Strategie besteht nach wie vor aus einer einzigen Idee: dem Panzer“. So war es in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15.08.2008 zu lesen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erschien eine Woche später unter dem Titelbild eines sowjetischen Panzers, der 1968 zur Niederschlagung der Proteste in Prag einfährt. Darunter der Kommentar „Déjà vue. Budapest 1956? Grosny 1999? Gori 2008?“ Im „Spiegel“ konnte man die gleichen Bilder sehen. In dieser Berichterstattung geht es nicht darum, was in der Nacht vom 7. auf den 8. August in Zchinwali geschah, das Massaker des Georgischen Militärs an der zivilen Bevölkerung einer schlafenden Stadt und die Folgen dieser Ereignisse. Hier geht es nur noch um die Frage, wie Russland darauf reagierte und welche, angeblich aggressiven Ziele es mit seinem Eingreifen verfolgte. Zeit also sich dieses Aspektes genauer anzunehmen.
„Der Plan war, die Schuld auf Russland zu schieben“, erklärte Michail Gorbatschow in einem Interview mit CCN am 18.8.2008. Die USA habe Georgien seit Jahren aufgerüstet. Aber statt eine „Militarisierung der Welt“ zu betreiben, sei es notwendig die „neuen Realitäten wahrzunehmen“, die eine Kooperation Russlands und den USA erforderten. „Die Vereinigten Staaten sollten nicht glauben, dass jedes Problem militärisch gelöst werden könne.“
Mit dieser Position folgt Gorbatschow, heute als Privatmann, der Grundlinie russischer Außenpolitik, die sich – bei allen Wandlungen und scharfen Widersprüchen im Detail wie im tschetschenischen Krieg – von seiner Zeit als letzter Parteisekretär der Sowjetunion bis zu Medwjedew durchzieht. Die Unterschiede liegen dabei weniger im Wollen, als im Können.
Gorbatschows neue Militärdoktrin propagierte ein kooperatives, multipolares Weltbild und damit verbunden eine weltweite Entmilitarisierung und Abrüstung. Das geschah in Abwendung von der Konfrontationslogik des Kalten Krieges und in Anlehnung an chinesische Vorstellungen.
Im Klima des „Neuen Denkens“ waren Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnaze, wie die Historikerin Susan Eisenhower berichtet, sogar gutgläubig genug, den Westmächten ihr mündlich gegebenes Versprechen abzunehmen, die NATO nicht über die deutsch-deutsche Grenze nach Osten auszuweiten zu wollen, wenn Russland sich aus Ost-Deutschland zurückzöge.
Schon Boris Jelzin jedoch sah sich mit dem Beginn der Ost-Erweiterung der NATO konfrontiert; sein Außenminister Kosyrew versuchte dem mit dem Eintritt Russlands in den NATO-Russland-Rat zu begegnen. Erfolglos, Ergebnis war eine zunehmende Westabhängigkeit Russlands. Nach dem Eingreifen der NATO in Jugoslawien intensivierte Jelzin daher Russlands Beziehungen zu China. Kosyrews Nachfolger Primakow verstärkte die Öffnung Russlands nach Süden und Osten. Das hieß: Rückgewinnung russischen Einflusses im Nahen Osten, Dreierallianz mit Indien und China, Union mit Weißrussland.
Mit dem Antritt Putins kehrte Russland voll und ganz zum Konzept der Multipolarität der 90er Jahre zurück, als Putin erklärte, er wolle ein staatlich erstarktes Russland wieder zum Integrationsknoten in Eurasien machen, ohne sich dabei von Europa oder den USA abwenden zu wollen. Ausdruck dieser Politik war die Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin 2002, die Russland als Militärmacht neu definierte, die Festigung der Beziehungen zur GUS, die weitere Intensivierung der Beziehungen zu China, die aktive Teilnahme in der Entwicklung der 2003 gegründeten „Schanghai Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ), der Ausbau des BRIC-Bündnisses (Brasilien, Russland, Indien, China). Gleichzeitig kooperierte Russland weiter mit der EU und den USA, wurde Mitglied der G7, die mit Russland zur G8 wurden, und betrieb Vorbereitungen für den Eintritt in die WTO. Leider gehörte auch die Niederschlagung des tschetschenischen Aufstandes dazu, bei dem Russland sich ausländisches Eingreifen als „Einmischung in seine innere Angelegenheiten“ verbat.
Die Ausweitung der NATO wie auch der EU, die nach der Einbeziehung Ost-Europas auch vor der Ukraine und den Staaten des Kaukasus nicht Halt machte, sowie die US-Aktivitäten zur Stationierung von Raketenabfangstationen in Polen und Tschechien veranlassten Wladimir Putin im Februar 2007 nach Abschluss der offenen Kriegshandlungen in Tschetschenien schließlich zu einem neuen Schritt. Auf der jährlichen Sicherheitstagung der NATO in München kritisierte er die Einkreisung Russlands durch NATO und US-Politik und die von den USA betriebene Militarisierung der internationalen Beziehungen und trug Russlands Vorstellungen einer kooperativen internationalen Ordnung als Alternative vor.
Die USA sowie die NATO-Staaten gaben sich schockiert, versuchten Putin als Aggressor, gar als Faschisten zu isolieren. Aus der SOZ, aus dem BRIC-Bündnis, aus dem arabischen Raum kam Beifall, selbst aus der EU kam verhaltene Zustimmung. Die Frage stellte sich nur, ob Russland die neue Rolle, die Putin reklamierte, auch tatsächlich ausfüllen könne.
Eine aktuelle Antwort darauf gab der russische Außenminister Lawrow, als er am 23. Januar 2008 im Pressezentrum des russischen Außenministeriums der internationalen Öffentlichkeit die neue außenpolitische Strategie Russlands vorstellte, die den „Forderungen der gegenwärtigen Etappe der Weltentwicklung“ entspreche. Das „Wesen dieser Etappe“, so Lawrow, sei „die sich objektiv entwickelnde Multipolarität“ und die „objektiv steigende Rolle der multilateralen Diplomatie.“ Davon, setzte er ausdrücklich hinzu, müsse er wohl niemanden erst überzeugen. Auf dieser Grundlage verfolge Russland eine Politik „des Pragmatismus, der Multivektoralität, der Bereitschaft mit allen zusammenzuarbeiten, die es wollen, und unsere nationalen Interessen fest, aber ohne Konfrontation zu verfolgen“. Russland trete für die „Festigung der kollektiven Rechtsgrundlagen in internationalen Angelegenheiten“ ein. Das entspreche auch den Anforderungen der Globalisierung.
Leider gebe es auch Rückgriffe auf Blockpolitik, auf ideologisiertes Herangehen, gebe es Versuche einer Region Konfrontationen aufzuzwingen und die Weltpolitik zu remilitarisieren – das alles gebe es. Er, Lawrow, sei jedoch tief überzeugt davon, dass dies der Grundentwicklung der internationalen Beziehungen zuwiderlaufe. Das Streben nach kollektivem Vorgehen, nach der Stütze auf das Völkerrecht liege den gegenwärtigen Aufgaben und Interessen der ganzen Menschheit näher. Russland, erklärte er, habe keinerlei feindliche Absichten gegenüber irgendeinem Land. „Wenn aber die Partner ein gemeinsames Vorgehen ablehnen, „so Lawrow, „dann werden wir natürlich eigene Entscheidungen treffen müssen, und dabei werden wir vor allen Dingen von unseren nationalen Interessen ausgehen und auch“, fügte er noch einmal sehr deutlich hinzu, „vom Völkerrecht.“
Dies alles mochte noch nach Wiederholung bekannter Absichten klingen, zumal mögliche Lehren aus dem tschetschenischen Krieg nicht erwähnt wurden. Ein neuer Ton war dennoch zu hören, als Lawrow seiner Erklärung hinzufügte, nach der Stabilisierung des Landes in den letzten acht Jahren unter Wladimir Putin, „haben wir jetzt erstmals in der Geschichte die Möglichkeit und die finanziellen Ressourcen, all diese Aufgaben parallel zu lösen und uns dabei auf den neuen Stand Russlands zu stützen, das die steigende Verantwortung in internationalen Angelegenheiten tragen kann.“
Mit dieser Erklärung war Russlands Anspruch angemeldet, die Wahrnehmung eigener Interessen mit seiner neuen Rolle als Impulsgeber einer multipolaren Ordnung effektiv anzutreten. Russlands Pluralität, seine Orientierung auf die innere Modernisierung, sein Wiedereintritt in seine Rolle als Großmacht Eurasiens, die nicht mehr integriert wird, sondern selbst integriert, bilden die Basis dieser Politik. Das gilt ebenso für Russlands Außenpolitik, die den Impuls internationaler Pluralität stärkt und auf geltendes Völkerrecht orientiert. Es gilt auch für Russlands neue Rolle auf dem globalen Finanzmarkt, für seine Beitrittsabsichten zur WTO, deren Regeln es im kooperativen Sinne zugleich verändern will.
Die Vorgänge im Kaukasus sind somit auch aus russischer Sicht das Signal für den Eintritt in eine neue Phase der internationalen Beziehungen. So nicht weiter, Herr Bush! Könnte man sie übersetzen. Hier beginnt Russland! Hier beginnt die Notwendigkeit von Absprachen, statt der weiteren Militarisierung internationaler Beziehungen. Hinter sein aktuelles Eingreifen im Kaukasus wird Russland nicht zurück gehen. Vor Veteranen erklärte der russische Präsident Medwjedew, jeder weitere „Versuch einer Brandstiftung“ werde von Russland in gleicher Weise beantwortet werden. In Zukunft, heißt das, werden die USA, wird die EU mit Russland als offensivem Vertreter einer anderen als der amerikanischen Weltordnung rechnen müssen und – das ist als vielleicht sogar als kleine Hoffnung hinzuzufügen – auch können.
Zugleich wird die Schwäche der USA wie auch der EU deutlich, die zwar Georgien aufrüsten konnten, einen offenen Krieg mit Russland jedoch unter keinen Umständen riskieren können und wollen – solange rationales Abwägen von Gewinn und Verlust das politische Handeln bestimmt. Zu erwarten sind allerdings weitere Nadelstiche im engeren und im weiteren Integrationsraum Russlands, um es zu einer aggressiven Wahrnehmung seiner Interessen zu provozieren wie zuvor in Tschetschenien und so seine Rolle als neuer Impulsgeber einer multipolaren Alternative zu desavouieren. Wie Russland mit dieser Herausforderung umzugehen imstande sein wird, wird sich zeigen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Putins Jahresbotschaft: Ein „strategischer Fehler“?

Die Rede, die Wladimir Putin Ende April an die beiden Kammern des russischen Parlamentes hielt, sorgt weiter für außenpolitische Aufregung, obwohl sie sich vornehmlich innenpolitischen Themen Russlands widmet und eher ein Vermächtnis des scheidenden Präsidenten an seinen Nachfolger zu verstehen ist. Von „Neuer Eiszeit „ ist die Rede; Putin drohe dem Westen, konnte man in der FAZ lesen. NATO, ebenso wie EU-Spitzen drückten ihr „Bedauern“ aus, fordern Erklärungen von Russland, was gemeint sei. Dabei müsste man nur zitieren, was Putin gesagt hat, um Fragen danach, was er gemeint haben könnte, bereits beantwortet zu haben:
Putin drohte weder, noch rief er eine neue Eiszeit aus, er sprach nicht einmal eine Kündigung des Rüstungskontroll-Vertrages aus – er machte nur einen Vorschlag, nämlich die aus Sicht Russlands im Zusammenhang mit dem KSE-Vertrag entstandene neue Situation und die damit zusammenhängenden Probleme im Russland-NATO-Rat neu zu beraten. Erst für den Fall, dass keine Ergebnisse durch Verhandlungen erzielt werden könnten, schlägt Putin der zukünftigen russischen Regierung vor, darüber nachzudenken, ob Russland den Vertrag einseitig kündigen müsse. So kann aus dem Vorschlag eine Forderung werden, aber keine Drohung.
Betrachtet man Putins Begründung, dann erscheinen die Reaktionen von NATO, EU und der Mehrheit der westlichen Medien unverhältnismäßig: Der Vertrag sei zwischen NATO und Warschauer Pakt geschlossen worden, so Putin. Inzwischen existiere der Warschauer Pakt aber nicht mehr, dafür sei die NATO bis an die Grenzen Russlands vorgerückt. Russland habe die Bedingungen des Vertrages erfüllt. Fast alle schweren militärischen Waffen seien aus dem europäischen Teil Russlands zurückgezogen worden. Einige der neuen Mitglieder der NATO, so die Baltischen Staaten und die Slowakische Republik hätten den Vertrag dagegen bis heute nicht unterzeichnet. Mehr noch, jetzt planten NATO und USA Raketen in Polen und der tschechischen Republik aufzustellen, deren angeblicher Zweck, Europa vor Iranischem Terrorismus zu schützen für Russland nicht nachvollziehbar sei. Zudem müsse man die US-Abfangraketen als „Element des strategischen Waffensystems“ der USA begreifen, das auf diese Weise erstmals in Europa stationiert werde. Aus all dem ergebe sich eine neue Sicherheitslage nicht nur für Russland, sondern für Europa, die nicht nur in der NATO, sondern auch in der Organisation für Sicherheit- und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Kreise aller von diesen Fragen betroffenen Staaten gleichberechtigt beraten werden müsse.
„Worüber wir sprechen“ so Putin in einer auf seine konkreten Vorschläge folgenden Begründung, „ist eine Kultur der internationalen Beziehungen, die auf internationalem Recht beruht – ohne Versuche, Entwicklungsmodelle aufzuzwingen oder den natürlichen Gang des historischen Prozesses zu forcieren. Das macht die Demokratisierung des internationalen Lebens und einer neuen Ethik in den Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern besonders wichtig. Es erfordert ebenfalls die wirtschaftliche und humanitäre Kooperation zwischen Ländern.“
Mit diesen Positionen knüpft Putin an die Vorschläge an, die er schon bei der letzten sog. Sicherheitskonferenz der NATO in München vortrug: Die von den USA betriebene Militarisierung der der internationalen Beziehungen zu beenden und stattdessen in kooperative Verhandlung zu Abrüstung auf allen Ebenen einzutreten, einschließlich der Entmilitarisierung des Weltraums. Wieso die Konkretisierung dieser Positionen auf Verhandlungen zu einer Neufassung der KSE- und OSZE-Verträge „bedauerlich“ sind, was an ihnen geeignet ist, eine „Neue Eiszeit“ einzuleiten und was dergleichen mehr Bewertungen sind, ist schwer zu erkennen. Das gilt auch dann, wenn man richtig davon ausgeht, dass Wladimir Putin seine Vorschläge selbstverständlich nicht naiv wie ein Erstklässler, sondern unter Berücksichtigung und Ausnutzung der gegebenen globalen Kräfteverhältnisse, also auch mit der Absicht vorbringt, für Russland Boden damit zu gewinnen.
Selbstverständlich zielen seine Vorschläge auch auf eine Schwächung der „atlantischen Bindungen“, so wie die Pläne der USA, Raketen in Ost-Europa stationieren zu wollen, weniger auf einen Schutz Europas, als auf eine Störung der von den USA gefürchteten strategischen Beziehung zwischen EU und Russland zielen. Das sachliche Für und Wider wird ohnehin gesondert verhandelt.
Offensichtlicher Ausdruck des Erfolges der einen wie der anderen Seite bei diesem Ringen um Europa sind jedoch die Positionen des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der die derzeitige Diskussion um das geplante US-Raketenschild „ebenso problematisch“ findet wie Putins Ankündigung den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte neu zu beraten, bzw. auszusetzen.
Ob Putins Auftritt dagegen, wie Alexander Rahr von der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ meint, „viel zu schroff“ und daher ein „strategischer Fehler“ gewesen sei, der Angela Merkel in eine peinliche Situation bringe, nachdem sie erst versucht habe, die Beziehungen zu Russland weiter auszubauen, ohne sich in Konfrontation zur Bush-Administration zu begeben, wird man bezweifeln dürfen. Die innenpolitische Schwerpunktsetzung, die der scheidende Präsident seinen Landsleuten mitgab, macht mehr als deutlich, dass Russland sich vom Westen nicht mehr gängeln lassen will, es aber auch nicht mehr muss. Damit wird der tiefere Hintergrund westlicher Beunruhigung sichtbar.
Seit 2000, so Putin im Blick zurück auf die „schweren Zeiten“ unter seinem soeben verstorbenen Vorgänger Boris Jelzin, habe sich die Situation Russlands zum Guten entwickelt. Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige stabiles Wachstum. „Wir haben Geld“, so Putin schlicht. Es komme jetzt es nur darauf an, es richtig einzusetzen, um die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur des Landes gezielt zu entwickeln.
Nicht allen jedoch, so Putin weiter, gefalle die stabile Entwicklung des Landes. Es häuften sich daher die Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik zu intervenieren. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus „unausweichlich verschärft“ werden.
Nicht ausgesprochen, aber gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Gary Kasparow in der gegenwärtigen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn machten. Er rühmt sich, die „Opposition“ auf allen Ebenen, auch im Kreml selbst zu finanzieren. US-Freund Kasparow Kasparow erklärt im Lande, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, weil über Wahlen nichts zu ändern sei. Ob Gesetze gegen den Extremismus das richtige Mittel zur Abwehr ausländischer Interventionen sind, soll hier offen bleiben. Putins Rede signalisiert, dass Russland selbstbewusst seinen eigenen Weg sucht. Für die Mehrheit westlicher Medien ist damit offenbar schon der Tatbestand der Aggression erfüllt.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Medwjedews Programm – Start in eine zweite Welle der Privatisierung?

In wenigen Tagen wird Dmitri Medwjedew offiziell in sein neues Amt als Präsident Russlands eingeführt. Zeit sich sein Programm genauer anzuschauen: In seinen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert er auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums und die Beseitigung von administrativen Hindernissen sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: persönliche Freiheit, wirtschaftliche Freiheit und letztlich Freiheit der Selbstverwirklichung.“
Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte z.B. der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man abwarten müsse, was tatsächlich geschehe.
Wer wissen genauer möchte, was sich hinter den Ankündigungen Dmitri Medwjedews andeutet, muss hinter die Worte schauen:. Auch Putin trat mit dem Versprechen an die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Tatsächlich legitimierte er die Jelzinsche Privatisierung und konsolidierte sie, indem er sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ staatlicher Kontrolle unterwarf. Das bedeutete durchaus auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Putin vermittelte der Bevölkerung damit zugleich das Gefühl eines gewissen Aufschwungs. Seine Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben zunächst unentschieden. Als die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis an die „Monetarisierung“ bis dahin unentgeltlicher sozialer Leistungen gehen wollte, musste sie vor landesweiten Protesten zurückweichen.
Putin reagierte schnell. Schon im Herbst 2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Kern seiner Vorschläge war ein Finanzierungsversprechen, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte dieser an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.
Möglich schien eine solche Politik, weil die steigenden Ölpreise den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Mrd. $ hatten anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Mrd. $. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.
Das Problem der russischen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine oder kaum Löhne gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg“ der Ausgaben der Bevölkerung führte, „welcher einer durchschnittlichen russischen Familie keine Chancen lasse, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs… Die Blütezeit“, so Kagarlitzki, „ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“ zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung. Deren Ziele beschränkte das Wirtschaftsministeriums darauf, die Zahl der Menschen unter der Armutsschwelle von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% senken zu wollen. Kommt hinzu, dass nicht alle verfügbaren Devisen auf den Geldmarkt geworfen werden können, ohne die Inflation anzuheizen. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.
Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden und hierbei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland auch heute kein kapitalistisches Land ist. So forderte Putin laut „Russlandanalysen“ Anfang 2006 die verstärkte Übernahme „sozialer Verantwortung“ durch die Wirtschaft: „In der Praxis sah das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“  Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, sprich zur Entbürokratisierung des kommunalen Sektors auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung 1990/1 glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.
Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft, also die traditionelle private Bewirtschaftung von Hofgarten, Datscha oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte ist laut aktueller Statistik mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Schätzungen gehen auf 60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien, sogar dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung zu finanzieren.
Vergleichbare Risse treten auch Wohnungsbereich auf, in dem von Anfang an versäumt wurde, parallel zur Privatisierung adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften, die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.
Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Auch dort zeigen sich wie überall Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen, sich dem Abbau  administrativer Schranken widmen zu wollen, den Charakter einer Kampfansage gegen die noch bestehenden gemeineigentümlichen Strukturen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften usw. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen und wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen so ohne Weiteres abkaufen ließe. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen der geplanten Monetarisierung könnten jedoch auch Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

veröffentlicht in: Freitag

Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung

An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden. Continue reading “Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung” »

Russland: Nach der Wahl alles glatt – oder doch nicht?

Wie zu erwarten, wurde Putins Wunschkandidat Dmitri Medwjedew zum neuen Präsidenten Russlands gewählt. Er erhielt rund 70% der abgegebenen Stimmen. An zweiter Stelle folgt Gennadi Sjuganow mit ca. 18%%, Wladimir Schirinowski mit 9%, Andrej Bogdanow mit etwas mehr als 1%.  Die Wahlbeteiligung lag bei 70%. Putin wird abtreten und sich um das Amt des Ministerpräsidenten bewerben, das weder Medwjedew noch die Duma ihm abschlagen wird. Sjuganow wird wegen Wahlbetrug klagen. Schirinowski ist zufrieden dabei gewesen zu sein. Bodganow fährt heim ins Exil, um sich dort auszuruhen. Die liberal-radikale Opposition hat Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg angekündigt.
Ist damit alles gesagt, die Straße geebnet? Putin packt ein, Medwjedew räumt auf? Oder vielleicht doch nicht so ganz, wie es die meisten westlichen Medien zeichnen?
Da gab es ein paar winzige Meldungen, die in der Choreografie der letzten Tage und Wochen fast untergingen, die aber aufhorchen lassen, so nebensächlich sie auch scheinen. Da war beispielsweise zu lesen, Wladimir  Putin habe sich im Namen Russlands auf dem letzten GUS-Gipfel wenige Tage vor der Wahl für Fremdenhass, Intoleranz und tödliche Überfälle auf Ausländer entschuldigen müssen, nachdem seine GUS-Kollegen diese Entwicklung als Ergebnis amtlicher Politik Russlands kritisiert hatten. Wer genau hinsah, konnte auch erfahren, dass schon vor dem Wahltag eine Demonstrationen der Putin-Jugend in Moskau von der Polizei aufgelöst und Fördergelder für die Organisation landesweit gekürzt wurden. Am Wahltag selbst kam die Meldung, dass der Protest der Kasparow-Freunde für St. Petersburg erlaubt, für Moskau verboten worden sei. Endgültig aufhorchen jedoch ließ die Meldung, dass am Tag der Wahl keineswegs nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zu gleicher Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und nicht nur das, sondern darüber hinaus auch noch 106 Volksentscheide in achtzehn „Subjekten“ der Föderation durchgeführt wurden.
Das Bemerkenswerte an dieser letzten Meldung ist dabei allerdings nicht das, was, sondern das, was nicht mitgeteilt wurde, nämlich: Es wurden keinerlei Einzelheiten über den Inhalt dieser Entscheide berichtet. Selbst die sonst immer bestens informierte Internetzeitung www.russland.ru hatte dazu nichts weiter als die  karge Zahl 106 zu bieten.
Mag man Putins Entschuldigung, den Rückpfiff der Putin-Jugend, selbst die angekündigten Demonstrationen der Radikal-Liberalen noch für Zeichen des Wandels halten, um den sich der Neue eben zu kümmern haben werde; zusammen mit der Tatsache, dass die Region mit 106 Volksentscheiden am Wahltag mit von der Partie waren, ohne dass dies ins öffentliche Bewusstsein gedrungen wäre, zeigt jedoch, wo der zukünftige Präsident Medwjedew und sein Ministerpräsident in Spe, Putin, in Zukunft ihre Schwierigkeiten haben werden: in einer Vermittlung der Politik der Spitze des Staates mit der Bevölkerungsbasis des Landes nämlich. In diese Richtung zeigt auch Medwjedews Ankündigung sich um eine freie Presse als Transmissionsriemen vom Volk zur Staatsspitze kümmern zu wollen. Diese Rolle hatten siebzig Jahre lang die Gliederungen der Kommunistischen Partei. Zurzeit ist sie unterbesetzt.
Um richtig zu verstehen, was auf die neu gruppierte russische Führung zukommt, dürfte es gut sein, sich die Ziele zu vergegenwärtigen, die Medwjedew angegeben hat. Die Politik des Staates solle auf dem Prinzip: „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ gründen, dabei gehe es um alle Formen des Freiheit von der persönlichen über die wirtschaftliche bis zur Freiheit der Selbstverwirklichung. Wenn dies nicht nur Sprüche, oder sagen wir freundlicher, politische Symbole bleiben sollen, die vom Kreml ausgegeben werden, um die Bevölkerung einzufangen,  dann müssen sich diese Worte in der Praxis konkretisieren. Praxis findet in Russland vor allem in den Weiten der russischen Regionen statt – und nicht nur in achtzehn, ist noch zu ergänzen, sondern in vierundachtzig „Subjekten“.
Nur regional werden die großen „nationalen Projekte“ zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber zugunsten einer Konzentration auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau bis nach der Wahl auf Eis gelegt wurden. Das ist die Entwicklung einer „Qualitätsmedizin“, die allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll,  ist die Durchführung eines Wohnungsprogramms, das die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum versorgen soll, ist die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und das ist die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung der russischen Bevölkerungsentwicklung.
Der Stand ist in allen vier genannten Bereichen stark entwicklungsbedürftig, teils sogar katastrophal: Im Gesundheitsbereich hat eine Zwei-Klassen-Medizin die frühere kostenlose medizinische Versorgung verdrängt; die Preise auf dem entstehenden,  aber chaotischen Wohnungsmarkt, der eine Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und noch bestehenden, sich der Privatisierung widersetzenden gemeineigentümlichen Wohnverhältnissen ist, sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt das Gleiche wie für das Gesundheitswesen: Zwei-Klassen-Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; eine Umkehr der Entwicklungsrichtung wurde dadurch noch nicht erreicht. Dazu gehört in Russland wesentlich mehr: Vertrauen in die Zukunft, vor allem Sicherheit, dass nicht morgen wieder ein Stalin oder auch Jelzin kommt, und alles von vorn beginnt. All dies steht zur Regelung an, lässt sich aber mit Sicherheit nicht von Moskau aus dekretieren, sondern bedarf vierundachtzig verschiedener Anpassungs- und Durchführungsverordnungen – und dann auch noch der Bereitschaft der Bevölkerung, die Maßnahmen zu akzeptieren. Dies aber setzt voraus, dass die „nationalen Programme“ nicht nur zu sozialen erklärt werden, sondern sich in der Praxis auch tatsächlich als solche erweisen – was von der Mehrheit der Bevölkerung bisher so nicht erlebt werden konnte.
Auch die Verwirklichung der von Medwjedew angekündigten „Vier I´s“ seines Wirtschaftsprogramms – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen – sind bisher selbstverständlich nur gut gestylte Worte; ohne Mitwirkung der regionalen Führungsetagen und letztlich der regionalen Bevölkerungen selbst sind auch sie nicht zu verwirklichen.
Im Konkreten könnte sich zudem zeigen, dass die Verwirklichung des von Medwjedew angekündigten Wirtschaftsprogramms der Verwirklichung der “nationalen Programme“ der Sozialpolitik diametral entgegenläuft – ein Grund schließlich, warum diese vor der Wahl auf Eis gelegt wurden.
Wenige Blicke auf das Programm des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwjedews, Gennadi Sjuganow, der ihm in der Wahl zum Präsidenten unterlegen, aber deswegen keineswegs politisch, vor allem auch in den Regionen aus dem Feld geschlagen ist, machen daher deutlich, was Medwjedew bei dem Versuch der Verwirklichung des von ihm formulierten Programmes bevorsteht.
Sjuganow fordert neben vielem, was mit Medwedews Programm, ähnlich wie Schirinowskis Positionen, oberflächlich gesehen eher konform geht – multipolare Außenpolitik, Befreiung der Wirtschaft von Ressourcenabhängigkeit, Presse- und Meinungsfreiheit und dergleichen – die Wiederherstellung staatlicher Kontrolle über die Ressourcen, ein staatliches Monopol über die Produktion und den Verkauf von Alkohol und Tabak, die Kontrolle der Presse von Treib- und Schmierstoffen. All diese Forderungen haben starke Fürsprecher in den Regionen, hinter der letzten steht eine landesweit entwicklungsbedürftige Landwirtschaft.
Vor allem aber fordert Sjuganow die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Das ist allem voran das Gesetz zur Monetarisierung der „Sozialen Vergünstigungen“, das schon bei seiner Einführung 2005 auf den massenhaften Protest in der Bevölkerung stieß und von den Behörden teilweise und auf Zeit ausgesetzt werden musste. Das sind weitere Monetarisierungsgesetze wie das Wohn- und das Wassergesetz, Gesetze zur Privatisierung des Bodens, des Waldes, sowie das Arbeitsgesetz, das die Arbeitsbedingungen erschwerte und Streiks faktisch illegalisierte. Es handelt sich in allen Fällen um Forderungen, die den „Nationalen Programmen“ zum Teil diametral entgegenlaufen.
Die Machtübergabe vom zweiten auf den dritten Präsidenten des neuen Russland mag vorläufig gelöst sein. Aber weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, führen die Programme von Medwedew und Sjuganow erkennbar direkt in den Konflikt einer zweiten Privatisierungsphase nachdem die erste, die der Privatisierung der Produktionsmittel galt, weitgehend abgeschlossen ist und maßlose Bereicherungen seitens der Oligarchen eingegrenzt wurden. Jetzt geht es um die Privatisierung des kommunalen und sozialen Lebens. Dies wird zweifellos zu schweren und zudem sehr uneinheitlichen Auseinandersetzungen  in allen Teilen des Landes führen. Die Natur dieses Konfliktes ist übrigens in schöner Einfachheit in dem Programm zu erkennen, mit dem Schirinowski antrat, wenn er die Abschaffung der „Subjekte“ durch einen zentralisierten Einheitsstaat und die Beseitigung der Sprachenvielkfalt durch Einführung des Russischen als Einheitssprache fordert: Russland, kann man dazu nur sagen, ist nach wie vor ein Vielvölkerstaat, dessen unterschiedliche Kulturen nicht einfach und möglicherweise überhaupt nicht über einen Kamm geschoren werden können.
Ein weiteres Problemfeld wird im Programm des ebenfalls abgeschlagenen Kandidaten  der „Demokratischen Partei“, Andrei Bogdanow erkennbar. Ungeachtet der Tatsache, dass sein Antritt zur Wahl eher symbolischen oder sogar provokatorischen als faktischen Wert hatte, da er sich als im Exil lebender Russe nicht einbilden konnte, von der Bevölkerung als Präsident akzeptiert zu werden, treten doch in seinem Programm die Fragen hervor, die der zukünftigen russischen Führung von der anderen, der liberalen  Seite her entgegenkommen.
Unter dem  Stichwort. „ Annäherung an die Europäische Union“ forderte Bogdanow: Die „Umsetzung der Grundsätze der Europäischen Union in Russland“, den „Beitritt Russlands zur Schengener Zone“, „Löhne wie in der EU“ und Ähnliches mehr. Hier öffnet sich der klassische Spagat der russischen Gesellschaft zwischen Westlern und Anti-Westlern, zwischen einer Orientierung nach Westen und der nach Osten. Das Nebeneinander von angekündigten – westorientierten – Demonstrationen der außerparlamentarischen radikal-liberalen Opposition und der Feststellung der Zentralen-Wahl-Komission (ZIK) in Zukunft den Anteil der Wahlbeobachter aus den Ländern, die der zentralasiatischen Schanghai-Organisation angehören, erhöhen zu wollen, sind Indizien dieser Entwicklung.
Ob Putin oder Medwjedew auf dem zukünftigen Weg den Ton angeben, ob und wie sie sich ergänzen oder widersprechen, spielt strategisch letztlich keine Rolle. Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet nicht Putin oder Medwjedew, Medwjedew ohne Putin oder Putin wieder ohne Medwjedew, sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial, Durchsetzung „europäischer Normen“ oder Bewahrung der eigenen russischen Strukturen, was nichts anderes bedeuten würde als die Suche nach einem Kompromiss zwischen privatwirtschaftlich organisiertem Markt und gemeineigentümlicher Tradition.
Anders gesagt, es stellt sich die Frage auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet – was unwahrscheinlich ist. Die Offenbarung wird nicht lange auf sich warten lassen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland: Wohin ohne Putin?

Es ist Schaltzeit. In Russland wird die Uhr für die Zeit nach Putin gestellt, in den USA für die Zeit nach Bush. Aber anders als in den USA, aus deren Wahlkampf scharfe Signale die Welt erreichen, kommen aus der russischen Vorwahlzeit ruhige Töne, die auf einen bruchlosen Übergang von Putin zu seinem Nachfolger orientieren; 75% der russischen Bevölkerung würden es begrüßen, wenn gar nicht gewählt werden müsste und Wladimir Putin auch eine dritte Amtszeit über das Amt des Präsidenten ausübte.
Da Putin sich nun aber entschlossen hat, die russische Verfassung zu achten, die drei Amtszeiten hintereinander verbietet, und an seinerstatt einen Nachfolger vorschlägt, unter dessen Präsidentschaft er als Ministerpräsident weiter die Geschicke Russlands mit gestalten will, sind keinerlei Überraschungen zu erwarten. Die Wahl wird faktisch zu einem Plebiszit über einen abgesprochenen, ruhigen Machtwechsel.
Dazu passen die letzten Auftritte Putins, insbesondere vor dem Staatsrat Anfang Februar sowie seine letzte große Pressekonferenz vor mehr als 1300 russischen und ausländischen Medienvertretern, in denen er nicht nur Bilanz zog und strategische Aufgaben der Zukunft skizzierte, sondern Kritikern der Regierungspolitik versprach, sich um die von ihnen vorgebrachten Dinge kümmern zu wollen.
Schaut man nicht durch die Brille westlicher Voreingenommenheit, nimmt man ernst, was Putin erst dem Staatsrat, also dem Kabinett, den Spitzen der Politik und führenden Generälen, dann der nationalen und internationalen Öffentlichkeit mitzuteilen hatte, nämlich Orientierung auf die Stärkung der russischen Wirtschaft, die vor ausländischem Einfluss geschützt werden müsse, und Entwicklung einer neuen Sicherheitsstrategie, zu der Russland durch den Druck des Auslands gezwungen werde, dann wird klar, worum es beim russischen Machtwechsel geht: Um die Sicherung der in acht Jahren putinscher Präsidentschaft mühsam wieder hergestellte russische Staatlichkeit und Einheit des Landes.
Man erinnere sich: Bei Übernahme der Präsidentschaft im Jahre 2000 war das Land in Regionen, Bezirke und oligarchische Herrschaftsbereiche zerfallen. Jelzin war seit 1996 Präsident von Beresowskis Gnaden. Presse und Medien waren in den Händen der Oligarchen, die miteinander Krieg um die fettesten Stücke der Privatisierung des Gemeineigentums führten. Jelzins „Familie“ war in diese Machenschaften tief verwickelt. Mord aus wirtschaftlichen Gründen war an der Tagesordnung. Die Netze der sozialen Versorgung waren zerrissen. Steuern wurden ebenso wenig gezahlt wie Gehälter, Löhne, Renten. In Tschetschenien steigerte sich der Zerfall bis zum Terrorismus. Russen sahen ihr Land, auch außenpolitisch, auf den Stand eines Entwicklungslandes reduziert.
Mit Putins Übernahme der Präsidentschaft trat Russland in eine Phase der Wiederherstellung minimalster staatlicher Funktionen ein. Die Ankündigung, mit der er als Mr. Nobody antrat, lautete schlicht: Wiederaufbau staatlicher Autorität vom sozialen Netz bis hin zur Grenzsicherung gegenüber den aus der Sowjetunion ausgeschiedenen Nachfolgestaaten, den umkämpfen Grenzbereichen und Wiederherstellung eigener, souveräner Beziehungen Russlands im eurasischen und globalen Maßstab.
Es soll an dieser Stelle nicht weiter in Details gegangen werden. Man kann jedoch nicht oft genug an diese Tatsachen erinnern, denn allein sie erklären die ungeheure Zustimmung, die Wladimir Putin entgegen wuchs, als er 1999 mit dem Versprechen die Macht übernahm, eine „Diktatur des Gesetzes“ herzustellen, denn das bedeutete nichts anderes als ein Minimum an Sozialität in die russische Gesellschaft zurück zu bringen, die sich im freien Fall befand. Jetzt, nach acht Jahren, kann Putin feststellen: Wir haben es geschafft und verspricht es weiter schaffen zu wollen und man kann nur bestätigen: Trotz Krise gelang es Russland nicht nur zu überleben, sondern auch noch gestärkt aus seiner Agonie hervorzugehen. Diese Zustimmung hält bis heute an.
Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind die bürokratische Zentralisierung, die sich in der Einrichtung einer zentralisierten Kommandostruktur unter Leitung des Präsidialamtes gleich nach Putins Amtsantritt zeigte. Es ist die Ausrichtung der Medien, insonderheit des TV am nationalen Interesse, die im Westen als Abschaffung der Medienfreiheit wahrgenommen wurde. Schließlich ist es auch die Disziplinierung der Oligarchen, die sich in der Flucht des Medien-Eigentümers Wladimir Gussinskis nach Spanien, der grauen Eminenz der Jelzin-Ära, Boris Beresowskis nach England und der Verhaftung und Verurteilung des Yukos-Chefs Michail Chodorkowski niederschlug.
Nach außen ist es die Kritik am hegemonialen Anspruch der USA. Stichworte dazu sind: Neue Militärdoktrin seit 2002, die das vom damaligen Außenminister Kirijenko formulierte Credo der Jelzin-Ära beendete, dass Russland heute keine Verteidigungsarmee mehr brauche. Einen Wendepunkt markierte Putins Auftreten bei der Münchner NATO-Tagung 2006, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er es formulierte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es ein Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft. Diese Entwicklung wurde möglich durch eine, so könnte man es nennen, konsequent „opportunistische“ Politik Russlands zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten, die Russland in die Rolle eines Protagonisten einer multipolaren Welt brachte. Diese Rolle war Russland in den Jahren seit Putins Amtsübernahme in aller Stille zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wurde sie vor aller Augen benannt. Mit dem Besuch Putins in Teheran Ende 2007, die zeitgleich zu Konferenzen des Shanghaier Bündnisses wie auch der Anrainer des kaspischen Meeres stattfand, zeigte Russland den USA auch praktisch die rote Karte. Die Teilnehmer der kaspischen Konferenz – Kasachstan, Tadschikistan, Iran, Aserbeidschan, Russland – versicherten sich gegenseitig, keine unabgesprochene Gas- und Ölförderung durch das kaspische Meer und keine Stationierung fremden Militärs auf ihrem Gebiet, die gegen eins der an der Konferenz beteiligten Länder gerichtet sei, zuzulassen. Das Shanghaier Bündnis der zentralasiatischen Staaten nahm den Iran demonstrativ als assoziiertes Mitglied in seine Runde auf. Putins Auftritte vor der Wahl stehen in dem Bemühen, Leitlinien vorzugeben, die ihm auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Präsidentenzielen erlauben als Ministerpräsident den jetzt verfolgten Kurs auf neuer Ebene fortzusetzen.
Wladimir Putin und Dimitrij Medwjedew scheinen sich auf eine Art Arbeitsteilung, um nicht zu sagen Doppelherrschaft geeinigt zu gaben, salopp gesagt, Putin für´s Grobe in der Außenpolitik – Medwjedew für´s Feine in der Innen¬ Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jedenfalls geben sie sich gegenwärtig den Anschein, wenn Medwjedew erklärt, sich zukünftig mehr auf die Wirtschaft und weniger auf außenpolitische Belange konzentrieren zu wollen, während Putin schon jetzt, noch wenige Wochen vor seinem Abtritt erklärt, er werde an der NATO-Sicherheitskonferenz in im April in Bukarest teilnehmen. Bei genauerem Hinsehen sind Medwjedews Absichten keineswegs fein, wenn er erklärt, er wolle für neue Impulse in der Sozialpolitik sorgen, indem er die jetzt mit sozialen Fragen beauftragte Bürokratie zugunsten privater mittelständischer unternehmerischer Initiative abbauen wolle. Das klingt gut, ist aber praktisch nur eine neue Verpackung für die schon einmal gescheiterten Absichten der russischen Regierung, kommunale Dienstleistungen zu monetarisieren. Putin andererseits erklärt trotz aller Interventionsversuche der USA und trotz Zuspitzung des Kosovo-Konfliktes, er Russland wolle auch in Zukunft freundschaftlich mit den USA kooperieren. Man darf gespannt sein zu welcher Seite hin sich diese Doppelherrschaft zukünftig auflösen wird.

Kai Ehlers

Russland: Putins 2. Rochade – „Traum am Rande des Faschismus“?

Es war kaum zu glauben: Eine Woche nach der Wahl zur russischen Duma war plötzlich Ruhe an der Front der Russlandkritik, nachdem zunächst eine Welle bissiger Kommentare durch die Medien geschwappt war, die „Putins bestellten Sieg“ in den unterschiedlichsten Tönen anprangerten. Lange nicht Gehörtes ging vor sich; westliche Politiker lobten Russland: Gernot Erler, deutscher Staatsminister im Auswärtigen Amt, ortete in der „Berliner Zeitung“ gar eine „Stärkung ziviler Kräfte in Russland“, US-Außenministerin Condoleeza Rice ließ sich, von „USA today“ zu Russland befragt, herab zu erklären, sie wolle “nicht im voraus spekulieren“, man werde nun „einfach zuschauen müssen, wie das alles vor sich gehen wird.“ Was war geschehen?
Sehr einfach: Am 11. Dezember, nur eine Woche nach der russischen Duma-Wahl und eine Woche früher als angekündigt, hatte Präsident Putin das Geheimnis gelüftet, für welchen Kandidaten er sich mit Blick auf die bevorstehende Wahl als Wunschnachfolger im Präsidentenamt ausspreche: den bisherigen Vizeregierungschef Dimitri Medwedew.
Ein „Politiker der neuen Generation“ komme damit ins Spiel, lobte Frau Rice; Medwedew komme nicht aus den Geheimdiensten, erklärte Erler und nicht aus dem Militär. Das alleine sei schon interessant, weil es eine Veränderung gegenüber dem jetzigen Zustand sei. Als stellvertretender Ministerpräsident sei Medwedew mit zentralen Reformaufgaben betraut gewesen und habe sich als liberaler Parteigänger Putins profiliert. Eitel Sonnenschein also?
Den Eindruck konnte man gewinnen. Daran änderte sich auch nichts, als Wladimir Putin wenige Tage später öffentlich und demonstrativ in Medwedews Angebot einschlug, nach der Wahl Ministerpräsident der neuen Regierung zu werden. Innerhalb Russlands herrschte ohnehin sofort Hochstimmung: Die russische Börse boomte, russische Unternehmer sahen in der Entscheidung Putins „eine Gewährleistung für die Fortsetzung des gegenwärtigen strategischen Kurses“. Sofort-Umfragen in der Bevölkerung ergaben eine Zustimmung von 60% zu Putins Wunschkandidat. Die fünf weiteren Prätendenten, Genadij Szuganow für die KPRF, Wladimir Schirinowski für die sog. „Liberal-Demokraten“, Boris Nemzow für die Ultra-Liberalen, außerdem noch Michail Kassjanow und Andrej Bogdanow sind ab sofort außer Konkurrenz, wenn nicht noch völlig Unvorhersehbare Ereignisse eintreten sollten.
Der negative Putin-Bann schien gebrochen: Zudem stellte das US-Magazin „Time“ ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt den russischen Präsidenten zur „Person des Jahres“ vor. Begründung: Putin habe sich um die innere Stabilität und die wieder gewachsene Bedeutung Russland in der Welt verdient gemacht. Der so Gelobte erhielt Gelegenheit zu einem ausführlichen Interview, in dem er die Ergebnisse seines Wirkens, seine Vorschläge zur internationalen Friedenssicherung einschließlich seiner Kritiken an der US-Politik ausführlich darstellen konnte.
Dass aber die Russland-Schelte nicht von Putins Tun und Lassen abhängig ist, sondern anderen Gesetzen folgt, sie sich auch auf den neuen Stern am russischen Himmel bald eingeschossen haben wird, zeigte sich schon, als Frau Rice sehr bald nachsetzte, es sei bedauerlich, dass der Ausgang der kommenden Präsidentenwahlen so gut wie sicher sei.
In krassester Schärfe aber trat die russlandfeindliche Grundhaltung, die auch Medwedew einholen wird, wenn er weiter russische Interessen mit russischem Selbstverständnis vertritt wie jetzt Putin, aus dem neuesten Bericht der einflussreichen „Russlandanalysen„ hervor, die von der Bremer Forschungsstelle für Osteuropa herausgegeben werden. Sie ließ ihre letzte Ausgabe des Jahres 2007 mit einem Kommentar von Heinrich Vogel erscheinen, der sich unter der Überschrift „Machtwechsel als Hütchenspiel“ nicht scheut, Russland in einer Weise, die er vermutlich für nützliche oder notwendige Polemik hält, mit dem faschistischen Deutschland zu vergleichen.
Putins Motive nicht zum dritten Mal als Präsident anzutreten und stattdessen die Rochade mit Medwedew zu inszenieren werden in Vogels Kommentar nicht nur auf Machterhalt reduziert, was verständlich wäre. Es wird auch der Vermutung Raum gegeben, es gehe Putin möglicherweise nur um Immunität, durch die er sich vor „peinlichen Enthüllungen“ bewahren wolle. Aber nicht nur das: Kein Gedanke wird daran verschwendet, Putins Vorgehen zumindest als Versuch zu sehen das Einüben von Verfassungstreue mit Machterhalt zu verbinden.
Stattdessen versteigt der Kommentar sich zu der Aussage, angesichts der in Russland zu beobachtenden „Für Putin“-Bewegung falle es schwer, „Erinnerungen an die Proganada der Nationalsozialisten beim Referendum nach dem Anschluss in Österreich im Jahr 1938 mit ihrem Motto ‚Dein Ja zum Führer’ zu unterdrücken. Die Techniken faschistischer Massenmanipulation und Mobilisierung haben sich nicht verändert, und ihre Eigendynamik sollte nicht unterschätzt werden.“ Der Gipfel ist die Aussage: „Einziger Unterschied zum deutschen und europäischen Faschismus jener Zeit ist das Fehlen eines zur Doktrin erhobenen Rassismus“ und die Eskalation des Personenkults zum Führerkult ließen „kein Ende der Überraschungen absehen, zumal die Träume an Rande des Faschismus nicht auf eine autoritär denkende Führung beschränkt sind.“
Heinrich Vogel, muss man dazu wissen, leitete von 1972 bis 1976 das „Osteuropa-Institut“ in München, danach war er bis 2000 Direktor des „Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und internationale Studien“ in Bonn, später Gründungsmitglied des „deutsch-russischen Forums“, das seinerseits den „Petersburger Dialog“ mit ins Leben rief. Die „Russlandanalysen“ gelten heute als führendes Fachblatt der deutschen Russlandforschung. Wenn solche Kommentare wie der aktuelle von Heinrich Vogel an dieser für die Meinungsbildung hervorragenden Stelle als Analysen verbreitet werden können, muss man das Schlimmste für die deutsch-russischen Beziehungen fürchten.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Wahlen in Russland – ein Mandat wofür?

Russland hat gewählt. Die von Putin angeführte Partei erhielt mit 63,5% der abgegebenen Stimmen, bei 60% Walbeteiligung, die absolute Mehrheit. Aber was war das? Eine Wahl? Oder vielleicht eher ein Referendum wie die russische Tageszeitung „Wedemosti“ fragt? Verlief die Wahl korrekt oder war sie ein gigantischer Betrug?

Die Bewertungen gehen so weit auseinander wie Russland groß ist. KP-Chef Szuganow spricht von gigantischer Fälschung und will Protest organisieren; ebenso Gari Kasparaow und die Liberalen. Sie beklagen „flächendeckende“ Beeinflussung, massive Einschüchterung und offene Wahlfälschungen und wollen damit vor Gericht ziehen. Die Regierungen der USA, der EU, die deutsche Bundesregierung fordern „Aufklärung“ von der russischen Regierung über „Unregelmäßigkeiten“ bei der Wahl, die demokratischen Standards nicht entsprochen habe. Vertreter der Shanghai-Organisation, der GUS-Staaten dagegen erklären demonstrativ, die Wahlen seien ordnungsgemäß und den Gesetzen entsprechend verlaufen.

Aus der OSZE hört man widersprüchliche Signale: Einerseits wird die Vermischung von Staat und Parteien beklagt, die nicht zuletzt durch Putins Kandidatur an der Spitze von „Einheitliches Russland“ zustande gekommen sei; dadurch seien die Wahlen „ungerecht“ gewesen. Andererseits bestätigte der Vizepräsident der OSZE Kiljunen, in einem Interview in Radio Moskau, die Wahlen seien „normal“ verlaufen. Wenn einige Wähler außerhalb der Walkabine ihre Stimme abgegeben hätten, dann müsse man sehen, dass dies eine „alte Tradition bei russischen Bürgern“ sei. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen; wer nicht dabei war, kann nur staunen über die Vielfalt der unterschiedlichen Wahrnehmungen. Am Besten fährt man mit dem neuen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, dem Parteilichkeit zugunsten Russlands kaum unterstellt werden kann: Er konstatiert, dass die Wahlen Putin gestärkt hätten „und unabhängig von unseren Einschränkungen, die die Wahlstandards angehen, ist das dennoch die Wahl der Russen. Ich sehe keinen Grund, warum wir sie in Zweifel ziehen sollten.“

In der Tat gibt es keinen Grund, diese Sicht in Zweifel zu ziehen: das Ergebnis der Wahl, wie man es auch dreht und wendet, ist ein eindeutiges Mandat für Wladimir Putin, der vor der Wahl erklärt hatte, einen Sieg der Partei „Einheitliches Russland“ werde er als moralische Berechtigung betrachten, im Staate weiterhin eine führende Funktion auszuüben.

Die Frage ist allein: Welche Funktion könnte das sein? Darüber wurde schon vor der Wahl heftig spekuliert, nachdem Putin klargestellt hatte, dass er keine dritte Amtszeit anstrebe. Auch jetzt wird weiter gerätselt. Wird er als Ministerpräsident antreten? Baut er sich auf dem Umweg über einen schwachen Präsidenten als Präsident in Spe auf? Wird er als Aufsichtsratsvorsitzender eines der großen russischen Monopole, Gazprom oder des geplanten Elektro-Energie-Verbundes einen ähnlichen Weg wie der deutsche Ex-Bundeskanzler Schröder gehen? Putin hat alle diese Optionen offen gehalten. Vor diesem Hintergrund ist die jetzige Dumawahl zwar ein Vertrauensbeweis für ihn, aber sie ist zugleich mehr als nur eine Abstimmung über ihn selbst – sie ist die Abstimmung über ein System, nämlich über das System der von Putin restaurierten traditionellen russischen Struktur des zentralisierten Pluralismus, anders gesagt, über die russische Form von Demokratie, die zur Zeit unter dem Stichwort der „gelenkten Demokratie“ in Russland entwickelt wird.

Gleich welchen Kandidaten Putin selbst als Nachfolger im Präsidentenamt vorschlagen wird, gleich in welcher Funktion er selbst die von ihm reklamierte Führerschaft wahrnehmen wollen wird, jede dieser Entscheidungen steht unter der Vorgabe, die traditionelle Grundordnung Russlands, die er in acht Jahren seiner Amtszeit ansatzweise wiederherstellen konnte, weiter zu festigen. Mit dieser Dumawahl bekommt sie den Charakter eines Volksentscheides.

Die Kernfrage dabei ist nicht, ob und von wo aus Putin selbst diese Ordnung weiter vertritt, sondern in wessen Interesse sie zukünftig entwickelt wird. Putin hat es auf seinem Kurs der restaurativen Stabilisierung geschafft, die Herstellung optimaler Investitionsbedingungen für internationales und einheimisches Kapital mit einer sozialen Befriedungspolitik zu verbinden. Dabei halfen ihm die steigenden Ölpreise und eine Bevölkerung, die nach dem Absturz in der Jelzin Zeit für jede kleine Verbesserung des Lebensniveaus dankbar war. Jeder Nachfolger Putins wird sich daran messen lassen müssen.

Darüber hinaus steht nach der Wahl die Umsetzung all der schon beschlossenen, „Projekte“ der weiteren „Monetarisierung“ nach den Standards der WTO an, die nach den Massenprotesten von 2005 bis zur Wahl bisher zurückgestellt wurden. Dies dürfte auch ein Grund sein, warum sich die 63,5% Zustimmung für Putins Partei nur aus einer Beteiligung von 60 Prozent der russischen Wahlberechtigten herleiten. Der Rest, fest die Hälfte der Bevölkerung, wartet ab, was da kommt.

Kai Ehlers
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Putin: Der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Platz?

Darf man so über Putin schreiben? Zugegeben, es gibt Gründe zu zögern, aber Tatsachen müssen Tatsachen bleiben, gerade wenn versucht wird sie zu vernebeln und zu verdrehen wie beispielsweise jetzt gerade wieder unter der Schlagzeile: „Wie Putin, Chavez und die Scheichs den Ölpreis hochtreiben“, unter der „Spiegel-online“ kürzlich über die steigenden Öl-Preise berichtete.
Tatsache ist, dass Wladimir Putin bis heute über ein „Rating“ zwischen 60 und 70% der Bevölkerung verfügt, dass die große Mehrheit der russischen Bevölkerung durch alle Schichten hindurch lieber ihn als irgendjemand anderen als nächsten Präsident sehen würde.
Tatsache ist, dass selbst Putins lauteste Gegner Gary Kasparow und Michail Kassianow – inzwischen getrennt voneinander, aber unisono – ihre Aufrufe zum Wahlboykott damit begründen, dass „unter den derzeitigen Bedingungen keine echte Oppositionspartei die Sieben-Prozent-Hürde überspringen“ könne, ihre Stimme also dem Kremllager zugeschlagen werde, „selbst wenn es keine Wahlfälschung geben sollte“, so Kassianow. (ebenfalls in Spiegel-online vom 9.11.2007)
Vertreter der neuen Linken, die sich um die Bewegung eines russischen Sozialforums sammelt, sind da wesentlich klarer, wenn sie wie der Globalisierungskritiker Boris Kagarlitzki z. B. konstatieren, dass Putin sich als erfolgreichster Herrscher Russlands betrachten könne, gegen den sich zur Zeit kein Protest der Bevölkerung entwickeln lasse, weil die Mehrheit ihre Interessen durch ihn vertreten sehe.
Tatsache ist, dass Putins außenpolitische Auftritte für ein starkes Russland, gegen die Kriegstreiberei der USA in München, in der Frage des Raketenstreites, des Kosovo, neuerdings auch sehr deutlich zum Iran den Kommentatoren der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ das widerwillige Eingeständnis entlockte, dass westliche Politiker der von diesen „Machtdemonstrationen“ ausgehenden Stabilisierung der Weltlage letztlich vielleicht gar noch Lob zollen könnten.
Als Boris Jelzin abtrat, exportierten die Oligarchen und andere Privatisierungshaie ihre Gewinne ins Ausland; Steuern, Löhne, Pensionen wurden nicht oder mit jahrelangen Verzögerungen bezahlt, die betrieblichen, kommunalen und staatlichen Sozialversorgungssysteme wurden aufgelöst. Putin hat es geschafft den weiteren Zerfall zu stoppen, das Chaos ansatzweise zu ordnen, dem Ausverkauf der Ressourcen eine staatlich kontrollierte Energiepolitik abzuringen. Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Krise zu einem inzwischen stabilen Wachstum von ca. 6,5% jährlich auf. Russland befreite sich aus hoffnungsloser äußerer und innerer Verschuldung und defizitärem Budget; das aktuelle Budget hat sich gegenüber dem Jahr 2000 versechsfacht. Ein Stabilitätsfond für mögliche Krisenzeiten wurde eingerichtet, dessen Kapital von ca. 127 Milliarden heute nach weltweiten Anlagemöglichkeiten sucht. Die Währungsreserven der Zentralbank erreichten ein Volumen von 417 Milliarden. Die Arbeitslosigkeit sank; die Inflation konnte gestoppt werden etc. pp.
Auch das weitere Auseinanderdriften des nachsowjetischen Erbes wie auch der russischen Föderation selbst wurde gestoppt: Nach der brutalen Niederschlagung des tschetschenischen Separatismus herrscht in Tschetschenien heute weitgehende Waffenruhe. Präsident Kadyrow betreibt zwar eine aktive Ordnungspolitik, verbunden mit effektivem Wiederaufbau der zerstörten Städte im Sinne Moskaus, betreibt sie aber nicht mehr militärisch, sondern polizeilich. Die GUS ist soweit wieder an Russland herangerückt, dass vor wenigen Wochen ein Gipfeltreffen der Gus-Staaten, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und der „Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit“ in Duschanbé stattfinden konnte, die sich die weitere Integration des postsowjetischen Raumes zum Ziel nahm.
Parallel dazu setze ein Treffen der Anrainer das Kaspischen Meeres, einschließlich des Iran, nicht nur ein deutliches Zeichen dafür, in Fragen der Öl-Förderung des Raumes zukünftig kooperieren zu wollen, sondern versicherte sich vertraglich gegenseitig keiner fremden Macht zu gestatten von einem ihrer Territorien aus die anderen anzugreifen. Ein eindeutiges Signal an die NATO!
Der Kriegstreiberei der USA schließlich setzt Russland in zunehmendem Maße die Alternative einer kooperativen, multipolaren Orientierung entgegen, so mit dem Ausbau des Shanghaier Bündnisses, mit der Einbeziehung des Iran in dieses Bündnis und kürzlich erst mit dem Besuch Putins in Teheran, durch den Russland seinen Willen zu einer friedlichen Lösung des Iran-Konfliktes unmissverständlich demonstrierte.
All dies geschah unter einem äußerst schmucklosen, kaum als solches erkennbaren Programm, mit dem Wladimir Putin bei seinem Antritt im Jahr 2000 im Internet seine Ziele in drei Punkten erläuterte:
– Wiederherstellung eines starken Staates.
– Rückbesinnung auf die eigenen Fähigkeiten Russlands, statt den Westen zu kopieren.
– Russland wieder zum „Integrationsknoten“ Eurasiens zu machen.
Mehr war nicht nötig. Dieses karge Programm reichte dafür, dass Putin von der gebeutelten russischen Bevölkerung mit 70% zum Retter des Landes erhoben wurde. Die dafür notwendigen Kräfte wuchsen ihm, durch das Chaos der Jelzinschen Hinterlassenschaft bedingt, von allen Seiten aus blankem Überlebensdruck des Landes freiwillig zu. So unterstützt konnte der als Mr. Nobody herbeigerufene Putin, den die von der Macht scheidende „Familie“ Jelzins, insbesondere die hinter ihnen stehenden Oligarchen, glaubten lenken zu können, zum Vollstrecker der nachsowjetischen Transformation werden, die sich somit in einem Dreischritt vollzog, der für die Entwicklung der großen Krisen der russischen Geschichte typisch ist: Zerfall des im Moskauer Zentrum gebündelten Konsenses der eurasischen Eliten unter Gorbatschow bis zur vollständigen Desintegration des Staates, russisch SMUTA unter Jelzin, danach Wiederherstellung des Zentrums auf neuem technischen und organisatorischem Niveau. Putin, jung, keiner der zerstrittenen Eliten angehörig, ausgebildet durch den KGB und zudem in Geist und Technik asiatischen Kampfsportes zu Hause, war der richtige Mann zu rechten Zeit den Platz des restaurativen Modernisierers einzunehmen.
Alles gut also? Was lässt dann zögern? Die Gründe seien in aller Kürze benannt: Da ist erstens die Tatsache, dass Putins Erfolge ökonomisch auf dem Anstieg der Weltmarktpreise für Öl- und Gas beruhen. Mit stabilen Öl- und Gas-Preisen steht und fallen seine Möglichkeiten wirtschaftlicher Befriedung. Zweitens hat Putins Stabilität den Schönheitsfehler, den neuen Reichtum ungleich zu verteilen; ungeachtet der allgemeinen Steigerung des Lebensniveaus setzt sich die Differenzierung des Einkommens in der Bevölkerung fort. Drittens harren die bereits beschlossenen Pläne für die 2005 nach Protesten der Bevölkerung vorläufig gestoppte sog. Monetarisierung der Umsetzung durch die neue Regierungsmannschaft.
Monetarisierung heißt aber nicht nur einfach Verteuerung durch Angleichung an die durch die WTO vorgegebenen Preis-Standards, es bedeutet darüber hinaus gezielte Angriffe auf die traditionell gewachsenen Strukturen der Selbstversorgung und der in Russland sozial weit entwickelten Ebenen des Tausches, d.h., es geht um grundlegende Angriffe auf die Lebensweise und Lebenslage des Volkes.
Dies alles bedeutet: Es ist nicht klar, ob die Geister die Putin zur Stabilisierung rief, auch in Zukunft so gebannt werden können, dass sie der Bevölkerung nützen. Wenn nicht, dann stehen Russland schwere Zeiten bevor.

Kai Ehlers
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25.9.2007 Die Wunder von Stammheim – Geschichte einer Verdrängung

Am Morgen des 18.10.1977 wurde die Welt durch die Nachricht überrascht, in der JVA Stuttgart-Stammheim seien die RAF Gefangenen Jan Carl Raspe angeschossen und sterbend, Andreas Baader erschossen, Gudrun Ensslin erhängt und Irmgard Möller durch Messerstiche schwer verletzt in ihren Zellen aufgefunden worden. Mord oder Selbstmord? Diese Fragen sind bis heute umstritten.
Mit dem Tod der prominenten Gefangenen ging die letzte große Befreiungsaktion der zweiten Generation der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) für die in den damaligen westdeutschen Gefängnissen einsitzende erste Generation ihrer Organisation zu Ende. Die Aktion hatte mit der Entführung von Hans Martin Schleyer, Präsident des Arbeitsgeberverbandes, am 5.9.1977 durch ein „Kommando Siegfried Hausner“ begonnen. Es forderte die Freilassung von elf führenden RAF-Mitgliedern, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden sollten sowie öffentliche Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Entführern über Presse, Funk und Fernsehen. Die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt hatte darauf mit der Bildung eines überparteilichen „Großen Krisenstabs“ geantwortet, der eine Freilassung ablehnte, stattdessen eine absolute Nachrichtensperre sowie eine Kontaktsperre über die Gefangenen der RAF verhängte und nur zum Schein auf Verhandlungen einging.
Zur Unterstützung der Forderung der Entführer hatte in der 5. Woche nach Schleyers Entführung ein palästinensisches „Kommando Matyr Halimeh“ die Landshut mit 91 Menschen an Bord gekapert. Am Dienstag, den 18.10.1977 kurz nach Mitternacht meldete der Deutschlandsfunk die „glückliche Befreiung“ der Geiseln der Landshut durch ein Kommando der GSG 9 in Mogadishu. Wenige Stunden später waren die Gefangenen tot, bzw. Irmgard Möller im Krankenhaus. Einen Tag später wurde Hans Martin Schleyer von seinen Entführern erschossen. Vier Wochen danach starb Ingrid Schubert, ebenfalls als RAF-Mitglied inhaftiert, in der JVA-Stadelheim durch Erhängen.
Die offizielle Erklärung zu den Vorfällen lautete schon um 9,00 Uhr früh desselben Tages: Selbstmord, noch bevor die gerichtsmedizinischen Untersuchungen überhaupt eingeleitet waren. Ähnlich vier Wochen später beim Tod Ingrid Schuberts. Die internationale Presse schrieb: „Mord!“; die deutsche Presse übernahm weitgehend die offizielle Version. Nur eine Minderheit linker und autonomer Blätter sowie die Anwälte der Toten meldeten Zweifel gegenüber der offiziellen Selbstmord-These an, an ihrer Spitze der damalige RAF-Anwalt Otto Schily. Der „Arbeiterkampf“ des Kommunistischen Bunde begann unter der Schlagzeile: „Wir glauben nicht an Selbstmord“ mit einer minutiösen Auflistung der „Wunder von Stammheim“, das heißt, all der Widersprüche, Ungereimtheiten und blanken Erfindungen, die im Laufe der nächsten Tage, Wochen und Monate von BKA, Staatsanwaltschaft, Regierung und einer ihnen sklavisch folgenden Presse produziert wurden.


Die Wunder beginnen mit der Behandlung Irmgard Möllers, der einzigen Überlebenden der nächtlichen Geschehnisse: Irmgard Möller erklärte in ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Baden-württembergischen Landtages am 16.1.78, sie wisse nicht, was geschehen sei. Sie sei nachts von zwei Knallgeräuschen und einem Quietschen erwacht, dann aber mit einem eigenartigen „Rauschen im Kopf“ wieder eingeschlafen und erst wieder zu sich gekommen, als man ihr die Augenlieder aufgezogen habe. Auf keinen Fall habe sie Hand an sich selbst gelegt. Über Selbstmord hätten die Gefangenen nach dem angeblichen Freitod Ulrike Meinhofs im Sommer 76 zwar diskutiert; dabei hätten sie aber festgehalten, dass es sich um eine CIA-Methode handele, Morde als Selbstmorde darzustellen. Wörtlich sagte sie: „Keiner hatte die Absicht des Selbstmordes. Das widerspricht unserer Politik. Das letzte Mal über Selbstmord haben wir am 26.9., dem Beginn des Hungerstreiks gesprochen. Wir haben den Hungerstreik angefangen, obwohl uns bekannt war, dass er nicht so schnell öffentlich werden könne. Wir wollten dem Krisenstab signalisieren: Wir kämpfen!“
Es gab also Anhaltspunkte, denen eine kriminologische Untersuchung hätte nachgehen müssen. Irmgard Möllers Aussage wurde jedoch beiseite geschoben, u.a. mit dem Hinweis, der sich später auch in der Einstellungsverfügung der Staatsanwalt vom April 1978 wiederfand, es könne nicht stimmen, dass sie bewusstlos gewesen sei, denn der „erfahrene Sanitäter Soukop“, der sie als erster behandelt habe, habe bemerkt, wie sie bei dem Versuch ihr das Lid zu öffnen, die Augen zugekniffen habe. Damit war die Glaubwürdigkeit Irmgard Möllers, die ja ohnehin als parteiisch gelten musste, als Simulantin und Lügnerin vollkommen erledigt, aber es wurde auch deutlich, dass es in den Untersuchungen der Sonderkommission nicht um Aufklärung der Vorfälle, sondern um deren Einordnung in die offizielle Selbstmord-These ging: Nicht nachgegangen wurde der Frage, was es mit dem „Knallen“ und dem „Quietschen“, sowie dem „Rauschen“ in Irmgard Möllers Kopf auf sich gehabt haben könnte. Stattdessen hieß es, es sei mit Sicherheit auszuschließen, dass ihr oder den anderen Gefangenen Gifte oder Betäubungsmittel verabreicht worden sein könnten. Vor demselben Untersuchungsausschuss erklärte einer der internationalen ärztlichen Gutachter jedoch später, man habe zwar keine derartigen Spuren gefunden, aber auch nicht danach gesucht. Es gebe heute „so und so viele Gifte, dass man, wenn man nicht gerichtet auf ein bestimmtes Gift sucht, unter Umständen eines übersieht, vor allem die komplizierteren organischen Gifte. Nehmen Sie Digitalis oder nehmen Sie Insulin – wenn man darauf nicht gerichtet untersucht wird, wird man es nicht finden.“ (AK 123)
Nun, soll damit, dreißig Jahre nach Ereignissen von Stammheim, nicht die Behauptung aufgestellt werden, die Gefangenen seien betäubt und dann getötet worden. Diese Behauptungen wären nicht zu beweisen. Die Behandlung der Aussagen von Irmgard Möller zeigt aber, wie mit Spuren umgegangen wurde, die geeignet hätten sein können, die offizielle Selbstmord-These in Frage zu stellen.
Zweifel waren angebracht und ihnen hätte im Sinne der von der Bundesregierung versprochenen rückhaltlosen Aufklärung auch nachgegangen werden müssen.
Höchste Verwunderung musste ja die Tatsache hervorrufen, dass die Gefangenen Raspe und Baader sich mit eigenen Pistolen erschossen haben sollten. Wie waren die Pistolen in die Zellen der Gefangenen gekommen? Sie seien durch Besucher der JVA eingeschmuggelt worden, hieß es anfangs. Wie das, wenn Besucher sich bis auf die Haut filzen und mit Metalldetektoren abspüren lassen mussten, wenn während der Kontaktsperre überhaupt niemand mehr ohne Wissen des BKA den RAF-Trakt betreten konnte?
Die Waffen seien in Baaders Plattenspieler gefunden worden, hieß es dann. Wie das, wenn den Gefangenen doch alle Geräte abgenommen worden waren? Raspe soll seine Waffe hinter der Fussleiste versteckt haben. Eine dritte Waffe soll bei den ersten Aufräumungsarbeiten in den angrenzenden Zellen später sogar im Wandputz gefunden worden sein. Wie hätten die Gefangenen diese Waffen bei den täglichen Kontrollen, den vielfachen Verlegungen, die gleichbedeutend mit einer Totalrevision ihrer gesamten Habe waren, mit sich nehmen sollen?
Wie konnte Baader sich schließlich mit einer 18 cm langen Waffe am Hinterkopf einen schräg nach oben verlaufenden Schuß selbst ansetzen und dabei zwar Blut- an der einen Hand, aber keine Fingerabdrücke an der Waffe hinterlassen? Ähnlich bei Raspe: Wieso lag die Waffe nach einem aufgesetzten Schuß in die Schläfe in seiner rechten Hand und nicht – der Hand durch den Rückstoß entglitten – neben ihm? Wieso fanden sich auch auf seiner Pistole keine Fingerabdrücke? Haben Baader und Raspe die Pistolen nach Gebrauch noch gesäubert? Alles Fragen, denen nicht nachgegangen wurde. Nicht nachgegangen wurde auch der Frage, in welcher Reihenfolge die drei Projektile abgeschossen wurden, die in Baaders Zelle gefunden worden waren. Traf der erste Schuß seinen Kopf und wurde erst danach auf Bett und Decke geschossen, dann wäre das ein Hinweis darauf gewesen, dass jemand anderes als Baader die Waffe geführt haben müsste. Die ballistischen Untersuchungen zur Klärung dieser Frage wurden nicht vorgenommen. Unbeantwortet blieb auch die Frage, woher der Sand an Baaders Schuhen stammte, obwohl der bei der Obduktion anwesende Wiener Gerichtsmediziner Prof. Holczabek eine mineralogische Untersuchung der „Fremdkörper“ gefordert hatte. Sie wurde nicht durchgeführt.
Wenden wir uns schließlich noch Gudrun Ensslin zu: Wieso wurde sie nicht sofort aus der Schlinge geschnitten, als man sie auffand? Möglicherweise lebte sie noch? Stattdessen warteten Anstaltspersonal und Ärzte mehrere Stunden, bevor sie die Erhängte aus der Schlinge nahmen. Da konnte der Todeszeitpunkt schon nicht mehr genau festgestellt werden. Ähnliche Ungenauigkeiten, wenn man es so nennen und nicht von bewusster Vertuschung reden will, sind übrigens bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes von Baader und Raspe zu bemerken. Wieso riss die Schlinge sofort, als man die Erhängte abnahm, wieso nicht vorher? Wieso wurde der übliche Histamintest nicht vorgenommen, der zur Routine gehört, wenn es darum geht Selbsttötungen durch Erhängen nachzuweisen? Wieso wurden die Verletzungen an Gudruns Körper nur festgestellt, ihre Ursache aber nicht untersucht? Wo blieben die Briefe, die aus ihrer Zelle entfernt wurden? Was ist ihr Inhalt?
Kurz gesagt, Fragen über Fragen, die nicht, falsch oder zumindest irreführend beantwortet wurden. Spuren möglicher Fremdeinwirkung wurde, man ist versucht zu sagen, systematisch nicht nachgegangen. Stattdessen setzte der verantwortliche Justizminister von Badem-Würthemberg Benda zuerst den Leiter der JVA und den Sicherheitsbeauftragten ab, dann trat er selbst zurück. Sein Nachfolger Palm ordnete „an, „daß alle nicht tragenden Wände der Terroristenzellen in der Stammheimer Haftanstalt abgerissen werden. Ferner erhielt das Baukommando den Auftrag, alle Fußböden aufzureißen und den Putz von den tragenden Wänden zu stemmen“ (Hamburger Abendblatt, 11.11.77 zitiert nach „Arbeiterkampf 117)
Dies geschah, wie dem Datum der Pressemeldung zu entnehmen, bereits im November, nur drei Wochen nach der Todesnacht von Stammheim, lange bevor der parlamentarische Untersuchungsausschuß mit seiner Arbeit begonnen hatte. Und dies bedeutete, so kommentierte der „Arbeiterkampf“ damals, „die endgültige Pulverisierung der Umgebung, in der sich das Wunder von Stammheim ereignet hat. Hier wird man niemals mehr beweisen können, was wirklich in den Wänden usw. war – und wer es dort hinein gesteckt hat.“ Dem ist auch nach 30 Jahren nichts hinzuzufügen.
Statt Tatsachen nachzuspüren, wurde versucht die Selbstmordthese mit psychologischen Spekulationen zu untermauern. Die Gefangenen hätten mit ihrem „kollektiven Selbstmord“ ein „Fanal“, also ein Zeichen setzen wollen hieß es, dann aber auch, sie hätten sich aus Verzweiflung und Frust über die gescheiterte Befeiungsaktion umgebracht. Dass „Frust“ und „Fanal“ sich als Motivation gegenseitig ausschließen, störte die Urheber dieser Spekulationen nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass eine Verabredung zur kollektiven Selbsttötung einer spontanen Verzweiflungstat widerspricht, zumal, das möchte ich besonders betonen, Martin Schleyer zu dem Zeitpunkt noch lebte, also gar nicht sicher war, ob die Aktion nicht noch eine andere Wendung nehmen könnte. Am Morgen des 18. war der hirnlose Reflex, aus dem heraus die Entführer Martin Schleyers ihr Opfer töteten, nicht voraus zu sehen.
Zusätzlich zu solchen Spekulationen wurden nach der Pulverisierung der Zellen weitere Wege gefunden, wie die Waffen in die Zellen gekommen sein sollten. Die Geschichte ist schnell erzählt: Nach der Ermordung Generalstaatsanwalt Bubacks am 7.4.1977, die gemeinhin als Auftakt des deutschen Herbstes gilt, übernahm am 1. Juli sein Nachfolger Kurt Rebmann die Leitung des Stammheimer Verfahrens. Er fand einen Kronzeugen, Volker Speitel, der bereit war gegen die RAF auszusagen. Von Speitel stammt die Idee, die Waffen seien, versteckt in Hohlräumen von Prozessakten, während des Prozesses den Gefangenen von ihren Anwälten übergeben worden. Speziell die Anwälte Arndt Müller und Achim Newerla wurden verdächtigt.
Mit dieser Geschichte zog Generalstaatsanwalt Rebmann am 12. Januar vor den Untersuchungsausschuß und in die Öffentlichkeit. Vier Tage später platzte die Geschichte, als die im Prozess eingesetzten Polizeibeamten vor dem Ausschuss aussagten, während des Prozesses sei jede Akte sondiert, per Hand von ihnen durchgeblättert worden und im Übrigen seien gerade Newerla und Müller „eigentlich nie“ im Verhandlungssaal, sondern immer nur unter den Zuschauern gewesen, hätten also gar keinen direkten Kontakt zu den Angeklagten gehabt.
Zur selben Zeit platze noch eine Bombe: Der Techniker des Sicherheitskommandos sagte vor dem Ausschuss aus, dass die Sicherheitsanlage des angeblich sichersten Gefängnisses der Welt keineswegs sicher gewesen war, sondern bei langsamen Bewegungen an den Wänden der Gängen entlang unterlaufen werden konnte, das hieß: Ein unbeobachteter Zugang zu den Zellen der Gefangenen über die Nottreppe war in der Todesnacht möglich.
Ungeachtet solcher Widersprüche wurde das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren, das zur Klärung der Todesursachen der Stammheimer Gefangenen eingeleitet worden war, im April mit der Begründung eingestellt, daß „die Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe sich selbst getötet haben, die Gefangene Möller sich selbst verletzt hat und eine strafrechtlich relevante Beteiligung Dritter nicht vorliegt.“
Bleibt nur noch dies zu erwähnen: Nach dem Abschluss der Ermittlungen ging es gegen die Kritiker: Am 21.7.78 wurde u.a. gegen mich als damaligem presserechtlich Verantwortlichen des KB Anklage wegen Staatsverleumdung in mehreren Fällen erhoben. Als Ergebnis einer sich entwickelnden Solidaritätskampagne schlug ein französisches „Koordinationskomitees gegen die Repression“ die Bildung einer „Internationalen Untersuchungskomission über die Stammheimer ‚Selbstmorde’“ vor.
Angesichts des absehbaren, sich andeutenden öffentlichen, vor allem internationalen Interesses für den bevorstehenden Prozess schien es der Staatsanwaltschaft offensichtlich ratsamer das Verfahren vor Eröffnung des Prozesses aus formalen Gründen einzustellen.
Seither wird jegliche gerichtliche Neubefassung mit den nach wie vor offenen Fragen abgeschmettert: Als der „stern“ 2002 Beweise dafür vorlegte, dass die Geschichten des Kronzeugen Speitel konstruiert seien, sogar den begründeten Verdacht aussprach, Speitel könne im Dienste des VS gestanden haben, und somit die Frage, wie die Waffen in die Zellen gekommen seien, einer neuen Überprüfung unterzogen werden müsse, bekamen er vom Leiter der kriminalpolizeilichen „Sonderkommission Stammheim“ eine doppelte Antwort: erstens – die Kommission habe seiner Zeit „keine über den Selbstmord hinausgehenden Ermittlungsaufträge bekommen“ und zweitens: „Die Staatsanwaltschaft – die objektivste Behörde der Welt – hat das Verfahren eingestellt. Damit ist der Fall ein für allemal abgeschlossen, und damit basta.“ (Stern, 9.10.2002)
Dem kann man nur, ebenso kategorisch, entgegenstellen, daß die Fragen, was in der Nacht vom 17. auf den 18.10.1977 geschah, bis heute noch nicht geklärt sind und solange das so ist, sind Zweifel an der These des Selbstmordes berechtigt und notwendig .

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de