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Putins humanitäre Hilfe

Will man den Worten trauen, die der Welt zur Zeit von Politikern mitgeteilt werden, so schickt sich Russlands Präsident Wladimir Putin soeben an, Amerika humanitäre Hilfe bei der Bewältigung ihrer aktuellen Krise leisten zu wollen. Was für ein Salto!
Eben noch waren es die US-Amerikaner, die Russland aus humanitären Gründen mit Krediten und den Segnungen des „american way of life“ versorgten; eben noch war es die NATO, die aus denselben Gründen erst Serbien bombardierte und dann den Balkan besetzte. Jetzt schickt Russland sich an, seine westlichen Lehrmeister in Sachen „humanitärer Hilfe“ weit zu überholen.
Sprechen wir nicht davon, wie schnell Wladimir Putin die Sprache jener Welt gelernt hat, die der deutsche Bundeskanzler die zivilisierte nennt. Wladimir Putin sagt „humanitär“ und meint sein eigenes Eintreten dafür, dass die GUS-Länder Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan amerikanischen Kampfflugzeugen Überflugrechte für deren geplante Einsätze in Afghanistan einräumen.
Er sagt humanitär und meint die Lieferung von Waffen und Kriegsgerät von Seiten Russlands an die afghanische Nordallianz, die damit in den Krieg gegen die Taliban ziehen.
Er sagt humanitär und meint die neuerliche Ausweitung des russischen Einflusses im zentralasiatischen Raum.
Dies alles ist auffallend genug. Zu sprechen ist aber vor allem von der Wende im Verhältnis zwischen den USA und Russland, die sich hinter diesen Worten verbirgt: Die Formulierung von der „humanitären Hilfe“, die man den Amerikanern zu leisten bereit sei, beinhaltet ja nicht nur Informationshilfe, nicht nur Öffnung des zentralasiatischen Luftraumes seitens der GUS, nicht nur verstärkte Waffenlieferung an die Nordallianz und nicht nur stärkere Präsenz Russlands im zentralasiatischen Raum – sie bedeutet auch, dass mehr als eben diese „humanitäre Hilfe“ von Russland nicht zu erwarten ist.
Man erinnere sich, dass Außenminister Iwanow noch vor wenigen Tagen erklärte, dass Russland unter keinen Umständen direkten militärischen Beistand für die USA leisten werde. Ranghohe russische Militärs stellen sich entschieden gegen militärische Verwicklungen Russlands in Afghanistan. Sie haben die Lektion der gescheiterten sowjetischen Besetzung nicht vergessen.
Wladimir Putin selbst erklärte in einem Atemzug mit dem Angebot „humanitärer Hilfe“, dass es keine direkte militärische Unterstützung eines amerikanischen Krieges geben werde. Sein Versprechen auf „humanitäre Hilfe“ an Amerika heißt, so verstanden, letztlich nicht mehr und nicht weniger, als dass Russland die USA nicht stören wird, einen Krieg zu führen, der sie nur schwächen kann. Mehr noch, sollten die USA, verleitet durch Wladimir Putins Zugeständnisse und die breite „Allianz gegen den Terror“, derer sie sich zur Zeit erfreuen, tatsächlich die Dummheit besitzen, in Afghanistan einzumarschieren, kann Russland aus dieser Situation nur gestärkt hervorgehen: Es hat die Chance, den Makel des Aggressors und der Destabilisierung in Zentralasien an die USA zu übergeben, während es selbst als stabilisierende Macht in dem Gebiet auftreten kann. Darüber hinaus kann es von den USA für seine Hilfe noch Gegenleistungen erwarten. Im Gespräch sind bereits ein möglicher Schuldenerlass, ein Verzicht der USA auf Kritik am tschetschenischen Krieg, eine Rückverlegung der Linie der NATO-Osterweiterung uam. Die Tage der Alleinherrschaft der „einzig verbliebenen Supermacht“ jedenfalls sind gezählt. Das ist die Botschaft, die Wladimir Putin soeben auch dem Deutschen Bundestag überbrachte.

Kai Ehlers

Aus gegebenem Anlass: Alternativen entwickeln

Die Ereignisse seit dem 11.9.2001 geben nicht nur der Weltpolik neue Impulse, sie verlangen von jedem Einzelnen neue Entscheidungen. Es reicht nicht für oder gegen Terror zu sein, für oder gegen militärische Reaktionen der USA und ihrer Verbündeten: Über berechtigtes Mitleidens für die Opfer des Terrors, wie auch des jetzt einsetzenden Gegenterrors hinaus, stellt sich die Frage nach Alternativen. Die können nur in der Herausbildung einer neuen Weltordnung liegen, die aus einer gerechteren, auch effektiveren, Sozialordnung, Arbeits-, Wirtschafts- und Lebensweise hervorgeht.
Voraussetzungen für eine solche Entwicklung haben sich längst herausgebildet. Sie sind das Ergebnis zweier Weltkriege und wuchsen heran, während die Welt in zwei Systempole geteilt war. Nach dem Ende des kalten Krieges treten sie nun klar hervor: Sie zielen auf eine multipolare Weltordnung unterschiedlicher Kulturen, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme. Die unipolare Ordnung, in der die USA nach dem Ende der Sowjetunion und ihres sozialen Modells als „einzig übriggebliebene Supermacht“ das gesamte Geschehen auf dem Globus mit ihrem Verständnis von Globalisierung bestimmten, war nur eine Übergangserscheinung,
Von einem Motor des industriellen Fortschritts durch Entwicklung des Weltmarktes, heute Globalisierung genannt, ist die USA dabei, sich zu einer Bremse zu wandeln, die zudem zunehmend mit Gewalt betätigt wird und entsprechende Gegengewalt hervorruft. Das ist der Kern des Konflikts, der sich in den Anschlägen vom 11.9.2001, ebenso wie in der militärischen Antwort der USA und ihrer westlichen Verbündeten auf diesen Terror Luft gemacht hat und weiter machen wird, wenn nicht eine andere Politik eingeschlagen wird, die den herangereiften Verhältnissen zum Durchbruch verhilft.
Alternativen zu entwickeln bedeutet daher, die Aufmerksamkeit auf diesen globalen Wachstumsprozess zu lenken, der im Wesen ein Prozess der Entkolonialisierung und der weltweiten Emanzipation bisher unterentwickelter und unterdrückter Nationen und Völker und ihrer Lebens- und Wirtschaftsweisen ist. Es bedeutet sich zu bemühen, die Ansätze neuer sozialer und politischer Strukturen herauszuarbeiten, welche Alleingültigkeit des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells in Frage stellen, sie praktisch zu fördern und den theoretischen Dialog mit ihnen aufzunehmen.
Eine solche öffentliche Debatte muss notwendigerweise, man kann auch sagen, sie kann glücklicherweise, an den soeben gemachten Erfahrungen der nachsowjetischen Entwicklung ansetzen, in deren Verlauf der westlich geprägte Kapitalismus sich immerhin anschickte, das sowjet-sozialistische Modell auf Dauer und für alle Zeiten abzulösen, dies aber – wie inzwischen offensichtlich – nicht kann.
Am deutlichsten zeigt sich das heute natürlich im Stammland des sozialistischen Modells selbst, in Russland also, sowie in den Ländern der GUS und jenen in Ländern, die im zurückliegenden Jahrhundert unter sowjetischem Einfluss standen.
In Russland entstehen heute, nach zehn (bis 15) Jahren einer forcierten Privatisierung Wirtschafts- und Lebensformen, die nicht mehr sowjet-sozialistisch, aber auch nicht liberal kapitalistisch sind. Vielmehr bilden sich die unterschiedlichsten Mischformen von industrieller Produktionsweise und kollektiver bis familiärer Selbstversorgungsstrukturen heraus, die sich gegenseitig stützen und durchdringen. Die so entstehenden Lebensformen sind in vielen Fällen durch die Not, vom nackten Überlebensinteresse diktiert, sind eine Antwort auf die Krise. Das ist klar. Darüber hinaus sind sie jedoch, in der Art und Weise wie sie entstehen, auch Ausdruck einer historisch gewachsenen und kulturell bedingten Lebensweise. Die Kombination von beidem lässt soziale Strukturen entstehen, die über die Krise und über den westlichen Modellkapitalismus hinaus Bestand haben werden.
Ähnliche Erscheinungen sind in der GUS oder in Ländern der ehemaligen Einflusszone der Sowjetunion zu beobachten, darüber hinaus auch in Ländern der früher so genannten Dritten Welt und – was noch bemerkenswerter ist – selbst in der Metropole des westlichen Kapitalismus, den USA. In deren Städten entstehen vielfältige Mischformen zwischen Staatskapitalismus und kommunitärer Selbstversorgung. Die Vielfalt und die Zunahme dieser Erscheinungen im Zuge der voranschreitenden Globalisierung lässt erkennen, dass es sich hierbei um eine breite, vielgestaltige tatsächliche Entwicklung handelt, nicht um ausgedachte Utopien oder Fantasien.

Kai Ehlers

Sind wir alle Terroristen? Alternativen entwickeln

„Wer nicht für Amerika ist, ist für den Terror“ – das ist die zentrale Botschaft, die George W. Bushs in seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress am 20. September der Welt mitteilte.
Im Übrigen bekräftigte er die Anschuldigungen gegen Usama Bin Laden. Beweise legte der Redner nicht vor. Wie auch? Ohne Gerichtsverhandlung wird es keine Beweise geben. Und von Gerichtsverhandlung ist gegenwärtig keine Rede. Stattdessen bekräftigte George W. Bush, dass Amerika sich auf einen langen Krieg einzustellen habe.
Er werde sich von bisherigen Einsätzen der USA unterscheiden, deren Ziele, klar gewesen seien, die kurz gewesen seien, bei denen keine Bodentruppen eingesetzt und der Tod von amerikanischen Soldaten nicht riskiert worden sei. George W. Bush nennt den Irak, er nennt den Einsatz auf dem Kosovo dafür als Beispiel – Vietnam nennt er nicht.
Von den Taliban wird die Auslieferung Usama bin Ladens gefordert. Das ist – gemessen an den Äußerungen der US-Regierung in den letzten Tagen und der Weigerung der Taliban, der Aufforderung nachzukommen – praktisch eine Kriegserklärung an die Taliban – ohne dass bisher ein klares Ultimatum ausgesprochen worden wäre.
Im Vorgehen der US-Regierung wiederholt sich hier ein Zug, der schon die Terror-Attacke ausgezeichnet hatte, nämlich die Anonymität eines Krieges, in dem die Bevölkerung nur noch manipuliertes Opfer geheimer oder geheimdienstlicher Aktionen und Manipulationen ist. Der durch die Medien inszenierte Krieg, der sich schon im Irak zeigte, der sich dann im Kosovo wie auch jetzt in Tschetschenien zur vollen Stärke entfaltete, erreicht jetzt noch eine neue Stufe, nämlich die aktive, vorwegnehmende Einstimmung der Welt-Bevölkerung auf einen unerklärten Krieg, das heißt die Organisation einer ideologischen Blankovollmacht seitens der Bevölkerung für einen Geheimdienstkrieg, wie George W. Bush ankündigt, von mindestens zehn Jahren Dauer. Das ist kein Journalismus mehr – das sind die Anfänge des Orwellschen Wahrheitsministeriums im globalen Maßstabe
„Wer nicht für Amerika ist, ist für den Terror!“ Auf diesen Satz könnte man in derselben Grobschlächtigkeit antworten: Wer gegen den Terror ist, muss gegen Amerika sein: Amerika hat sich über Jahrzehnte und dies in eskalierender Weise den Zorn, den Hass und schließlich den todesverachtenden Vernichtungswillen der Menschen zugezogen, die unter seinem Anspruch auf Weltherrschaft in auswegloses Elend gebracht wurden und weiter werden. Die Stationen dieser Entwicklung heißen: Hiroshima, Nagasaki, Vietnam, Panama. Chile, Irak, Kosovo und andere mehr, weniger bekannte mehr. Dazu kommt der Druck, den die USA auf Russland, China und den Rest der sog. 3. Welt ausüben. Die Globalisierung des Kapitals unter amerikanischer Führung hat die Globalisierung des Terrors folgerichtig hervorgebracht und wird sie weiter hervorbringen, wenn Amerika und die mit ihm wirtschaftlich und politisch verbündeten Industriemächte ihre Politik nicht ändern . Wer gegen den Terror ist, der muss auch gegen die Verhältnisse sein, die diesen Terror hervorgebracht haben und hervorbringen. Das beinhaltet auch für Amerika zu sein, aber für ein Amerika, das sich in die multipolare Völkergemeinschaft eingliedert, die sich als Ergebnis einer über zwei Weltkriege herangewachsenen Entkolonialisierung abzeichnet.
Unterscheidungen in Freunde Amerikas und Sympathisanten des Terrors sind – allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz – nur dazu geeignet, eine Polarisierung zu schaffen, welche die Systemkonfrontation des 20. Jahrhunderts nunmehr durch eine Konfrontation der Kulturen ersetzt, die letztlich auf einen Krieg zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung hinausläuft.
Wenn es in diesem Konflikt nicht zu weiteren unabsehbaren Eskalationen auf beiden Seiten kommen soll, dann reicht es heute nicht, die Terroristen strafrechtlich oder militärisch zu bekämpfen, das ist nötig, denn für Terror, Krieg und Mord kann es keine klammheimliche Freude geben, Es reichen auch keine präventiven Eindämmungs- oder Konfliktstrategien, weder innenpolitisch, noch global, solange sie die Ursachen nicht beseitigen, die den Hass hervorbringen. Es müssen effektive soziale und politische Alternativen zur gegenwärtigen Form der Globalisierung, sprich Ausbreitung der Herrschaft einer globalen Minderheit unter der Führung einer Weltmacht, der USA, entwickelt werden. Diese Alternativen fließen in der Anerkennung der multipolaren Weltordnung zusammen, die sich herausgebildet hat. Sie basiert auf kultureller und sozialer Symbiose, das heißt einer Wirtschafts- und Lebensweise, die den Austausches im Interesse gegenseitigen Nutzens zwischen verschiedenen kulturell gewachsenen Formen des Wirtschaftens und Lebens, zwischen industriellen und ökologischen, zwischen kollektiven und individuellen zur Grundlage einer für alle gleichermaßen überlebenswichtigen ökologischen Stabilität macht.

Kai Ehlers

Amerikanischer Krieg oder multipolare Weltordnung?

Amerikas Präsident erklärte den Krieg. Es soll ein langer Krieg gegen den Terrorismus und seine Helfer werden, um weitere Anschläge wie die auf das World Trade Center und das Pentagon vom 11.9.2001 ein für allemal zu verhindern. Es gehe nicht darum, so der stellvertretende Verteidigungsminister der USA, Paul Wolfowitz, einzelne Personen zu bestrafen, sondern Staaten und Systeme „auszuschalten“, die den Terrorismus unterstützten.
Vierundreißig solcher Staaten hat Amerika ins Visier genommen, allen voran die arabischen Staaten Iran, Irak, Syrien, Libyen, Sudan, Jemen und als Zentrum des „Bösen“ die Taliban, weil sie den Hauptbeschuldigten Osama bin Laden beherbergten. Dazu kommen noch Kuba, Korea und alle, die nicht bereit sind, sich mit der amerikanischen Kriegserklärung zu solidarisieren.
Es verwundert nicht, dass sich die NATO und all jene Staaten, die sich dem Westen zugehörig fühlen oder ihm – wie die Staaten Osteuropas – angehören möchten, auf die Seite Amerikas stellen, zumindest erst einmal verbal. Mit logischer Konsequenz mutiert eine Supermacht, die nach Vorherrschaft strebt, in Reden und Medien innerhalb weniger Tage zur „einzigen verbliebenen Weltmacht“, zum Zentrum und Botschafter der Zivilisation. Wer an anderes erinnert, wird ausgegrenzt.

Nachdenklich aber stimmen die Solidaritätsadressen der russischen und der chinesischen Regierungen: Über Nacht wurden die USA auch in den offiziellen Verlautbarungen aus Moskau und Peking vom Störenfried einer sich herausbildenden multipolaren Ordnung zum strategischen Partner.

Dies alles macht den Eindruck als ob jetzt, gut ein Jahrzehnt nach dem Ende der Sowjetunion, endgültig das amerikanische Zeitalter anbreche. Aber dieses Bild täuscht: In Wirklichkeit signalisieren die Anschläge nicht den endgültigen Sieg der „einzig verbliebenen Weltmacht“, sondern deren einsetzende Entthronung:
Schon seit längerem hat die „Supermacht“ USA sich überhoben und befindet sich auf einem strategischen Rückzug aus ihrer Rolle als selbsternannter Garant der Menschenrechte, bei gleichzeitiger Verschärfung militärischer Konfrontation an globalen Konfliktpunkten. Der neue Präsident George W. Bush ist die Verkörperung dieser Entwicklung: Die Amerikanisierung Russlands erwies sich als kostenspieliger Fehlschlag – Busch kürzte die Kredite.

Die NATO-Erweiterung, einschließlich des NATO-Einsatzes auf dem Balkan droht zu einer Stärkung Europas auf Kosten der USA zu führen – Busch verlangt schnellere Erfolge und stärkeres Engagement von den Europäern. Die strategische Partnerschaft mit China erwies sich als Entwicklungshilfe für einen strategischen Konkurrenten – die Neueinstufung Chinas vom strategischen Partner zum strategischen Konkurrenten war die erste Amtshandlung George W. Bushs. Busch gab die Vermittlerrolle im Naost-Konflikt auf und intensivierte stattdessen den Druck auf die arabischen und andere „Schurkenstaaten“. Zeitgleich zogen die USA sich aus internationalen Verpflichtungen der UNO, der UNESCO und ähnlicher Organisationen zurück. Der Kündigung des Klimavertrages ist nur der krasseste Ausdruck dieser Politik.
Die Zerstörung des WTC-Symbols und der Angriff auf das Pentagon mitten im Herzen der „einzig verbliebenen Supermacht“ lässt diesen lange gewachsenen Tatbestand urplötzlich ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit treten. Wenn die Europäer, noch mehr aber wenn Russen und wenn Chinesen der angeschlagenen Supermacht jetzt Hilfe beim Aufspüren der Terroristen versprechen, so tun sie das – ungeachtet aller diplomatischen Floskelei – allesamt unter einer Bedingung, nämlich dass sie von den USA konsultiert werden.

Aus Sicht der USA ist dies eine Zumutung, der sie sich in den letzten Jahren zunehmend entzogen haben. Jetzt befinden sie sich jedoch in einem Dilemma: Binden sie sich an Konsultationen, dann ist das ein Eingeständnis ihrer Schwäche, das die Positionen ihrer wichtigsten globalen Konkurrenten Europa, Russland, China nachhaltig stärkt, von anderen Mächten in diesem Zusammenhang erst einmal zu schweigen. Binden die USA sich nicht an die Konsultationen, verspielen sie den Kredit, den ihnen eben diese Konkurrenten jetzt noch zu geben bereit sind. Im schlimmeren Falle ziehen sie diese Mächte in einen Krieg, in dem deren Interessen und die der USA nicht nur nicht übereinstimmen, sondern einander entgegengesetzt sind.

China als potentieller Führer des aufstrebenden asiatischen Raumes unterhält praktisch mit allen Staaten, die seit Jahren auf der US-Liste der „Schurkenstaaten“ stehen, wirtschaftliche und politische Beziehungen. Just am Tage des Anschlags berichtete die pakistanische Presse sogar über Verhandlungen zu einem Handelsabkommen zwischen China und den Taliban.
Im zentralasiatischen Raum verfolgt China eine eigene Politik mit den muslimisch geprägten zentralasiatischen Staaten, um sie über Wirtschafts- Zoll-und Sicherheitsverträge an den asiatischen Raum zu binden.

Für Russland gilt Vergleichbares, mehr noch, gerade unter dem Präsidenten Putin hat die Ausrichtung der russischen Politik nach Süden und Osten eine starke Wiederbelebung erfahren: Nicht nur versucht Moskau seinen Einfluß in der GUS wieder geltend zu machen, es unterhält auch mit eben jenen Staaten, die sich auf den „Schurkenliste“ der USA wieder finden, dazu auch in zunehmendem Maße mit China, schon längere Zeit enge politische Verbindungen und agiert neuerdings auch zunehmend wieder als potenter Waffenlieferant. Die in letzter Zeit oft besprochene relative Stabilisierung Russlands ist abgesehen von den ÖL-Dollars, die das Staatsbudget zu einem Drittel füllen, auch ein Ergebnis dieses wieder gewachsenen russischen Rüstungexports.
Noch komplizierter wird es, wenn wir uns dem von den USA angepeilten Konfliktzentrum Afghanistan nähern.

Zwar erklärte Wladimir Putin seine Bereitschaft, die USA bei der Bekämpfung des von Taliban gedeckten Osama bin Laden zu unterstützen. Dies Interesse ist insoweit real, als Moskau die Taliban und Bin Laden beschuldigt, die radikalen tschetschenischen Kämpfer mit Personal und Waffen zu beliefern. Hier aber hören die Gemeinsamkeiten zwischen Moskau und Washington bereits auf, denn erstens sind die materiellen Interessen Russlands und der USA , vor allem Öl, in der kaukasischen und kaspischen Region einander diametral entgegengesetzt und zweitens kann Russland im Unterschied zu den USA keinerlei Interesse an einer Destabilisierung des kaukasischen und zentralasiatischen Raumes haben.
Destabilisierung aber droht, wenn Russland und die USA, die bis 1988 einen blutigen Stellvertreterkrieg auf dem Rücken der Afghanen austrugen, nunmehr in einer gemeinsamen Militäraktion gegen die talibanische Regierung vorgingen. Die Taliban müssten ihren Nachbarn nicht erst den „heiligen Krieg“ für den Fall einer solchen Unterstützung der Amerikaner androhen – eine Eskalation der Konflikte in dem Raum wird auch ohne Zutun der Taliban die Folge einer solchen Aktion. Sie werden aber auf jeden Fall die Früchte der Verzweiflung radikalisierter Menschen ernten.

Was Tschetschenien anbetrifft, so gibt es starke Anzeichen dafür, dass die russische Regierung nach einem Ausweg sucht, der ebenfalls nicht geeignet ist, mit den Amerikanern eine Front zu bilden. Im Gegenteil: Neuerdings kommen politische Konzepte zur Lösung des tschetschenischen Problems in die russische Diskussion, die aus der ideologischen Küche der sich selbst so nennenden neo-eoroasiatischen Bewegung stammen. Deren Wortführer, Alexander Dugin, definiert Russland nicht nur als Macht zwischen Asien und Europa, was ja richtig ist und bei vielen RussinnEn, die nach neuer Identität suchen, heute in den Vordergrund rückt, sondern er definiert Weltpolitik als grundsätzliche Konfrontation zwischen dem territorial-euro-asiatischen und dem maritim-atlantischen Block, kurz gefasst, zwischen Russland als potentiellem Führer des euroasioatischen und den USA als Führungsmacht des atlantischen Blocks.

Neuerdings findet Alexander Dugin, der zu Perestroikazeiten als nationalistischer Extremist galt, nicht nur offene Ohren in Russlands neuen Eliten, er avancierte auch zum Berater und Organisator von politischen Kongressen im Dunstkreis Wladimir Putins. Die von ihm gegründete „Euro-asiatische Bewegung“ ist dabei, sich mit Staatsmitteln im Land zu verbreiten.
Nach Dugins Lesart, so im Mai dieses Jahres auf einem von der Regierung offiziell getragenen Kongreß über Probleme des Islam in Russland diskutiert, sind russische Muslime, insonderheit die tschetschenische Bevölkerung nicht als Gegner zu bekämpfen, sondern als Partner in eine euroasiatische Front gegen Amerika einzubeziehen. Es versteht sich, dass diese Linie, die zunehmend Anhänger im Umfeld Wladimir Putins zu finden scheint, mit einer militärischen Unterstützung amerikanischer Vergeltungsmaßnahmen gegen „die“ Taliban nur schwer zu vereinen wäre.

So wird es auch niemanden verwundern, dass der russische Außenminister Iwanow ebenso wie ranghohe russische Generale eindeutig erklärt haben, eine militärische Unterstützung der USA komme nicht in Frage. Ähnliche Verlautbarungen sind auch aus China zu hören. Aber selbst die von der NATO verpflichteten Europäer, allen voran die Franzosen und die Deutschen, sind nicht bereit, sich von den USA in einen Krieg ziehen zu lassen, der ihnen nicht nützt.

Dies alles bedeutet, dass der amerikanische Krieg, wenn er denn stattfindet, nicht zu einer Stärkung der USA, sondern zu deren weiterer Schwächung führen wird. Am Horizont dieser Schwächung erscheint eine multipolare Weltordnung getragen von China, Russland, Europa, der arabischen Welt und weiteren Machtzentren, in welcher die USA nicht mehr die „einzig verbliebene Weltmacht“. sondern eine Macht unter mehreren sind. Besser wäre es, den Weg dorthin, da er doch unvermeidlich ist, nicht militärisch, sondern politisch zu gehen.

Kai Ehlers

Aus Anlass der Anschläge vom 11.9.2001: Nicht „Schulterschluß“ und Konfrontation…

Alternativen entwickeln

Der „Schulterschluss“ der „zivilisierten“ gegen die „unzivilisierte“ Welt, wie in Christian Semmler kritisiert, also des „Westens“ gegen den „unterentwickelten“ Rest des Globus ist ganz sicher nicht die Reaktion, die hilfreich ist, den Knoten zu lösen, der mit den Terroranschlägen in New York und Washington ins Licht der Weltöffentlichkeit getreten ist. Wir brauchen stattdessen Differenzierungen, um die Entwicklungswege zu fördern, die einer zivilisierten Lösung unserer heutigen globalen Probleme dienlich sind. Wir brauchen eine Lösung, die darauf zielt, allen Menschen die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zu geben.
…sondern eine multipolare Weltordnung…
Anders gesagt: Nicht die Ablösung der alten Systemkonfrontation durch eine Konfrontation der Kulturen unter Führung der USA steht heute an, sondern die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung, in der die Völker der Welt eine vielgestaltige Weltkultur kooperativ und gleichberechtigt miteinander entwickeln. Nur darin liegt eine menschenwürdige Zukunft.
…und soziale Alternativen entwickeln
Dies bedeutet auch, die vielfältigen Alternativen zur Privatisierung und so genannten Globalisierung herauszuarbeiten, die heute, angestoßen durch die nachsowjetische Entwicklung in Russland und anderswo erkennbar werden. In dieser Entwicklung läuft ja keineswegs alles so, wie sich es sich die Liquidatoren des sowjetischen Modells gedacht haben. Es zeigt sich nämlich, dass der ungehemmte liberale Kapitalismus keineswegs die Alternative zum sowjetischen System ist. Unter dem Druck der Globalisierung des Kapitals entstehen vielmehr – besonders sichtbar im nachsowjetischen  Russland, aber keineswegs nur dort – die vielfältigsten Mischformen des Wirtschaftens und Lebens. Das sind kulturell geprägte Verbindungen aus industriellen und vorindustriellen, aus kollektiven und individuellen, aus staatlichen und familiären Strukturen, die zunächst aus purem Überlebensdruck hervorgehen, die aber darüber Keime möglicher Alternativen zum schematischen Entweder-Oder von „Kapitalismus oder Sozialismus“ in sich tragen. Diese Keine gilt es zu erkennen, zu analysieren und bewusst zu fördern.
Kai Ehlers

Globalisierung und Identität

Thesen
Erstmals vorgelegt
anlässlich eines Seminares vom 23.-25.11.20001
der evangelischen Akademie Mecklenburg-Vorpommern:
„Altai – Wiege der Völker und letzte ökologische Zuflucht?“

1. Mit dem Ende der Sowjetunion ist die polarisierte Welt des 20. Jahrhunderts in Bewegung geraten. 2. Das sah zunächst aus wie ein Siegeszug des Kapitalismus und der sog. westlichen Zivilisation, insonderheit der USA. Tatsächlich ging die Krise der Sowjetunion der Krise des Westens, auch hier wieder vor allem der USA, nur voran.3. Tatsächlich sind im Schoße der vom sog. Westen entwickelten und beherrschten industriellen Zivilisation, besonders heftig auch in der Sowjetunion, Verhältnisse herangewachsen, die auf eine grundsätzliche Umwälzung der herrschenden Modelle der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und der sie erhaltenden Machtverhältnisse hinauslaufen. Es ist eine Wachstumskrise, welche die Ablösung einer bloß technischen durch eine moralische und soziale Modernisierung beinhaltet,  die an einer für alle Menschen lebensfähigen ökologisch zu gestaltenden Zukunft orientiert ist – wenn die zur Zeit herrschenden Mächte das zulassen. 4. Die beiden ehemaligen Supermächte unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf ihre jeweilige Krise diametral: Die Führung der Sowjetunion akzeptierte in der Person von Michail Gorbatschow die Politik der Transformation als unausweichlichen Schritt in ein „Neues Denken“, nachdem die Niederlage in Afghanistan klar machte, dass die Union das Ende der russisch-sowjetischen Expansion erreicht hatte und ein Übergang zur intensiven Entwicklung, zur Dezentralisierung und Demokratisierung unausweichlich sei. Die USA unter ihrem Präsidenten George W. Bush dagegen sind nicht gewillt, die Krise zum Anlass einer Transformation ihres liberal-kapitalistischen Gesellschaftsmodells zu nehmen, sondern versuchen sie durch neuerliche Expansion zu überwinden. 5. Dabei unterscheidet sich die amerikanische Expansion grundsätzlich von der russisch-sowjetischen: War die russisch-sowjetische entlang der gesamten Entstehung des russsisch-sowjetischen Imperiums im Wesen eine territorial integrierende, so ist die us-amerikanische im Gegensatz dazu im Wesen eine maritim intervenierende – was überseeische Interventionen seitens der UdSSR und territoriale Kolonisation der USA in Mittel- und Südamerika zur Zeit des kalten Krieges nicht ausschloß. Grundsätzlich folgt aber aus dem unterschiedlichen geografisch und historisch bedingtem Herkommen Russlands und der USA offensichtlich nicht nur ein unterschiedlicher Charakter der Kolonisation, sondern auch unterschiedliche Vorstellungen zu Lösung der  gegenwärtigen Krise. 6. Elemente der möglichen neuen Verhältnisse, die aus der Krise hervorgehen könnten, sind  eine multipolare Weltordnung der Völker und Kulturen mit einer zu dieser Ordnung gehörenden sozialen Symbiose zwischen industriellen Produktionsweisen und persönlicher, bzw. familiärer Subsistenz durch die eigene Produktion von Grundlebensmitteln und Mitteln des eigenen Bedarfs. Dies schließt die Tendenz zur Entwicklung von Stadtgärten und handwerklichen Kleinstbetrieben aller Art mit ein, die gegenwärtig nicht nur auf dem Lande und nicht nur in Ländern der ehemaligen dritten Welt, sondern auch in den Metropolen der Industriegesellschaften, auch denen der USA zu beobachten sind. 7. Diese Verhältnisse – global wie lokal – entstehen nicht als Modell, sondern aus unmittelbarer Lebens-, sogar Überlebensnotwenigkeit als Selbsthilfe im Gegenzug gegen die Konzentration des Weltkapitals in immer weniger Händen. 8. Es ist zu hoffen, daß sich diese neue Ordnung, deren Voraussetzungen in den Jahren seit dem ersten und dann verstärkt seit dem zweiten Weltkrieg bereits herangewachsen sind, mit möglichst wenig Widerstand von Seiten der jetzt Herrschenden und mit möglichst wenig Gewalt seitens der Vertreter der herandrängenden neuen Ordnung durchsetzen kann. Durchsetzen wird sie sich so oder so – oder die menschliche Welt wird nicht mehr sein. 7. Die Ereignisse seit dem 11. 9. 2001 bestätigen die Aktualität dieser Überlegungen. Eine bloße kriegerische Antwort der industriellen Welt auf die Herausforderung durch den fundamentalistischen Terrorismus – wo immer er sich artikuliert – wird die herangereiften Alternativen weder ersetzen können, noch entwickeln. Er wird die unvermeidliche Auseinandersetzung darum lediglich in eine Eskalation der Gewalt verwandeln. Nicht nur menschlicher, sondern auch effektiver wäre es, die Debatte und die Bemühungen zur friedlichen und kooperativen Förderung der anstehenden Alternativen in den Vordergrund zu stellen. Kai Ehlers, 22.11.2001www.kai-ehlers.de

Aufbruch in eine multipolare Welt?

Thesen für ein Seminar in Sankelmark
vom 6. – 8. 10. 2000

1. Das Ende der Sowjetunion ist gleichbedeutend mit dem Ende der bipolaren Weltordnung, welche die Welt seit 1917 in zwei Systemlager teilte.

2. Die Aufhebung der Systemteilung ist ein Wachstumsprozess, der die Grenzen der Systemteilung von innen heraus sprengte. Das gilt für die Sowjetunion selbst, deren Regionen eine eigene Entwicklungsdynamik entfalteten und es gilt für Gebiete der sog. 3. Welt, die sich im Schutz des System-Patts entwickeln konnten.

3. Mit der Auflösung der bipolaren Weltordnung treten die bisherigen Sub-Zentren aus den Schutzräumen zwischen den Blöcken in die freie Konkurrenz des Weltmarktes hinaus. Diese Entwicklung bezeichnet man heute gemeinhin als Globalisierung.

4. Ergebnis ist eine vorübergehende Anarchisierung der internationalen Beziehungen und ein Kampf um die Neuaufteilung der Welt, der an exemplarischen Konflikten wie Kossovo, wie Tschetschenien ausgetragen wird.

5. Wichtigste Konfliktlinie im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, die sich zur Zeit abzeichnet, ist die zwischen China als der kommenden asiatischen Führungsmacht und den USA, die heute den Anspruch auf Weltherrschaft stellen, nachdem sie aus dem kalten Krieg der Systeme als Sieger hervorgegangen sind.

6. Europa, speziell Deutschland, wird im Zuge dieser Entwicklung tendenziell auf den dritten, die bisherige Großmacht Russland auf den vierten Platz der Weltmächte verwiesen. Für beide, Europa wie Russland, besteht die Gefahr, zukünftig auf ein Bollwerk zwischen den großen Kontrahenten China und USA reduziert zu werden.

7. Europäischer Politik, speziell deutscher, fällt somit die historische Rolle zu, eine erneute Polarisierung der Welt, dieses mal entlang der chinesischen und der amerikanischen Interessen, östlicher und westlicher Kultur durch Herausbildung eines dritten Pols im Gleichgewicht zu halten. Darin treffen sich russische und europäische, insonderheit deutsche und russische Interessen..

8. Zu dem Kräftedreieck China, USA, Russland-Europa kommt als zukünftige Potenz noch die orientalisch-arabische, die indische, die afrikanische, die australisch-neuseeländische und die südamerikanische Welt, die sich aber noch in unterschiedlichen Graden der Abhängigkeit von den drei großen Macht- und Wirtschaftszentren befinden.

9. Die Gesamtentwicklung drängt auf eine multizentrale globale Ordnung. Ihre Protagonisten sind aber weder die USA, die verbal als Hüter globaler Demokratie auftreten, noch China, das propagandistisch aggressiv für eine multipolare Welt eintritt. Die multizentrale Ordnung wird gegen die Interessen dieser beiden Supermächte, der gegenwärtigen und der kommenden, von den übrigen Völkern und Ländern des Globus, gruppiert um die alten Mächte Russland und Europa durchgesetzt werden.

Kai Ehlers. Publizist, www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
D- 22147 Rummelsburgerstr. 78, Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482

Putin und Beresovski – zwei Reformer der besonderen Art

Rückwärts zum Zentralstaat?

Regionen, Föderalismus, Völker, Globalisierung.
Rückwärts zum Zentralstaat?

Anfang Juni 2000 legte die Kreml-Administration der Staatsduma eine Gesetzesvorlage vor, der zufolge der russische Präsident zukünftig das Recht haben soll, die Gouverneure der Regionen zu ernennen und abzusetzen, wenn sie gegen Föderationsgesetze verstoßen. Die gewählten Gouverneure sollen aus ihrem seit 1993 bestehenden Machtzentrum, dem Oberhaus der russischen Volksvertretung, Föderationsrat genannt, ausziehen und durch ständige Vertreter ersetzt werden. Zudem sollen sie durch Generalgouverneure überwacht werden, die in sieben Super-Regionen herrschen sollen, welche der russische Präsident per Erlass vor kurzem geschaffen hat. Dazu soll auch ein eigener neuer Überwachungs- und Polizeiapparat in den sieben Regionen aufgebaut werden. Als Ausgleich erhalten die Gouverneure das Recht, mit den Lokalgrößen entsprechend zu verfahren. Das Ganze läuft unter dem Label der Fortsetzung der Demokratisierung durch Einführung einer „Diktatur des Gesetzes“ im Kampf gegen Korruption und Kriminalität. Die Mehrheit der Duma stimmte begeistert zu. Selbst aus den Reihen der Gouverneure gab es kaum offenen Widerstand. Doch dann geschah das für viele Unerwartete: Vladimir Beresovski, vor der Wahl des Senkrechtstarters Vladimir Putin zum neuen russischen Präsidenten als dessen Sponsor, Gönner und Manager aktiv hervorgetreten, stellte sich öffentlich gegen die Politik des neuen Präsidenten. Die von Putin betriebene Rezentralisierung beseitige die Gewaltenteilung, erklärte er. Sie führe zu einer Wiederbelebung des sowjetischen Systems, bringe eine korrumpierte Elite hervor und zerstöre die Selbstverwaltung sowie jegliche Initiative von unten.
Dass Beresovskis Interesse weniger demokratisch als eher geschäftlich begründet ist, dürfte klar sein. Dafür hat er in den Jahren der kriminellen Privatisierung reichlich Zeugnis abgelegt. Er hat in vielen Regionen Russlands wirtschaftliche Interessen, was er gerade wieder bei Übernahme der Krasnojarsker Aluminiumwerke bewiesen hatte, nachdem deren erster privater Besitzer Sergej Bykov vom Gouverneur Krasnojarks, Alexander Lebed, hinter Schloss und Riegel gebracht worden ist. Beresovski braucht gute Beziehungen zu den Gouverneuren und den örtlichen Machthabern; er braucht freie Hand für seine Geschäfte. Das ist alles andere als demokratisch. Doch eben dadurch ist Beresovskis Opposition, obwohl nicht ohne paradoxe Züge, auch grundsätzlicher Natur. Er wendet sich gegen das von Vladimir Putin angestrebte Herrschaftsmodell, das auf dem Primat der Bürokratie und der Sicherheitsdienste, einschließlich des Militärs beruht. In einem solchen Staat, so muss Beresovski offenbar fürchten, wäre für die Oligarchen kein Platz mehr. Könnte es sein, dass er sich dieses Mal verrechnet hat? Jetzt gibt es nämlich keinen Boris Jelzin mehr, der wie bei den Präsidentenwahlen 1996 einen zu sehr emporgekommenen Ordnungspolitiker Alexander Lebed durch seinen anarchischen Autoritarismus wieder relativiert. Spielt Putin vielleicht sogar mit dem Gedanken, sich von Jelzins „Familie“ loszusagen und auf andere Kräfte zu stützen? Wie auch immer, dieses Mal, so scheint es, muss Beresovski die Geister, die er rief, selbst wieder bannen.
Die Antwort aus den Reihen des Präsidenten ließ nicht lange auf sich warten. Putin müsse gegen Beresovski vorgehen, tönte einer der Berater Putins, Pavlovskij, aus dem Kreml. Putin solle noch in diesem Jahr die „Schattenregierung“ der russischen Oligarchen beseitigen, andernfalls könne es sein, dass er schon im kommenden Jahr nicht mehr Präsident sein werde. Putin müsse die demokratischen Institutionen vom „Druck eines privaten Clubs“ einiger Großunternehmer zu befreien. Diese hätten einen parallelen, verfassungsfeindlichen Schattenstaat geschaffen. Während Vladimir Putin vom Volk gewählt sei, würden die Massenmedien von Leuten wie Beresovski und Gussinskij kontrolliert, die immer dann als Retter der russischen Demokratie aufträten, wenn sie sich gefährdet fühlten. Nun müsse die Mehrheit, die Vladimir Putin unterstützt, verhindern, dass sich die Gegner des Präsidenten zu einer Front zusammenschlössen.

Front gegen Putin?
Mit diesem Schlagabtausch bricht der Burgfriede auf, unter dem Vladimir Putin Anfang des Jahres 2000 zum Präsidenten gewählt wurde. Der Burgfriede war durch drei Faktoren begründet: Durch Vladimir Putins Bereitschaft, die „tschetschenische Frage“ zu lösen, durch sein Versprechen, Boris Jelzin und seiner „Familie“ Immunität zu garantieren und durch die politische Leerstelle, die der Newcomer Vladimir Putin anstelle eines Programms präsentierte. Der Konflikt tritt nun just an jener Stelle zutage, an der alle drei Elemente miteinander verzahnt sind – an der Frage der föderalen Struktur des Landes.
Laut Verfassung hat Russland 89 sogenannte föderale Subjekte – Verwaltungsgebiete, autonome, meist nach Ethnien benannte Republiken, autonome Gebiete und die Städte Moskau und St. Petersburg. Unter Boris Jelzin, dessen Amtsantritt als russischer Präsident gleichbedeutend war mit der Auflösung des sowjetischen Zentralstaates, setzte sich die Regionalisierung auf dem Gebiet der nunmehr Russländische Föderation genannten vormaligen Russischen SSR, fort. Gleichzeitig wuchsen die Tendenzen der Rezentralisierung. Der erste tschetschenische Krieg war der krasseste Ausdruck dieser widersprüchlichen Entwicklung. Er löste das Problem nicht, sondern verschob es und verschärfte es damit. Im zweiten tschetschenischen Krieg geht es nicht mehr hauptsächlich um Tschetschenien – weder um dessen Unabhängigkeit noch deren Verhinderung –, sondern um den inneren Zusammenhalt Russlands, um die Stiftung einer neuen Identität. Am Beispiel Tschetscheniens versuchen Vladimir Putin und sein „Kommando“ eine doppelte Sinngebung: Den einen wird mit der Lösung der „tschetschenischen Frage“ ein identitätsstiftendes kollektives Ziel und eine Ablenkung von der eigenen Dauermisere angeboten; den anderen wiederum wird demonstriert, was mit jenen geschieht, die sich dem Anspruch Moskaus auf Wiederherstellung seiner Machtstellung nicht beugen wollen. Mit dem Vorstoß gegen die Gouverneure soll der durch den tschetschenischen Krieg erzeugte politische Druck nun auch formal auf das ganze Land übertragen werden. Das trifft insbesondere diejenigen Teile des Landes, die sich, wie die ethnischen Republiken an der mittleren Wolga, allen voran Tatarstan, in den letzten Jahren eine relative wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit gegenüber der Zentralregierung erkämpfen konnten.

Wie russisch ist Russland?
In Russland leben, auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, immer noch rund hundertfünfzig verschiedene Völker. Das ist Russlands Konstituante. Wer Russland verstehen will, muss sich mit diesen Tatsachen beschäftigen. An der mittleren Wolga beispielsweise, in dem Gebiet, das in der Regel für den russischsten Teil Russlands gehalten wird, leben auf einem Raum von der Größe Frankreichs oder der Türkei sechs nicht-slawische Völker in sechs sich überschneidenden Siedlungsgebieten nebeneinander. Die Kerne ihrer Siedlungsgebiete bilden jeweils eine autonome Republik: Tatarstan, Baschkortastan, Utmurtien, Mordawien, Tschuwaschien und El Mari. Die Angehörigen dieser Völker stellen rund die Hälfte der in dem Gebiet lebenden Einwohner, die andere Hälfte sind slawische Russen. In den einzelnen Autonomen Republiken wicht die prozentuale Zusammensetzung leicht voneinander ab.
Diese Völker, die heute an der Wolga leben, sind im fünften Jahrhundert mit den Hunnen, im dreizehnten noch einmal mit den Mongolen nach Westen gezogen und nach deren Rückzug dort geblieben. Mit der Eroberung Kasans durch Iwan IV., den sogenannten Schrecklichen, kamen sie unter russische Oberhoheit. Seitdem ist die Staatssprache der Völker russisch. In den Dörfern aber werden nach wie vor die Sprachen gesprochen, die sie aus dem Altai, aus der Mongolei und aus Sibirien mitgebracht haben. Das sind turk-tatarische Dialekte bei den Tataren, Baschkiren, Utmurten, Mordawiern sowie den Tschuwaschen, und finnougrische Varianten bei den Mari. Die Mehrheit der Völker, bis auf die Tschuwaschen und Teile der Mari, gehört heute dem Islam an, soweit sie sich religiös orientieren. Die Tschuwaschen sind in ihrer Mehrheit christlich, haben jedoch starke naturreligiöse Elemente bewahrt. Bei den Mari finden sich Islam, Christentum und naturreligiöse Anschauungen in unentschiedener Mischung. Der russische, später sowjetische Lebensstil hat vor allem die Städte geprägt. In den Dörfern aber konnte sich viel mehr der traditionellen Kultur – wie es sich im Gebrauch des Tatarischen, Baschkirischen, Utmurtischen, Mordawischen, Tschuwaschischen und Marizischen ausdrückt – erhalten. Starke nationale Bewegungen seit Mitte der Achtziger Jahre forderten vor allem die Gleichberechtigung der eigenen Sprache mit dem Russischen. Den Tataren ist es gelungen, Moskau die Gleichberechtigung der Sprachen abzutrotzen. Seit 1991 sind in Tatarstan Russisch und Tatarisch gleichermaßen Amtssprache. Die anderen Republiken haben dieses Ziel nicht erreicht oder sind, wie die Tschuwaschen, auf halbem Wege stehen geblieben. So liest man heute in Tschuwaschien Straßennamen auf Tschuwaschisch und Russisch, es gibt auch tschuwaschische Schulen, aber Amtssprache ist allein Russisch. Ähnlich ist es in den übrigen Republiken.
Ende der Achtziger und Anfang der neunziger sorgten Vorstellungen einer unabhängigen Wolga-Ural-Republik für Unruhe. Sie zielten auf eine Vereinigung der turk-tatarischen und finnougrischen Wolgavölker unter tatarischer Führung. Diese Ideen sind heute weitgehend abgeklungen. Tatarstan aber ist für die übrigen Wolgavölker nach wie vor ein Vorbild. Mehr noch, das „Modell Tatarstan“ wurde zum erfolgreichen Gegenentwurf gegenüber dem unglücklichen Tschetschenien, dem es aber zugleich in religiöser, ethnischer und politischer Solidarität verbunden ist. Gemeinsam mit Türken und Aserbeidschanern orientieren sich die nationalen Bewegungen der turk-tatarischen Republiken ebenso wie die tschuwaschische an der Entwicklung eines einheitlichen turksprachigen Kulturraumes, zu dem sie nicht nur sich selbst, den Kaukasus (insbesondere Tschetschenien) und Zentralasien, sondern auch verschiedene Republiken Sibiriens zählen. Altai, Chakasien, Burjatien sind die kleineren unter ihnen, Jakutien die größte, die fast den gesamten Nord-Osten Sibiriens einnimmt. 1990 fand der erste „Alltürkische Kongress“ in Moskau statt, 1991 in Kasan; 1992 gab es in der Hauptstadt Aserbaidschans, Baku, den ersten allgemeinen großen „Kurultai“, die Beratung der turksprachigen Völker. Seitdem trifft man sich zu jährlichen Kurultais in Baku oder Ankara, auf denen über eine einheitliche Entwicklung des turksprachigen Kulturraumes betraten wird. Ähnliches vollzieht sich auf der finnougrischen Linie: Die nationale Bewegung El Maris zielt auf die Vereinigung der finnougrischen Völker, der Finnen, Esten, Ungarn und versprengter Gruppen. Einmal im Jahr trifft man sich in Tallin zum finnougrischen Festival.
All dies, sowohl die turksprachige als auch die finnougrische Erneuerungsbewegung wird teils offen, teils versteckt von den Republikführungen unterstützt; am stärksten tritt Tatarstan hervor, das sich als Zentrum turk-tatarischer Kultur in Russland und als Begegnungsstätte zwischen Ost und West versteht. Versuche der politischen Einflussnahme von außen bleiben bei dieser Konstellation nicht aus. Das betrifft die Türkei zum einen, Finnland und Estland zum anderen. Über die Religion versucht auch der Iran Einfluss zu nehmen. Mit der neuen Gouverneursverfassung, welche die Sonderrechte, die sich Republiken wie Tatarstan im Laufe des Jahrzehnts Jelzinscher Politik sichern konnten, nivelliert, versucht Moskau dieser Entwicklung entgegenzutreten. Kurzfristig könnte dem Zentrum das gelingen, wenn es die immer noch bestehenden zentralen Monopole wie GASPROM oder den Elektroriesen RAO EUS sowie die Eisenbahn, von denen die regionale Produzenten abhängig sind, als Druckmittel einsetzt. Auf Dauer wird es aber die Entwicklung, die auf eine größere Selbstständigkeit der in 70 Jahren Sowjetindustrialisierung allen Mängel zum Trotz herangereiften Regionen sowie auf neue eigenständige Beziehungen zwischen ihnen hinausläuft, nicht aufhalten können. Auch nicht mit Polizeigewalt. Dafür ist das Land zu weit und die Zahl der darin lebenden Völker sowie der Trassen und Pipelines, die inzwischen nicht mehr nur in Richtung Moskau, sondern in alle anderen Himmelsrichtungen gebaut werden, zu groß. Der Stalinismus, das heißt, die Zeit der militärisch organisierten Zwangsindustrialisierung ist irreversibel am Ende. Neue Lebens- und Wirtschaftsräume sind entstanden, die jetzt zu intensiver Entwicklung übergehen müssen – wenn sie nicht verrotten wollen. Wer aber will das.

„Heute Tschetschenien – morgen wir?“ – Bericht von einer Rundreise an der Wolga
Ein aktueller Streifzug durch die Wolgarepubliken kann einige Antworten auf die Frage geben, welche Folgen der Krieg in Tschetschenien auf die innere Verfassung Russlands und konkret auf die mit den Tschetschenen ethnisch verwandten und zudem in ihrer Mehrheit auch noch religiös verbundenen Wolgavölkern hat. In Čšeboksary, der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik, verlaufen die Gespräche informativ, ruhig, ohne große Überraschungen. Im Grunde ist alles wie erwartet: Das kleine tschuwaschische Kulturzentrum, konkret sein Vorsitzender Michail Juchma – als Nationaldichter nicht nur in Tschuwaschien bekannt und geachtet –, müht sich redlich, sich der großen Zustimmung, welche die Politik Vladimir Putins hier erfährt, entgegenzustellen. Aber es ist ein Kampf gegen den Strom. Die Mehrheit der Bevölkerung liebt den undurchdringlichen Geheimdienstler Putin zwar nicht und verurteilt den von ihm in Tschetschenien geführten Krieg, hat aber doch mit gut 40 Prozent der abgegebenen Stimmen für die von ihm verheißene Ordnung gestimmt. Die andere Hälfte stimmte für den kommunistischen Kandidaten. Vieles, was zum Krieg in Tschetschenien, was zur Wahl und anderen politischen Ereignissen gesagt wird, trägt daher den Charakter folgenloser Klagen. Am Stärksten tritt das in einer Figur wie dem Rentner Rosov zutage, der ein zu Sowjetzeiten regional bekannter Filmemacher ist. Er wurde mir als jemand vorgestellt, der schon zum ersten tschetschenischen Krieg 1994–96 ein Bataillon von Freiwilligen aufstellen wollte. Er macht viele heiße Worte um diese Sache, spricht von Genozid, von russischem Neo-Kolonialismus, von der Gefahr eines allgemeinen Bürgerkrieges; man spürt, dass ihm das Gemüt kocht – aber gefragt, ob er denn tatsächlich Leute aufstelle und dorthin verbringe, antwortet er, das werde ihm erstens durch die Behörden der tschuwaschischen Republik verboten und zweitens habe er kein Geld. Seine Pension reiche nicht einmal für eine Reise nach Kasan.
Auf demselben Niveau bewegen sich auch die übrigen Positionen, die ich bei meinen Gesprächen im tschuwaschischen Kulturzentrum zu hören bekomme – einschließlich der von Michail Juchma, obwohl er mit seiner eigenen Arbeit und über das „Tschuwaschische Kulturzentrum“ immerhin einigen Einfluss auf die öffentliche Meinung nimmt. Soeben wurde er vom aserbaidschanischen Präsidenten Alijew wieder einmal zu einem Treffen nach Baku eingeladen, das dem Kulturaustausch zwischen den turksprachigen Völkern dienen soll, weshalb wir unsere Besuche in den Nachbarrepubliken ohne seine Begleitung bewerkstelligen mussten. Immerhin blieb uns der von Michail Juchma organisierte Fahrer erhalten. Ohne ihn wären die Entfernungen nicht zu bewältigen gewesen. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass einer der Sponsoren des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“, Nikolai (ein Bienenzüchter, den ich schon lange den Bienenkönig nenne) soeben zum Vorsitzenden der tschuwaschischen Sektion der von Michail Gorbatschov gegründeten Sozialdemokratischen Partei wurde. Man traf sich in Moskau. Nikolai zeigte Bilder von der gerade eben vollzogenen Gründungsversammlung der Partei in Moskau, bei der die in Moskau ansässigen Tschuwaschen in einer Reihe mit den aus Tschuwaschien angereisten Delegierten rund um Gorbatschow herumstehen.
Viele Details wären hier zu berichten, nur eins noch: Es herrscht wieder Angst! Nach einem Gespräch mit dem Assistenten des obersten Mufti der tschuwaschischen Republik, der sich gegen den, wie er sagte, Missbrauch des Islam durch Extremisten wie Bassajev, Chattab und andere tschetschenische Warlords wandte und Putins Politik verteidigte, äußerten die Mitglieder des Kulturzentrums ihre Befürchtung, dass der junge Mann nun schnurstracks beim FSB, dem Inlandgeheimdienst, ausplaudern werde. Man fühlt sich wieder bespitzelt. Auch wenn diese Befürchtungen übertrieben sein sollten, so ist doch der Wandel gegenüber den Vorjahren, wo frank und frei agitiert wurde, doch sehr deutlich zu spüren.
Nicht viel anders ist es in Joschkar Olar, der Hauptstadt der Nachbarrepublik El Mari. Im Gegensatz zum tschuwaschischen Kulturzentrum wird das marizische immerhin staatlich unterstützt. Freundlich werden die Gäste begrüßt und mit großer Bereitschaft wichtige Gesprächspartner herbeitelefoniert. Man ist empört über den Krieg gegen die Tschetschenen: Genozid – lautet auch in El Mari das eindeutige Urteil. Aber man ist doch weit entfernt von irgendeiner politischen, gar effektiven politischen Einflussnahme. Selbst der sehr radikale Ethnologe, dem wir dort begegnet sind, Teilnehmer vieler westlicher Symposien über Minderheitenschutz in Russland, kommt wohl letztlich, wie es scheint, über starke Worte nicht hinaus. Er äußert sich sarkastisch und resigniert über die zahnlose Republikverwaltung, die zwar das Kulturzentrum unterstütze, ansonsten aber vor Moskau, aktuell vor allem vor Putin, kusche. Eine rührende politische Hilflosigkeit offenbart sich beim Treffen im „Haus des Druckes“ der Union der marizischen Schriftsteller, die ebenfalls staatlich unterstützt wird. Sie begnügen sich mit Toasts auf die literarische Selbstverwirklichung in marizischer Sprache und mit harmlosen folkloristischen Ritualen.
In Kasan aber weht ein anderer Wind. Das tatarische Kulturzentrum „TotZ“, wo ich 1992 erstmalig, dann wieder vor zwei Jahren zusammen mit Michail Juchma anlässlich der Rundreise zu den Gedenkstätten tschuwaschischer Geschichte war, machte noch einen im Gegensatz zu damals etwas vernachlässigten, abseitigen Eindruck. Dann aber: Das Islamische Zentrum – da ist man doch gleich mitten im Leben, mitten in den Widersprüchen zwischen orthodoxer und islamischer Kirche! Vom Assistenten des obersten Mufti Tatarstans wird mir eine Äußerung Putins übermittelt, die er vor einem Kreis eingeweihter FSBler getan haben soll: „Wenn wir mit den Tschetschenen fertig sind nehmen wir uns die Chane vor.“ Das, fügt der Mufti-Assistent hinzu, könne nur die Tataren, bzw. die an der Wolga ansässigen Mohammedaner meinen, allen voran natürlich Tatarstan selbst, das Moskau mit den von ihm abgerungenen Sonderrechten ein Dorn im Auge sei. Im „Haus der Freundschaft“ wird uns dann das „Modell Tatarstan“ vorgeführt: entschlossener auf dem Weg zur Eigenständigkeit, aber im engen Zusammenhalt der alten euroasiatischen Strukturen; Gleichberechtigung der russischen und tatarischen Sprache, Verfügung über die eigenen materiellen Ressourcen, selbstständige Kultur- und Religionspolitik – bei all dem aber friedliches Zusammenleben zwischen tatarischer und russischer, zwischen christlicher und islamischer Bevölkerung. Kasan – so die stolze Selbsteinschätzung meiner Kasaner Gesprächspartner und auch mein eigener Eindruck – ist Drehscheibe zwischen Osten und Westen, halb russisch, halb tatarisch in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht. Sie ist auch Klammer zwischen kaukasischem und zentralasiatischen Süden, und eine Stadt mit Geschichte und Zukunft.
Zentrum der nationalen Bewegung Tatarstans ist dennoch nicht Kasan, sondern Naberežnaja Čellni, eine Industriestadt mit 500.000 Einwohnern und Einwohnerinnen im Herzen Tatarstans, an der Kama gelegen, 250 km östlich Kasans. Naberežnaja Čellni ist eine künstlich angelegte Agglomeration von Plattenbauten, die wesentlich von der Produktion schwerer LKWs vom Typ „KAMA“ lebt. „Stadt der Verbrechen“ wird der Ort vom Volksmund zur Zeit genannt. Der Stillstand der KAMA-Werke bringt Arbeitslosigkeit, die Arbeitslosigkeit Armut, Drogenmissbrauch, Aids und Kriminalität.
Das örtliche „TotZ“ in Naberežnaja Čellni erweist sich als Zentrum des tatarischen Nationalismus. Rafis Kasapov, sein Leiter, gilt als ein energischer Kämpfer für ein „Einheitliches Wolga-Ural unter tatarischer Führung“. Er bemüht sich – und das mit Erfolg – die tatarisch orientierte Intelligenzija des Ortes zum Gespräch einzuladen und vermittelt uns gleich dazu noch ein Treffen mit den russischen Nationalisten der Stadt. Das gibt es wohl nur in Russland! Die Gewerkschafter, die auch noch kamen, schickt er – weil zu spät – leider wieder fort. Schade, sie hätten viel erzählen können, über den Zusammenhang zwischen sozialer Entwurzelung und nationaler Radikalisierung. Kern aller Gespräche in Naberežnaja Čellni ist der tschetschenische Krieg – Verurteilung als Genozid, exemplarischer Charakter des Krieges, konkrete Hilfe bis hin zum effektiven Aufgebot von Freiwilligen. Es versammelten sich im „TotZ“ mit uns: Rafis Kasapow selbst, der humanitäre Hilsexpeditionen nach Tschetschenien, aber auch die jährlichen Feierlichkeiten und Umzüge zum Gedenken an den Fall Kasans im Jahre 1152 organisiert; ein Wahabiter“, Vorsitzender des örtlichen „Islamischen Komitees“, ein vollbärtiger junger Mann, der Freiwillige in den „Heiligen Krieg“ nach tschtschenien schieckt,; ein Baschkire, Vorsitzender des örtlichen Baschkirischen Kulturzentrums, ein Exil-Tschetschene, Chef der tschtschtschenischen Diaspora an der Wolga; ein Chef einer Bulgar-Gesellschaft, die sich die Aufarbeitung der vor-mongolischen Geschichte des Woplgaraumes zur Aufgabe gesetzt hat, und noch einige – alles in allem eine mächtig beeindruckende Versammlung von Menschen, die mit Vladimir Putins Krieg in Tschetschenien nicht einverstanden sind, weil sie sehen, dass er auch gegen sie gerichtet ist. „Heute die Tschetschenen, morgen wir“ steht hier über jedem Gespräch, das wir führen. Der Unterschied ist nur“, so Rafis Kasapow, „daß wir nicht so heißblütig sind wie die Tschetschenen. Sonst hätte der Krieg uns auch bereits eingeholt.“
Ein Höhepunkt ist die Begegnung mit dem Vorsitzenden der tschetschenischen Gesellschaft,. Er lässt ein krasses Bild von der tschetschenischen Diaspora entstehen. Bei seinen Erzählungen nimmt das Gespenst des KGB-Staates beängstigend reale Formen an: Als Vladimir Putin kürzlich im Rahmen seiner Wahlkampfreisen seinen Besuch in Nabereschnaja Tschlni angekündigt hatte, wurden die männlichen Mitglieder der in der Stadt lebenden achtundzwanzig Familien samt und sonders und ohne Angabe von Gründen für drei Tage inhaftiert und erst wieder auf freien Fuß gesetzt, nachdem Vladimir Putin die Stadt verlassen hatte.
Insgesamt hinterlässt der Streifzug entlang der Wolga den Eindruck, dass der tschetschenische Krieg nicht nur in Tschetschenien geführt wird. „Heute bekämpfen sie die Tschetschenen, morgen uns“, ist die häufigste Formulierung, die man zu hören bekommt. Weniger schroff ist die Variante, dass der tschetschenische Krieg Rassismus und Diskriminierung in den ethnischen Republiken fördere. Putins Erklärung, sich die Chane vornehmen zu wollen, wird so verstanden, dass er den Republiken, insbesondere den ethnischen Ihre hart errungenen Sonderrechte wieder nehmen will. Der Besuch im „Russischen Zentrum“ macht das dankenswert klar: Mit erhobener Stimme wird dort die Wiederherstellung einer einheitlichen russischen Gesetzlichkeit gefordert. „Wofür brauchen wir 89 Präsidenten“, lärmt der Vorsitzende der Gesellschaft, der im Übrigen mit seinen Kontakten zur DVU in Deutschland protzt, „wir haben doch unseren Präsidenten in Moskau!“ Es ist klar, dass solche Positionen auf eine Revision des „ Modells Tatarstan“ und darüber hinaus auf eine Kündigung des Völkerkonsenses in der russischen Föderation hinauslaufen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der mongolische Vorhang –
Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der Osten spielt in der linken Solidaritätsbewegung allem Gerede über Globalisierung zum Trotz bisher nahezu keine Rolle. Haben diejenigen Recht, die den Grund dafür in einem „linken Rassismus“ sehen und die eine linke Position zu Menschenrechten und humanitären Aktionen einfordern?
Die Frage ist dazu geeignet, bisher gültige Kategorien durcheinanderzuwirbeln: „Linke“ Menschenrechte? „Linker“ Rassismus? „Linke“ Humanittät? – Solche Eingrenzung der Fragen sind ganz sicher ungeeignet, unseren gegenwärtigen Problemen auf den Leib zu rücken oder Perspektiven zu entwickeln. Nicht „linker“ Rassismus ist das Problem – sondern einfacher alltäglicher, europäischer Rassismus. Er besteht zuallererst einmal darin, dass Geschichte, Kultur und Lebensrecht der Völker des Euroasiens, einschließlich seiner Verbindungen zum asiatischen und orientalischen Raum auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer schlichtweg nicht existiert.
Nach der Öffnung des eisernen Vorhanges kommt ein weitaus kräftigerer, undurchdringlicher Vorhang im europäischen Bewusstsein zum Vorschein, der mongolische Vorhang; man kann ihn auch den hunnischen Vorhang nennen. Dieser Vorhang macht es den Europäern – mit Differenzierungen von Westen nach Osten – schwer, irgendetwas anderes als Europa jenseits des Ural zu erkennen. Das Europa der Europäer reicht selbstverständlich bis nach Wladiwostok. Dass es im euroasiatischen Raum außer den Titularnationen, die den jeweiligen Staaten die Namen geben, weitere Hunderte von Völkern und Kulturen gibt, die heute zwar keine Staatsnationen sind, die aber eine lange Geschichte und Kultur haben, entzieht sich dem alltäglichen europäischen Blick.
Der europäische Blick ist nicht nur durch die eigene koloniale Geschichte verstellt, sondern auch durch die Russlands, an der sich die Westeuropäer in ihrem Drang nach Osten immer wieder zu beteiligen versuchten. Die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“, das einen Raum ohne Volk sucht, ist keineswegs erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden. Sie hat ihre Wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte West-Europas.
Der Mongolische Vorhang rasselte spätestens im 13. Jahrhundert zwischen der westeuropäischen Welt und dem Rest Euroasiens nieder, nachdem er als hunnischer schon im fünften Jahrhundert niedergegangen war. Russland übernahm die Rolle des Vorhangschließers, bzw. Öffners. Westeuropäische Kultur festigte sich in der Abwehr der Hunnen, später der „Mongolischen Pest“. Die Völker und Kulturen des euroasiatischen Raumes wurden nicht als Reichtum, sondern als existenzielle und permanente Bedrohung wahrgenommen, Russland als ungeliebter vorgeschobener Posten gegen diese Bedrohung und zugleich als ein Teil von ihr.
An dieser Konstellation hat sich im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung bis heute wenig geändert – auch wenn die neuen geopolitischen Verhältnisse, die wir gegenwärtig unter dem Begriff der Globalisierung fassen, einfach schon deswegen daran rütteln, weil Europa nicht mehr das Zentrum der Entwicklung ist, sondern ein Zentrum unter mehreren, ja, vielen. Russland knackt an dieser Koordinatenverschiebung ebenso wie Europa und interessanterweise existiert der mongolische Vorhang nicht nur für Europa, sondern auch für Russland – wiewohl er in Russland schon durch die Vielvölker-Realitäten immer wieder in Frage gestellt wird.
Über diese historisch gewachsenen, in Politik und Kultur Europas eingeschriebenen Tatsachen, die sich im Unterbewusstsein der dort lebenden Menschen als tief verwurzelte Vorurteile festgesetzt haben, muss man sprechen, wenn man die Blindheit der europäischen Bevölkerung für die von ihr aus gesehen östlichen Völker verstehen will. Man vergegenwärtige sich nur das von Hitler gezeichnete Bild des östlichen Untermenschen, um zu erkennen, wie tief das Bild der kinderfressenden hunnischen, mongolischen, türkischen oder anderer euroasiatischer Teufel sich im Unterbewusstsein der europäischen Bevölkerung festgesetzt hat. Mit dem Ende der Sowjetunion bricht dieses Bild heute auf. Ein neuer Blick auf die Welt, allen voran die östliche, aber nicht nur sie kann sich entwickeln, in der nicht nur die Systemteilung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch die Ost-West-Polarisierung der Welt durch neue, multipolare Beziehungen zwischen den Völkern und multikulturelle innerhalb der einzelnen Staaten verdrängt wird. Es ist die dritte, letzte große Welle der Entkolonialisierung, nachdem der erste Weltkrieg, danach der zweite den von Westeuropa aus gespannten kolonialen Rahmen bereits gesprengt hatten. Die Voraussetzungen dafür sind im Schoße der bipolaren Welt herangereift, ohne dass diese Tatsache bereits ins allgemeine Bewusstsein der alten Welt eingedrungen wäre. Dieses Bewusstsein zu schaffen und damit der auf Durchbruch drängenden multipolaren Lebens- und Weltordnung auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, dürfte der Sinn einer Kritik der Globalisierung sein. Der „linke“ Ansatz könnte dabei sein, diesen Durchbruch so sozial, friedlich und ökologisch verträglich wie möglich zu gestalten.

Veröffentlicht in:  Ost-West-Gegeninfo

Der mongolische Vorhang – Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der mongolische Vorhang –

Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der Osten spielt in der linken Solidaritätsbewegung allem Gerede über Globalisierung zum Trotz bisher nahezu keine Rolle. Haben diejenigen Recht, die den Grund dafür in einem „linken Rassismus“ sehen und die eine linke Position zu Menschenrechten und humanitären Aktionen einfordern?

Die Frage ist dazu geeignet, bisher gültige Kategorien durcheinanderzuwirbeln: „Linke“ Menschenrechte? „Linker“ Rassismus? „Linke“ Humanität? – Solche Eingrenzung der Fragen ist ganz sicher ungeeignet, unseren gegenwärtigen Problemen auf den Leib zu rücken oder Perspektiven zu entwickeln. Nicht „linker“ Rassismus ist das Problem – sondern einfacher alltäglicher, europäischer Rassismus. Er besteht zuallererst einmal darin, dass Geschichte, Kultur und Lebensrecht der Völker des Euroasiens, einschließlich seiner Verbindungen zum asiatischen und orientalischen Raum auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer schlichtweg nicht existiert.

Nach der Öffnung des eisernen Vorhanges kommt ein weitaus kräftigerer, undurchdringlicher Vorhang im europäischen Bewusstsein zum Vorschein, der mongolische Vorhang; man kann ihn auch den hunnischen Vorhang nennen. Dieser Vorhang macht es den Europäern – mit Differenzierungen von Westen nach Osten – schwer, irgendetwas anderes als Europa jenseits des Ural zu erkennen. Das Europa der Europäer reicht selbstverständlich bis nach Wladiwostok. Dass es im euroasiatischen Raum außer den Titularnationen, die den jeweiligen Staaten die Namen geben, weitere Hunderte von Völkern und Kulturen gibt, die heute zwar keine Staatsnationen sind, die aber eine lange Geschichte und Kultur haben, entzieht sich dem alltäglichen europäischen Blick.

Der europäische Blick ist nicht nur durch die eigene koloniale Geschichte verstellt, sondern auch durch die Russlands, an der sich die Westeuropäer in ihrem Drang nach Osten immer wieder zu beteiligen versuchten. Die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“, das einen Raum ohne Volk sucht, ist keineswegs erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden. Sie hat ihre Wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte West-Europas.

Der Mongolische Vorhang rasselte spätestens im 13. Jahrhundert zwischen der westeuropäischen Welt und dem Rest Euroasiens nieder, nachdem er als hunnischer schon im fünften Jahrhundert niedergegangen war. Russland übernahm die Rolle des Vorhangschließers, bzw. Öffners. Westeuropäische Kultur festigte sich in der Abwehr der Hunnen, später der „Mongolischen Pest“. Die Völker und Kulturen des euroasiatischen Raumes wurden nicht als Reichtum, sondern als existenzielle und permanente Bedrohung wahrgenommen, Russland als ungeliebter vorgeschobener Posten gegen diese Bedrohung und zugleich als ein Teil von ihr.

An dieser Konstellation hat sich im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung bis heute wenig geändert – auch wenn die neuen geopolitischen Verhältnisse, die wir gegenwärtig unter dem Begriff der Globalisierung fassen, einfach schon deswegen daran rütteln, weil Europa nicht mehr das Zentrum der Entwicklung ist, sondern ein Zentrum unter mehreren, ja, vielen. Russland knackt an dieser Koordinatenverschiebung ebenso wie Europa und interessanterweise existiert der mongolische Vorhang nicht nur für Europa, sondern auch für Russland – wiewohl er in Russland schon durch die Vielvölker-Realitäten immer wieder in Frage gestellt wird.

Über diese historisch gewachsenen, in Politik und Kultur Europas eingeschriebenen Tatsachen, die sich im Unterbewusstsein der dort lebenden Menschen als tief verwurzelte Vorurteile festgesetzt haben, muss man sprechen, wenn man die Blindheit der europäischen Bevölkerung für die von ihr aus gesehen östlichen Völker verstehen will. Man vergegenwärtige sich nur das von Hitler gezeichnete Bild des östlichen Untermenschen, um zu erkennen, wie tief das Bild der kinderfressenden hunnischen, mongolischen, türkischen oder anderer euroasiatischer Teufel sich im Unterbewusstsein der europäischen Bevölkerung festgesetzt hat. Mit dem Ende der Sowjetunion bricht dieses Bild heute auf. Ein neuer Blick auf die Welt, allen voran die östliche, aber nicht nur sie kann sich entwickeln, in der nicht nur die Systemteilung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch die Ost-West-Polarisierung der Welt durch neue, multipolare Beziehungen zwischen den Völkern und multikulturelle innerhalb der einzelnen Staaten verdrängt wird. Es ist die dritte, letzte große Welle der Entkolonialisierung, nachdem der erste Weltkrieg, danach der zweite den von Westeuropa aus gespannten kolonialen Rahmen bereits gesprengt hatten. Die Voraussetzungen dafür sind im Schoße der bipolaren Welt herangereift, ohne dass diese Tatsache bereits ins allgemeine Bewusstsein der alten Welt eingedrungen wäre. Dieses Bewusstsein zu schaffen und damit der auf Durchbruch drängenden multipolaren Lebens- und Weltordnung auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, dürfte der Sinn einer Kritik der Globalisierung sein. Der „linke“ Ansatz könnte dabei sein, diesen Durchbruch so sozial, friedlich und ökologisch verträglich wie möglich zu gestalten.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung

An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden.

In seinen bisher seltenen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert Dmitri Medwjedew auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“
Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte zum Beispiel der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man natürlich abwarten müsse, was tatsächlich geschehe. Wer wissen möchte, was auf Russland zukommt und was sich hinter den wohl klingenden Ankündigungen der „Entbürokratisierung“ andeutet, muss genauer hinschauen.
Schon Michail Gorbatschow versprach: Uskorennije, Perestroika und Glasnost, wirtschaftliche Beschleunigung, Umbau und Transparenz. Boris Jelzin puschte Gorbatschows Ansatz zum „Schockprogramm“ der uneingeschränkten Privatisierung hoch, gab die Preise frei, setzte auf Selbstregulation des Marktes, flankierte das Ganze mit den Aufforderungen „Nehmt Euch soviel Souveränität wie ihr braucht!“ und „Bereichert Euch!“ Ein „Volk von Kapitalisten“ sollte so entstehen.     Ergebnis war die wilde bis kriminelle Privatisierung, war  das Ende der Sowjetunion bis hin zur katastrophalen Zersetzung der sozialen Netze des Landes – insonderheit der betriebsbasierten Gemeinschaften, die als kommunale Basisstruktur die soziale Versorgung der Bevölkerung getragen hatten. Gleichzeitig wurde der bis dahin unentgeltliche Wohnraum privatisiert. Versuche Jelzins auch für kommunale Leistungen wie Miete, Gas, Wasser, Strom uä. individuelle Zahlung einzuführen, scheiterten jedoch.
Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden; es ist jedoch wichtig daran zu erinnern, um zu verstehen, was unter Putin im sozialen Bereich geschah und was nun geschehen kann.
Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sich entzogen hatten. Das hieß auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug er mehrere mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Übertreibungen, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige bereiche wieder her und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.
Putins Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Eine Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde derzeit nicht diskutiert. Gesundheitswesen ebenso wie das Bildungswesen verwandelten sich, verursacht durch katastrophale Unterfinanzierung, in ein El Dorado der Korruption. Wer damals durchs Land fuhr, konnte erleben, dass Menschen in Krankenhäusern von ihren eigenen Verwandten verpflegt und mit Medikamenten versorgt werden mussten.
Als Putin nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 nun auch an die Privatisierung der sozialen Sphäre gehen lassen wollte, musste er vor massiven landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus, der sich auch Studenten, Lehrer und Ärzte anschlossen. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen blieb in halben Maßnahmen stecken.
Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern.
Kern der putinschen Vorschläge war ein Finanzierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte Medwjedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen. Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Millairden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.
Die Reaktion Putins im Herbst 2005 war eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwjedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem man nun wirklich keine besondere Liebe für Putin nachsagen kann, zum Ende der Ära Putin kurz vor den Duma- und Präsidentenwahlen,  könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“.
Das Problem der putinschen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte. „Im Großen und Ganzen“, fasst Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums  darauf beschränken, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.
Kurz, es muss nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wird nach ihnen gesucht. Hier treten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und gerade eben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird.
Da war beispielsweise in den monatlich erscheinenden „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa kurz nach Propagierung der „nationalen Programme“ Anfang 2006 zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“ Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.
Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten zur Produktionsstruktur auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte.
Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.
Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.
Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von den älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden.
Im Übrigen ist hier noch anzumerken: Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.
Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern eine Frage der Lebensweise sein, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.
Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen.    Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw. , die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.
Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, selbst nicht die angekündigte Entbürokratisierung. Neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles in Zukunft im Zentrum eines Regierungshandelns stehen soll, welches seinerseits erklärtermaßen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen will.
In dieser Perspektive kündigt sich die Entschlossenheit der russischen Führung an, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften und schließlich, selbstverständlich, ein zweiter Versuch, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen. Dies klingt in der Tat „spektakulär“.
Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung des erreichten Standes der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht.
Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwjedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die nicht nur von steigenden Öl- und Gaspreisen beantwortet wird.      Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur     indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen dieser Monetarisierung könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

RUSSLAND nach der Wahl:: Ruhe vor dem Sturm? Probleme in den Regionen?

Die Machtübergabe ist reibungslos erfolgt. Doch weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, könnte das Programm der neuen Führung direkt in neue Konflikte münden. Denn nachdem die Privatisierung der Produktionsmittel weitgehend abgeschlossen ist, muss nun das kommunale und soziale Leben privatisiert werden. Dies könnte zu schweren Auseinandersetzungen in den russischen Regionen führen.

Am Wahlsonntag überraschte die Meldung, dass nicht nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zur gleichen Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und zusätzlich 106 Volksentscheide in 18 „Subjekten“ der Föderation durchgeführt wurden. Worum es dabei ging, blieb im Dunkeln. Aber die Tatsache, dass mehr als hundert Volksentscheide in den Regionen an diesem Tag so gut wie nicht ins öffentliche Bewusstsein drangen, zeigt, worum die neue Führung sich zu kümmern haben wird: Um die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen Staatsspitze und Basis der Bevölkerung in den Regionen..

Nur regional werden die großen „nationalen Projekte“ zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber nach Protesten auf Eis gelegt wurden. Dazu gehören die Entwicklung des Gesundheitswesens, das allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll, die Durchführung eines Wohnungsbauprogramms, um die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum zu versorgen, die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung in der russischen Bevölkerung.

Der gegenwärtige Zustand in diesen vier Bereichen ist durchweg mangelhaft, teilweise sogar katastrophal. Im Gesundheitswesen hat eine Zwei-Klassen-Medizin die früher kostenlose medizinische Versorgung verdrängt. Die Preise auf dem derzeit chaotischen Wohnungsmarkt -einer Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und Häusern in Staatsbesitz – sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt wie für das Gesundheitswesen: Die Zwei-Klassen-Gesellschaft ist Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve schließlich hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; viel wurde dadurch allerdings bisher nicht erreicht.

Es könnte sich zudem zeigen, dass die Verwirklichung der von Medwedew angekündigten „Vier I’s“ – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen – den angeblichen sozialen Intentionen der „nationalen Programme“ diametral entgegenläuft. Große Teile der Bevölkerung sind nach wie vor nicht bereit, viele auch materiell nicht in der Lage, den in diesen Programmen angelegten Übergang vom Prinzip der gemeinschaftlichen Grundversorgung, einschließlich darin enthaltener besonderer Zuwendungen für besondere Gesellschaftsschichten, in eine Geldordnung mitzumachen, in der jeder allein für sich sorgen, das heißt vor allem, zahlen muss.

Ein Blick auf das Programm Gennadi Sjuganows, des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwedews, der trotz der Wahlniederlage über starken Rückhalt in der Bevölkerung vor allem in den Regionen verfügt, verdeutlicht den Konfliktstoff: Sjuganow fordert die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Das: Gesetz zur Monetarisierung der „Sozialen Vergünstigungen“, das Wohn- und das Wassergesetz, das Gesetz zur Privatisierung des Bodens, des Waldes sowie das Arbeitsgesetz, das Streiks faktisch illegalisierte. Das alles sind Gesetze, welche die traditionellen Elemente der Gemeinschaftsversorgung durch Geldwirtschaft ersetzen sollen.

Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet daher nicht: Putin oder Medwedew. Sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial? Durchsetzung „europäischer Normen“, wie die Liberalen es nach wie vor fordern, oder Bewahrung eigener russischer Strukturen? Anders gesagt: Es stellt sich die Frage, auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet, was unwahrscheinlich ist. Die Antwort wird nicht lange auf sich warten lassen.

veröffentlicht in: Deutsche Zeitung Moskau

Skizze zur Lage: Warum es richtig ist, die Situation eine revolutionäre zu nennen.

1) Der Zerfall des Staatssozialismus ist gleichbedeutend mit der Krise des bisherigen kollektiven Selbstverständnisses der Menschheit. Er führt zu einer Brutalisierung der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen bis in den letzten Winkel der Welt und konfrontiert die Menschen derart mit der Notwendigkeit, soziales Verhalten individuell neu zu bestimmen.

2) Der Staatssozialismus war eine Enteignung des natürlichen Kollektivismus im Namen des Menschheitsfortschritts, der sozialen Gerechtigkeit und höheren Moral. Der „homo sowjeticus“ sollte den „homo faber“ moralisch, ethisch und sozial überflügeln. Faktisch hat der Staatssozialismus zur Entwürdigung und Entrechtung des Menschen geführt.

3) Als Alternative wird vom Westen eine Neuauflage des Liberalismus angeboten, obwohl er hier schon lange durch umfassende Steuerungssysteme eingegrenzt ist. Was prinzipiell schon von Anfang an klar war, zeigt sich inzwischen in den konkreten Ergebnissen der Reformen realsozialistischer Systeme überall auf der Welt, allen voran in ihrem Kern, der früheren Sowjetunion: Die weltweite Entwicklung der Industrie- und Massengesellschaft, ihrer Normen und der aus ihr für den Bestand des Globus resultierenden Gefahren lässt Liberalismus auch als Krisenlösung für den sich wandelnden Realsozialismus nicht mehr zu.

4) Die Alternative kann nur ein privatisierter Kollektivismus sein, der der Gleichmacherei von oben, die föderative Gemeinschaft selbstbestimmter Kollektive von unten entgegensetzt – und so einen Schritt über das bisherige Entweder-Oder von Kollektivismus oder Liberalismus hinaussetzt. Im Konkreten bedeutet das: es müssen alternative Formen der Privatisierung gefunden werden, die das Privateigentum innerhalb der kollektiven Strukturen entwickeln, statt die kollektiven Strukturen alternativlos zu liquidieren. Umgekehrt gilt, dass auf der Basis der privateigentümlich organisierten Gesellschaft westlicher Prägung kollektive Formen des Privateigentums entwickelt werden müssen.

5) Eine solche Umwandlung geschieht aber nicht automatisch. Wenn dem Zerfall des Staatskollektivismus nicht mit bewusst vorgebrachten Alternativen begegnen wird, birgt er die Gefahr der Rückkehr zu Ersatzkollektiven rassistischer, nationalistischer und fundamentalistischer Prägung, die sich nach Außen abschließen und nach innen ihre Minderheiten unterdrücken.

6) Dies alles bedeutet, dass die herrschenden Wertevorstellungen unserer heutigen industriellen Welt von Grund auf in Frage gestellt sind. Das gilt für ihre staatskollektivistische wie auch für ihre privatwirtschaftliche Variante. In Frage gestellt sind auch fundamentalistische Alternativen zur Massengesellschaft, also solche rassistischer, nationalistischer oder religiöser Art. Indem sie der verabsolutierten Gleichheitsideologie die verabsolutierte Ungleichheit entgegensetzen, führen sie nur zu einer Vervielfältigung und Verschärfung der Konflikte auf breiterer und unkontrollierbarer Basis, statt Antworten auf die Frage zu geben, wie das Leben auf dem Globus angesichts der zunehmenden Enge in Zukunft zu organisieren sei.

7) Die Antwort kann aber auch nicht darin liegen, ein bestimmtes Modell der gesellschaftlichen Organisation für allgemein verbindlich zu erklären, vielleicht gar mit Gedealt durchzusetzen. Verbindlich können nur die Modelle der zwischenstaatlichen Konfliktregulierung sein. Im Übrigen müssen die einzelnen Staaten in ihrer inneren Organisation den Besonderheiten ihrer Geschichte und konkreten Gegebenheiten Rechnung tragen. Allgemeine Verbindlichkeit kann nur aus der Schaffung einer neuen Moral, einer neuen Ethik – eben der Ethik des selbstbestimmten Kollektivs entstehen, das sich als Teil des ökologischen Ganzen begreift. Diese Ethik herauszuarbeiten, hervorzubringen und die Entwicklung vor dem Abgleiten in organisatorische und fundamentalistische Scheinlösungen zu bewahren ist unsere heutige Aufgabe.

8) Wenn wir sie nicht lösen, wird die Welt die Krise nicht überstehen, weil sowohl der Rückfall in staatskollektivistische oder in liberalistische wie auch in fundamentalistische Strukturen die sozialen und ökologischen Probleme des Globus nur verschärfen wird.

9) Ein wesentlicher Bestandteil des Kampfes für die Entwicklung der neuen Ethik wird in dem Bemühen bestehen, in den Umbrüchen, Konflikten und selbst den Kriegen die Keime der Selbstbestimmung wie auch die Möglichkeiten ihrer Fehlentwicklung herauszuarbeiten, um der Gefahr entgegenzutreten, dass sich die Krise aus bloßer Angst vor der Krise zur Katastrophe eskaliert.

10) Im Besonderen bedeutet das, dass den Menschen der heutigen industriellen Zentren der Welt deutlich gemacht werden muss, dass ein Abrücken von der eurozentristischen, generell von der monozentristischen Weltordnung auch in ihrem und ihrer Kinder Lebensinteresse liegt, weil nur die Entfaltung der Vielfalt unterschiedlicher selbstbestimmter Kräfte das Überleben des Globus ermöglicht. Die Menschen der bisher als Peripherien oder Kolonien definierten Teile der Welt dagegen gilt es mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu ermutigen, sich von kolonialer, imperialer Vorherrschaft zu befreien und ihre Interessen in einem föderativen Verbund freier Staaten selbst zu or

Rußland heute

Thesen zum gleichnamigen Seminar

in der Akademie Sankelmark vom 22.10.99 – 24.10.99

1. Rußlands Krise ist eine Wachstumskrise

2. Perestroika war Ausdruck des Mißverhältnisses zwischen den seit der Oktoberrevolution von 1917 entwickelten Produktivkräften und den zu eng gewordenen Produktionsverhältnissen des Sowjetsystems.

3. Eine neugewonnene Mobilität der sowjetischen Bevölkerung drückte sich nicht nur in zunehmendem Abstand zwischen steigenden Ansprüchen des Einzelnen an Selbstverwirklichung und einer stagnierenden Parteidoktrien aus, sie schlug sich sehr früh auch schon in Konflikten zwischen den Regionen, bzw. den Republiken und dem Moskauer Zentrum nieder.

4. Der Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin 1991 wurde wesentlich durch die Forderungen der Republiken nach mehr Souveränität angestoßen. Boris Jelzin kam als Präsident eines souveränen Rußland und als Initiator einer „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) an die Macht.

5.  In den Auseinandersetzungen zwischen Moskau und den Regionen der russischen Föderation setzt sich diese Entwicklung heute fort. Seit Boris Jelzin 1991 die „demokratische Revolution“ ausrief, dauert in der russischen Föderation eine  Regionalisierung an, die Rußlands geltende Raumordnung in Frage stellt, während die Privatisierung seine sozialen Zusammenhänge auflöst.

6. Nach einem extremen Ausschlag zur Seite der Privatisierung, die zu einer Hyperindividualisierung einer Minderheit der Bevölkerung und zur Lähmung ihrer in alten Zusammenhängen verharrenden Mehrheit führte, schlägt das Pendel nun wieder nach der anderen Seite aus. Heute zeigt es in Richtung einer Rekonsolidierung der historisch gewachsenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen.

7. Ergebnis wird aber weder die Rückkehr zur sowjetischen, noch die Übernahme westlicher Lebensweisen sein. Etwas Neues entsteht, das aus der Wechselwirkung zwischen traditionellen russischen Gemeinschaftstrukturen und westlichem Individualismus, zwischen korporativem Verwaltungskapitalismus sowjetischen Typs und privatkapitalistischen Arbeits- und Lebensweisen, zwischen Zentralismus und Separatismus hervorgeht.

8. Der Bankenkrach vom August 1998 markiert den Übergang von der bisherigen Phase der schnellen Privatisierung auf die Phase der Rekonsolidierung jenseits des sowjetischen Modells, aber auch jenseits westlicher Reparaturrezepte. Offen ist, mit welchen Mitteln dieser Wechsel wahrgenommen wird und wie lange er dauert  Die bevorstehenden Wahlen, einschließlich des Ausgangs des gegenwärtigen Krieges in Tschetschenien, entscheiden darüber, ob dieser Übergang schrittweise, mit friedlichen Mitteln, gestützt auf ein Wachstum von unten stattfindet, oder ob er mit Gewalt von oben durchgesetzt wird. Je nach dem wird das Ergebnis ein anderes sein.

© Kai Ehlers,  Email: KaiEhlers@compuserve.com   Website: www-kai-ehlers.de     Datum:   21.10.99
Rummelsburger Str. 78, D – 22147 Hamburg,  Tel/Fax: 040 / 64 789 791  (64 821 60 priv.)

Argumente gegen den Krieg

Zur Beteiligung Deutschlands am NATO-Einsatz gegen Serbien

Was lange befürchtet war, ist eingetreten: Zum erstenmal seit dem Ende des zweiten Weltkrieges geht auch von deutschem Boden wieder ein Krieg aus. Die Bundesregierung begründet ihre Teilnahme an dem NATo-Krieg gegen Serbien als Nothilfe zur Verteidigung der Menschenrechte gegen die ethnischen Säuberungen durch einen Diktator Miloševiç. Die Befürworter des Krieges fühlen sich in der moralischen Offensive. Sie propagieren den Krieg als humanitäre Strafaktion. Wer damit nicht einverstanden ist, setzt sich Zweifeln an seiner moralischen Integrität aus. In einem Kommentar unter der Überschrift „Das Elend des Pazifismus“ bringt Günther Bannas, einer der Chefkommentatoren der „Frankfurter Allgeminen Zeitung“, die deutsche Beteiligung auf die Formel, in dieser Entscheidung habe die Erkenntnis „Nie wieder Auschwitz“ über den Satz „Nie wieder Krieg!“ gesiegt. Das gebe der Haltung Außenminister Fischers den moralischen Grund.

Was für eine Verkehrung! Was für ein Zynismus!
Lange schon war ja zu befürchten, daß die deutsche, genereller auch die europäische Intelligenz im Zuge der Verteidigung ihres materiellen und geistigen Besitzstandes in der Festung Europa eine reaktionäre Wende nehmen würde – daß es nun aber in dieser Form geschieht, ist doch eine Überraschung. Man hat sich, sofern man darüber nachdachte, diese Wende immer in der Form klassischer rechter Positionen vorgestellt – als irgendwie verdrehte Form von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, mit denen man die Grenzen Europas gegen den Ansturm aus den Armenhäusern des Globus abzuschirmen versuchen würde. Nun kommt sie aber in der Form der Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft daher, als Argumentation der Notwehr gegen Angriffe auf die Grundwerte der Menschenrechte und nicht nur alle Mächtigen der Welt, soweit sie die Zustimmung des Westens suchen, stimmen in diesen Chor mit ein, sondern auch eine mit Bildern des Entsetzens überschwemmte Bevölkerung.
Der Protest gegen den Krieg, schreibt der Kommentator der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, sei um so schwächer, je näher die tatsächliche Bedrohung des Friedens rücke. Gegen die geplante Stationierung der Mittelstreckenraketen in Europa hätten seinerzeit Millionen protestiert; gegen den Golfkrieg nur noch Hunderttausende; nun, da der Krieg direkt vor der Tür stehe und die eigenen Werte betreffe, sei nur noch eine verschwindende Minderheit dagegen. Das klingt plausibel, aber worin mißt sich die Nähe des Krieges in einer Zeit, in welcher Entfernungen auf Intervalle im Internet zusammenschnurren? Nähe oder Nicht-Nähe dieses Krieges kann doch nur aus den Inhalten bestimmt werden, für die er geführt wird. Und da sind wir mit der „Notwehr“ schnell beim Kern der Dinge, allerdings anders als die Urheber dieser Argumentation es glauben machen wollen:  Es handelt sich in der Tat um Notwehr – Notwehr aber nicht gegen einen vermeintlichen Usurpator. Erstens ist Milošewiç kein Usopator, er ist, ob es einem gefällt oder nicht, gewählter und von einem breiten Willen seines Volkes getragener Präsident. Ich sage deutlich, daß seine Politik mir nicht gefällt. Das ändert aber nichts an der genannten Tatsache. Notwehr ist der NATO-Einsatz auch nicht gegen die Verletzung der Menschenrechte – da gäbe es viele Anlässe für solche Einsätze, ganz abgesehen davon, daß das Eingreifen der NATO die humanitäre Katastrophe auf dem Balkan nicht verhindert, sondern die schon vorher erkennbar in diese Richtung weisende Entwicklung nur noch weiter eskaliert hat.
Der Krieg, schreibt Günther Bannas weiter, hat keine erkennbaren ökonomischen Ziele, wie sie der Irak-Krieg noch gehabt habe. Auch diese Behauptung klingt sehr plausibel. Aber erstens ist schon der Krieg gegen den Irak nicht nur ökonomisch zu erklären; schon dort spielen strategische Gründe eine mindestens ebenso entscheidende Rolle, nämlich, die säkulare Herrschaft Saddam Husseins als Bollwerk gegen den „fundamentalistischen Ansturm“ aus dem Osten und dem Orient zu halten, ihn gleichzeitig aber nicht zu stark werden zu lassen. Dahinter wird der grundsätzliche Anspruch der USA auf Weltherrschaft deutlich – die wirtschaftlichen Interessen sind darin enthalten.
Im Kosovo-Krieg sind die strategischen Ziele ganz in den Vordergrund gerückt. Hier wird von der NATO in der Tat nicht für vordergründige ökonomische Interessen gebombt, hier wird ein strategisch orientierter Einsatz exemplarisch vorgeführt. Hier läuft eine Dramaturgie dosierter Einsätze ab, die auf Wirkung in den Medien abgestimmt ist, ja, die ihre eigentliche Wirkung einer demonstrativen Machtentfaltung überhaupt erst und nur mit den Medien entfalten können. Hier wird moderne Kriegführung im Zeitalter der Kommunikation vorgeführt. Es ist ein konditionierter Demonstrationskrieg, der auf Warnung und Einschüchterung durch exemplarische Strafaktionen im Namen einer Weltpolizei setzt. Adressat sind alle diejenigen, die den nach dem Ende der Systemteilung erhobenen Anspruch der USA und der mit ihr verbündeten westlichen Staaten auf eine One-World-Ordnung nicht akzeptieren wollen, vor allem Rußland und China.
Die USA dürften darüberhinaus daran interessiert sein, eine aus ihrer Sicht zu enge Verbindung zwischen Europa und Rußland, insbesondere eine Achse Bonn-Moskau verhindern, bzw. wenigstens relativieren zu wollen. Das ist ihnen mit der Umgehung der UNO, was ja im Kern zunächst einmal eine Umgehung Rußlands ist, bisher weitgehend gelungen. Lange werden Rußland und auch die europäischen Mächte das allerdings so nicht mitmachen können.
Die Struktur der UNO werde offensichtlich den Anforderungen nicht gerecht, ethnische Minderheiten zu schützen, schreibt Günther Bannas weiter. Recht hat er. Das galt und gilt  ja auch schon für andere Konflikte. Aber kann die Schlußfolgerung daraus eine militärische Sellbstmandatierung der NATO sein? Damit wäre der Entwicklung einer gleichberechtigten Völkergemeinschaft der Weg versperrt, der  Übergang zu einer militärischen Weltordnung vollzogen. Es wäre der Übergang von der Zeit der Stellvertreterkriege in eine neue Zeit der exemplarischen Demonstrationskriege unter Führung einer einzigen Weltmacht, der USA und ihrer Verbündeten. Daß dies dem erklärten Ziel der NATO, die Menschenrechte durchsetzen zu wollen, im Wesen widerspricht, liegt auf der Hand. Ein solcher Weg ist prinzipiell nicht zu akzeptieren, abgesehen davon, daß Rußland, China und andere Mächte es politisch nicht hinnehmen können und daraus große Gefahren für den Weltfrieden entstehen. Die richtige Schlußfolgerung aus der Schwäche der UNO kann nur darin bestehen, sie selbst  ggflls. die OSZE zu stärken, nicht sie durch ein Militärbündnis des Westens zu ersetzen. Es ist aber offensichtlich, daß die gegenwärtigen politischen Entscheidungsträger der Westmächte dazu nicht bereit sind. Damit sind die Linien für zukünftige politische Auseinandersetzungen abgesteckt.
In Afrika, Asien und in der Türkei werden Minderheiten ebenso verfolgt, ohne daß die NATO eingegriffen habe, zitiert Herr Bannas weiter die Argumente der Kriegsgegner. Das stimme, räumt er ein, doch solle etwa der Grundsatz gelten, daß vor den Mördern alle Minderheiten gleich seien?
Eine Antwort auf diese Frage gibt Herr Bannas nicht, sowenig wie man sie sonst irgendwo von den Befürwortern des NATO-Krieges gegen Serbien hört. Die Antwort kann aber nur lauten: Ja, alle Minderheiten haben denselben Anspruch auf Schutz! Das ist ein zentraler Bestandteil der Menschenrechte. Eine Relativierung dieses Anspruches ist gleichbedeutend mit seiner Aufhebung. Das gilt ungeachtet,  ja, gerade wegen der traurigen Tatsache, daß die Welt, gleich wo, noch weit von der Verwirklichung dieses Grundsatzes entfernt ist.
Wenn man sich aber schon zum Anwalt der Durchsetzung dieser Rechte erklärt, dann kann es keine Ausnahmen geben, schlimmstenfalls die Unmöglichkeit, sie zu verwirklichen. Die opportunistische Handhabung dieser Prinzipien durch die NATO zeigt nur, daß die humanitären Argumente beliebigen, letztlich legitimatorischen Charakter tragen. Es geht bei den Bomben auf Serbien eben nicht in erster Linie um die Verteidigung der Menschenrechte – da hätte die NATO schon lange ihren Partner Türkei zur Ordnung rufen müssen. Es geht um die Erhaltung der atlantischen Hegemonie. Die Verteidigung der Menschenrechte ist nur die Fahne, unter der gekämpft wird, nicht anders als tausend Jahre zuvor das Kreuz, in dessen Namen die übrige Welt zwei Jahrhunderte lang  in sieben Kreuzzügen mit Krieg und Terror zum wahren Glauben bekehrt werden sollte, während es praktisch darum ging, die Handelswege in den Orient und den fernen Osten abzusichern.
Wer behaupte, es sei wenig mit Miloševiç verhandelt worden, fährt Herr Bannas in seiner Abrechnung mit den Pazifisten fort, der gehe einfach an der Wirklichkeit vorbei. Dem Argument, bei früheren Verhandlungen mit Miloševiç sei das Kosovo vergessen worden, hält er die Frage entgegen, ob man die Beendigung des Mordens in Bosnien-Herzegownia denn an der Frage des Kosovo hätte scheitern lassen sollen.     So reiht sich in der Argumentation der Kriegsbefürworter ein Sachzwang an den nächsten, aus dem schließlich nur noch die Eröffnung des Krieges habe herausführen können; nach derselben Logik ist seine Fortführung bis zur bedingungslosen Kapitulation Miloševiçs jetzt der einzige gangbare Weg, den Krieg zu beenden.
Für die gegenwärtige Lage macht es wenig Sinn, darüber zu rechten, was gewesen wäre, wenn; nur eins ist ein Fakt: Die Verhandlungen von Rambouillet scheiterten letztlich daran, daß die NATO darauf bestand, die Einhaltung der ausgehandelten Bedingungen von einem NATO-Kontrollorgan überwachen zu lassen. Warum konnte die NATO diese Kontrolle nicht der UNO, der OSZE oder einem neu zu bildenden Völkergremium überlassen? Die Antwort ist klar: Weil das alles nicht ohne Rußland gelaufen wäre. Mit Rußland hätten die Verhandlungen anders geführt werden können. Es ist offensichtlich, daß sich der Hund hier selbst in den Schwanz beißt. Ob Rußland jetzt, da die NATO schon tief in ihrer eigenen Falle steckt und nachdem es die ganze NATO-Aktion als Aggression auch gegen sich empfinden mußte, bereit ist, in die Verhandlungen wieder mit einzusteigen und zu welchen Bedingungen, das dürfte die entscheidende Frage beim Fortgang der nächsten Ereignisse sein.
Darüberhinaus ist festzuhalten, daß Eskalationslogiken von der Art des gegenwärtigen NATO-Krieges im Kosovo noch nie dazu geeignet waren, Probleme zu lösen. Wenn nach dem Bombardement aus der Luft zur Bekämpfung der Bodentruppen per Kampfhubschrauber übergegangen wird, so ist die Ausweitung des konditionierten Demonstrationskrieges in einen unkontrollierbaren Bodenkrieg, in dem die NATO gezwungen sein wird, zwischen einem Vernichtungskrieg gegen die ganze serbische Bevölkerung oder einer Kapitulation zu wählen, bald nicht mehr aufzuhalten. Wenn die NATO-Strategen auch nur einen Funken rationalen Verstandes bewahrt hätten, dann müßten sie den  Krieg stoppen, bevor er sich zum Volkskrieg ausweitet. Bedauerlicherweise aber sieht zur Zeit alles so aus, als ob sich nicht die Vernunft, sondern die militärische Eskalationsogik durchsetzt.
Bleibt am Schluß noch die Auseinandersetzung mit dem, was Günther Bannas die Tragik der Pazifisten nennt, nämlich, daß sie angesichts der Gewalt eines „barbarischen Faschischen“ Schuld auf sich lüden, wenn sie schuldlos bleiben wollten. Mit dem Faschisten ist Miloševiç gemeint, wobei Herr Bannas den „barbarischen Faschisten“ aus unerklärlichen Gründen in Anführungsstriche setzt, unerklärlich deshalb, weil die FAZ sich mit dieser Klassifizierung des Serbenführers Miloševiç als „Faschist“ ganz und gar im Sprachgebrauch der NATO-Verlautbarungen aufhält:  Der deutsche Verteidigungsminister Scharping spricht nur noch von dem Kriegsverbrecher Miloševiç, der britische Außenmninister sieht die NATO in einem prinzipiellen „Kampf gegen das Böse“, Außenminister Joseph Fischer beschwört die Gespenster von Auschwitz.
Aber kann man das Böse bekämpfen, indem man die Menschen zum Guten zu zwingen sucht, wie seinerzeit die Kreuzritter? Diese Frage läßt mindestens ein so großes Dilemma deutlich werden, wie das der Pazifisten, die mit ansehen müssen, wie vor ihren Augen Terror verübt wird. Da ist die Frage, wessen Schuld größer ist, derer, die durch ihre pazifistische Haltung womöglich Terror zulassen oder derer, die vorhandenen Terror durch Gegenterror möglicherweise eskalieren, wohl kaum noch zu beantworten. Es bleibt nur eins, nach den Interessen zu fragen, die hinter den Handlungen der Menschen stehen, gleich, ob Pazifist oder nicht. Und was dies betrifft, erhebt sich am Ende aller humanitären Legitimationen dieses Krieges doch die Frage an die NATO: Warum wird Miloševiç ein Faschist genannt und bombardiert, aber andere Staatsoberhäupter, die ebenfalls für Völkermord, Vertreibungen oder die blutige Unterdrückung der Opposition im eigenen Lande verantwortlich sind, nicht? Erst wenn die NATO diese Frage beantworten würde, könnte sie glaubwürdig werden, aber dann wäre sie auch schon nicht mehr die NATO. Statt auf Einsichten in den Reihen der NATO, auch ihrer deutschen Teilhaber zu hoffen, bleibt nur das eigene, unbedingte Nein! zu einer gewaltsam hergestellten NATO-Weltherrschaft und das Ja! zu einem demokratischen, erneuerten Völkerbund, der einer sich wandelnden Welt vielfältigen Ausdruck verleiht.

Auf den Spuren Attilas – Die Wiederentdeckung eines historischen Mythos. (Text)

Attila war der Zertrümmerer Roms. Vor ihm erzitterte Byzanz; er trieb die Germanen vor sich her, die ihrerseits die Völker des heutigen Westeuropa überrannten und erst haltmachten, als die Mauern Roms nicht mehr standen. Kein Limes konnte die Gewalt aufhalten, die da aus den Steppen des Ostens herangestürmt kam, nicht die heldenhaften Burgunder, später bekannt als die Nibelungen, nicht die frühen Franken, welche die Eroberung von Paris durch Attilas Reiter erdulden mußten.
Aber Attila war auch der,  an dem Europa zum erstenmal eine eigene Kontur gewann. Mit der Schlacht auf den katalaunischen Feldern in Südfrankreich im Jahre 451, die Attila weiteres Vordringen nach Westen stoppte, beginnt die eigenständige Geschichte Europas.
Die Reste der hunnischen Scharen ziehen sich in die südrussische Steppe zurück. Dort gründen sie das bolgarische Reich. Es erlebt seine größte Blüte am Ende des 7. Jahrhunderts. Nach seiner Zertrümmerung durch die Chasaren, einem weiteren asiatischen Volk, gründet ein Teil der Bolgaren  das donaubolgarische Reich, ein anderer Teil das wolgabolgarische. Beide Reiche werden im dreizehnten Jahrhundert von den Mongolen und den mit ihnen verbündeten Völkern  zerschlagen, die damit ihre eigenen, seßhaft gewordenen Vorfahren überrannten.
Viele Mythen, Legenden und Sagen unserer europäischen Kultur ranken sich um diese Völkerzüge und Kämpfe,. Es ist die Zeit der Helden, die Jugendgeschichte Europas. Es ist die Zeit der Nibelungen, die Zeit der Rache Kriemhilds, welche die Ihren an den Hof Attilas lockt, um sie dort niedermetzeln zu lassen. Die westliche Seite dieser historischen Mythe ist uns allen bekannt. In ihr spielt Attila die Rolle eines Erfüllungsgehilfen für Kriemhild, den Hintergrund für die Heldentaten der Nibelungen. Wer aber kennt ihre östliche Variante?
Ja, es gibt auch eine östliche Variante des Nibelungenliedes. Besser gesagt, es gibt ein östliches Heldenepos, das die Taten  und das Leben Attilas und sein Zusammentreffen mit den Völkern des Westens besingt. Lange Zeit war es so gut wie verloren,  war erst durch die mongolische Eroberung, nach der Zurückdrängung der Mongolen durch Moskau dann durch die russische, später durch die sowjetische, insgesamt durch die westliche Geschichtsschreibung auf die Nachtseite der Geschichte gedrängt. Jetzt, nach dem Ende der Sowjetunion, taucht  – wie so vieles – auch das fast vergessene Epos von Attila wieder auf: Mitten im Herzen Rußlands, am russischsten aller Flüsse, der Wolga, lebt ein Volk in einer autonomen Republik, die nach diesem Volk autonome Tschuwaschische Republik heißt. Dieses Volk, mit ca. 3 Millionen Menschen in der heutigen russischen Föderation seiner Größe nach an dritter Stelle nach den Russen und den Tataren zu nennen, leitet seine Geschichte über die Wolgabolgaren direkt von den Hunnen ab. In diesem Volk wird seit „urdenklichen Zeiten“  das Epos von „Atil und Krimkilte“ erzählt. Es ist eine moralische Geschichte darüber, wie Attila unter seinen aus dem Westen stammenden Gefangenen die schöne Kriemhilde entdeckt, sich in sie verliebt und an ihr zugrundegeht.
Bis  ins 18. Jahrhundert wurde dieses Epos nur mündlich weitergeben. Im 18. Jahrhundert wurde es von dem tschuwaschischen Dichter Petraw erstmals aufgeschrieben, jedenfalls ist das die einzige erhaltene schriftliche Fassung. Um die Jahrhundertwende erlebte das tschuwaschische Volk eine kulturelle Renaissance, nachdem es in seiner Identität als eigenständiges Volk erst durch die Mongolen im dreizehnten Jahrhundert, in den folgenden Jahrhunderten durch die russische Ostkolonisation fast ausgelöscht worden war. Wladimir Iljitsch Lenin, der Begründer der Sowjetunion, stammte aus Simbirsk, einer der Kultstätten des tschuwaschischen Volkes. Er war selbst zu einem Drittel Tschuwasche, er unterstützte die Renaissance der tschuwaschischen Selbstständigkeit und versuchte sie solange wie möglich auch gegen Stalins Angriffe zu schützen. Spätestens mit Lenins Tod aber war es auch mit der tschuwaschischen Eigenständigkeit vorbei. Die tschuwaschische Sprache wurde auf die Dörfer verbannt,  das Epos verschwand in privaten Archiven und Truhen.
In einer dieser Truhen entdeckte ich es, als ich 1992 mit dem tschuwaschischen Schriftsteller, Sammler von Legenden und Mythen seines Volkes, Mischa Juchma, in der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik Tscheboksary zusammentraf. Da saßen wir uns unvermittelt gegenüber, ein Nachfolger der Hunnen und ein Nachfolger westlicher Völker, verwundert darüber, daß der eine von der Existenz eines Epos der jeweils anderen Seite bis dahin nichts wußte; Mischa Juchma kannte die Nibelungensage nicht und ich nicht das Epos „Atil und Krimkilte“. Soviel aber war sofort klar: Beide Epen berichten  über denselben historischen Zeitraum,  denselben Attila und dieselbe Krimhilde,  atmen denselben Geist der Helden – nur hier aus östlicher, dort aus westlicher Sicht. Über diese Entdeckung berichtet dieses Stück.

Kai Ehlers

Ankündigung im Programmheft des Bayerischen Rundfunks, Schulfunk

Siehe: Auf den Spuren Attilas unter Feature


Aufruf: Jenseits von Moskau – Informationen über eine neue Welt.

Die Grundsituation ist einfach und klar: Der Zerfall des sowjetischen Imperiums ist gleichbedeutend mit einem neuen anti-imperialistischen Schub. Man kann ihn durchaus mit Recht als dritten Entkolonialisierungsschub der industriellen Moderne bezeichnen. Sein Wesen ist die endgültige Umwandlung der mono-, im Kern eurozentristisch beherrschten Welt in eine mulitizentrale, nachdem die ersten beiden Schübe steckengeblieben sind. Wir befinden uns mitten in diesem Übergang, der sich als weltweite Krise vollzieht.

Was in Moskau, was in St. Petersburg und mit einem weltanschaulich verwandten und durch dieselben Grundinteressen geleiteten Blick auch aus der BRD üblicherweise als Zerfall und als Bedrohung der monozentralen Ordnung erlebt und beschrieben wird, erscheint von den Peripherien der ehemaligen UdSSR aus in einem ganz anderen Licht, nämlich in dem Licht der Befreiung von einem nicht nur jahrzehntelangen, sondern jahrhundertelangen kolonialen Druck. Die Emanzipationsbewegungen der nicht eurozentralisierten Völker nach dem ersten und nach dem zweiten Welkrieg werden dadurch auf eine völlig neue Stufe gebracht.

Auch in den Peripherien, auch in den langjährigen russischen Kolonien, auch in den ehemaligen Republiken und „autonomen Gebieten“ herrscht Ungewißheit und Ratlosigkeit, schließlich auch Angst darüber, was kommen wird. Aber die Grundfrage, die an der Wolga, im Altai, in den Regionen Sibiriens oder anderen Teilen des euroasiatischen Raums gestellt wird, lautet nicht wie in Moskau oder St. Petersburg: „Was wird, wenn alles zusammenbricht?“ Sie wird von der anderen Seite gestellt: „Was wird, wenn Moskau den Zusammenbruch nicht akzeptiert?“

Was „Moskau“ in erster Linie als Verlust erlebt, erleben die kolonisierten Völker des zerfallenden russisch-sowjetischen Imperiums umgekehrt als Möglichkeit der Befreiung, als Möglichkeit, sich auf ihre geschichtlichen, kulturellen, religiösen Wurzeln zu besinnen, ihre Ressourcen selbst zu nutzen und insgesamt einen selbbestimmten Weg einzuschlagen. Lange gebundene Kräfte und Reichtümer werden frei. Die bange Frage lautet nur: Wird das russische Zentrum seine Vorherrschaft mit Gewalt wieder herzustellen versuchen, wie dies schon oft in der Geschichte der Fall war? Und welche Haltung wird Europa und der Westen dazu einnehmen?

Die Situation ist epochal. Sie beginnt sich erst zu entfalten. Es geht nicht einfach um Neuordnung. Der Begriff „Neuordnung“ verschleiert eher die Konflikte. Es geht um die Zuspitzung der schon lange andauernden Auseinandersetzung zwischen imperialen und föderalen Tendenzen in unserer heutigen der Welt. Die Zeit der territorialen Imperien, die nach dem ersten und zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion stellvertretend für die zerbrochenen westlichen Imperien nicht nur konserviert, sondern paradoxerweise bis zum „System“ aufgeblasen wurde, geht zuende.

Der Zusammenbruch war schon längst überfällig. Er konnte so lange ausbleiben, weil der russische Imperialismus im euro-asiatischen Raum einen territorialen Zusammenhang ohne natürliche Grenzen bildete und so seinen imperialen Charakter länger verschleiern, legitimieren und praktisch leichter aufrechterhalten konnte. Man kann dies im Gegensatz zu den sonst bekannten Imperialismen als „innere Kolonisierung“ bezeichnen. Der Zusammenbruch wurde weiter dadurch hinausgezögert, daß die Sowjetunion nach dem ersten Weltkrieg als Heimatland der Welt-Revolution und durch den zweiten Weltkrieg als Hauptgegner des Faschismus zur Stütze der Völker wurde, die sich gegen die westlichen Imperialismen auflehnten. Im Ergebnis wuchs die Sowjetunion paradoxerweise zum größten territorialen Imperium heran, das unsere Welt jemals gesehen hat. In wachsendem Widerspruch zu ihrer Idelogie als antiimperialistisches Bollwerk wurde sie zum Statthalter der von ihr bekämpften eurozentrierten imperialen Weltordnung.

Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums erreicht der Prozess der Entkolonialisierung dieses Jahrhunderts daher einen neuen, wenn nicht überhaupt den Höhepunkt: Er geht von der äußeren Entkolonisierung zur inneren über. Im euroasiatischen Raum steht heute nicht nur die Befreiung von äußerer Herrschaft über das eigene Gebiet auf der Tagesordnung. Es geht um die Emanzipation der Völkervielfalt, aber mehr noch kultureller, religiöser und staatlicher Vielfalt gegen das in Gestalt der ehemaligen Sowjetunion bis ins äußerste Extrem gesteigerte monolithische Weltbild des eurozentrierten Industrialismus. Man kann es auch positiv formulieren: Auf Grundlage des erreichten Grades der industriellen Nivellierung des Globus ist nunmehr eine Weiterentwicklung der Menschheit nur in der kulturellen, religiösen und staatlichen Differenzierung möglich.

Es folgt daraus, was auch schon aus den ersten beiden Wellen der Entkolonisierung folgte: Die Entwicklung von nationalen Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen. Sie enthält die Anlage für die Entwicklung föderaler, gleichberechtigter Lebensverhältnisse auf unserem Globus. Das ist eine epochale Chance.

Der besondere Charakter des russisch-sowjetischen Imperialismus macht es allerdings schwer, das Wesen dieses Prozesses zu erkennen, zumal er von interessierter Seite verschleiert und verzerrt wird. Zudem haben sich durch die lange Verschleppung und die Übernahme des westlichen imperialen Erbes aufs Konto der ehemaligen UdSSR die Widersprüche derart verschärft, daß der Ausbruch jetzt umso heftiger und unkontrollierter zu werden droht. Es besteht durchaus die Gefahr, daß die Befreiung nicht in der kulturellen Differenzierung, Demokratisierung und Föderalisierung gesucht wird, sondern sich in einer bloßen Verfielfältigung der bisherigen zentralistischen Ordnung und der reaktionären Verfestigung fundamentalistischer Denkweisen in den Teilstücken des früheren Imperiums Luft macht. Das Ergebnis wäre eine globale Jugoslawisierung, bzw. deren Gegenstück, der Versuch, die imperiale Ordnung mit Gewalt wiederherzustellen. Dabei könnten wir „Moskau“ mit dem „Westen“ Seite an Seite erleben. Die gegenwärtige Politik der westlichen Zentren läßt diese Richtung schon klar erkennen. Bundeskanzler Kohl scheute sich bei seinem letzten Besuch in Moskau beispielsweise nicht, dort finanzielle Versprechungen für Kiew zu machen. Busch beeilt sich, Moskau weiter in die neudefinierten NATO-Verpflichtungen hineinzuziehen.

Wir haben die große Chance, unsere Welt neu zu gestalten, aber nur, wenn auch in den Zentren verstanden wird, daß die Zeit monozentristischer Weltbilder mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperialismus endgültig zuende geht und eine entsprechende Politik von den einheimischen Regierungen eingefordert wird. Jeder Versuch, den verlebten Zentralismus zu verteidigen oder an seine Stelle neue Zentren zu setzen, werde es nun pan-islamistisch, pan-slawistisch, pan-arabisch, eurozentristisch oder pan-asiatisch begründet, kann nur in einem ungeheuren Blutbad enden.

Im Einzelnen bedeutet das:

Erstens: Was in den Peripherien als Aufbruch und Hoffnung erlebt wird, macht in den Zentren Angst. Dieser Tatsache muß abgeholfen werden. Die Angstbarriere, die die Menschen daran hindert, den emanzipatorischen Charakter der Entwicklung wahrzunehmen, ist eine Informationsbarriere. Sie besteht zum Teil aus einfacher Unkenntnis über das, was jenseits von Moskau geschieht. Kaum jemand unserer Korrespondenten, geschweige denn einfachen Staatsbürger oder -bürgerinnen kommt in der Regel über Moskau hinaus. Zum Teil wird die Barriere aber auch bewußt aufgebaut, indem nur über die „Nationalismen“ und Kriegsgeschehen berichtet wird, sodaß die Unabhängigkeitsbewegungen in den Augen der Durchschnittswestler schlicht als Gefahr für die Zivilisation erscheinen. Diese Barriere muß durchbrochen werden, indem über den Reichtum der Entwicklung jenseits von Moskau, Geschichte, Land und Leute und ihre Vorstellungen informiert wird.

Zweitens: Bei aller Dynamik der jetzigen Unabhängigkeitsbestrebungen im euroasiatischen Raum fehlt doch auf Grund der jahrhundertelangen zentralistischen Entwicklung, zugespitzt durch die Sowjetzeit, die sozial-ökonomische Infrastruktur vor Ort, um eigene initiativen gegen die herrschenden zentralistischen und monopolistischen Verhältnisse entwickeln zu können. Der Zusammenbruch des monopolisierten Industriegiganten hinterläßt Wüsten, in denen eine tiefe Verelendung droht, wenn es nicht gelingt, sie infrastrukturell zu bewässern. Die bisherige westliche „Hilfe“ setzt diese Verwüstung in der Regel fort. Durch materielle und personelle Hilfe soll beim Aufbau dieser Infrastrukturen vor Ort mit angefaßt werden.

Drittens: Nach dem Abtreten der zentralistischen Macht fehlen die – in West-Europa entwickelten – Mechanismen der Konfliktbewältigung, ja, mehr noch, sie wurden durch den zaristischen, später auch den sowjetischen Imperialismus systematisch zerschlagen. Ein politischer Dialog zur Entwicklung solcher Mechanismen muß ermöglicht und gefördert werden. In diesen Zusammenhang gehört die gemeinsame Arbeit zu Fragen des Faschismus, der Demokratie und antiimperialistischer Politik, Geschichte und Kultur, konkret auch die schlichte Übersetzung bereits vorhandener Literatur zu diesen Themen, die Durchführung von gemeinsamen Seminaren und Herausgabe von Publikationen, bzw. ihre Unterstützung vor Ort.

Um Irrtümern und falschen Bündnissen vorzubeugen, sei klar gesagt: Aufklärung über die Politik der westlichen Zentren, die entgegen anderslautenden Worten den post-sowjetischen, genauer russischen Zentralismus unterstützen, um ihre eigene Kolonisierung des euroasiatischen Raumes umso besser verfolgen zu können, ist notwendiger Bestandteil der zu entfaltenden Arbeit. Westliche Kredite führen bisher in der Regel nicht zur Stärkung von Initiativen und dem Aufbau sozio-ökonomischer Infrastruktur vor Ort, sondern nach altem imperialem Rezept im Gegenteil zur Herstellung oder Vertiefung von Abhängigkeiten.

Im Gegensatz dazu muß in Bezug auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auch in der Frage dessen, was allgemein Entwicklungspolitik genannt wird, Neuland beschritten werden. Der ehemalige Gigant, der sich als Bollwerk des industriellen Fortschritts sah, sieht sich heute auf die Ebene eines „Dritt-Welt-Landes“ gedrückt. Was für die Länder der sog. Dritten-Welt gilt, gilt uneingeschränkt auch für die Länder, die jetzt aus der ehemaligen Union hervorgehen. Auch hier muß allerdings konkretisiert werden: Es ist sinnlos, über Moskau von oben Geld ins Land zu schütten, während zugleich die Infrastruktur vor Ort nicht nur nicht gestützt, sondern weiter abgebaut wird. Dies ist die materielle Seite der notwendigen Arbeit: Vor Ort sozio-kulturelle Infrastruktur zu stützen. Wie kann das aussehen?

Ein paar Beispiele mögen das erläutern:

Wer sich ennagieren will, kann den Wunsch eines ökologisch orientierten ornitologischen Jugendklubs an der Wolga aufgreifen, mit hiesigen Jugendlichen zusammenzukommen, die sich mit demselben Thema befassen. Es können gegenseitige Ausstellungen in die Wege geleitet werden. Nicht nur diese, auch andere Jugendgruppen brennen darauf.

Man oder frau kann die Herausgabe einer Kinderzeitung „Putenje“ in der tschuwaschischen Republik sichern, indem man sie finanziell unterstützt, aber auch für deren Bekanntwerden hier sorgt, Austausch mit hiesigen Kinderzeitungen organisiert und in ihr schreibt. Ähnliches gilt für die dortige Frauenzeitungen „Pike“. Solche Produkte können in den Republiken und Regionen heute nur unter äußerstem Einsatz örtlicher Redakteurinnen und Redakteure erscheinen, weil sie von der herrschenden ÜPolitik nicht gefödert werden.

Forschungsprojekte sind unterstützenswert, die der Erkundung der Geschichte der kolonisierten Völker an der Wolga, in Sibirien oder anderen Teilen der ehemaligen Union dienen. Gegenwärtig muß soetwas. soweit die Länder nicht schon ihre Unabhängigkeit praktizieren, häufig als „Einmannbetrieb“ laufen, weil es von der offiziellen Lehre immer noch geschnitten wird.

Ein Erfahrungs-Austausch mit post-sowjetischen Psychologen über neue Methoden der Heiltherapie wäre zu organisieren, zu partizipieren und zu helfen bei der neuerlichen Erforschung der so lange ins Vergessen gedrückten reichen Naturheilmethoden der verschiedenen euro-asiatischen Völker.

Die finanzielle und publizistische Unterstützung einer antifaschistischen Zeitung in Moskau/St. Peterburg steht an, um der „patriotisch“ nationalistischen Propaganda in den Zentren und von ihnen aus entgegenzuwirken. (* siehe Beilage)

Das Gleiche gilt für Vortragsreisen mit Vertretern der neuen Kultur- und Unabhängigkeitsbewegungen aus den Peripherien des post-sowjetischen Imperiums hier im Land.

Schließlich, aber nicht zuletzt, muß die Unterstützung auch Initiativen gelten, die dazu führen können, die ökonomische Infrastruktur von unten aufzubauen. So kann man jungen Leuten, die eine Bienenzuchtkooperative gegründet haben, aber nicht wissen, wo sie ihr Bienengift zu Medizin verarbeiten lassen können, schon damit helfen, die von ihnen erwünschten Verbindung mit deutschen Verarbeitern zu finden.

Die Reihe läßt sich mühelos fortsetzen. Letztlich geht es darum, Menschen dazu zu bewegen, sich aus den Zentren hinauszubegeben und vor Ort mit anzupacken, sagen wir, eine Art Kooperations-Tourismus zu entwickeln. Mindestens aber können Menschen aus den Zentren dort Erfahrungen sammeln, die sie verstehen lassen, daß die Probleme unserer heutigen Welt nicht gelöst werden, indem sie in den Zentren ihre Privilegien und ihren Reichtum gegen die übrigen Völker der Welt mit Zähnen und mit Klauen verteidigen, sondern indem sie diesen Reichtum mit diesen Völkern teilen – nicht als Mildtätigkeit, sondern indem sie in aktiver Kooperation ihre Qualifikation und ihre Mittel für die Entwicklung dort bereitstellen. Das hilft den Menschen vor Ort mehr als Lebensmittelpakete zum einen oder Kredite, die in den oberen Etagen der Zentren-Bürokratie auf nimmerwiedersehen versickern. Das ist zugleich ein aktiver Weg aus dem Widerspruch, als Bewohner eines der reichsten Länder der Welt einerseits diesen Reichtum nicht verlieren, andererseits aber gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und imperiale Ausbeutung etwas unternehmen zu wollen. Schließlich liegt auf dem beschriebenen Weg die Chance, eine Verbindung zur früheren anti-imperialistischen Solidaritätsbewegungen zu finden.

Rußland: Normalisierung oder Mafianisierung – eine Bilanz der russischen Wirklichkeit am Ausgang der 2. Privatisierung.

Um die russischen Reformen ist es still geworden. Ohne großen Lärm stimmte die Duma nach einem Appell Boris Jelzins noch Ende letzten Jahres dem Haushaltsplan für 1998 zu. Mit einer weiteren Entmachtung Anatolij Tschubajs Ende Januar dieses Jahres scheint Ruhe in die Regierungspolitik einzukehren. Boris Jelzin sucht neues Glück in der Außenpolitik. Die Bewertungen der internationalen Kommentatoren schwanken zwischen Stabilität und Stillstand. Es ist Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Anfang des Jahres 1997 wechselte Boris Jelzin die Mannschaft. Die neuen Favoriten waren: Anatoli Tschubajs, ehemaliger Beauftragter für Privatisierung, später Leiter des Präsidialamtes und in dieser Funktion auch Organisator des Wahlkampfes für seinen Präsidenten; er wurde stellvertretender Ministerpräsident. Mit ihm rückte sein Leningrader Kommando in erste Posten. Hinzu kamen Boris Nemzow, zuvor Gouverneur in Nischninowgorod, und Oleg Susujew, davor Bürgermeister von Samara. Hinter ihnen tauchten auch einige jener neuen Geldmagnaten wie Wladimir Potanin und Boris Beresowski in der Regierung auf, die Jelzins Wahlkampf finanziert hatten.
Die neue Mannschaft war im Schnitt um die Hälfte jünger als der alternde Präsident. Sie kündigten eine zweite Phase der Privatisierung an, einen neuen Reformschub, das Ende des wilden Kapitalismus. Ihre wichtigsten Stichworte lauteten: Etat-Konsolidierung, Reform des Steuer-, des Renten- und des Sozialsystems, Regulierung der sog. natürlichen Monopole, also solcher wie Energie, Wasser, Post, Bahn Wohnungsbau usw. und Durchsetzung des Konkursrechtes.
Bis 1997 umfaßte die Privatisierung vier Schübe: Erstens die „wilde Privatisierung“ von 1989 bis 1991, die sich vor Beginn der gesetzlichen vollzog; zweitens die „kleine Privatisierung“ ab Dezember 1991 bis Ende 1993, mit der die gesetzliche Phase der Privatisierung begann – sie betraf vor allem kleinere und mittlere Betriebe und Dienstleistungsgewerbe; drittens die „Voucher“-Privatisierung von Ende 1992 bis Junli 1994 – sie war als Volksprivatisierung deklariert, die das nationale Vermögen in die Hände der Bevölkerung überführen sollte; viertens die „Geld-Privatisierung“ ab Juli 1994, die der Konzentration von verstreuten Aktienanteilen zu entscheidungsfähigen Mehrheitspaketen dienen sollte. Schließlich darf – fünftens – die Privatisierung auf dem Lande nicht vergessen werden, die seit 1989/90 parallel zu den gesamten vier Phasen verlief.
Ergebnis der Privatisierung war aber nicht Entmonopolisierung, nicht ein freier Markt konkurrenzfähiger Unternehmer, nicht die Entlastung des Staatsbudgets, sondern neue Monopole, Geldimperien auf der Basis von Ex- und Import, die den russischen Markt unter sich aufteilten. Die Produktion Rußlands reduzierte sich dagegen glatt um die Hälfte. Der Staat ist praktisch bankrott. Die Mafia wurde zum festen Bestandteil der russischen Gesellschaft; statt eines konkurrenzfähigen Mittelstandes entstand ein von den neuen Monopolen, von Staatszuwendungen und von der Mafia abhängiger Bereich von Dienstleistungen. Der Angriff auf die kollektiven Versorgungs- und Bildungsstrukturen schließlich führte nicht zu deren Ersetzung durch neue Träger, sondern zur Zerüttung des sozialen Versorgungssystems.
Kein Wunde, daß sich die Reformen schließlich an der Verweigerung der real existierenden Versorgungskollektive brachen: der Sowchosen, Kolchosen, der branchenmäßigen, vor allem aber der regionalen Betriebs-, Wirtschafts-  und Lebenseinheiten, die mit formaler Umbenennung der Privatisierung Genüge taten, im übrigen aber weitermachten wie bisher. Deren größte sind solche korporativen Vereinigungen wie der Öl- und Gas-Riese GASPROM oder andere der „natürlichen Monopole“. Die Verweigerung führte bis zu Widerstand, zur bewußten Aufrechterhaltung oder gar bis zur Wiederherstellung der geschädigten kollektiven Strukturen.
Als Anfang 1997 die Privatisierung der „natürlichen Monopole“ in Ausssicht gestellt wurde, bedeutete das, daß jene kollektiven Strukturen jetzt endgültig beseitigt werden sollten. Aber auch diesmal stand nicht Entmonopolisierung dabei im Vordegrund, sondern die Entflechtung der Produktions- und der Reproduktionssphäre dieser Betriebe. Freigegeben werden sollten die Preise im Wohnungsbereich, für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr, Bahn, Post und diverse andere Dienstleistungen, die in vielen Fällen immer noch vom betrieblich-kommunalen Versorgungssystem getragen werden. Für ein solches Programm stand der jugendliche Boris Nemzow, der in Nischninowgorod mit einer Privatisierung dieser Art Modellpolitik gemacht hatte.
Der Westen nahm die neuen Signale erleichtert auf. Sie öffneten Boris Jelzin im Juni ´97 die Tür zur „G-8“. Westliche Beobachter schöpften Hoffnung, daß die von ihnen seit jahren eingeforderten „grundlegenden Strukturreformen“ nun endlich verwirklicht würden.
Wenige Monate danach war von einem zweiten  „Reformschub“ schon nicht mehr die Rede, stattdesen schon im Mai von einem drohenden Zusammenbruch des Investitionsmarktes, von der Budgetkrise, von einem zu erwartenden „heißen Herbst“, von „deja vues“ usw. Ende des Jahres zitierte das „Handelsblatt“, sonst eher zu Ermutigungen potentieller Investoren geneigt, Ergebnisse westlicher Experten, die sich gezwungen sahen, eine „beträchtliche Deindustrialisierung“ in Rußland zu konstatieren.
Der neue Reformschub verwirklichte sich vor allem als „Krieg der Banken“, deren Vertreter sich und ihre Lobby in der Regierung mit „Kompromaten“, also öffentlich vorgetragenen Korruptionsvorwürfen, gegenseitig diskreditierten. Im Ergebnis mußten mehrere der neuen Reformer, allen voran der Privatisierungsminister Alfred Koch, ihren Hut nehmen. Anatolij Tschubajs behielt seinen Posten als Vizepremier, verlor aber sein Amt als Finanzminister; Boris Nemzow wurde aus dem Ministerium für Energie gedrängt. Präsident Jelzin enthob den Geldmann Beresowski seines Amtes als Chef des Sicherheitsrates, die anderen finanziellen Hintermänner der Tschubajs-Mannschaft mußten sich von ihm zu „zivilisiertem“ Handeln ermahnen lassen.
Gewinner des Gerangels wurde Premierminister Viktor Tschernomyrdin, der als ehemaliger Chef von GASPROM den institutionellen Widerstand gegen die neue Entflechtungswelle repräsentiert. Die von ihm im Januar vorgenommene neuerliche Regierungsumbildung, die Anatoli Tschubajs nunmehr auf den Bereich des Sozialen, Boris Nemzow auf Transport- und Wohnungswirtschaft zurückgedrängt, war der bisher letzte Ton im Abgesang der neuen Reformer.
Die Privatisierungen der „natürlichen Monopole“ sind damit vorerst verschoben, die Steuer-, die Sozial- und Rentenreform blieb stecken. Von der Durchsetzung des Konkursrecht hört man nichts.
Der von der Opposition angekündigte Widerstand andererseits, gar Massenprotest blieb ebenfalls aus oder verzehrt sich in lokalen und regionalen Strohfeuern, allen voran immer wieder im Kusbass. Im Januar 98 wurde nach öffentlichem Säbelrasseln Ende 1997 im „Vierergremium“ zwischen Präsident Jelzin, Vizepremier Viktor Tschernpmyrdin und den Präsidenten der beiden Duma-Kammern zwar eine Eingung zum Haushalt ´98 getroffen. Dies ähnelt aber eher einem Stillhalte-Abkommen zwischen Teilen des Establishments, mit dem die Öffentlichkeit beruhigt werden soll, denn beim Stand der Dinge sind die in dem Entwurf vorgesehenen Ausgaben weder – wie früher geplant – aus der Privatisierung, noch aus einem erhöhten Steueraufkommen zu bestreiten, noch durch Regorganisation des Sozial- und Rentensystems einzusparen. Das zu erwartende Defizit wird allein durch ausländische Kredite zu decken sein.
Dies alles erweckt den Eindruck, als ob die russischen Wandlungen zum Stillstand gekommen seien. Immer öfter hört man im Lande selbst das Wort Normalisierung. Nicht einmal die seit Anfang des Jahres stattfindende „Denominierung“, wie die Abwertung des Rubel um drei Nullen genannt wird, kann die Bevölkerung gegenwärtig aufregen. „Drei Nullen mehr oder weniger“, lauten die Kommentare“, „wo ist der Unterschied? Wir werden ohnehin betrogen und ausgenommen. Ich kümmere mich um meine eigenen Dinge.“
Die „eigenen Dinge“, das ist die zweite, oft sogar die dritte schwarz ausgeführte Arbeit, dazu noch die Datscha, die die Grundversorgung der Familie zu garantieren hat. Sie erfordert jede freie Stunde.
Was heißt also Normalisierung? Endgültige Öffnung in Richtung Markt, wie von Seiten der Regierung immer noch behauptet? Endgültiger Sieg der Mafia, wie ihre kommunistischen Kritiker sagen? Die Etablierung eines kriminellen Korporativismus, wie etwa Grigori Jawlinski es nennt?
Marktöffnung? Die russische Wirtschaft vollzieht sich zu mehr als der Hälfte als Barter-, Tausch- und Naturalwirtschaft. Nicht mehr, sondern weniger Kapitalismus ist entstanden. Wenn die Wirtschaft der russischen Föderation auch unter den letzten Experimenten nicht zusammengebrochen ist, dann deswegen, weil sie immer noch vom Verkauf ihrer Naturschätze lebt.
Mafia? Ja, es gibt die „Dächer“, unter deren Schutz man sich begeben muß, wenn man in Rußland etwas werden will. Es gibt die Aufteilung des Landes nach kriminellen Clans, es gibt die kriminalisierte Regierung. Die russische Öffentlichkeit ist von dieser Realität und diesen Begriffen inzwischen so durchdrungen, als wäre das völlig normal. Nach dem Scheitern der b´neuen reformwelle ist das noch offensichtlicher als zuvor.
Doch erklärt der Hinweis auf die Mafia nicht alles: Es gibt den legalen Sektor eines im westlichen Sinne modernisierten, neuen Busyness; es gibt Ansätze eines legalen Mittelstandes; es gibt kontrollierte Staatsbetriebe; es gibt kommunale Wirtschaftseinheiten in den Regionen; Zahlen dazu bewegen sich zwischen zehn und dreißig Prozent – aber auch diese Kräfte arbeiten nicht in der offenen Konkurrenz, sondern in Absprache miteinander. In gegenseitiger Hilfe und Absprache – auch mit der Mafia – liegt die einzige Chance ihrer Existenz zwischen Bürokratismus, wildem Kapitalismus und organisierter Kriminalität.
Es hat sich das auf Neuer Stufe etabliert, was Tatjana Saslawaskaja, soziologische Schrittmacherin der Perestroika, Mitte der siebziger Jahre „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nannte und was Rußlands Soziologen heute als „bürokratisch-korporatives Clanregime“ bezeichnen. Es ist, könnte man sagen, die Wiedergeburt des Russischen im Kapitalismus. Die Basis dafür bilden die in der russischen Geschichte wurzelnden Gemeinschaftsstrukturen, die keineswegs erst von den Bolschwiki oder gar von Stalin erfunden wurden. Die Bolschewiki fanden sie bereits vor und konnten sie nutzen. Es handelt sich um das, was im Russischen „Obschtschina“ genannt wird, die gemeineigentümliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft.
Die heutige Form der Obschtschina ist aus der Bauerngemeinschaft und der agrarischen Struktur Rußlands hervorgegangen. Im Zuge der industriellen, dann auch der politischen Revolution wurde sie zur Struktur der gesamten Gesellschaft. Es ist die Kolchose, das Produktionsdorf, die Fabrikstadt, das regionale, sogar landesweite Kombinat, die Wissenschaftskommune usw. Sogar die geschlossenen Städte und die geschlossenen „Zonen“, das heißt Lagerbereiche, waren  nach diesem Prinzip organisiert.
So wie alle früheren Versuche der Zerschlagung der Obschtschina auf halbem Wege steckenblieben, ja, zu ihrer Stärkung führten, bis sie als Sowchose und Kolchose zum Modell der sowjetischen Gesellschaft wurde, mußte auch Boris Jelzin Jegor Gaidar bereits wenige Monate nach seinem Antritt als Radikalreformer 1991 zurückpfeifen. Wenn jetzt zu beobachten ist, daß eben jene Normalität sich stabilisiert, die man einen oligarschischen Korporativismus, eine bürokratische Verteilungswirtschaft, im Sinne Tatjana Saslawskajas eine „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nennen kann, dann läßt das erkennen, daß auch der neue Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Was sich gegenwärtig in Rußland entwickelt, ist Pluralismus der oligarschischen Korporationen statt Markt und Demokratie, sind regionale Kompromisse zwischen regionaler Elite und kommunalen, gemeineigentümlichen  Strukturen, ist das Wiedererstarken gemeineigentümlicher Elemente der Wirtschaft im Gewande der Privatisierung. Paradebeispiel ist Moskau, das unter der Führung seines Bürgermeisters Juri Luschkow zum Vorzeigestück einer Privatisierung wird, aus der das Staaseigentum nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht: Die „Boom-town Moskau“, wie die Stadt von manchen heut genannt wird, ist heute Moskaus größter und effektivster Unternehmer.
Ein anderes Beispiel ist das sibirische Irkutsk, wo sich eine regionale Verbindung aus selbstverwalteten Kommunen, Belegschaften, örtlichem Kapital und regionaler Bürokratie gemeinschaftlich gegen Moskau, bzw. die von Moskau aus agierenden korporativen Monopole organisiert, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.
Ergebnis ist in beiden Fällen das, was man in Rußland „Renationalisierung“, auf deutsch, Stärkung des Gemeineigentums gegenüber dem Privateigentum nennt. Der Kuhhandel um den Haushalt ist ein weiterer Ausdruck dieses Kompromisses, in dem sich die gewachsenen korporativen Strukturen auswirken. Ihre Auflösung könnte nur unter Einsatz rohester Gewalt geschehen. Wem aber könnten solche Reformen nützen?

Rußland: Normalisierung oder Mafianisierung – eine Bilanz der russ. Wirklichkeit am Ausgang der 2. Privatisierung.05

Anfang des Jahres wechselte der russische Präsident die Pferde. Die neuen Leute hießen Anatoli Tschubajs, ehemaliger Beauftragter für Privatisierung, später Leiter des Präsidialamtes, jetzt erster stellvertretender Ministerpräsident. Mit ihm rückte sein Leningrader Kommando in erste Posten. Hinzu kamen Boris Nemzow, zuvor Gouverneur in Nischninowgorod, und Oleg Susujew, davor Bürgermeister von Samara. Die neue Mannschaft ist im Schnitt um die Hälfte jünger als der alternde Präsident. Sie kündigten eine zweite Phase der Privatisierung, einen neuen Reformschub, das Ende des wilden Kapitalismus an.
Die zurückliegende Privatisierung, daran sei erinnert, bestand bereits aus vier, genauer aus fünf Schüben:
1. Der „wilden Privatisierung“ von 1989 bis 1991, die sich vor Beginn der gesetzlichen vollzog;
2. der „kleinen Privatisierung“ ab Dezember 1991 bis Ende 1993, mit der die gesetzliche begann; sie betraf vor allem kleinere und mittlere Betriebe und Dienstleistungsgewerbe;
3. die „Voucher“-Privatisierung von Ende 1992 bis Junli 1994; sie war als Volksprivatisierung deklariert, welche das nationale Vermögen in die Hände der Bevölkerung überführen sollte;
4. Die „Geld-Privatisierung“ ab Juli 1994, die der Konzentration von verstreuten Akltienanteilen zu entscheidungsfähigen Mehrheitspaketen dienen sollte.
Schließlich darf – fünftens – die Privatisierung auf dem Lande nicht vergessen werden, die seit 1989/90 parallel zu den gesamten vier Phasen verlief.
Tatsache ist, daß die Privatisierung nicht das Ergebnis brachte, das sie bringen sollte. Jegor Gaidar mußte bereits wenige Monate nach seinem Antritt das Handtuch werfen. Die darüberhinaus durchgeführten Privatisierungsmaßnahmen führten nicht zu der in Ausssicht gestellten Entmonopolisierung, nicht zur Herausbildung des beschworenen freien Marktes konkurrenzfähiger Unternehmer, nicht zu der erhofften Entlastung des Staatsbudgets.
Im Gegenteil, zum einen bildeten sich neue Monopole heraus. Sie sind wesentlich Geldimperien auf der Basis von Ex- und Import, die den russischen Markt unter sich aufgeteilt haben. Die Produktion Rußlands reduzierte sich dagegen glatt um die Hälfte.
Zum Zweiten etablierten sich Schattenwirtschaft und Mafia zum stabilisierenden Element und statt eines konkurrenzfähigen Mittelstandes entstand ein von den neuen Monopolen zum einen und von Staatszuwendungen zum anderen abhängiger, sagen wir, Bereich von  Dienstleistungen.
Zum Ditten endete der Angriff auf die kollektiven Versorgungs- und Bildungsstrukturen nicht mit deren Ersetzung durch neue staatliche oder wenigstens private leistunsfähige Träger, sondern mit der katastrophalen Zerüttung des sozialen Versorgungssystems.
In dieser Bewertung waren sich auch so gegensätzliche Autoren in ihren Analysen einig wie Werner Gumpel, der „Rußland am Abgrund“ sieht und Roland Götz, der die neue Mannschaft mit Optimismus begrüßte und sich eine „Fortentwicklung der begonnenen Reformen“ wünschte.
Kein Wunder also, daß sich der Reformschub unter solchen bedingungen an der Verweigerung der real existierenden Versorgungskollektive brach, der Sowchosen, Kolchosen, der branchenmäßigen, vor allem aber der regionalen Betriebs-, Wirtschafts-  und Lebenseinheiten. Mit formaler Umbenennung taten sie der Privatisierung Genüge, im übrigen aber machten sie weiter wie bisher. Hier und dort ging die Verweigerung sogar bis zum Widerstand, das heißt, der bewußten Aufrechterhaltung oder gar Wiederherstellung der geschädigten oder wie Boris Kagarlitzki es nennt, korrumpierten kollektiven Strukturen.
Wenn jetzt die Privatisierung der „natürlichen Monopole“, die Auflösung von „Subventionsgemeinschaften“ und die „endgültige Entmonopolisierung“ in Ausssicht gestellt wird, dann heißt das praktisch nichts anderes, als daß eben jene nach wie vor bestehenden kollektiven Strukturen jetzt endgültig aufgelöst werden sollen. Nichts anderes verbirgt sich letztlich hinter den Privatisierungsabsichten von Konzernen wie „Gasprom“, den Energie-, Wasser- und Baumonopolen.
Nicht Entmonopolisierung steht im Vordegrund, sondern die Entflechtung der Produktions- und der Reproduktionssphäre dieser Betriebe. Freigegeben werden sollen die Preise im Wohnungsbereich, für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr und diverse andere Dienstleistungen, die bisher in vielen Fällen noch vom betrieblich-kommunalen Versorgungssystem getragen werden. Für diese Art der Privatisierung steht der Name Boris Nemzow, der in Nischninowgorod mit einer solchen Politik Modellpolitik machte. Würde dies im großen Maßstab umgesetzt, während gleichzeitig die Produktion schrumpft, Löhne, Pensionen und soziale Unterstützungen nicht oder schlecht gezahlt werden, liefe dies auf eine soziale Explosion hinaus.
Mit der russischen Reform verhalte es sich wie mit der Operation eines Patienten, den man mitten in der Operation auf dem Tisch habe liegen lassen, erklärte mir Leonid Gossmann, psychologischer Berater von Tschubajs dazu im April `97 in Moskau. Jetzt komme es darauf an, die Operation schnell und zügig und noch wesentlich konsequenter durchzuführen als Jegor Gaidar es gemacht habe. Man denke auch daran, ihn wieder enger in die Politik einzubeziehen, wenn er wolle.
Im Westen wurde Zustimmung bis Erleichterung signalisiert. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Denver im Juni wurde der Regierungswechsel für Boris Jelzin zur „Eintrittskarte in die G-8“.  Westliche Beobachter schöpften Hoffnung, daß die von ihnen lange eingeklagten „grundlegenden  Strukturreformen“ nun endlich verwirklicht würden.
Die russische Opposition kündigte Widerstand an. In landesweiten Streiks rief sie zum Protest gegen das neue Privatisierungsprogramm auf, forderte stattdessen eine konsequentere und gerechtere Steuerpolitik und die Einlösung der sozialen und bildungspolitischen Verpflichtungen seitens der Regierung.

Heute ist von Entmonopolisierung, von zweitem „Reformschub“, von endgültiger Transformation uam. nicht mehr die Rede. Die deutschen Wirtschaftsinstitute konstatierten in ihrem Bericht zur Russischen Wirtschaft stattdessen bereits im Mai `97 den Zusammenbruch des Investitionsmarktes.
Die „Nachrichten für den Außenhandel“, zuvor eher hoffnungsvoll, zitierten Anfang September zustimmend den jährlichen Länderreport der Bundesstelle für Außenhandelsinformationen (BfAI). Darin wurde Nullwachstum, weitere Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes und – als beunruhigender neuer Trend – sogar Stagnation der Importe konstatiert, insgesamt also ein düsteres Bild gezeichnet. ,
Um so mehr sind die neuen Geldmagnaten jetzt in den Blick gerückt, die den „Staat gekauft“ haben, die „großen Sieben“ („G-7)“, wie die deutsche Illustrierte „Stern“ sie kürzlich nannte.   „Die Welt“ sprach von einer „Handvoll Finanzclans“, die „das Land als Selbstbedienungsladen mißbraucht“ hätten.
Der neue Reformschub verwirklichte sich bis jetzt nur als „Krieg der Banken“ und in der öffentlichen Übernahme wesentlicher Regierungsposten durch Mitglieder dieser Clans und er endete zunächst einmal mit der Verdrängung eines von Ihnen, des ehemaligen Autohändlers Boris Beresowski, aus dem Kabinett. Die angekündigten neuen Reformen jedoch blieben auf halben Wege stecken. Das geht von der Steuerreform über die Haushaltsreform bis hin zum neuen Erlaß Boris Jelzins zur Verkaufbarkeit von Grund und Boden, die der Präsident damit nun schon zum sechsten Male seit 1991 erfolglos dekretierte.
Der angekündigte Widerstand andererseits, gar Massenprotest blieb ebenfalls aus, bzw. verzehrt sich in lokalen, bzw. regionalen Strohfeuern, allen voran immer wieder im Kusbass. Die kürzlich nach öffentlichem Säbelrasseln zwischen dem Päsidenten und der Duma schnell beigelegte  Haushaltskrise erscheint sogar eher wie ein Gentlemen Agreement zwischen Teilen des Establishments.

Dies alles läßt den Eindruck entstehen, als ob die russischen Wandlungen zum Stillstand gekommen seien. Immer öfter hört man im Lande selbst das Wort Normalisierung. Wer in diesem Jahr durchs Land fuhr, erlebte eine Bevölkerung, die sich sogar über die bevorstehende Geldreform nicht mehr aufregen kann. Bei Straßenbefragungen, die ich im Spätsommer in Nowosibirsk, Belowo  und Kemerowo (Kusbass) durchführte, überwogen Antworten wie „Drei Nullen mehr oder weniger – wo ist der Unterschied? Wir werden ohnehin betrogen und ausgenommen. Ich kümmere mich um meine eigenen Dinge.“
Die „eigenen Dinge“ – das ist – neben dem offiziell ausgeübten Beruf – das „kleine Busyness“, die zweite, oft sogar dritte schwarz ausgeführte Arbeit und die Datscha, die die Grundversorgung der Familie zu garantieren hat. Sie erfordert jede freie Stunde.
Wenn man also von Normalisierung spricht, was ist dann ihr Inhalt? Die endgültige Öffnung in Richtung Markt, wie die Regierungsseite behauptet? Der endgültige Sieg der Mafia, wie ihre kommunistischen Kritiker sagen? Die Etablierung des Korporativismus, wie Grigori Jawlinski es nennt?
Es ist Zeit, die neu entstandene Wirklichkeit auch strukturell einer bilanzierenden Analyse zu unterziehen.
Marktöffnung? Die russische Wirtschaft vollzieht sich – Zahlen sind schwer zu nennen – zu mehr als der Hälfte als Barter- Tausch und Naturalwirtschaft. Nicht mehr, sondern weniger Kapitalismus ist entstanden. Wenn die Wirtschaft bisher nicht zusammengebrochen ist, dann deswegen, weil sie immer noch vom Verkauf ihrer Naturschätze wie Öl, Gas, Wald, Buntmetallen und anderem lebt, die im Raubbauverfahren versilbert bzw. in schweizer und andere internationale Obligationen verwandelt werden.
Mafia? Ja, es gibt die kriminellen „Dächer“, unter deren Schutz man sich begeben muß, wenn man in Rußland etwas werden will. Es gibt die Aufteilung des Landes nach kriminellen Clans, es gibt die kriminalisierte Regierung. Die russ. Öffentlichkeit ist von dieser Realität und diesen Begriffen durchdrungen, als wäre das völlig normal. Soziologen und Politologen, Meinungsforscher und Parteifunktionäre, Opposition, sogar Boris Jelzin selbst sprechen heute gleichermaßen und ohne Scheu von krimineller Privatisierung, krimineller Gesellschaft und krimineller Regierung.
Aber die Mafia ist dennoch nicht alles: Es gibt auch legale Strukturen eines neuen Busyness, es gibt Ansätze eines legalen Mittelstandes, es gibt kontrollierte Staatsbetriebe, es gibt regionale kommunale Wirtschaftseinheiten – allerdings arbeiten diese Kräfte nicht in der offenen Konkurrenz, sondern in Absprache miteinander. In gegenseitiger Hilfe und Absprache – auch mit der Mafia – liegt die einzige Chance ihrer Existenz zwischen  wildem Kapitalismus und Mafia.
Es hat sich das auf Neuer Stufe etabliert, was Tatjana Saslawaskaja, soziologische Schrittmacherin der Perestroika , Mitte der siebziger Jahre „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“  nannte. In einem Aufsatz zur Schattenwirtschaft in der Zeischrift „Osteuropa“ erscheint dieser Tatbestand als „bürokratisch-korporatives Clanregime“.
Es ist, könnte man sagen, die Wiedergeburt des Russischen im Kapitalismus, die russische, die nachsowjetische Variante des Kapitalismus. Basis sind aber nicht etwa Inkonsequenzen der Reformer, wie immer wieder vorgebracht wird, sondern vor allem die – tief in der russischen Geschichte – verwurzelten Gemeinschaftsstrukturen, die keineswegs von den Bolschwiki oder gar von Stalin erfunden wurden. Die Bolschewiki fanden sie vielmehr bereits vor und konnten sie nutzen. Es handelt sich um das, was im Russischen „Obschtschina“ genannt wird, die gemeineigentümliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft.
Die heutige Form der Obschtschina ist aus der Bauerngemeinschaft und der agrarischen Struktur Rußlands hervorgegangen. Im Zuge der industriellen, dann auch der politischen Revolution wurden sie zur Struktur der gesamten Gesellschaft. Es ist die Kolchose, das Produktionsdorf, die Fabrikstadt, das regionale, sogar landesweite Kombinat, die Wissenschaftskommune usw. Sogar die geschlossenen Städte und die geschlossenen „Zonen“, das heißt Lagerbereiche, waren  nach diesem Prinzip organisiert.
Einige Ideologen vergleichen den russischen Koporativismus mit dem italienischen zur Zeit Mussolinis oder gar mit den Vollsgemeinschaftstrukturen des deutschen Faschismus. Damit läßt sich die Notwendigkeit weiterer Privatisierungen dringlich begründen; der historischen Wirklichkeit halten diese Vergleiche jedoch nicht stand. Vergleichbar ist die Übertragung vor- und außerindustrieller Gemeinschaftsformen auf die entstehende Industriegesellschaft.
Darüberhinaus ist aber vor allem anderen festzuhalten: Mussolini und noch mehr die Nazis versuchten solche Strukturen künstlich zu schaffen und mit Gewalt zur Volksgemeinschaft zu überhöhen. In Rußland versucht man, genau andersherum, die gegebenen korporativen Strukturen mit Gewalt zu zerschlagen – und dies nicht erst seit Gaidar: Jegor Gaidars Kreuzzug gegen den Kollektivismus war nur der bisher letzte in einer langen Reihe von Alexander II. über Pjotr Stolypin, von Josef Stalin bis heute.
So wie alle früheren Versuche der Zerschlagung der Obschtschina auf halbem Wege steckenblieben, ja, zu ihrer Stärkung führten, bis sie als Sowchose und Kolchose zum Modell der sowjetischen Gesellschaft wurde, mußte auch Boris Jelzin Jegor Gaidar bereits wenige Monate nach seinem Antritt als Radikalreformer 1991 zurückpfeifen.
Wenn jetzt zu beobachten ist, daß eben jene Normalität sich stabilisiert, die man einen oligarschischen Korporativismus, eine bürokratische Verteilungswirtschaft, im Sinne Saslawskajas eine Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit nennen kann, dann läßt das erkennen, daß auch der neue Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Die Stichworte für das, was sich gegenwärtig in Rußland entwickelt, lauten vielmehr: Pluralismus der oligarschischen Klüngel statt Markt und Demokratie;  regionale Kompromisse zwischen regionaler Elite und kommunalen, gemeineigentümlichen  Strukturen; Wiedererstarken gemeineigentümlicher Wirtschaftselemente.
Ein Beispiel dafür ist Moskau, das unter der Führung seines Bürgermeisters Juri Luschkow zum Vorzeigestück einer Privatisierung wird, aus der das Staaseigentum nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht: Die Stadt Moskau ist heute Moskaus größter und effektivster Unternehmer.     Ein anderes, scheinbar entgegensgesetztes Beispiel ist das sibirische Irkutsk, wo sich eine regionale Verbindung aus selbstverwalteten Kommunen, Belegschaften, örtlichem Kapital und regionaler Bürokratie gemeinschaftlich gegen Moskau organisiert, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.
Ergebnis ist in beiden Fällen das, was man in Rußland „Renationalisierung“, auf deutsch, Stärkung des Gemeineigentums gegenüber dem Privateigentum nennt.
So wie in Italien, erst recht aber in Deutschland korporative Strukturen seinerzeit nur mit Gewalt zu etablieren waren, so wären sie in Rußland heute – genau umgekehrt – nur mit Gewalt zu zerschlagen.
Anders gesagt: Eine Widerholung historischer Abläufe ist nicht angesagt. Wir haben es mit einer historisch neuen und bisher einmaligen Konstellation zu tun: Nicht gewaltsame Kollektivierungsstrategien des bekannten mussolinischen oder auch NS-Typs sind zu befürchten. Zu fürchten ist vielmehr – paradox, aber wahr – der neuerliche Versuch der Auflösung bereits vorhandener, gewachsener korporativer Strukturen, denn dies könnte nur, das zeigt der erreichte Stand in Rußland, unter Einsatz rohester Gewalt geschehen.

Veröffentlicht in:  „Blätter für deutsche ind internationale Politik

Annmerkungen zu Karl Heinz Roth:

Stichworte „neue Proletarität“ und „Toyotisierung“

Lieber Karl-Heinz Roth,

mit größtem Interesse habe ich die Kurzfassung Deines Referates vom „konkret“-Kongress im „ak“ gelesen. Die Stichworte „neue Proletarität“ und „Toyotisierung“ treffen sich mit Aspekten, auf die ich bei meinen Untersuchungen in der ehemaligen UdSSR gestoßen bin.
Verstehen wir die ehemalige Sowjetunion als das größte Taylorisierungs-Experiment der Weltgeschichte mit der am extremsten vorangetriebenen Zerstückelung der Produktion und Isolierung ihrer Teilarbeiter, bzw. Teilarbeiterinnen auf Grundlage des in den Formen des Moskau-Zentralismus am totalsten entwickelten Etatismus – so ist der Zusammenbruch dieses Systems natürlich mehr als nur ein Zufall und mehr als nur ein Ereignis unter vielen anderen: Er ist Ausdruck der Überlebtheit des Taylorismus als Entwicklungsprinzip.
Du hast in Deinem Referat den Toyotismus ins Bewußtsein gerückt, der den Taylorismus weltweit als neues Organisations- und Entwicklungsprinzip des Kapitals abzulösen und neue Formen der Proletarisierung zu entwickeln beginne. Dem ist in der Kürze von meiner Seite nichts hinzuzufügen! Nachhaltiger als Du es angedeutet hast, muß aber wohl herausgestellt werden, daß der offene und rasante Zusammenbruch der Sowjetunion dem Toyotismus als neuem Entwicklungsprinzip nunmehr endgültig freies Feld überläßt. Allzu offensichtlich wurde und wird immer noch vor aller Augen demonstriert, zu welchen katastrophalen Folgen der zum Staats- und Lebensprinzip erhobene Taylorismus geführt hat – zu einem mono-industrialisierten, zentralisierten Arbeitsregime, dessen Überzentralisierung die Entpersönlichung des Einzelnen (Schräubchen-Mentalität) und die Unterentwicklung, bzw. einseitige Entwicklung der Landesteile, kleineren Städte und nicht zuletzt der Dörfer nicht nur zur Voraussetzung hatte, sondern die Arbeitsteilung derart ins Extrem trieb, daß der Mechanismus schließlich in der unvermeidlichen – und was schlimmer ist – in vielen Fällen irreversiblen Katastrophe endete, bzw. noch zu enden droht.
Dabei entsteht in der Post-Sowjetunion (und ihren ehemaligen Bündniszonen) die Frage, ob aus den zusammenbrechenden etatistischen Strukturen selbst so etwas wie eine Alternative zum Taylorismus hervorgehen kann. Die neo-liberalen Privatisierungstrategien der IWF/Weltbank und Treuhand sind zum Scheitern verurteilt, bzw. schon jetzt offfensichtlich gescheitert – gemessen an dem vorgeblichen Ziel der „Entwicklungshilfe“. Kann unter diesen Umständen eine alternative Privatisierungsstrategie entstehen, die den Elementen eines Neo-Liberalismus, Neo-Taylorismus oder wie immer wir es bezeichnen wollen eine „ganzheitliche“, eine „kollektive“, eine „team-orientierte“, also in den Begriffen Deines Referates eine „toyotisierte“ Arbeitsproduktion entgegenstellt?
Die linke Debatte in der Post-Sowjetunion hat diesen Ansatz. Er ist allerdings noch sehr marginal. Er zerfällt zudem schon in den ersten Annäherungen in den Aspekt der Wiederbelebung staatkollektivistischer, korporativistischer Lenkungsstrukturen – tendenziell sogar faschistischer Staatsvorstellungen – zum einen und der Entwicklung neuer selbstbestimmer kooperativ organisierter Kollektive zum anderen.
Dieser Widerspruch ist ja auch am Ende Deiner Ausführungen angelegt: Du befürwortest die Bildung neuer proletarischer Zirkel – aber selbstverständlich nicht im Rahmen der bekannten staatssozialistischen Organisationsvorstellungen. Einverstanden! Notwendig wäre also die Entwicklung selbstbestimmer Kollektive von unten! Unter dieser Begrifflichkeit habe ich in meinen letzten Arbeiten für denselben Gedanken plädiert. Anders gesagt, der Zusammenbruch des verstaatlichten Kollektivismus führt uns historisch vor die Chance und die Notwendigkeit, das Kollektiv als Arbeits- und Lebenseinheit von unten wieder zu erobern, so wie uns der Zusammenbruch des verstaatlichten Sozialismus genereller vor die Aufgabe führt, den eigenen Standort im Klassengeschehen neu zu finden und soziales Handeln daraus selbst neu zu bestimmen. Ich bin weitgehend einverstanden mit Deiner Beschreibung der „neuen Proletarität“. Die sozialen Differenzierung in der Sowjetunion und den ehemals sozialistischen Ländern sprechen ja eine mehr als deutliche Sprache – allerdings ihrerseits noch einmal zu differenzieren nach historischen, nationalen und kulturellen Aspekten. Linke Analytiker wie Boris Kagarlitzky und andere von der „Partei der Arbeit“, aber auch Liberale wie Andranik Migranjan und andere sehen die Entwicklung. Aus ihren Beschreibungen der Prozesse läßt sich vermutlich über Einsichten in die konkreten Probleme der Post-Sowjetunion hinaus einiges für die Erkenntnis der Gesamtentwicklung unserer heutigen Welt gewinnen.
Sind aber die Menschen, die jetzt aus der Phase des staats- also fremdbestimmten Kollektivismus, des etatistischen Super-Zentralismus heraustreten, praktisch oder gar in großer Zahl in der Lage und bereit, diesen notwendigen Schritt in einen von unten neu entwickelten und selbstbestimmten Kollektivismus zu tun? Das ist eine andere Frage. Es besteht ja durchaus die Gefahr, daß sie angesichts des Zerbrechens der alten Strukturen, an deren Stelle neue nicht erkennbar sind, in ihrer Hilflosigkeit trotz aller negativen Erfahrungen auf die gewohnten staatskollektivistischen Formen zurückgreifen, daß also nicht kooperativer, sondern korporativistischer Kollektivmus (wieder)belebt wird.
Hier ist die Brücke zum „Toyotismus“. Nicht von ungefähr erfreut sich das „japanische Modell“ in der Post-Union zunehmender Beliebtheit.
Für mich ist klar, daß wir mit der post-sowjetischen (Neu)Linken in den Dialog eintreten müssen, wenn wir neue Perspektiven entwickeln wollen.
Im Mittelpunkt sehe ich zwei Komplexe:
– die Analyse und Debatte der „großen Privatisierung“, ihrer Voraussetzungen und ihrer Ergebnisse – Differenzierung und allgemeine Proletarisierung der nach-tayloristischen Industriegesellschaft.
– die Analyse und Debatte der alternativen Formen der Privatisierung, in denen der historisch gewachsene russische Kollektivismus sich mit der Privatisierung zu einem neuen, eigenen Weg verbinden könnte.
Generell scheint mir der Übergang aus der Phase der Taylorisierung zu Methoden produktorientierter, an der Gesamtheit des Produktionsprozesses ausgerichteter und den arbeitenden Menschen allseitig im Rahmen eines Kollektivs einbeziehender Arbeitsorganisationen der unvermeidlich anstehende historische Schritt zu sein. Darin liegt aber Chance und Bedrohung zugleich: Die Frage ist, ob diese Entwicklung von oben oder von unten bestimmt wird. Von oben bestimmt, kann sie zu ungeahnten Formen totaler Gesellschaften führen. Von unten bestimmt, kann sie neue emanzipatorische Kräfte freisetzen – allerdings nur, wenn die Gefahren des Rückfalls in staatskollektivistische und staatssozialistische Denk- und Seinsstrukturen erkannt werden.   Beide Varianten liegen nah beieinander: In der Zielsetzung, den unvermeidlichen Übergang von der tayloristisch-etatistischen Arbeits-, Lebens- und schließlich Gesellschaftsorganisation zu neuen kollektiven Formen von unten zu bestimmen, bzw. auch der politischen Vermittlung dieser Zielsetzung, die die radikale Kritik des staatssozialistischen Versuchs dieses Weges mit einschließt, scheint mir der Inhalt der „neuen Proletarität“ zu liegen. Für die post-sowjetischen Verhältnisse formuliert: Welche Rolle spielt die Tradition der „obschtschina“, der alten russischen Dorfgemeinschaft, also des traditionellen russischen Kollektivivismus, für den Transformationsprozess des Staatssozialismus zu neuen Formen der Produktion und des gesellschaftlichen Lebens? Läuft sie in einseitigem Rückgriff auf die in ihr enthaltenen korporativistischen Elemente quer zur allgemeinen Proletarisierung, insbesondere aber deren bewußter Wahrnehmung oder kann sie sich mit Rückgriffen auf die darin enthaltenen kooperativen, emanzipatorischen, zum Teil auch anarchischen Elemente zu einer Kraft der Erneuerung von unten verbinden?
Ich wünsche mir sehr, daß wir diese Fragen an Hand von konkretem Material tiefer diskutieren und so der linken Verzweiflung ein wenig beikommen können. Die Gefahren, daß „Toyotismus“ von oben und nicht selbstbestimmter Kooperativismus von unten den Gang der weiteren Entwicklung bestimmt, sind nach der historischen Diskreditierung staatskollektivistischer Gesellschaften, insbesondere des Staatssozialismus groß. Es bleibt aber keine Wahl, als durch die radikale Kritik des Staatssozialismus und der Analyse seiner Zerfallsformen mindestens den Versuch zu machen, das, was entstehen könnte, herauszuarbeiten.

In der Hoffnung auf eine nicht allzulange ausbleibende Antwort,
Mit freundlichen Grüßen

(Kai Ehlers)

Russlands Übergänge: Der Westen auf dem Prüfstand IWF, Weltbank und andere im Zugzwang?

Tokio Juli 1993, Weltwirtschaftsgipfel der G-7-Staaten. Hat Boris Jelzin es geschafft? Eine halbe Million Unternehmen habe man bereits privatisiert, die Inflation unter Kontrolle gebracht, der Rubel stabilisiere sich, so konnte man ihn dort vernehmen. Mit Dank nahm er ein neuerliches Versprechen auf Einrichtung eines mit drei Milliarden Dollar veranschlagten Privatisierungsfonds entgegen. Im Grunde aber, so Russlands stellvertretender Vizepremier, Alexander Schochin, gehe es schon nicht mehr allein um die finanzielle Unterstützung, selbst nicht um die 50 Milliarden, die die G-7-Staaten Boris Jelzin auf ihrer Sonderkonferenz im April in Tokio versprochen hatten, sondern um die Anerkennung Russlands als Großmacht und als Land mit einer funktionierenden Marktwirtschaft. Dazu gehöre, dass die G7-Staaten ihre Handelsbarrieren gegenüber Russland abbauten. Früher oder später, so Jelzin schließlich gegenüber der Presse, werde es nicht mehr Gruppe der sieben, sondern Gruppe der acht heißen.
Das sind erstaunliche Töne, wenn man bedenkt, was Boris Jelzin sich erst vor ein paar Monaten einhandelte, um das Referendum, das ihn als Präsidenten bestätigen sollte, bestehen zu können: Mit der 50 Milliarden-Stütze des Tokioter April-Gipfels im Rücken versprach er, die Renten an die Inflation anpassen, die Minimallöhne verdoppeln, den Bergarbeitern bessere Arbeitsverhältnisse schaffen, den staatlichen Eigenheimbau finanzieren zu wollen. Die Energiepreise, die soeben erst freigegeben worden waren, sollten wieder eingefroren, den Betrieben die Gelder zur Verfügung gestellt werden, die sie brauchen, um den zu der Zeit eben erlassenen Verordnungen des Präsidenten gemäß bei Verkauf, Sanierung und Rationalisierung ihre Belegschaften halten zu können. Das Niveau der Arbeitslosenzahl sollte auf diese Weise gedrückt werden. Schließlich musste Boris Jelzin den autonomen Republiken und den nach Unabhängigkeit von Moskau strebenden Regierungsbezirken auch noch die Verfügung über ihre wirtschaftlichen Ressourcen zugestehen.
Andererseits war klar: Der Präsident muss den Rubel als Leitwährung im ehemaligen sowjetischen Raum stabilisieren. Er muss die Inflation eindämmen, indem er das Haushaltsdefizit in den Griff nimmt und die zügellos druckende Notenpresse an die Leine legt. Er muss den ins Stocken geratenen Privatisierungsprozess vorantreiben, insbesondere die Privatisierung von Grund und Boden durchsetzen. Gelingt ihm dies alles nicht, wird er nicht in den Genuss der 50-Milliarden-Dollar-Kredite kommen.
Investitionen in die Zukunft seien dies, ließen die Amerikaner auf der Linie ihres um ein Reform-Image bemühten neuen Präsidenten Clinton verlauten. Von Hilfe zur Selbsthilfe war in dem Tagungs-Kommunikee` die Rede, von neuen, am sichtbaren Erfolg orientierten Strategien. Das menschliche Gesicht des Kapitalismus müsse den Menschen in der ehemaligen Sowjetunion erkennbar werden, damit der Transformationsprozesses erfolgreich verlaufen könne. Andernfalls könne es zu bösen Rückschlägen und antiwestlichen Stimmungen mit unabsehbaren Folgen für die sogenannte Weltgemeinschaft kommen.
Neue Töne in der Russlandhilfe?
Es scheint so. Bei genauem Hinsehen erweist sich das Kommunique` von Tokio jedoch vor allem als ein grandioses Medienmanöver, mit welchen dem wachsenden Unmut über die von der Jelzin-Regierung namens IWF, Weltbank und anderen westlichen Institutionen betriebene Politik der Wind aus den Segeln genommen werden soll. Das gilt insbesondere für die Forderungen der gewerkschaftlichen Opposition nach „Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen“. Die versprochenen 50 Milliarden von Tokio waren zunächst nichts anderes als das nicht eingelöste, mit neuen Aufschriften versehene und noch ein wenig weiter aufgeblasene 24-Milliarden Kreditversprechen, mit dem die „G-7“-Länder Anfang 1991 Boris Jelzins „demokratische Revolution“ honorierten.
Das sind unter anderem:
– ein Rubel-Stabilisierungsfond mit 6 Mrd. Dollar,
– ein 4,1 Mrd. Beistandskredit des IWF, sowie ein 4,5 Mrd. Darlehen der Weltbank,
– 14,2 Mrd. für „Strukturreform und essentielle Importe“: Darin verbergen sich 10 Mrd. gewöhnliche Exportkreditzusagen, ebenfalls aus dem Vorjahr, zudem 500 Millionen für (westliche) Investitionen in die russische Ölindustrie sowie „kleinere Posten.
– Schließlich erklärten sich die „G-7“-Chefs bereit, die in diesem Jahr fälligen Auslandsschulden der früheren Sowjetunion zu stunden. Im Gegenzug wurde Russland zur Anerkennung dieser Alt-Lasten gezwungen. Dieser Vorgang wird dem Hilfspaket mit 15 Mrd. dazugerechnet.
Tatsächlich „neues Geld“, in diesem Punkt sind sich sämtliche sonst zerstrittenen Wirtschafts-Berichterstatter und Berichterstatterinnen ausnahmsweise einig, enthält nur der dem IWF von der „G-7“-Konferenz vorgeschlagene neue „Fond für die System-Umwandlung“. Dabei geht es um einen Drei-Milliarden-Dollar-Kredit, der in zwei Teilen von je 1,5 Mrd. auszahlbar sein soll. Um den ersten Teil zu erhalten, soll in Zukunft das Versprechen genügen, die Geld- und Steuerpolitik, sowie die Hyperinflation in den Griff zu bekommen. Für die zweite Hälfte, die innerhalb eines halben Jahres nachgefordert werden kann, sollen die versprochenen Reformen allerdings schon erste erkennbare Erfolge zeigen müssen.
Dem IWF solle, so hörte man es aus Tokio, damit erleichtert werden, seine Kreditbedingungen herunterzuschrauben, damit aufgestaute Gelder endlich „abfließen“ könnten. Nichtsdestoweniger wurde dies in dem Kommunique` der „G-7“ ausdrücklich daran gebunden, dass Russland seinen politischen Willen zu durchgreifenden Reformen sichtbar mache. Anders gesagt, ob ein Alexander Ruzkoi, zurzeit Vizepräsident und politischer Gegner Boris Jelzins, oder ein durch den Druck der Verhältnisse möglicherweise politisch gewandelter Boris Jelzin selbst die Kredite wirklich erhalten, hängt von ihrem Wohlverhalten gegenüber den westlichen Geldgebern ab.
„Neues Geld“ sind auch die 3,6 Mrd. Dollar „bilaterale Hilfen“, die das Kommunique` ankündigt. Das sind 1,8 Mrd. die Präsident Bill Clinton für Privatisierung und Abrüstung vom US-Kongress beschließen lassen möchte, sowie 1,8 Mrd. die Japan unabhängig von der Rückgabe der Kurilen bereit ist zu geben. Beides sind jedoch Versprechungen, die politisch erst noch durchsetzt werden müssen. Das lässt auch hier alle Hintertüren offen.

Neu ist schließlich die Ankündigung der „Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ (EBRD), kurz Osteuropa-Bank, die im Laufe der nächsten anderthalb Jahre einen Investitionsfond von 300 Millionen Dollar für Klein- und Mittelunternehmen aufbringen sowie eine „Mittelstandsbank“ in der russischen Föderation selbst aufbauen will. Außerdem soll das der Schwerpunkt ihrer Förderungen auf projektgebundene und technische Hilfe gelegt werden. Innerhalb von achtzehn Monaten soll das Programm verwirklicht werden, wie der deutsche Sprecher der Bank, Finanzminister Waigel erklärte – wenn es keine Verzögerungen gibt.

Die Ankündigungen der Europa-Bank, so niedrig das veranschlagte Kapital im Vergleich zu den Größen ist, mit denen IWF und Geldbank rechnen, sind der interessanteste Vorgang im aktuellen internationalen System-Transformationsgeschäft. Hier finden die Probleme, die Hilflosigkeit, aber auch die Suche nach neuen Wegen angesichts einer noch nie dagewesenen Situation ihren ersten institutionellen Ausdruck, mit denen sich die westlichen Finanz-Imperien und ihre östlichen Helfer bei der Aufbereitung der realsozialistischen Hinterlassenschaft gegenübersehen.
Die Bank wurde erst im April 1991 auf Vorschlag des französischen Präsidenten Mitterand gegründet. Die europäischen Länder halten darin die Aktienmehrheit. Die USA sind mit zehn Prozent beteiligt, haben aber kein Vetorecht. Damit ist die EBRF das einzige unter den internationalen Finanzinstituten, in denen die USA nicht mindestens über eine Sperrminorität verfügt. Ungewöhnlich schnell, nämlich innerhalb von drei Monaten nach Gründung, waren seine Statuten verabschiedet. Danach ist ihm die Rolle einer Osteuropabank, faktisch einer regionalen Entwicklungsbank für den Raum der ehemaligen sozialistischen Länder zugeschrieben.
Politisch gesprochen, ist der ehemalige sowjetische Raum damit endgültig zum Entwicklungsgebiet erklärt, nachdem der Beitritt der Sowjetunion zum IWF im April 1991, besonders aber die angestrebte Assoziierung mit der Weltbank bereits in diese Richtung zielten. Der neue Entwicklungsraum wird allerdings von den früheren Entwicklungsländern durch die besonderen Konditionen und Aufgaben unterschieden, die aus der System-Transformation entspringen. Der klassischen Definition der Entwicklungsländer wird damit die neue der Transformationsländer hinzugefügt. Auswertende Studien, auf deren Durchführung gerade die EBRF besonderen Wert legt, beginnen bereits mit der Entwicklung entsprechender Theorien.
Praktisch ist die Osteuropa-Bank zugleich Geschäfts- und Entwicklungsbank. 40 Prozent ihrer Aktivitäten sollen in Projekte des öffentlichen Sektors fließen dürfen. Mindestens 60% dagegen müssen satzungsgemäß auf die Förderung privater Unternehmungen entfallen. Auch werden die Mittel ausschließlich zu Marktbedingungen vergeben.
Dieser doppelten Grundkonstruktion entspricht eine doppelte Zielsetzung der Bank, die sich von den rein stabilitätsorientierten Konditionen, nach denen der IWF Kredite vergibt, aber auch von den nur entwicklungspolitischen Kriterien der Weltbank unterscheidet: Auf der Grundlage der Förderung der Privatinitiative soll die Bank einen Beitrag zur Schaffung demokratisch-pluralistischer Gesellschaftsstrukturen leisten. Das soll zum einen durch Bereitstellung von Beratungsdiensten bei der Errichtung entsprechender Institutionen geschehen, zum anderen indem sie nicht rein wirtschaftliche, sondern ausdrücklich „politische Konditionen“ setzt. Das bedeutet, dass sie Kredite nur an Länder vergibt, die demokratisch-pluralistische Grundsätze teilen, beziehungsweise in ihren Reformen aktiv verfolgen. Das ebenso ausdrückliche Bekenntnis zu Erhalt und aktivem Schutz der Umwelt rundet dieses Ziel ab. Man lässt keinen Zweifel: Exportiert werden soll „demokratische Marktwirtschaft“
Auf der ersten Jahrestagung der Bank im Mai 1992 überraschte der Vorstand Jaques Attali, französischer Sozialist wie Mitterand, mit einer erstaunlichen Bilanz: Im Lauf nur eines Jahres hatte die Bank über 2000 Projekte überprüft; ganze 20 hatte sie für förderungswürdig befunden. Das sei, wie Kritiker anmerkten, zwar mehr als der IWF und Weltbank in fünf Jahren an abgeschlossenen Kontrakten zustande gebracht hätten, aber gemessen am Anspruch der EBRF doch mäßig. Obwohl im Vergleich mit dem IWF und der Weltbank nur mit einem schmalen Grundkapital von 14 Mrd. Dollar ausgestattet, hieß das: Die Mittel der Bank überstiegen damit bei weitem ihre Anlagemöglichkeiten, auf Deutsch: Das Geld lag brach. Sollte die Bank einen Sinn bekommen, musste nach neuen Anlagekonditionen gesucht werden.
Jaques Attali machte keinen Hehl aus den Ursachen für die Misere: Es gebe keine Patentrezepte für den Transformationsprozess, ließ er verlauten. Insbesondere die Privatisierung laufe nicht, wie am Schreibtisch geplant. Das gelte besonders für die UdSSR. Ein wesentlicher Grund für die Misserfolge liege im Fehlen wichtiger Voraussetzungen: Keine Infrastruktur, fehlende gesetzliche Rahmenbedingungen, unternehmens- und investitionsfeindliches Klima, keine funktionierenden sozialen Versicherungssysteme, kein Banksektor, der die nötigen Kredite bereitstelle. Dazu kämen die bürokratischen Unklarheiten und komplizierten Privatisierungsregeln.
Soweit es Erfolge in der Privatisierung gegeben habe, dann ohnehin hauptsächlich in der „kleinen Privatisierung“, also der Entstaatlichung von Dienstleistungsbetrieben, Hotels, Restaurants und kleineren Läden. Die „große Privatisierung“ dagegen sei praktisch noch nicht in Gang gekommen. Das gelte insbesondere für die ehemalige UdSSR. Dort seien von den ca. 50.000 Großbetrieben nicht mehr als eine Handvoll verkauft.
Was Kritiker der Total-Privatisierung im Lande selbst schon längere Zeit mit Begriffen wie nomenklaturische oder bürokratische Privatisierung charakterisieren, was der Volksmund treffend als „Prixwatisierung“ (von „prixwatiwatj = an sich reißen, rauben) bezeichnet, dafür fand Attali vor dem erlauchten Publikum der gut besuchten Banker-Jahresversammlung die Formulierung, die Entwicklung stehe vor der Alternative: „Marktwirtschaft oder eine von der Mafia beherrschte Wirtschaft“. Auch die zu dem Zeitpunkt für Anfang Oktober geplante Massenprivatisierung durch Kupons nach tschechischem Vorbild, sog. „Voucher“, drohe daran zu scheitern, dass die Einzelnen überhaupt kein Verständnis und keine Übersicht über diesen Vorgang hätten, die Mehrheitsanteile in die Hände von Spekulanten kämen und kein starker, produktionfähiger Eigentümer gefunden werde. 1992, schloss Attali, werde nicht die Erfolge bringen, die Boris Jelzin angekündigt habe, sondern werde mit Sicherheit das Jahr der Enttäuschungen sein.

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Der vom Präsidenten der EBRF vorgeschlagene Ausweg offenbarte das ganze Dilemma und auch die Fronten in der gegenwärtigen Transformations-, das heißt nach Lage der Dinge zurzeit, Privatisierungsstrategie: Er setzte sich für die Schaffung eines Sonderfonds für Re-Strukturierungen ein. Im Klartext bedeutet das: für die Aufpäppelung der maroden Staatsbetriebe, bevor sie privatisiert werden, genauer, um überhaupt Käufer für die Privatisierung zu finden.

Ja, mehr noch, Attali stellte die Frage, ob nicht die Erhaltung gewisser staatlicher Sektoren  unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen des Transformationsprozesses in seiner Gesamtheit sei. Namentlich in der Rüstungs- und Schwerindustrie wie in den Bereichen Stahl, Schiffbau und Kernenergie könne eine solche Restrukturierung nur mit Sondermitteln finanziert werden.
Jaques Attalis Vorschlag wäre in der Praxis gleichbedeutend mit der Korrektur der 40/60-Regelung der „Osteuropa-Bank“. Er war darüber hinaus eine offene Attacke gegen die von IWF und Weltbank vertretene Linie, nach der die Freigabe der Preise und die Total-Privatisierung Voraussetzungen für westliche Kredithilfe sind. Mit dieser Vorgabe hatten die „G-7“-Länder im Juli 1991 den nach einem Weg des schrittweisen Übergangs zwischen staats- und privatwirtschaftlichen Strukturen suchenden Michail Gorbatschow mit leeren Händen von ihrem Londoner Gipfel zurückkehren lassen, während sie parallel dazu mit seinem Konkurrenten Boris Jelzin bereits an der Ausarbeitung eines „Schockprogramms“ nach polnischem Muster arbeiteten, das den allmählichen Weg ausdrücklich verwarf. Einen Monat später war Gorbatschow gestürzt. Boris Jelzin verkündete die Richtlinien des IWF-Stabilisierungsprogramms als Leitlinie seiner Wirtschaftspolitik: Preisfreigabe, Privatisierung, Haushaltsstabilisierung, also Subventionskürzungen und Kürzung der Sozialausgaben, freie Konvertibilität und Stabilisierung des Rubels als Leitwährung im ehemaligen sowjetischen Raum. Innerhalb eines Jahres wollte er die Privatisierung abgeschlossen, die Produktivität auf dieser Basis neu angekurbelt, die Talsohle der Krise durchschritten, die Inflation gestoppt haben.
Das Ergebnis ist genau umgekehrt: Die Inflation beträgt zurzeit 135 Prozent. Das Privatisierungsprogramm stockt. Die Forderung, den Rubel als Leitwährung zu erhalten, erweist sich als Fiktion, für deren Verwirklichung Moskaus Kraft in der G.U.S. und der weiter auseinandertreibenden russischen Föderation nicht ausreicht.
Die Industrieproduktion, so die offiziellen statistischen Daten, ging 1992 um 19 Prozent zurück. Das hat sich zwar in den einzelnen Branchen unterschiedlich ausgewirkt. Im Ergebnis ist aber nicht die erwartete Umstrukturierung in Richtung auf Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung erreicht worden: Vielmehr hat sich der Anteil der Leichtindustrie am gesamten Produktionsvolumen von 16,6 Prozent 1991 auf 7,7 Prozent 1992, der der Nahrungsmittelindustrie von 17,8 Prozent auf 9,6 Prozent verringert. Die landwirtschaftliche Produktion sank um 9 Prozent, in den ersten drei Monaten des Jahres `93 steigerte sich der Schrumpfungsprozess der Nahrungsmittelindustrie auf eine Jahresdurchschnittsrate von 25 Prozent. Im April gab das „Goskomstat“ die Meldung heraus, dass in der Hälfte aller russischen Städte kein Brot, in einem Drittel kein Fleisch zu kaufen sei. Die Weizenernte für 1993 wird nach Erwartung des Landwirtschaftsministeriums 94 – 98 Millionen Tonnen, statt der durchschnittlichen Ernte von 150 Millionen Tonnen betragen. Zur gleichen Zeit aber ist der Anteil der Grundstoffindustrie gestiegen.
Im Übrigen habe die Talfahrt, so die Zeitung „Ökonomia i schisnj“, aber nicht dazu beigetragen, den Anteil veralteter Produkte zu verringern. Im Gegenteil: Der Rückgang betreffe vor allem die neueren und effektiveren Produktionsbereiche. Das technische und industrielle Niveau sinke beständig. Diese Rückschläge erhöhten zugleich die Abhängigkeit von Importen und gleichzeitig verliere Russland seine früheren Anteile am Weltmarkt.
Das resultiert vor allem, ist hinzuzufügen, aus dem Zusammenbruch des Comecon-Marktes, während der „Weltmarkt“, sprich die Grenzen der führenden Industrieländer, nach wie vor gegen „Billigimporte“ aus dem Osten abgeschottet wird. So hat sich im Zeitraum von 1991 bis 1992 der Anteil der exportierten Produktion an der Gesamtproduktion bei Roheisen beispielsweise von 6,5 Prozent auf 2,9 Prozent verringert, bei Stahlrohren von 0,7 auf O,3 Prozent, bei Drehbänken von 4,3 auf 3,3 Prozent, bei Bussen von 1,3 auf 0,4 Prozent usw.
Die Vertiefung der Strukturkrise der Industrie ist begleitet von einer starken Reduktion der Investitionen. Waren sie im Jahr 1991 gegenüber dem Vorjahr um 11 Prozent gesunken, so erreicht das Minus 1992 bereits 26 Prozent. Die Hoffnung, dass im Zuge der Privatisierung Betriebe, Banken und Privatunternehmer verstärkt investieren würden, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil kam es auch hier zu einem Rückgang um 40 Prozent. Nur 8 Prozent ihrer Gewinne verwenden die Betriebe für Investitionen.
Insgesamt hat die Politik der letzten Jahre, so die mehrheitliche Bewertung im Lande selbst, zur Konservierung der alten industriellen Strukturen geführt. Von der Gewerkschaft hört man es in derberen Formulierungen, die an Attalis Warnung erinnern: Die Staatsmonopole hätten sich in Mafiamonopole verwandelt, die von Kauf und Weiterverkauf profitierten, während die Bevölkerungsmehrheit im Elend versinke.
Statt zu investieren, so kann man im Land selbst von Mitarbeitern großer Werke wie beispielsweise der ehemaligen Panzerschmiede des „Kiewwerks“ in St. Petersburg erfahren, werden die Einnahmen aus der reduzierten Produktion, einschließlich der ebenfalls reduzierten Subventionsgelder nicht erst seit Boris Jelzins neuestem Erlass benutzt, um wenigstens die qualifizierten Teile der Arbeiterschaft und der Führungskräfte weiter im Lohn zu halten. Zu diesem Zweck werden Firmenliegenschaften verkauft, um den Bankrott Monat um Monat hinauszuschieben. Das betrifft vor allem Werte aus dem bisherigen sozialen Bereich wie Ferienhäuser, betriebseigene Krankenhäuser, aber auch Lagerhäuser, lang angelagerte Rohstoffe, kurz, alles, was nicht niet- und nagelfest ist und sich irgendwie zu Geld machen lässt: Man lebt vom Eingemachten! Jelzins Erlass kurz vor dem Referendum war nur die Legitimation einer ohnehin geübten Praxis. Dass er damit gegen die IWF-Auflagen verstößt, der die Streichung der Subventionen verlangt, um durch Verkauf oder Bankrottierung der maroden Betriebe den Naturzustand marktwirtschaftlicher Konkurrenz herzustellen, liegt auf der Hand. Vor dem Referendum hat man ihm das großzügig zugestanden. Wie aber wird es jetzt sein?
Ähnliches gilt auf dem Lande. Dort kommen die früheren Staatsbetriebe, also Sowchosen, Kolchosen, durch die Preisfreigabe in die Zange. Auf der einen Seite sehen sie sich frei ansteigenden Preisen für Industrie- und sonstige Fertigprodukte sowie Strom-, Kohle, Öl und Benzin gegenüber, die sie für ihren Betrieb brauchen. Auf der anderen Seite drücken die monopolisierten Zwischenhändlerringe die Preise für Fleisch-, Milch, Korn- und sonstige landwirtschaftlichen Produkte ebenso frei unter die Selbsthaltungskosten. Unter diesen Umständen sind viele Sowchosen und Kolchosen dazu übergegangen, landwirtschaftlichen Anbau und Tierhaltung zu reduzieren, oder ihre Produkte gar zu vernichten und ihr Vieh abzuschlachten.
Der Aufbau einer privaten Landwirtschaft, der ohnehin zur Zeit nicht mehr als 2 – 3 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion umfasst, verfängt sich notgedrungen in demselben Gestrüpp aus zerfallendem, durch die Privatisierungserlasse der Regierung  auch noch bewusst liquidierten Kollektivbetriebe zum einen und dem neu etablierten Mafia-Monopolismus zum anderen. Von Markt, freier Konkurrenz, Demonopolisierung und dadurch entstehenden Anstößen zu neuer Produktivität ist vorerst nur die Rede.
Für die aktuellen politischen Auseinandersetzungen ist es übrigens nicht unwichtig zu wissen, dass die die Verordnung zur Umstrukturierung der Sowchosen die Unterschrift Alexander Ruzkois trägt, der diesen Vorgang bis Ende 1993 abgeschlossen haben wollte.
Ebenso katastrophal sind die Auswirkungen des „Schockprogramms“ auf die Sozialstruktur, die in der Vergangenheit über die Zugehörigkeit zu Arbeitskollektiven, also über Sowchosen, Betriebe, Institute und „gesellschaftliche Organisationen“, also die Partei und ihre diversen Massenuntergliederungen getragen wurde. Wenn diese totale Organisationsform des alten Staatssozialismus jetzt zerrissen wird, müssten der neue von wirtschaftlichen Aufgaben entlastete Staat, bzw. privatwirtschaftlich geführte Institute wie Versicherungen usw. nach der Theorie der IWF-Sanierer die Fürsorgepflicht übernehmen. Praktisch aber wird der Staat durch die Auflagen des IWF der Mittel entblößt, die dazu nötig wären und private Unternehmer verfügen weder über das Kapital, noch das Interesse, sich diese absehbar unprofitablen Verpflichtungen aufzulasten. Praktisch führt das zum Zusammenbruch der sozialen Versorgung. Die Transformation des sozialistischen Versorgungsstaats erweist sich so als Weg in die Wolfsgesellschaft, in der der Staat die Verantwortung für das Individuum ersatzlos abstößt. Was Bill Clinton in Amerika für vorrangig reformbedürftig hält, das brutale System der privaten amerikanischen Sozial- und Gesundheitsversorgung, wird von seinen Emissären als Weisheit letzter Schluss in die
ehemalige Sowjetunion exportiert.
All dies bedeutet nichts anderes, als dass die klassischen Rezepte des Finanz-Imperialismus hier an ihre Grenzen stoßen: Russland ist nicht in der Lage, die Auflagen des IWF zu erfüllen; der IWF ist außerstande, sie durchzusetzen. So bekommt die bekannte sowjetische Redewendung „Der Staat tut so, als ob er zahlt und wir tun so als ob wir arbeiten“ nur ihre zeitgemäße Form, wenn der Verfasser des „500-Tage-Programms“, Grigorij Jawlinski, inzwischen zum Kritiker konvertiert, spottet: „Der Westen tut so, als ob er Kredite gibt und wir tun so, als ob wir reformieren.“
Potemkinsche Züge sind dabei nicht zu übersehen: So berichteten die in Moskau lebenden Kontrolleure auf der Herbsttagung des IWF 1992 über einen bemerkenswerten „Trick“, mit dem die russischen Direktoren der Großunternehmen die Auflagen des IWF, insbesondere die der Subventionskürzung unterlaufen: Sie sind dazu übergegangen, sich untereinander beliebig hohe Lieferantenkredite zu bewilligen – im Vertrauen darauf, dass die russische Regierung bezahlen muss. Auf gute drei Billionen Rubel waren diese Kredite im September 1992 nach IWF-Schätzung angeschwollen. Die dadurch in Gang gesetzte Kreditspirale, klagten die IWF-Kontrolleure, habe nicht nur die wirksame Kontrolle der Geldpolitik ausgeschaltet. Die wenigen mit Gewinn arbeitenden Betriebe subventionierten auf diese Weise auch die große Masse der Verlustunternehmen. Gegen diese Dauersubventionierung hätten private Betriebe keinerlei Chance.
Schaurige Geschichten erzählen sich die Finanzfachleute auch über den Kompetenzwirrwarr in Moskau – aber nicht etwa nur auf der russischen Seite. Das ist angesichts der Machtkämpfe wohl ohnehin klar. Chaos, scheint es, herrscht nicht minder in den IWF-Gremien selbst: Es mangelt, freundlich gesagt, an Koordination. So verlangt die mit den Hauptabwicklungen in Russland betraute Abteilung Europa II den raschen Abbau der Haushaltsdefizite und der Inflation. Die Statistikabteilung besteht darauf, dass erst Daten gesammelt werden müssten, um die Inflationsrate, die Höhe der Staatsverschuldung ua. überhaupt errechnen zu können. Die für die Steuerreform zuständige Abteilung wiederum erklärt ihren russischen Partnern, diese Fragen ließen sich erst regeln, wenn eine Steuerverwaltung aufgebaut worden sei, die neue Einnahmequellen erschließe. Sie alle beraten die Regierung.
Vor diesem Hintergrund sind auch die neuesten Erfolgsmeldungen der russischen Regierungsvertreter in Tokio mit Skepsis zu betrachten.
Es wundert wohl niemanden, dass der Präsident der Osteuropa-Bank mit seiner Kritik auf den erbitterten Widerstand der IWF- und Weltbank-Hardliner stieß. „Ihr sollt die Staatsbetriebe verkaufen, statt sie neu zu finanzieren“, wies ihn der US-Finanzminister Nicholas Bradley vor den 1500 Gästen und 400 Delegierten in aller Öffentlichkeit zurecht. „Sozialistische Träumereien“ entdeckten andere Kritiker bei dem Präsidenten. Inzwischen hat Attali dem Druck nachgegeben und seinen Rücktritt erklärt.
In der Tat, die Vorstellungen Jaques Attalis können ihren Ursprung aus der sozialdemokratischen Tradition nicht verleugnen. Sie decken sich zudem in weiten Strecken mit denen der russischen Opposition gegen die Total-Privatisierung. Das ist die im Westen als alt-kommunistisch beleumundete Direktoren-Union, die sich im Interesse einer anders verstandenen Stabilität und eines langsamen Übergangs gegen die Hauruck-Auflösung der Staatskollektive wehrt.
Ja, es mag ihnen beiden gefallen oder nicht, die Argumente des Bankers decken sich sogar mit denen der gewerkschaftsorientierten Reformlinken des Typs „Partei der Arbeit“, die für eine gemischte Privatisierung eintritt. Darunter versteht sie die Erhaltung, bzw. unter den gegebenen Umständen sogar die Wiederherstellung der Staatslenkung für industrielle Großbetriebe und Teile der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Förderung mittelständischen Privatunternehmertums auf der Basis rechtlicher Garantien des Privateigentums an Produktionsmitteln.
Übereinstimmung besteht zwischen allen eben Genannten darüber hinaus in der Ablehnung der zur Zeit geübten, durch Bill Clinton soeben wiederholten „Staat-zu-Staat-Hilfe“, des Weiteren in der Kritik an der Zentrums-Fixierung der IWF-Politik, wie sie sich in der an Moskau gerichteten Forderung nach Erhaltung des einheitlichen Rubelraums niederschlägt. Schließlich trifft man sich unter der gemeinsamen Formel „Handel, statt Hilfe“, die nichts anderes besagt, als dass die schönsten Kredite das siechende Russland nur weiter in die Abhängigkeit und Verschuldung stoßen, wenn die Geberländer nicht zugleich ihre protektionistische Politik gegen „Billigimporte“ aus den post-sowjetischen Ländern aufgeben.
Wie wenig diese Positionen jedoch mit den üblichen Links-Rechts-Schemata zu fassen sind, zeigen einschlägige Stimmen von ganz anderer Seite. Alt-Berater Henry Kissinger mahnt die amerikanische Regierung, den Doppelcharakter der „Revolution im Osten“ zu begreifen: die Auflösung des siebzigjährigen Staatssozialismus zum einen und des über hunderte von Jahre alten russischen Imperiums zum zweiten. In einem Land, das niemals Demokratie gesehen habe, hänge deren Entwicklung von komplizierteren Faktoren ab als davon, wie man den Rubel konvertibel machen könne. Auch er fordert den dezentralen Dialog mit den Nachfolgestaaten der Union, anstelle von „Gipfeln“ mit Moskau. Auch er fordert gezielte Hilfe, statt allgemeiner makroökonomisch orientierter Kreditpolitik.
Die „Trilaterale Kommission“, jener halbkonspirative internationale Schatten“gipfel“, in dem sich vornehmlich altgediente bürgerliche Führungskräfte ein Stelldichein geben, appellierte auf ihrer letzten Jahrestagung vor wenigen Wochen an ihre amtierenden Kollegen, sich „gezielten Maßnahmen unter Umgehung der Zentralregierung in Moskau“ zuzuwenden. In Moskauer Machtkampf werde zurzeit nicht zwischen Demokratie und Rückkehr zum Kommunismus, nicht zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus entschieden. Es gehe allein darum, ob Russland sich mit der Rolle eines Nationalstaates unter anderen begnüge, oder ob die Kräfte siegten, die eine Re-imperialisierung anstrebten. Wenn der Westen glaube, er könne Russland beim demokratischen und marktwirtschaftlichen Wandel helfen, verkenne er die Lage. Seine Hilfe könne nur den Sinn haben, Zeit zu gewinnen und darauf hinzuarbeiten, den gemäßigten Kräften zum Durchbruch zu verhelfen, die eine neue russische Gesellschaft ohne imperialen Ehrgeiz aufbauen wollten.
Im theoretischen Corps der „G-7“ werden seit Anfang `92 die Stimmen lauter, die eine Korrektur der Russlandpolitik fordern. Den Einsatz einer „G7 task force“ brachte ein Harald Malmgren im G7-Rat ins Gespräch. „Die Revolution gegen die zentrale Kontrolle“, begründet er seinen Vorstoß, „ist nicht nur eine Revolution gegen den Kommunismus und die Strukturen der Kommunistischen Partei. Es ist eine viel tiefer gehende Revolution gegen die Macht der Zentralbürokratie, die Nomenklatura, und die Clan-Stränge, die Moskauer Entscheidungen lange vor der Revolution von 1917 kontrolliert haben.“ Aufgabe der „G7-task-force“ werde es sein, den Westen von seinem gegenwärtigen Kurs runterzubringen und neue Schwerpunkte zu setzen: Die Unterstützung von selbsttragenden Projekten, die Entwicklung eines Binnenmarktes zwischen den ehemaligen sowjetischen Republiken, die Errichtung eines Büros gegenseitiger Marktkontrolle, eine Clearing-Stelle für den Austausch unterschiedlicher Währungen, eine „Brücke“, über die während einer Übergangsphase der Finanzfluss vom Zentrum zu den ausscheidenden Regierungen geregelt werden könne, wohin immer sie sich wenden wollten.

An Ideen und Erkenntnissen fehlt es nicht, wie man sieht. Auf der im September 1992 stattfindenden Jahrestagung in München aber wurden Boris Jelzins die Bitten um Auszahlung der versprochenen 24 Milliarden abschlägig beschieden. Stattdessen wurde er, nicht anders als ein Jahr zuvor Michail Gorbatschow, mit erneuerten Auflagen nach Hause geschickt. Wenn jetzt neue Töne zu hören sind, könnte das einer Einsicht in die Realität entsprechen, dass eine Fortsetzung der jetzigen Politik die an Weltherrschaft gewöhnten russischen Eliten zu dem Entschluss bringen könnte, die Zuflucht vor dem endgültigen Zusammenbruch der russischen Gesellschaft und damit ihrer Herrschaft in der Mobilisierung ihrer inneren Ressourcen für außenpolitische Abenteuer zu suchen. Ob den Worten der „G-7“ und Co. aber Taten folgen, wird letztlich daran zu messen sein, ob die Märkte des Westens tatsächlich für russische und andere Ost-Waren geöffnet werden. Solange die Transformationshilfen nur darin bestehen, über finanzpolitische Wege eine Zerschlagung der alten Strukturen zu erzwingen, ohne Neues an die Stelle setzen zu können oder – im Fall der eigenen Märkte – zu wollen, ist das ganze Gerede von der Aufnahme der ehemaligen Sowjetunion in den Weltmarkt nur eine Floskel, die verbirgt, dass die ehemalige Sowjetunion in einen neuen Rohstofflieferanten und ein neues Billiglohnland nach dem Muster der klassischen dritte Welt-Länder verwandelt werden soll. Die daraus resultierende soziale Verelendung und moralische Entwürdigung wird sich vermutlich die an den Lebensstandard einer Weltmacht, mindestens entsprechende Ansprüche  gewöhnte Mehrheit der russischen Bevölkerung vermutlich auch nicht gefallen lassen. Das könnte ihr Interesse und das ihrer Eliten zu einer unabsehbaren Allianz zusammenführen. Vor diesem Hintergrund haben die Auftritte der russischen Regierung auf der letzten G-7-Tagung im Juli zwar keine ökonomische Glaubwürdigkeit, aber ein großes politisches Gewicht.

Anmerkung
Die Informationen sind der laufenden Presse entnommen, die sich seit 1989 unter den Stichworten „IWF“, „Weltbank“, „Wirtschaft der Sowjetunion“ und neuerdings „Russlandhilfe“ im „Hamburger Weltwirtschafts-Archiv (HWWA)“ einsehen lässt. Dazu kommen einschlägige Fachveröffentlichungen, sowie eigene Recherchen vor Ort.

Pakete statt Bomben?

Ja, da stehen wir jetzt! Heute ruft keine "Arbeiter-Illustrierte-Zeitung" (AIZ), keine der Weltrevolution verpflichtete "Rote Hilfe": "Schützt die Sowjetunion!" - gegen die Konterrevolution. Heute titelt die bürgerliche Presse Europas, unterstützt von christlicher Caritas: "Helft Rußland" - gegen den Kommunismus.
Ja, soweit sind wir gekommen. Wie soll mensch sich verhalten, werde ich allenthalben gefragt? Ist es nicht unerträglich, wie der Zusammenbruch des realsozialistischen Gesellschaftssystems politisch ausgeschlachtet wird?

Weiterlesen

Antifaschistische Moral statt Politik? Über die Notwendigkeit, den eigenen Kopf zu gebrauchen:

Der Zusammenbruch des realen Sozialismus, insonderheit der Bankrott der SED, lässt auch in der hiesigen Linken, einschließlich KB, Untergangsstimmung aufkommen. Statt die Diskussion auf die Unterstützung des Demokratisierungsprozesses und die Erarbeitung einer neuen sozialistischen Perspektive zu konzentrieren, flüchtet man sich unter der Parole „kein Viertes Reich“ in traditionelle Warnungen vor einem drohenden Faschismus und drohenden Kriegsabsichten der imperialistischen Länder, besonders eines möglicherweise wiedervereinigten Deutschland. Was unter anderen Umständen nur ein Irrtum war, wird durch die besinnungslose Wiederholung in der jetzigen Situation zur restaurativen Farce, bzw. zum moralischen Rührstück. Mit antifaschistischem Rigorismus kann man vielleicht kurzfristig Stimmungen einer verunsicherten Linken einfangen, die VVN oder die SED wiederbeleben. Eine neue politische Glaubwürdigkeit kann man so nicht gewinnen.
Ich will versuchen, einige Bestimmungsstücke zu nennen, die in eine rationale Debatte um eine neue sozialistische Perspektive eingehen müssten.

Kai

1. Der Zerfall der ersten historischen Initiative für eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus bestimmt zurzeit die Dynamik der Geschichte durch die von ihm ausgehende Destabilisierung der herrschenden Weltordnung. Gorbatschows Programm der Perestroika ist keine sozialistische Erneuerung, sondern ein Notprogramm zur Liquidierung des realen Sozialismus. Gorbatschows Aufgabe bestand und besteht darin, die historisch unvermeidliche und überreife Liquidation des realen Sozialismus und dessen Überführung in kapitalistische Bahnen so kontrolliert wie möglich und mit geringst möglichem Einbruch an Stabilität innerhalb der UdSSR und im internationalen Rahmen zu vollziehen. Gorbatschows Kritiker haben ihrerseits keine Alternative, sondern bestenfalls eine Beschleunigung seines Programms anzubieten. Ob und wie lange es Gorbatschow unter dem Druck der wachsenden Widersprüche gelingt, den Übergang kontrolliert zu entwickeln, ist offen. Darin liegt z. Zt. die größte Gefahr für den Weltfrieden: Selbst ein auf das Territorium der UdSSR beschränkter Bürgerkrieg würde bereits Krieg auf einem Sechstel des Globus bedeuten. Seine Auswirkungen bis hin zum möglichen Zusammenbruch der Zentralmacht dieses Raumes auf die übrige Welt sind nicht kalkulierbar. Andererseits liegen in der von Gorbatschow angestrebten Dezentralisierung auch Keime zur Überwindung der aus der Systemkonfrontation resultierenden Stagnation und für ein neues Zusammenleben der Völker, wenn es der Völkergemeinschaft gelingt, den von Gorbatschow angestrebten kontrollierten Übergang von der alten zur neuen Ordnung erfolgreich zu unterstützen und krisengewinnlerische Alleingänge einzelner Staaten oder Völker zu unterbinden.

2. Der Zerfall des realsozialistischen Blocks setzt eine Wandlung der Nachkriegsordnung insonderheit in Europa, aber nicht nur dort, auf den Plan. Er beseitigt aber weder die Ursachen noch die Realitäten der deutschen Teilung. Schon die BRD allein hat sich zur Führungsmacht in Europa entwickelt. Ein vereinigtes Deutschland wäre sicher das Aus für das Gleichgewicht eines multistaatlichen Europa der vielen Völker, wie es gegenwärtig von allen Seiten angestrebt  wird. Besonders für die Völker Europas, einschließlich die der Sowjetunion, aber auch für die übrige Welt ist die Gefahr eines übermächtigen Deutschland im Zentrum Europas aus der Erfahrung der beiden Weltkriege und des deutschen Faschismus durchaus sehr lebendig und wird auch entsprechend als Bremse westdeutscher Vereinigungswünsche ins Spiel gebracht. Die herrschende westdeutsche Politik ist sich dessen bewusst und wird dadurch effektiv gebunden, wenn sie sich nicht rundum isolieren will.
3. Das atomare Patt ist von der neuen Entwicklung bisher ebenfalls nicht berührt. Nach wie vor ist selbst ein begrenzter Krieg gegen die Sowjetunion für jeden potentiellen Aggressor mit dem unkalkulierbaren Risiko des atomaren Schlagabtausches verbunden. Mehr noch: In einer UdSSR, die von den imperialistischen Ländern in die Enge getrieben würde, müsste und würde sich nach aller geschichtlichen Logik und angesichts der bedrängten Lage Gorbatschows aus reinem Selbsterhaltungstrieb die militärische Fraktion gegenüber der politischen
durchsetzen und zur Politik der Systemkonfrontation unter gewandelten Prämissen zurückkehren. Die Risiken einer solchen Situation sind für die imperialistischen Staaten unkalkulierbar.

4. Nur unter der Annahme einer absolut irrationalen Zuspitzung des globalen politischen Klimas ist eine solche Variante denkbar, dass sich „Falken“ in der NATO mit der Meinung durchsetzen könnten, dem bereits strauchelnden Gegner jetzt noch militärisch nachsetzen zu müssen. Sehr viel wahrscheinlicher ist der Versuch, das notwendige Krisenmanagement unter Führung und zum wirtschaftlichen Nutzen der imperialistischen Staaten zu betreiben, d.h. den strategischen Schwerpunkt von der militärischen auf die der kontrollierten politischen Liquidation des bisherigen sozialistischen Blocks unter Mithilfe Gorbatschows zu verlagern. Das neue NATO-Schlagwort, eines „high intensity peace“ anstelle des bisherigen „low intensity war“, deutet dieses strategische Verständnis an. Die Gefahr für den Weltfrieden liegt z. Zt. weniger in der gezielten Destabilisierung des bisherigen sozialistischen Blocks durch die imperialistischen Länder, als  darin, dass dieses Krisenmanagement auf Grund der inneren Dynamik des Zerfallsprozesses des bisher sozialistischen Lagers nicht gelingt.

5. Die ideologische Destabilisierung reicht weiter als bis zu den Ergebnissen des 2. Weltkriegs, sie reicht bis in die Anfänge des Jahrhunderts zurück. Die historische Initiative des realen Sozialismus, eine Alternative zum Kapitalismus schaffen zu wollen, ist nicht nur durch ihren ökonomischen und politischen, sondern auch durch ihren geistigen Zusammenbruch als Alternative zum Kapitalismus in den Augen der Völker inzwischen bis auf die geistigen Grundlagen diskreditiert. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der Entwicklung des realen Sozialismus wird sich nicht nur mit Lenins Umsetzung der Einsichten von Marx und Engels, sondern auch mit den Analysen, Prognosen und dem Menschenbild der Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus auseinanderzusetzen haben. In den Ländern des realen Sozialismus hat diese Debatte begonnen. Es gilt, sie aufmerksam zu verfolgen.

6. Aus dem Scheitern des ersten Versuchs einer historischen Alternative zum Kapitalismus folgt das Verlangen der Menschen dieser Länder, die zur Zeit unübersehbaren Vorteile des kapitalistischen Systems und der Lebensweise der westlichen Demokratien für sich in Anspruch zu nehmen. In der Befreiung der persönlichen Initiative vom pädagogischen Dirigismus eines Überstaats durch Wiederzulassung von Privateigentum, Markt und Mehrparteiensystem liegt zurzeit die historische Dynamik und einzige Chance für die Entwicklung dieser Länder. Das Scheitern des realen Sozialismus ist aber keineswegs der Beweis für die Richtigkeit eines naturwüchsigen Kapitalismus, sondern lediglich für den folgenreichen historischen Irrtum, Konkurrenz und unterschiedliche Klasseninteressen, denen der Kapitalismus der Jahrhundertwende freie Bahn ließ, per Dekret, gar Zwang und pädagogisierender Propagierung eines neuen Menschen abschaffen zu können, statt demokratische Wege für deren sozial gerechtere Austragung zu finden.

7. Der Kapitalismus in seinen höchstentwickelten demokratischen Formen wie in Schweden, wie in der BRD, der heute den Liquidatoren des realen Sozialismus, selbst den sog. Linken,  als Vorbild dient, ist trotz der hohen Lebensqualität, die er seinen jeweiligen Bürgern bieten kann, auch nicht das Modell der zukünftigen Gesellschaft. Der für ihn erhobene Anspruch einer „sozialen Marktwirtschaft“ schließt zum einen die realen sozialen Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und materiellen und psychischen Elendsverhältnissen der Menschen bis hin zu sog. repressiven Zwei-Drittel-Gesellschaften in den kapitalistischen Kernländern selbst mit ein. Er war und ist zum zweiten nur auf der Grundlage der brutalen, z.T. blutigen Ausbeutung der übrigen Weltbevölkerung möglich, einschließlich der sich zuspitzenden ökologischen Zerstörungen des gesamten Globus.

8. Kapitalismus wie realer Sozialismus sind zwei Ausdrücke derselben Wirklichkeit, nämlich der modernen Industriegesellschaft. Die Entwicklung der Industriegesellschaft ist heute an die Grenze zur Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit gekommen. Der Zusammenbruch des Versuchs einer ersten historischen Alternative zum Kapitalismus, insbesondere auch das von ihm hinterlassene ökologische Desaster, das jenes des Kapitalismus um vieles übersteigt und aus eigenen Kräften der realsozialistischen Länder mit Sicherheit nicht zu lösen ist, macht die Aufgabe, eine über Kapitalismus und realen Sozialismus hinausweisende Alternative zu entwickeln, jetzt praktisch vor aller Augen zu einer Frage der historischen Tagesordnung.

9. Die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs der realsozialistischen Welt, einschließlich der Folgen für die sozialistischen Gruppen und Parteien in den kapitalistischen Ländern und den Ländern der sog. 3. Welt, ist tatsächlich beängstigend. Es ist aber sinnlos, den Führern, noch sinnloser, den Bevölkerungen der realsozialistischen Länder Verrat am Sozialismus und Gefährdung der Nachkriegsstabilität vorzuwerfen, wie das zur Zeit in der Linken der BRD und auch im KB Mode wird, statt zu begreifen, dass diese zum einen die schwere Last einer historischen Trümmerbeseitigung zu tragen haben, bei der man sie nach Kräften dabei unterstützen sollte, dass dies auf demokratischem Wege gelingt, zum zweiten angesichts der krisenhaften Zuspitzung des Zusammenbruchs zunächst überhaupt keine andere Alternative haben, als Hilfe, Rettung und Vorbilder im Westen zu suchen.

1o. Wenn die Menschen, die sich als Staatssklaven des Sozialismus erlebt haben, das Recht auf Selbstbestimmung und Demokratie nach westlichem Muster fordern, dann muss mensch das ernst nehmen, auch wenn unsereins die Erfahrung gemacht hat, dass Freiheit im Kapitalismus durch die Gewaltverhältnisse des Geldes begrenzt wird. Wenn die Menschen, die keinen Markt, sondern nur Zuteilung kennen, in der die Initiative erstickt, jetzt Markt fordern, dann brauchen sie Markt. Den Menschen, die vierzig oder mehr Jahre Erfahrung mit dem realen Sozialismus hinter sich haben, angesichts ihrer Wünsche nach Marktfreiheit und Selbstbestimmung mit erhobenem Zeigefinger Verrat am Sozialismus vorzuwerfen, geht an der Wirklichkeit mit fliegendem roten Fähnchen vorbei: Gerade der als Staatsdoktrin seit vierzig oder siebzig Jahren allgegenwärtige moralinsaure pädagogische Dirigismus ist das, was diese Menschen hinter sich lassen wollen und müssen. Sie brauchen keine linken Pastoren aus dem Westen, die der realen Erfahrung mit dem realen Sozialismus Durchhalteparolen für die Erhaltung des Kommunismus entgegenstellen. Das haben sie bereits im Pionierlager, als Komsomolzen und im militärischen „Friedensdienst“ aus den Kochgeschirren gelöffelt. Das trieft seit Jahrzehnten aus der Parteipresse auf sie nieder. Sie brauchen die reale Erfahrung des Kapitalismus, um ihn überwinden zu können, so wie die westliche Linke den realen Zusammenbruch des realen Sozialismus brauchte, um über Alternativen jenseits von Kapitalismus und realem Sozialismus nachzudenken.

11. Trotz aller bisherigen Kritiken des realen Sozialismus auf der einen und des Kapitalismus auf der anderen Seite gilt offenbar auch in diesem Fall, dass das Kriterium der Wahrheit die Praxis ist. Der tatsächliche Zusammenbruch des realen Sozialismus offenbart mehr und wirkt nachhaltiger als jede noch so geschliffene theoretische Kritik es je vorher vermochte. Das gilt auch für die Linke, die erst jetzt vor den wirklichen Dimensionen der politischen und menschlichen Deformationen erschrickt, zu der die Entwicklung des realen Sozialismus geführt hat. Ebenso werden die Grenzen des Kapitalismus und westlicher Demokratie erst dann erfahrbar, wenn sie sich als Alternative bewähren sollen.

12. Noch sinnloser ist es, den Verlust des bisherigen Weltbildes und den Zusammenbruch der gewohnten ideologischen und politischen Stabilität durch hysterische Flucht in ideologische Notprogramme ausgleichen, indem man jetzt mangels anderer Alternativen den Kampf gegen ein „Viertes Reich“ zum Dreh und Angelpunkt der zukünftigen Politik erklärt und wieder einmal das Gespenst der imperialistischen Kriegsabsichten  an die Wand malt, statt gerade angesichts der aufgeputschten Gefühle zu einer rationalen Befassung mit den wirklichen Problemen beizutragen, es mindestens zu versuchen.

13. Tatsache ist, dass im Bereich des bisherigen sozialistischen Blocks starke Sprengkräfte entstehen. Sie reichen von der einseitigen Aufkündigung des RGW, über nationale Sonderwege sowjetischer Republiken, die Ablösung der Einparteienherrschaft der Kommunistischen Parteien bis hin zu scharfen Klassendifferenzierungen der seit Jahrzehnten geleugneten Klassenrealität in den einzelnen Ländern. Im historischen Pendelschlag scheint die staatssozialistische Zwangseinheit in staatliche, nationale, klassenmäßige und gar individualistische Elemente auseinanderzufallen, die sich in der Konfrontation mit den Beharrungskräften von berechtigten Forderungen nach Selbstbestimmung bis hin zu Nationalismus und bewaffneten Kämpfen steigern. Im Gegenzug formiert sich eine auf Stabilität orientierte rechte Massenbewegung, die den Boden für restaurative staatliche Manöver abgeben kann. Diese Entwicklung setzt gefährliche restaurative, chauvinistische und rassistische Kräfte frei.

14. Die imperialistischen Länder verlieren durch den Zusammenbruch ihres Systemsfeindes zwar eine wesentliche Grundlage zur Legitimation ihrer Politik, d.h. auch sie verlieren an ideologischer Einheit, mit der sie untereinander und in ihren eigenen Grenzen gegen den Systemfeind verbunden waren. Das bedeutet auch hier eine Lockerung lang gewachsener Bindungen, auch hier die Gefahr nationaler Sonderwege und politischer Extravaganzen. Entscheidender als das aber ist der Spielraum, den sie durch die ökonomische, politische und geistige Öffnung des bisher verschlossenen Raums z. Zt. gewinnen. Es ist eine Invasion ohne Kanonen. Faschistische, einfach gesprochen, gewaltsame Lösungsversuche zur Bewältigung der neuen Entwicklung sind in den Herrschaftsetagen der bürgerlichen Regierungen angesichts der Tatsache, dass die Länder des realen Sozialismus sich ihnen z. Zt. freiwillig zur Ausbeutung anbieten und mit fliegenden Fahnen zur bürgerlichen Demokratie überwechseln, sowenig in Sicht wie ein von ihnen beabsichtigter Krieg gegen die Länder des realen Sozialismus. Eine solche Politik wäre, um es ganz klar zu sagen, für die imperialistischen Länder zurzeit absolut kontraproduktiv. Die neuen Spielräume erlauben ihnen im Gegenteil auch noch, ihre seit Jahren entwickelte Befriedungspolitik auf Kosten der Länder des realen Sozialismus weiter zu stabilisieren.

15. In dieser Situation ist es zwar richtig, gegen den Rückfall in nationalistische Sonderwege gleich wo auf der Welt und insbesondere im eigenen Land wachsam zu sein. Das ist immer richtig. Aber der traditionelle Anti-Nationalismus, Anti-Faschismus, Anti-Militarismus, Anti-Imperialismus und als Steigerung die Bildung einer Anti-Widervereinigungsfront gegen die Gefahr eines „Vierten Reiches“ sind kein Programm, das die gegenwärtige Entwicklung erfasst. Gerade angesichts der durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Länder erweiterten Spielräume der imperialistischen Staaten führt die Beschwörung eines angeblichen nationalistischen und faschistischen Katastrophenkurses der imperialistischen Länder, insbesondere eines drohenden „Vierten Reiches“ der Deutschen in die Irre. Sie mag augenblicklichen Massenstimmungen, besonders der Stimmung einer heillos verängstigten und verwirrten Linken entsprechen, aber zur Beschreibung der Wirklichkeit und der Entwicklung einer sozialistischen Alternative taugt sie rein gar nichts!

16. Sinnvoller als diese alten Klischees aufzuwärmen, in denen „Sozialismus“ und „Kommunismus“ auf einen, noch nicht einmal sachlich, sondern rein moralisch begründeten Antifaschismus reduziert werden, ist es erstens, die Bemühungen um demokratische Lösungen des Wandels in den realsozialistischen Ländern mit allen Kräften zu unterstützen, auch wenn einem deren Orientierung an den westlichen Demokratien nicht passt und zweitens die Arbeit für die Entwicklung einer neuen sozialistischen Alternative zu organisieren, die die Erfahrungen aus dem Bankrott der ersten historischen Alternative zum Kapitalismus in sich aufnimmt und über die Grenzen des jetzigen Kapitalismus und seiner verschiedenen zur Zeit entstehenden sozialdemokratisch-sozialistischen Mischformen hinausführt.

17. Sowohl zur Unterstützung der Demokratisierung als auch zur Erarbeitung eines solchen Entwurfs bedarf es aber mehr als moralischer Appelle gegen ein „Viertes Reich“ und mehr als der Verurteilung der Konsumgeilheit der aus dem realen Sozialismus entlassenen Menschen. Dazu muss mensch zunächst die Totalität des Scheiterns dieses ersten sozialistischen Versuchs und die daraus folgende historische Dynamik der Dezentralisierung, Pluralisierung und Demokratisierung als realitätsbildende Kraft begreifen, die zum Durchbruch drängt, deren Erfolg aber alles andere als eine ausgemachte Sache ist. Man muss den Menschen zuhören, welche Erfahrungen sie mit ihrem Sozialismus gemacht haben und auf welche Grenzen sie bei ihrem jetzigen Eintritt in den Kapitalismus stoßen und ihnen unsere Erfahrung mit der heutigen bürgerlichen Demokratie zur Verfügung stellen, positiv wie negativ. Nicht mehr und nicht weniger.

18. Eine längerfristige Alternative ergibt sich daraus allein noch nicht. Es ergibt sich daraus erst einmal nur der endgültige Beweis, dass weder bisheriger Kapitalismus, noch realer Sozialismus die Utopien von Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit verwirklichen konnten, die am Beginn des Industriezeitalters standen. Diesen Beweis erbracht zu haben, ist die historische Bedeutung des Zusammenbruchs des realen Sozialismus, nachdem der Faschismus der 30er Jahre dies für die kapitalistische Welt bereits nachhaltig geleistet hat. Es bleibt also keine andere Wahl, als den eigenen Kopf zu benutzen, um die Grenzen der Industriegesellschaft in ihren kapitalistischen und sozialistischen Varianten zu analysieren. So lassen sich vielleicht Konturen einer zukünftigen sozial gerechteren, demokratischeren und ökologisch bewußteren Gesellschaft und ein Weg zu ihrer Verwirklichung herausarbeiten, die über die bloße Hoffnung vom Zusammenwachsen der Systeme, bei uns konkret BRD und DDR, zu konkreten Bestimmungsstücken einer zukünftigen Gesellschafts- und Völkerordnung hinausführt. Billiger wird es nicht zu haben sein.

19. Einige Ansatzpunkte lassen sich schon erkennen. Nehmen wir die Hauptfragen, die in den Forderungskatalogen der Systemopposition in den bisher sozialistischen Ländern vorgetragen werden. :
– Wie soll das Eigentum organisiert werden? Soll es Privateigentum an Produktionsmitteln, soll es Kollektiveigentum, Staatseigentum oder offene Konkurrenz unterschiedlichster Eigentumsformen geben? Sind Beteiligungsmodelle nach schwedischem Vorbild uä. mögliche Lösungswege? Welche Rolle soll und darf der Staat in der Kontrolle des Eigentums und als Regulator sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit übernehmen?
– In welchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen ist individuelle und politische Selbstbestimmung optimal zu entwickeln? Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen der bisherigen Systeme in Ost und West? Welche neuen Formen sind erstrebenswert? Rätesystem, Parteienpluralismus, Mischformen? Föderale und nationale staatliche Strukturen statt Zentralstaatssystemen? Demokratische Vielvölkerbündnisse statt Block- und Systemkonfrontation?
– Wie können menschenwürdige Lebensbedingungen im Widerspruch zwischen Entwicklung der Produktion und Schonung der menschlichen und materiellen Ressourcen gestaltet werden?  Das heißt im Kern: Wie kann die Selbstverwertungsspirale des Kapitals einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen werden, ohne das Interesse der Kapitaleigner oder -verwalter an seiner Weiterentwicklung und die persönliche Initiative zu ersticken?
– Wie sollen die Vorstellungen politisch umgesetzt werden? Evolutionär demokratisch? Revolutionär. Was bedeutet das eine, was das andere für die hochentwickelten Industriegesellschaften, gerade auch im Verhältnis zu weniger industrialisierten Teilen der Welt, speziell auch innerhalb der jetzigen der UdSSR?
Ohne die Lösung dieser Fragen wird es keine neuen sozialistischen Perspektiven geben.

20. Zur sog. Deutschen Frage müssen über die Formulierung von Ängsten hinaus positive politische Standpunkte entwickelt werden, wenn man nicht völlig im politischen Abseits verschwinden möchte:
Erstens: Der Fall der Mauer ist uneingeschränkt zu bejahen und die weitere Demokratisierung mit allen Mitteln zu unterstützen. Das beinhaltet nicht etwa die opportunistische Anpassung an nationale Stimmungen und dergl., ist aber die Voraussetzung für jedes ernsthafte Gespräch mit den Menschen hier wie dort.
Zweitens: Selbstverständlich hat die DDR-Bevölkerung ein Recht auf nationale und jede sonstige Selbstbestimmung. Wer sollte sie ihnen verweigern – wenn nicht, im historischen Rückgriff, die Alliierten?
Drittens: Die „Deutsche Frage“ kann nur im Zuge der Herausbildung einer europäischen Föderation gelöst werden, wo sich die beiden deutschen Staaten mit anderen Staaten des deutschen und des nichtdeutschen europäischen Kultur- und Geschichtsraums auf föderal-kooperativer Basis eines demokratischen Staatenbündnisses, statt als staatliche Einheit treffen. Nichts spricht für die staatliche Einheit der beiden deutschen Staaten. Im Gegenteil: die Erfahrungen der Geschichte, die Notwendigkeit eines Kräftegleichgewichts in Europa, die Entwicklung einer demokratischen Weltordnung sprechen dagegen. Aber mensch braucht keineswegs nur in der Anti-Haltung zu argumentieren: Das Eintreten für eine demokratische europäische Föderation im Zuge einer demokratischen neuen Weltordnung, darin die DDR und die BRD, vielleicht sogar noch eine freie Stadt Berlin, als gleichberechtigte souveräne Staaten, darf man getrost als eigenes positives Programm gegen das Gerede von der Wiedervereinigung in BRD und DDR wie gegen jeden erneuten Versuch einer Zwangsvereinigung Europas von oben stellen.

Mit leichten Überarbeitungen als Anhang übernommen in das Buch:

Kai Ehlers,

Gorbatschow ist kein Programm. Begegnungen mit Kritikern der Perestroika

konkret Literatur Verlag 1990

Thesen und Arbeitstexte

Thesen, die den Transformationsprozess begleiten – Arbeitstexte, die Impulse für Diskussinen setzen. –  Begleittexte aus Seminaren, die sich Kernthemen widmen. Wohin treibt Russland? China? Asien? Europa? Was ist das Wesen des globalen Transformationsprozesses? Welche Entwicklungsimpulse liegen in der Finanz-, System-, Kulturkrise?

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